Das Geheimniß des alten Kärner

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Autor: Emile Mario Vacano
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Titel: Das Geheimniß des alten Kärner
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27–28, S. 441–444, 461–467
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[441]
Das Geheimniß des alten Kärner.
Von Emilo Mario Vacano.
1. Eine Sterbestunde.

Daniel Kärner war todt. Das war eine stadtbekannte Sache. Eine halbe Stunde nach seinem Tode wußte es ganz Görnitz, daß der alte Herr Kärner im Landhause draußen gestorben sei. Der alte Mann war seit Jahren fast nie mehr in Berührung gekommen mit der Stadt und ihren Bewohnern. Er lebte in seinem schloßartigen Hause, kurzweg das „Landhaus“ genannt (außerhalb der Lindenalleen, die sich um Görnitz herumzogen), wie ein Einsiedler. Er war nicht menschenscheu, aber er suchte Menschen nie auf. Seit vielen, vielen Jahren hatte er keinen Bekannten in Görnitz drinnen besucht, war er in keiner Gesellschaft gesehen worden. Wenn Jemand hinauskam, am Landhause vorüber, und trat in den dunklen, dichtbuschigen, halbwilden Garten, welcher dasselbe umgab, da war der alte Kärner ein freundlicher Hausherr und führte den Wanderer selber in dem Garten umher, wies ihm die Aussichten, und machte ihn auf manchen üppig wuchernden fremdländischen Baum aufmerksam. Der Garten war ganz im englischen Geschmacke angelegt, nur gar zu wild und ungebändigt wuchernd, als sollte er eine Dornhecke um das Landhaus ziehen. Und dennoch war Daniel Kärner kein Menschenfeind. Er war wohlthätig gegen Arme, und nie hatte Jemand von ihm ein rauhen Wort gehört, oder an ihm eine finstere, böse Miene gesehen.

Er lebte auf dem Landhause allein mit seiner Tochter Marie, einem hübschen, dunkeläugigen Mädchen von neunzehn Jahren. Seine Frau lag seit achtzehn Jahren begraben in Görnitz; sie war eine fremdschauende stille Person gewesen, die der alte Kärner aus Kärnthen mitgebracht hatte.

Das Landhaus lag einsam unter dichten Linden. Ueber dem schmalen Thale drüben lag ein Schloß Lobenstein, dessen Fenster im Sonnenuntergang mit den Fenstern des bürgerlichen Schlosses „Landhaus“ Kreuzblitze zu werfen pflegten.

Wie das Zügenglöcklein vom Görnitzer Hauptthurme erscholl, da fragte jede Hausfrau, die beim Abendbrode saß, jede Krämerin, die eben die Thürläden schließen wollte, und jede Magd am Röhrbrunnen, wem das gelten könne? … Es geschah dies an einem schönen Sommerabende. Und ehe noch die Dunkelheit die Nachtschattenblüthen zum durchdringenden Dufte öffnete, wußte das Städtchen, daß der alte einsam lebende reiche Daniel Kärner gestorben sei.

Und am andern Morgen wußten auch die Thürstufen, auf denen alte Gevatterinnen auszuruhen pflegen, ehe sie zur Frühmesse gelangen, die Küchenbänke, auf denen die Milchfrauen ihre Waaren absetzen, und die Kinderstuben der Bürgersfrauen, wo die intimste Kaffeefreundin ihren ersten Besuch abzustatten pflegt, daß der alte Kärner „schwer“ gestorben sei, „sehr schwer“, daß ihn der Teufel nicht sterben lassen wollte, weil noch ein Geheimniß das brechende Herz bedrückte. Und daß sich der Sterbende gegen den Tod gewehrt habe, eine ganze Stunde hindurch, um sichtlich ein Geheimniß loszuwerden; daß aber die gelähmte Zunge jeden Laut, und die zuckende, gelähmte Hand jeden Federzug versagt habe. Und daß der alte Mann gestorben sei, die Augen ängstlich rollend, die Lippen vergebens zu Worten zwingend, mit beschwertem Herzen gestorben, ein Geheimniß mit sich nehmend in sein stummes Grab. Ein Geheimniß, das nie gelöst werden sollte, und welches vielleicht seine arme Seele ruhelos herumtreiben würde in den verlassenen Zimmern seines Hauses.

So erzählten die Basen, die Milchweiber und die Freundinnen ihren Verwandten, ihren Kundschaften, ihren Gatten. Und die Männer besprachen es im Gasthause.

Und es war kein müßiges Gerede, es war etwas Wahres an der Sache. Der alte Kärner lag im Todeskampfe in seinem Bette. Zu seinen Häupten knieete seine Tochter Maria schluchzend und lächelnd. In ihre Hände schluchzend, und dann wieder tröstlich auflächelnd zu ihrem Vater. Zu seinen Füßen stand der Bürgermeister von Görnitz, Franz Volkner, einst ein Schulcamerad des Sterbenden, den dieser zum Vormund seines einzigen Kindes gemacht hatte. Es wollte eben Abend werden, und ein letzter blutrother Sonnenstreif fiel quer über die Stube, wie ein Flammenschwert, das sich vor dem Paradiese ausbreiten wollte. Und der strebende Greis richtete sich jäh auf. Er hatte noch vor fünf Minuten deutlich gesprochen und gebetet, aber jetzt schien er plötzlich zu fühlen, daß seine Zunge schwer geworden sei. Er stammelte Etwas, es klang wie: „Mein Gott im Himmel, ich kann nicht mehr sagen, das Ding – das Ding –!“ Er schien nach einem Worte zu suchen, das seinem wirr werdenden Gehirne schon für ewig entfallen war. „Das weiße – das, was dort ist …“ Und nun schien er wieder nach einem Orte zu suchen, dessen Bezeichnung der fassende Tod ihm schon aus der Seele gerissen hatte. „Marie!“ stöhnte er noch auf, „thu’ das, sonst hab’ ich nicht – nicht Ruh’ – so schlecht – die Welt – Geheimniß nicht mehr …“

Das waren die letzten verständlichen Worte des gurgelnden, mit dem Tode ringenden Greises. [442] Marie Kärner hielt ihren Vater schreiend umfaßt. Sie wußte, „daß es nicht möglich sei“, wie sie später erzählte. Der alte Bürgermeister zitterte heftig und machte mit seiner Runzelhand ein Kreuzzeichen über sich selber.

Die Magd Anna jammerte im Zimmer herum. Der alte Canarienvogel im Bauer flatterte matt mit den Flügeln, als sähe er ein fremdes Gesicht am Gitter seines Käfigs vorübergehen.

Und der alte einsame Mann war todt. Er war schwer gestorben, mit einem Geheimnisse auf den ersterbenden, gelähmten Lippen, mit einem Geheimnisse, das nun Niemand mehr lösen konnte, und das vielleicht seinen Geist ruhelos umhertrieb an der verlassenen Stätte, die er bewohnt hatte, oder an dem Orte, wo ein ungerächter Mord verübt worden war.




2. Was die Welt wußte.

Man konnte ja dem seligen alten Kärner Alles zutrauen. Ein Makel, von welchem die ganze Gegend wußte, lag ja auf seinem Leben, seit seinem vierundzwanzigsten Jahre schon.

Er war der Sohn des reichen Kaufmanns und Großhändlers Johann Jakob Kärner gewesen, dessen Geschäft schon von den Großeltern her in dem Städtchen, im Lande, an jedem ausländischen Verladungsplatze selbst, berühmt und geachtet war. Johann Jakob Kärner hatte seinem Geschäfte die wundervollste Ausschmückung gegeben mit Spiegelfenstern und Genfer Tapeten. Daneben hatte er sein Schlößchen „Landhaus“ außerhalb der Stadt reizend möbliren lassen – ebenso prachtvoll wie der alte heruntergekommene verschwenderische Graf Lobenstein sein Schloß ausschmücken ließ von Monsieur Léonard de Vienne.

Der Sohn der Firma, Daniel Kärner, ein schöner Junge mit idealer Tscherkessen-Physiognomie, war zwar sehr brav in der Handlung, aber dabei auch zu frohherzig und frisch in seinem Wesen für einen ehrsamen Kaufmann. Er war fleißig im Comptoir, aber er hatte stets die neueste Cravattenschleife und das neueste Mode-Jaquet. Und er wurde sogar im Nachbarschlosse Lobenstein gern gesehen; Comtesse Adalie Lobenstein hatte fast auffallende Zuvorkommenheit für ihn. Er durfte bei den Partien, welche er, sie und ihr Cousin Graf Stasingen zu Pferde machten, stets an ihrer rechten Seite reiten. Man konnte nicht recht daran glauben, aber man mußte endlich auf den Gedanken kommen, daß eine Liaison zwischen dem reichen Kaufmannssohne und der armem Comtesse möglich sei! Eine Liaison, die zu einem schrecklichen Auftritt führen mußte, auf welchen sich schon die ganze Stadt freute – und dieser Auftritt kam.

Aber er kam seltsamerweise nicht aus der Liaison, sondern anderswoher. Der junge Daniel war ein steter Besucher des Schlosses, und selbst wenn tausend fashionable Gäste da waren, wurde er von Comtesse Adalie ausgezeichnet. Mit dem Cousin des Schlosses, dem wegen Schulden quittirten Officier Grafen Stasingen, war er fast unzertrennlich. Die Beiden ritten auf Jagden miteinander, sie fuhren in das Städtchen, um da zu übernachten, kurz, der junge Daniel Kärner war in der Adelsfamilie „gesotten und gebraten“, wie man im Städtchen zu sagen pflegte. Dieser aristokratische Umgang, die Cameradschaft mit einem jungen Grafen, die Liebe für eine schöne Comtesse, dies Alles hatte den Sohn des reichen Kaufherrn vielleicht in größere Ausgaben gestürzt; kurz, er erbrach eines Nachts die Casse seines Vaters, und verwundete dabei den alten Cassendiener, der ihn ertappte, auf den Tod.

Die Sache war fast unglaublich, undenkbar. Denn Daniel Kärner war der Liebling seines Vaters gewesen, welcher gewiß keine Summe gescheut haben würde, um seinen Sohn aus einer gewöhnlichen Verlegenheit zu retten. Die Sache war, wie gesagt, unglaublich, unerklärlich. Das Unglück bestand darin, daß Daniel mit dem offenen Geständniß zögerte, bis die Sache schon gerichtlich anhängig war. – Er war ertappt worden, wie er die Casse seines Vaters erbrach, und er hatte dabei den alten Cassendiener verwundet. Die Sache wurde zwar so gut als möglich vertuscht, aber „die Spatzen pfiffen sie auf dem Dache“, wie wiederum ein Lieblingsausdruck des Städtchens lautete.

Daniel Kärner war verloren für die Stadt. Er mußte in’s Ausland gehn. Dort blieb er lange, lange Jahre in einer Fabrik, welche mit dem Geschäft seines Vaters in gar keinem Zusammenhange stand. Er mußte dort sein Leben ganz neu beginnen, als Heimathloser, als Ausgestoßener. Nach diesen langen, langen Jahren starb sein Vater, und der Verstoßene wurde nun der Erbe des großen Vermögens und des großen Geschäftes. Aber das alte Geschäft, welches unter dem Vater geblüht hatte bis zum letzten Augenblicke, war unter dem Sohne und Erben unmöglich geworden; seine Abwesenheit durch so viele Jahre hatte wohl vermocht, den Makel von dem Bürger, aber nicht den Makel vom Geschäftsmanne zu entfernen. Wer hätte mit einem ehemaligen Diebe Geschäfte machen wollen?

Daniel Kärner gab also das Geschäft auf. Er verkaufte es an einen alten Geschäftsfreund seines Vaters, und zog sich nach der Abwesenheit von dreißig Jahren in das Landhaus zurück, ein alter, gebeugter, stiller, menschenscheuer Mann, ein Wittwer, der in der Fremde eine Fremde geheirathet hatte, die zehn Jahre nach der Geburt einer Tochter starb. Die Verstorbene sollte, wie es hieß, eine barmherzige Schwester aus Krain gewesen sein, die den Kärner in einer Krankheit im Hospitale von Laibach gepflegt hatte.

So lebte denn der einfache alte Mann mit seiner Tochter Marie sein Leben weiter, freundlos und still. Das „Landhaus“ war nur tausend Schritte vom „Schlosse“ entfernt, aber kein Verkehr herrschte zwischen den beiden Gebäuden, obwohl in dem Schlosse alte Bekannte des alten Mannes lebten – der Graf Stasingen, welcher durch den Tod eines Fürstenonkels sehr reich geworden war, hatte die verwaiste Cousine Adalie geheirathet, Aber ein unerträglicher Stolz herrschte in dieser Familie, welche jetzt aus dem Grafen, der Gräfin und einem Sohne Leon bestand.

Nur zweimal in zwanzig Jahren, erzählte man sich, habe der alte Kärner das Schloß betreten. Zu später Abendstunde, zu Fuß, sei er über einen Feldweg hingekommen, und noch vor gänzlichem Nachtdunkel sei er auf demselben Wege wieder zurückgekehrt. Niemand wußte, was er dort gewollt habe. Aber die Bedienten schworen darauf, es sei der alte Kärner gewesen, und er sei vom Grafen in der Bibliothek empfangen worden. Zweimal in zwanzig Jahren!




3. Ein todtes Haus.

Es war am Tage nach dem Leichenbegängnisse. Wenn eine Leiche ein Haus verlassen hat, so ist das Haus selber wie gestorben. Die Wände machen den Eindruck der Leichenstarrheit, es ist, als hätten sie vor einigen Stunden noch eine belebende Seele in sich gehabt, die nun entflohen sei. Die Möbel stehen nicht mehr ganz an demselben Flecke, denn ein Zimmer mußte geräumt werden für die Aufbahrung. Jedes Möbelstück ist gleichsam wie mit einem Trauerflore der Erinnerung bedeckt, welcher einen wehmüthigen Eindruck macht auf Jeden: in diesem Sorgenstuhle hier pflegte ja der Verstorbene zu sitzen, diese Uhr war er aufzuziehen gewöhnt, dieses schwarze Andachtsbuch haben seine Hände zuletzt durchblättert, die wohlgeordneten Bücher im Schranke, die nun verkauft werden sollen, scheinen unverständliche Hieroglyphenbände geworden zu sein für jeden fremden Blick. Das Trinkglas auf der Commode sieht aus, als ob es nie mehr gefüllt werden könne, und die Krücke in der Ecke, die sonst Zimmer auf, Zimmer ab klapperte, ist jetzt verstummt, wie vom Schlage gelähmt – für ewig. Die Seele des Verstorbenen scheint jetzt plötzlich in allen leblosen Dingen des Hauses gelebt zu haben und jetzt aus ihnen entflohen zu sein, wie sie es aus dem Körper ist, der sich jetzt draußen im Grabe durch die Fugen des Sarges mit der Erde zu vermischen beginnt. Jedes Atom des Hauses, jedes Geräth ist todt geworden mit dem Tode der gestern begrabenen Person; mag diese nun der alte Hausherr, ein blühendes Mädchen, oder ein kränkelndes kleines Kind gewesen sein. Und mögen noch so viele lebendige Personen zurückgeblieben sein im Hause … die Räume erscheinen leer, verlassen, grabesstill.

Und mag keine Thräne der Trauer, keine Miene des Leides sichtbar werden bei den Hinterbliebenen: ein unendlicher Schatten, der nicht von der Sonne herrührt, sondern vom Tode, liegt über Allem und Jedem, über dem erblindeten Spiegel, in dem gedämpften Tone der Stimme, in dem letzten scharfen, unaustreibbaren Geruche des Weihrauchs.

Das Haus ist todt. Und so war das „Landhaus“ am Tage nach dem Begräbnisse des alten Daniel Kärner.

Marie Kärner saß am Fenster des Wohnzimmers im Erdgeschosse, und vor ihr stand ihr Vormund, der Bürgermeister [443] Volkner. Das Zimmer war in alterthümlichem Style möblirt; vom Holzgetäfel hoben sich schwerfällig schwere dunkle Geräthe von Nußholz ab. An den Wänden hingen vier Bilder von Großeltern, zwei Frauenbilder in kurzleibigen weißen, dünnen Kleidchen, ihre braunen Locken aus einem röthlichen, braunwolkigen Himmel herausschüttelnd, und zwei Männerportraits in Stutzperrücken, gesiegelte Briefe in Händen. In einer Ecke des Zimmers stand der Schreibtisch des Verstorbenen, dessen Schubfächer sämmtlich geöffnet waren. Die kleinere Hälfte seines Inhalts, Acten und Briefschaften, lag wohlsortirt auf dem Tische ausgebreitet, während ein guter Theil desselben in einem wirren Haufen, zerknittert oder zerrissen, auf dem Fußboden lag. Die zerstreuten Papiere waren auch das einzige Unordentliche in der altväterischen stricten Ordnung des Zimmers. Der alte Vormund hatte soeben mit Marie Kärner die Durchsicht der Papiere des Verstorbenen beendigt, und das Unnützgewordene zum Flammentode verurtheilt.

Die beiden großen, altväterischen Fenster, welche in den Garten führten, standen weit offen, und schlanke Acazienzweige vom hellsten Grün wehten manchmal fächelnd herein. Weiße Schmetterlinge gaukelten manchmal plötzlich aus dem Blumengrunde auf, als habe der leichte Sommerwind eine Blüthe vom Stiele gelöst. Der Fahrweg zum Hausthor des Landhauses führte knapp am Fenster hin zum freien Terrassenplatze, und die vielen Furchen, die der Sandweg zeigte, rührten noch von den Wagen des Leichenbegängnisses her.

Marie Kärner trug ein schwarzes, einfaches Trauerkleidchen, das vom Halse an in einen schwarzen Spitzenkragen abfiel, und das dunkle Gewand hob ihr lilienweißes Gesicht, welches nur um die thränenmüden Augenlider einen Rosenschimmer hatte, und ihr goldfarbenes, schlichtgescheiteltes Haar noch lichter und blässer hervor.

Das junge, liebliche Mädchengesicht hatte einen entschlossenen Ausdruck behalten, trotz der Mattigkeit der Trauer. Das einsame Leben ihrer Jugend, die Abgeschlossenheit ihres Lebens und die intime Berührung mit dem ernsten, eigenthümlichen Wesen ihres verstorbenen Vaters hatte eine scharfe Linie zwischen ihre feinen Brauen gezeichnet, welche ihrer sonst so weichen Schönheit einen seltsamen, unwiderstehlich interessirenden Ausdruck verlieh.

Der alte Vormund, in seinem braunen Stadtrock, mit dem dünnen, sorgsam über das fast kahle Haupt gelegten Silberhaare, hatte seine Hand auf der Lehne ihres Stuhles liegen, und die Acazienlichter spielten über seinen stattlichen Körper, wie er sagte: „Sie sind also fest entschlossen, Marie, das Landhaus zu verkaufen, sammt Allem, was es enthält, und diesen Ort zu verlassen?“

„Ich bin’s,“ sagte das Mädchen, und der bestimmte Zug zwischen ihren Augenbrauen trat stärker hervor. „Nicht wahr, Vormund, und Sie geben mir Recht? Ich habe mein ganzes Leben hindurch an der Seite meines Vaters verbracht, mit ihm allein. Ich tauge also nicht für die Gesellschaft und die Welt. Aber ich vermöchte auch nicht allein zu wohnen. Es wäre erstens nicht anständig, und zweitens würde ich zu traurig und verzagt werden.“

„Sie wollen auch nicht in die Welt treten? Zu uns? Ich weiß, Sie sind zur Einsamkeit gezwungen worden, Marie – durch die Liebe zu Ihrem Vater; er mied die Menschen. Ich und er, wir sind Schulfreunde gewesen; aber seit seiner Rückkunft aus dem Fremdlande hatten unsere beiden Häuser kaum zehnmal Verkehr mit einander. Erst als er den Tod nahen fühlte, ließ er mich wieder rufen und übergab mir die Sorge für seine Tochter – für Sie, Marie. Ich begreife es, daß Sie nicht bleiben wollen in dem verlassenen Hause, wo Alles Sie erinnern muß an Ihren Vater, den einzigen Freund Ihres einsamen Lebens…“

Marie Kärner weinte nicht, als der alte Mann diese Worte sprach; sie neigte nur das Haupt und ein tieferer Schatten lag zwischen ihren schönen Brauen.

Der alte Mann fuhr fort: „Ich habe also dieses Haus zum Verkauf ausgeschrieben. Die Möbel und Einrichtungen habe ich aber abgesondert zur Versteigerung ausgeschrieben, zum Vortheil des Unternehmens. Denn Jeder, welcher das Haus an sich bringt, wird die Möbel unbrauchbar finden, da ein so hübsches Schlößchen auch comfortabel eingerichtet sein muß, während die Landleute der Umgegend die solide, altväterliche Einrichtung gern an sich bringen werden. Das Alles ist also angebahnt, und es steht Ihnen nun frei, Marie, in die Welt zu treten noch inmitten Ihrer schönsten Jugendzeit, deren erste Hälfte Sie Ihrer Kindespflicht geopfert haben. Kommen Sie also zu uns. Ich und meine alte Frau wollen Ihnen gern eine Heimath bieten – wir thäten es auch, wenn Sie keine reiche Erbin wären. Und wir wollen gern Ihre Eltern spielen, um wieder jung zu werden; wir wollen die kleine große Welt des Städtchens wieder besuchen, die Concerte im Herbst, das Theater im Winter und die Gärten im Sommer. Wir haben das miteinander besprochen, ich und meine kleine alte Frau; denn wir möchten gern, daß Sie Ihren Verlust vergäßen, dann, daß Sie endlich das Leben genießen möchten, und zuletzt, daß wir selber ein wenig glauben könnten, wir hätten noch ein Kind.“

Marie hielt die Hand des Greises plötzlich fester als früher in der ihrigen, und ehe er sich’s versah, drückte sie einen Kuß auf dieselbe. Sie sagte kein Wort dabei und auch nicht nachher. Er wehrte ihr und sagte verlegene, väterliche Worte. Darauf sagte sie: „Nein, nein, ich will Ihnen nur sagen und zeigen, mein theurer, väterlicher Freund, daß ich Ihre Güte im tiefsten Herzen empfinde! Aber ich liebe das Leben mit der Welt nicht. Und – ich kann hier nicht bleiben.“ Das ernste schöne Mädchengesicht schaute jäh, wie verschmachtend auf. „Ja, ich kann hier nicht bleiben. Ich würde zu traurig werden hier. Sie wollen fragen, was ich denn eigentlich beginnen will, wenn die Einsamkeit und die große Gesellschaft mich gleichermaßen abstoßen. Aber ich habe das Ziel – mein Ziel gefunden, Herr Volkner, schon am Krankenlager meines seligen Papa’s: ich will nützen. Sie wissen, mein Vater hat mir all seine reichen Kenntnisse mitgetheilt: ich kann Französisch, Englisch, Italienisch, ich spiele das Piano und habe Wissen in den Elementarkenntnissen des Frauenhorizonts, der Erdkunde, der Geschichte, der Himmelskunde. Ich will Lehrerin werden, und zwar in einem jener klosterähnlichen Institute der Schweiz, wo die Lehrerin das nonnenhafte Leben mit der immer beruhigenden und beseligenden Pflicht des Nützens verbindet. Ich will während des Hausverkaufs und der Versteigerung in Ihnen, mein väterlicher Freund, und in Ihrer Gemahlin meine Eltern, in Ihrem Hause meine Heimath sehen. Und dann, dann trete ich den Weg an, den ich mir erwählt habe, mit Gottes Hülfe.“

Der alte Mann lachte. „Aber Marie, Sie werden ja heirathen!“ rief er lustig.

Marie wurde plötzlich sehr roth und erhob sich. „Nie!“ sagte sie. Ihre Stimme war dabei ruhig wie ihr Gesicht. Aber auf diesem Gesichte lag der alte Schatten der einsamen Jugend dräuender als je.

„Oho! Niemals? Wie können Sie das verschwören? Kein junger Mensch hat Sie ja noch allzu nahe gesehen, und Sie kennen auch keinen, höchstens den jungen Grafen Leon, wenn er hier vorbei muß. Haben Sie den schon gesprochen?“

„Ja!“

„Richtig, Sie müssen ja als Nachbarskinder miteinander gespielt haben!“

„Nein! Wir hatten nie Verkehr mit dem Grafenschlosse. Als Kind schon erhielt ich den Befehl, nie in das gräfliche Gebiet hinüberzulaufen. Und so habe ich niemals gespielt.“

„Nie gespielt mit dem einzigen Nachbarkinde, das Ihnen vergönnt war? Aber das ist ja ärger, als ob Sie nie ein Märchen gehört hätten, Sie armes Kind! Wann sprachen Sie aber dann mit dem jungen Grafen? Ich hörte, er wurde ebenso hochmüthig-einsam erzogen, wie seine hochmüthige Mutter ist – seit dem Tode des alten Grafen Stasingen …“

„Ich sprach ihn einmal vor zwei Jahren, als sein Pferd vor unserm Thore das Bein verstaucht hatte und unser Knecht es verband. Graf Leon trat damals in unsern Garten ein. Und das zweite Mal sprach ich ihn vor einem halben Jahre. In der Nähe von Lobenstein verfolgten mich Zigeuner, und er trieb sie von dem Parkthore aus zurück.“

Marie Kärner erzählte das kurz, ruhig, wie es ihre Art war.

„So, das sind die einzigen beiden Male, daß Sie mit einem liebenswürdigen jungen Menschen in nähere Berührung traten? Das würde weiter nichts machen; es war eben für Sie eine Erziehung, wie man sie in berühmten Pensionat-Klöstern erhält. Aber diese beiden Male haben Ihnen einen solchen Widerwillen gegen das Heirathen eingejagt?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich nicht heirathen [444] will, daß ich meinen Beruf nicht erkenne darin, daß ich mich vor der Welt scheue, denn mein Vater hat mir wahr geschildert … und daß ich meinen Weg klar vor mir sehe.“

„Bah, bah! Morgen kommen Sie zu uns, und dann sehen Sie fleißig zum Fenster hinaus. Meine Frau wird Ihnen so viele Stadtneuigkeiten erzählen, daß Sie neugierig werden sollen, die Leute alle selber kennen zu lernen. Sie werden sich an Besuche gewöhnen, und Sie … Sieh da, da bekommen Sie auch einen Besuch! Sehen Sie, ein Wagen biegt in den Park ein … ein Herrschaftswagen – wahrhaftig, es ist die blaue Livrée der Stasingen! Und wer sitzt in dem Wagen? Wahrhaftig, die Gräfin selber!“

Marie Kärner antwortete nichts auf die Rede des Greises; er hatte sich zwischen die Acazienblätter hinausgeneigt, um den Wagen ankommen zu sehen. Jetzt schaute er zurück, um die Verwunderung des jungen Mädchens zu theilen. Aber er blieb erstaunt und verstummt. Er sah, daß Marie Kärner athemlos an der Fensterwand lehnte, das sonst so lilienblasse Gesicht von dunkler Röthe überzogen.

„Ah, was! Was ist Ihnen, Marie?“ rief der bestürzte alte Mann.

Da erwachte das Mädchen gleichsam. Sie lächelte. Und während des Lächelns wurde ihr Gesicht langsam wieder blaß … fast weiß. „Nichts!“ sagte sie. „Ich bin nur so erstaunt. Die Frau Gräfin ist es! Richtig, und sie ist allein.“ Sie eilte an die Thür, öffnete sie eilig und rief hinaus: „Hanne! Hanne! Die Frau Gräfin kommt! Oeffne das Besuchzimmer oben! Und Sie, Herr Volkner, Sie helfen ihr wohl aus dem Wagen und führen sie hinauf? …“

Der alte Bürgermeister Volkner empfing die Frau Gräfin am Wagenschlage, wo er den einen blaulivrirten Bedienten bei Seite schob.

Die Gräfin begrüßte ihn freundlich und streckte dann freundlich die beiden kleinen untadelhaft behandschuhten Hände Marie entgegen, welche auf der obersten Thorstufe erschien, um ihren Gast zu empfangen.

Gräfin Adalie Stasingen war eine ältliche Dame, welche noch Spuren einer jener unvergleichlichen Adelsschönheiten zeigte, welche für das bürgerliche Auge zu scharf pointirt und nur für Kenner wahrhaft ideal sind. Ihr Gesicht hatte noch den ganzen edlen Schnitt und das einnehmende Lächeln ihrer Jugend bewahrt, aber keine Nuance von Farbe. Es war von jener Wachsblässe, welche die lichteste Schattirung der Bronzefarbe ist. Ihre schwarzen Haarwellen waren weich um das Gesicht gelegt. Sie trug einen lichten grauen Seidenanzug und einen Hut, der eigentlich nur ein Schleier war.

„Ich komme, um Ihnen mein Beileid zu bezeigen und Sie in Ihrer Einsamkeit zu fragen, liebstes Fräulein, ob ich Ihnen irgendwo von Nutzen sein kann.“ Die Gräfin sagte diese Worte mit einem Herzenstone und küßte die Waise.

Marie Kärner ertheilte die gewöhnliche Antwort und lud die Gräfin ein, sich in den Besuchssalon hinauf zu bemühen.

„Hinauf? Besuchssalon? Aber ich habe Sie eben vom Wagenfenster aus hier unten im Wohnzimmer gesehen! Sans gêne, ich bitte, führen Sie mich zu sich und nicht in einen Salon.“ Und die Gräfin war schon durch die offenstehende Thür in die Wohnstube getreten. Marie Kärner machte noch Einwendungen über die Unordnung und so weiter, aber wie der gute alte Bürgermeister nach ihnen eintrat, saß die Gräfin schon auf dem alten breiten Sopha.

Herr Volkner war ganz erstaunt. Gräfin Adalie Stasingen war bekannt als die stolzeste Frau des ganzen Landes, so wie ihre Familie für die exclusivste Familie des deutschen Adels überhaupt bekannt war. Und jetzt kam die Gräfin selber, um sich über das Befinden seiner Mündel zu erkundigen, und sie war so freundlich, so herzlich und so ganz zu Hause wie – „wie eine Tante!“ dachte Herr Volkner.

„Wir wollen nicht von traurigen Sachen sprechen, mein armes liebes Fräulein,“ sagte die alte Gräfin und zog Marie neben sich auf den Sitz nieder, „sondern von heiteren, von Ihrer Zukunft. Sie wollen fort von hier, habe ich gehört. Wohin? Haben Sie Verwandte? Wollen Sie zu mir, bis Sie sich einen Wohnort gewählt haben? Sehen Sie, liebes Fräulein, ich habe mich über Sie gekümmert seit – seit dem Unglücksfalle. Unsere beiden Häuser haben nie Verkehr miteinander gehabt – die Verhältnisse, das Naturell, verschiedene Anschauungsweisen und tausend schreckliche Kleinigkeiten brachten das mit sich. Aber es hat in meiner Jugend eine Zeit gegeben, wo unsere beiden Familien Annäherungspunkte hatten. Und so kurz diese Zeiten und so schwach diese Anknüpfungspunkte auch waren – ich bin noch nicht alt genug, um keine Erinnerungen mehr bewahrt zu haben, und bin noch nicht trockenherzig genug, um mich nicht für Sie zu interessiren, mein liebes schönes Fräulein. Sie dürfen nicht einsam bleiben. Wo wollen Sie hin?“

„Ich werde in dem Hause meines Vormundes hier, des guten Herrn Bürgermeisters, eine Heimath finden, bis ich alle meine Angelegenheiten geordnet sehe und den Beruf antreten kann, den ich mir erwählt habe: den Beruf einer Lehrerin.“

Die Gräfin schaute erstaunt auf mit ihrem schönen Aristokratengesicht. „O!“ rief sie mit ihrer tönenden Altstimme. Dann schaute sie auf Herrn Volkner hinüber. „Lehrerin! Eingeschlossen sein zwischen sechs weißen Schulzimmern, einem langweiligen Garten, wo kein Gras niedergetreten werden darf, und zur Erholung sich halb todt ärgern müssen mit fünfzig eingebildeten, altklugen, boshaften, uniform ausstaffirten Mädchen! Das Alles wollen Sie, nach Ihrer traurigen Jugend, mit Ihrer Schönheit … o, widersprechen Sie nicht – eine alte Frau sagt Ihnen keine Schmeichelei … mit Ihrem Vermögen – denn Sie können nicht arm sein … das wäre ja eine Sünde …“

„Eine Sünde, jawohl!“ eiferte Herr Volkner erhitzt.

[461] Marie schaute mit ihren ruhigen traurigen Augen von der Gräfin zu ihrem Vormunde hinüber und dann wieder zurück. „Eine Sünde?“ sagte sie. „Mein armer todter Papa hat mich Alles gelehrt, was er selber wußte: Sprachen, Erdkenntniß, Himmelskunde und die Wissenschaft der Pflanzen. Sonst hat er mich nichts gelehrt. Mit diesem Allen kann ich nicht mit der Welt leben, wohl aber für die Welt. Ich kann lehren – aber ich kann und – mag nicht vegetiren.“

„Vegetiren! Sie nennen es vegetiren, Fräulein, wenn Sie mit Menschen fröhlich sind, jung und liebenswürdig, wie Sie sind?“

„Pardon, Frau Gräfin! Papa hat mich Alles gelehrt, was er selber wußte. Aber er hat mich nicht gelehrt, die Menschen zu – lieben.“ Marie sagte das wieder in ihrer ruhigen Weise. Aber ihr Auge ruhte traurig auf einem unsichtbaren Gegenstande.

Die alte Gräfin hatte ein heftiges Zucken um den Mund. Sie war manchmal nervös. Und wie sie wieder ruhig schauen konnte, war eine wirkliche Thräne in ihrem Auge. Sie hielt Mariens Hand in der ihrigen. „Ihr armer Papa hat die Menschen nicht geliebt …“ sagte sie leise.

„Er hat sie auch nicht gehaßt,“ antwortete Marie ebenso. „Ich habe vorhin unter den Wissenschaften, die ich ihm verdanke, eine vergessen; neben den Sprachen, der Himmelskunde und der Erdkenntniß auch … die Menschenkenntniß.“

„Die Menschenkenntniß!“ eiferte Herr Volkner. „Das ist ja eben das Unverantwortliche bei der Sache! Dieses arme junge Ding da, Frau Gräfin, ist uralt gemacht worden in ihrem Innern! Sprechen Sie ihr von Illusionen! Und ich und meine alte kleine Frau, wir sind im Stande, uns heute noch einzubilden, wir hätten ein Kind, wenn Marie zu uns ziehen wird! Aber fragen Sie nach dergleichen bei diesem Mädchen! Nichts! Da bringt der Frühling die Raupen und der Winter die Fröste!“

Die Gräfin nickte ihm freundlich zu. „Ja!“ sagte sie. „Ja wohl. Fräulein Marie, ich darf Ihnen nicht mehr anbieten, mit mir zu ziehen, denn bei Herrn Volkner werden Sie eine zweite Elternstätte finden. Aber Ihren Plan dürfen Sie nicht ausführen. Ich sage Ihnen jetzt nichts mehr – denn ich sehe, daß Sie entschlossen sind. Und bei einem Entschlossenen verliert man die Stimme. Alles aber, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, und meinen plötzlichen Einfall bei Ihnen nehmen Sie freundlichst als einen Beweis meines innigen Gefühls für Sie und meiner treuen Erinnerung an meine eigene Jugend, wo ich oft lachend mit Ihrem seligen Vater geplaudert habe. Sie werden also dieses Landhaus verkaufen? Ich erinnere mich, daß ich zwei Mal in diesem Zimmer hier gewesen war als Mädchen – noch mit meinem seligen Gatten, mit meinem seligen Vater, und …. wir nahmen einmal hier ein Goûter. Und“ – die Gräfin war nicht mehr so wachsbleich wie sonst, als sie dies sagte, sondern sanft geröthet – „und ich wollte Ihnen noch eine Frage stellen, mein liebes, liebes Fräulein. Hat Ihr Papa sich nie an mich erinnert in seinen letzten Tagen? Hat er – hat er nicht einen Brief an mich zurückgelassen? Sterbende … Sterbende haben manchmal solche Erinnerung, und … und er hat mir einst versprochen, nicht … nicht zu vergessen, mir noch einen … einen Gruß zu senden, wenn er … wenn er …“ Die Gräfin athmete schwer, als sie zu Ende sprach, immer schwerer, als sie von Niemandem unterbrochen wurde, und als sie in den Augen ihrer beiden Gesellschafter kein Aufblitzen des Verständnisses fand. Zuletzt verstummte sie mitten im Satze. Ihre Augen waren sehr hell und groß, ihr Profil sehr schlaff, und sie mußte ihre Lippen mit der Zunge befeuchten.

„Nein,“ sagte Marie, „nein, Frau Gräfin.“

„Nein!“ erhärtete Herr Volkner.

Die Gräfin lächelte. „O, man hat den Brief vielleicht nicht gefunden. Natürlich! Die Papiere eines Todten können erst langsam in Ordnung gebracht werden, natürlich! Und …“

„Pardon, Frau Gräfin!“ sagte Herr Volkner eifrig. „Aber die Papiere des Verstorbenen sind bereits alle geordnet und geschichtet. Heute eben habe ich das Geschäft vollendet!“ fuhr er ebenso fort. „Sie sehen hier den Papierhaufen auf dem Fußboden, der ist zum Verbrennen verurtheilt. Da aber sind Acten, Documente –“

Die Gräfin ließ einen raschen, gierigen, durstigen Blick über die Papiere laufen. Sie hatte dabei immer ihr schlaffes Profil, und ihre Zunge berührte ihre Lippen wiederholt. „O, natürlich!“ machte sie zum dritten Male, „wer gedenkt auch an Alles im Alter, in der Krankheit!“ – Sie faßte fest, fest die Hand Mariens, und ihre Lippen waren jetzt dicht aneinandergepreßt, wie vom innerlichen Weinen. Dann lächelte sie wieder ihrem eigenen Blicke nach, der durch das Zimmer flog bis in das Frischgrün der Fensteracazien hinein, wie ein Vogel, der sich verirrt hat. „Und dieses Landhaus wird verkauft – mit allen Möbeln, die es enthält?“

[462] „Ja wohl!“ sagte Herr Volkner. „Die Möbel apart, im Versteigerungswege, in sechs Wochen, denn wer würde die altmodischen Geräthschaften mit diesem schönen Hause vereinigen?“

„Wer?“ rief die alte Gräfin. „Ich! Ich kaufe Alles, aber unter der Bedingung, daß Alles unverrückt bleibe, wie es ist. Ich nehme Alles, um jeden Preis, Herr Bürgermeister, merken Sie sich das. Ich liebe dieses Landhaus, es paßt als Ausruhepunkt für das Schloß, und diese alterthümliche Einrichtung, Schrank für Schrank, Kästchen für Kästchen, muß bleiben, wenn der Eindruck des Ganzen nicht zerstört werden soll! Sie sind kein Maler? Aber Sie, mein liebes Fräulein, Sie verstehen mich, ich nehme Alles, Alles, so wie es ist.“ Sie hatte das hastig, eilig herausgesagt; dann, wie sie innehielt und Herrn Volkner erstaunt fragen hörte, und die Stimme Mariens wieder vernahm, erinnerte sich die alte Gräfin vielleicht daran, daß sie neben ihrer Vorliebe für das Malerische „des Ganzen“ im Gebäude auch noch eine andere Schattirung finden müsse, und sie setzte hinzu: „um alter Zeiten willen!“ –

Die Gräfin, Marie Kärner und Herr Volkner sprachen auf dem Wege bis zum Wagen noch Vieles, was man eben so zu sprechen pflegt. Die Gräfin ließ sich vom Herrn Bürgermeister versichern, daß sie als die alleinige Käuferin „des Ganzen“ anzusehen sei, sie lud Marie wiederholt auf ihr Schloß, und stieg endlich in ihren Wagen. Der blaulivrirte Bediente schloß den Schlag, der Kutscher zog die Zügel an, Marie und Herr Volkner verneigten sich, die Gräfin warf Grüße aus dem Wagen. Aber die Gräfin hatte noch immer nicht ihre gewohnte Wachsblässe erreicht, wie sie den Blicken der Nachschauenden verschwand.

Diese beiden Nachschauenden hielten die Hände über die Augen, denn die untergehende Sonne warf ihren grellsten blutrothen Glanz über sie, über das Haus sammt dessen lebendigen Blättergittern und über den ganzen Himmel, und in dieser blutrothen Abendsonne verschwand der Wagen. Die Beiden traten nun durch den Corridor in das Wohnzimmer zurück, wo sie das Gluthroth auf den Geräthen, im Getäfel, auf den Bildern und den Fensterscheiben wiederfanden. Die zerknitterten Papiere glichen einem Haufen dunkler Rosen. Ueber dem Schreibtische hing ein kleines Miniaturbild ihres verstorbenen Vaters, das jetzt wie ein Blutstropfen an der Wand klebte.

Während Herr Volkner wichtig über den Besuch plauderte, blieb Marie inmitten des Zimmers mit untergeschlagenen Armen stehen, und ihre schattenumdüsterten, sinnenden Augen waren starr auf diesen Blutfleck geheftet, der im Bilde war.

Plötzlich erhob sie ihre Hände zum Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.

Herr Volkner hielt erschreckt im Reden inne; er stürzte auf das Mädchen los und stammelte hundert ängstliche, abgebrochene Fragen.

Das Mädchen legte ihr Gesicht an die Brust des alten Mannes und schluchzte fort. „Mir ist nur so schrecklich bang um’s Herz,“ sagte sie dazwischen hinein, halb unverständlich, „daß mein armer, armer Papa mit einem so schweren, belasteten Herzen sterben mußte! Er ist mit einem bösen Geheimniß auf der Seele gestorben! Ich hatte bis jetzt gedacht, das sei nun ewig ein Geheimniß zwischen seiner armen Seele und dem lieben Gott, aber von heute an, Herr Volkner, von heute an bin ich überzeugt, daß die Gräfin die Dritte dabei ist. Und wie ich das erkannte, da hat sich wieder mein ganzes Weh erneut. Papa ist so schwer gestorben.“

Herr Volkner sagte nichts darauf, er blieb still, er streichelte nur das arme blonde zitternde Köpfchen an seiner Brust mit seiner alten rauhen Hand. Er wußte die Gedanken der Waise, wie er dieselben schon am Todtenbette des Greises weinend getheilt hatte; er wußte, daß es ihr das Herz bedrücke, zu denken, ihr angebeteter Vater sei mit dem Gedanken an eine schwere, ungesühnte That friedlos aus dem Leben geschieden.




4. Verblühende Rosen.

Am andern Morgen war der Himmel umzogen, ein prophetischer Regenwind trieb den Staub der Landstraße und die Blätter der Gebüsche in die Höhe, die Blumen duckten sich. Marie Kärner hatte eben den Herrn Volkner bis zu seinem Wägelchen vor das Thor geleitet, und der hatte ihr beim Handreichen, während er den Zügel seines Bräunchens festfaßte, gesagt: „Also schauen Sie zu, liebe Marie, daß die alte Betti bis Nachmittags Ihre beiden Garderobekofferchen in Ordnung hat, dann hole ich Sie ab, Sie können um keinen Tag länger hier allein wohnen; wir sperren das Haus zu, der Gärtner Andres und der alte Diener Peter bleiben hier in der Gärtnerhütte zur Bewachung, die alte Betti bleibt bei ihnen, um ihnen die Kost zu bereiten, und Sie kommen Nachmittags mit mir. Meine Frau hat schon seit gestern an frischem Zuckerwerk gebacken für Sie; lachen Sie sie nicht aus deswegen, und essen Sie, auch ohne Gusto, es liegt nicht schwer im Magen, und es tröstet die alte Frau. Sie weint beim Backen über Ihre Verwaistheit, die sie mit Zucker zu versüßen meint: sie hat schon den dritten Zuckerhut in der Arbeit. Und – Marie, liebe Marie, bleiben Sie recht lange bei uns, bedenken Sie die Sache mit der Lehrerstelle noch. Ich muß Sie noch lächeln sehn!“

Der alte Mann sah Marie noch in demselben Augenblicke lächeln, wie er ihre Hand losließ und das Bräunchen antrieb. Ein anderes Mädchen hätte da geschluchzt vor Rührung, aber Marie lächelte; ihr Lächeln war wie Azur nach Sturmwolken auf ihrem ernsten, jungen, schönen Gesichte, es lag eine heilige, männliche Rührung darin, die wie ein Gebet aussah. Marie hatte einen Halt voller traurigmachender Menschenkenntniß, aber sie hatte jene trübumwölkte Menschenkenntniß von ihrem Vater gelernt, die nichts weiter verlangt, als ihre beiden Hände falten zu dürfen, um eine Menschenwange zu streicheln.

„Wie gut er ist!“ dachte sie mit einem Jubelgefühl in ihrem verwaisten Herzen.

Da der Regenwind sehr heftig war, hatte sie einen schwarzen Spitzenschleier um ihr Haupt gewunden, so schaute sie dem kleinen Gefährte nach. Dieses kleine Gefährt begegnete am Gartengitter einem Reiter. Dieser Reiter hielt sein rasches Fuchsroß an der Treppe still, ehe Marie sich dessen versah. Er sprang ab, band sein Pferd an ein Marillenstaket und verneigte sich vor Marien.

Marie war anfangs einen raschen Schritt zurückgetreten, so stand sie im Flur. Im nächsten Moment aber hatte sie ihren Schleier vom Haupte losgelöst und empfing ihren Gast.

„Sie entschuldigen mich, Herr Graf, für einen Augenblick,“ sagte sie. „Meine Diener sind im Hintertracte beschäftigt, und Ihr Pferd kann nicht draußen bleiben bei dem Regen, der im nächsten Augenblicke schon herabströmen muß.“

Ein Windstoß zerrte in diesem Augenblicke an den Acazienbüschen. Marie Kärner wies den Grafen höflich in das Wohnzimmer und verschwand dann einen Augenblick, um ihren Befehl zu geben. Wie sie wieder erschien, bemerkte der junge Graf, daß ihr blondes Haar gedunkelt war vom Regenschauer, welcher jetzt schwer niederzurauschen anfing, und daß sie rasch ihr schwarzes Tuch abwarf, welches wie welk war von der Nässe.

„Sie haben sich dem Regen ausgesetzt!“ sagte Graf Leon, welcher sie inmitten des Zimmers stehend erwartet hatte.

„O, es ist das so gut wie ein Trunk frischen Wassers!“ sagte sie. „Sie haben hier vor dem Regen Schutz gesucht, Graf?“

„Nein,“ sagte er. „Sie wissen wohl, daß ich jetzt Ihretwegen kommen darf.“ Es lag eine Milde in seiner Stimme und doch dabei eine Mannestiefe, die wie Bienensummen durch Lindenblüthen anmutete.

„Meinetwegen!“ sagte sie, und ihre Augen ruhten klar auf ihm.

Er trat ihr einen Schritt näher. Sie standen Beide inmitten des Zimmers. Sie hatte beim Eintreten eine Bewegung gemacht, wie um ihm das Niedersetzen anzubieten, aber jetzt waren sie Beide dem Ceremoniell entrückt, sie standen beisammen wie Kinder im Walde, welche die Arme feindlich vorgestreckt halten und dabei einander zu Hülfe rufen.

„Ja,“ sagte er. „Ist Herr Volkner, Ihr Vormund, nicht mehr hier, gnädiges Fräulein? Meine Mutter hat mich an ihn abgesendet, um ihn zu erinnern, daß er das Ausbotschreiben dieses Landhauses und die Versteigerung sistiren soll, da sie um jeden Preis Alles erstehen will, wie es da ist, nachdem es Ihr Wille ist, gnädiges Fräulein, sich dessen zu entäußern.“

„Herr Volkner ist nicht mehr hier, Graf, aber ich werde heute Nachmittag zu ihm übersiedeln, und werde ihn herzlich gern daran erinnern. Wie könnte auch darauf vergessen werden?“

„So habe ich hier nichts weiter zu thun, gnädiges Fräulein, als Sie um Verzeihung zu bitten wegen der Störung, die ich [463] Ihnen verursachte, und wegen der Ungelegenheit, an welcher ich unabsichtlich Schuld trug, und – und um Sie um Verzeihung zu bitten wegen des großen Ungeschickes, welches ich mir vor wenigen Monaten Ihnen gegenüber zu Schulden kommen ließ …“

„Sie nennen das ein Ungeschick, mein Herr?“

„Ich weiß nicht, wie es zu nennen ist, gnädiges Fräulein; ich weiß nur, daß es ein Unrecht war, und ich bitte Sie um Verzeihung. Ich habe durch meine Mama gehört, daß Sie diese Gegend zu verlassen gedenken, und ich – ich konnte nicht so von Ihnen scheiden …“

„Sie haben kein Unrecht gegen mich begangen, mein Herr. Ich wenigstens weiß nur von einem Scherze, von einem – Scherze, wie ein Adeliger ihn sich bald erlaubt gegen ein unbedeutendes Bürgermädchen.“

Der junge Graf trat flammenden Auges vor sie hin. „Sie sind kein Bürgermädchen!“ rief er. „Sie hätten sich sonst geberdet wie eine Verletzte; Sie sind von echtem Blute! Und ich, ich bin kein echter Edelmann, ich hätte sonst meiner Passion nicht den Zügel losgelassen bei einer Dame, die ich …“

„Mein Herr Graf …“

„Eh! Sie haben kein Recht, mir Schweigen zu gebieten, gnädiges Fräulein, wo ich mich anklagen will. Sehen Sie, ich bin erzogen in einer seltsam exclusiven Atmosphäre – mein Vater lehrte mich trinken und den Edelmann aus der Börse herauswerfen; meine Mutter wieder lehrte mich die Menschen unter uns achten, aber meiden. Sie pflegte zu sagen: ‚Die Berührung des Bürgers bringt uns Vortheil, aber wir vergelten ihn mit Undank, und das bringt uns Schande, und an dieser Schande wird einst unsere ganze Kaste zu Grunde gehen!‘ Man sagt, Sie hätten Ihre Jugend einsam verlebt, gnädiges Fräulein, ich habe die meinige im Trotz verleben müssen! Ich sah Sie als Knabe oft an Ihrem Gartenzaune sitzen; aber ich durfte ja nicht heran! Dann ging ich ‚studiren‘, wie man Genossen freihält und sich auf ‚Schläger‘ prügelt. Dann kam ich heim, und mein erster Blick galt dem Gartenzaune, wo jenes Kind gesessen hatte, meine Jugendgespielin, mit der ich nie spielen durfte, die aber dennoch meine Gespielin gewesen war, denn wenn ich mich als Kind einen Tag über danach gesehnt hatte, mit ihr zu raufen, dann kam sie im Traume an mein Knabenbett und legte mir Blumen in die Hände und auf den Mund … Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber ich habe als Kind oft mit Ihnen gespielt – im Traume.“

Der junge Graf schwieg. Marie schaute ihn an; ihre Augen waren noch rein und klar, aber der ernste Schatten des einsam gebliebenen Kindes lag über ihrem Gesichte wie ein Wolkenschatten.

„Dann sah ich Sie wieder; ich war ein langer Mensch geworden, und Sie waren ein liebliches Mädchen. Ich sprach einmal mit Ihnen dort am Anfange Ihres Gartens. Ein zweites Mal wurden Sie von Zigeunern verfolgt; ich jagte die Leute zurück. Wir waren bald los von ihnen. Sie standen neben mir und dankten mir und lachten über die überstandene Angst. Und ich –“ Graf Leon schwieg.

„Und Sie legten Ihren Arm um mich und küßten mich,“ sagte Marie mit brennenden Augen und zitternden Lippen. „Was lag auch daran?“

„Es lag daran!“ rief der junge Mensch heftig, fast zornig, „denn ich – Fräulein Marie, seien Sie mir nicht böse, aber ich liebe Sie, ich – ich dachte immer nur an Sie seit meiner Kinderzeit, und ich konnte nicht anders, als Sie lieb haben. Aber ich durfte Sie nicht küssen, denn meine Mutter ist unversöhnlich und stolz selbst gegen unsere Gleichgeborenen und um wie viel mehr erst gegen Alles, was bürgerlich ist. Und meine Mutter ist eine Frau, die beim Leben meines seligen Vaters wie eine Nonne vegetirte und die seitdem in immer tieferem Gram dahinsiechte; sie hat das Lächeln, die heiteren Reden Ihrer Hausfrauenstellung – aber sie hat einen unheilbaren Schmerz in sich. Ich fühle das, und deshalb habe ich mir geschworen, meine stolze arme Mutter nie zu kränken bis in’s Herz, und deshalb war es ein Unrecht und eine Beleidigung, gnädiges Fräulein, daß ich es wagte, Sie zu küssen; denn der Kuß ehrt nur die Braut, und ich – ich darf Sie ja nicht so lieben, wie – wie ich Sie lieben muß –!“

Graf Leon schwieg. Er hatte sehr rothe Wangen und seine Stimme zitterte. Er neigte sich über die Hand des Fräuleins, und diese legte ihre andere Hand leise, fast unfühlbar, auf sein Haupt. Ihre Lippen bewegten sich dabei, wie sie sich bewegen, wenn man Jemanden segnet oder wenn das Herz in Thränen überströmt.

Graf Leon war aus dem Zimmer schon lange verschwunden. Marie Kärner hatte ihm sagen wollen, er solle warten, der Regen rausche so heftig auf die unbeschützte Straße nieder; aber sie hatte es nicht gethan, sie hatte es nicht vermocht.

Graf Leon war auf seinem Rosse schon längst hinter dem Gitterzaune im Regennebel verschwunden, und Marie stand noch immer auf derselben Stelle des Zimmers, die Augen auf das kleine Bild ihres todten Vaters gerichtet, das jetzt im Regendämmern wie ein Schmutzfleck an der Wand dunkelte.

Nachmittags kam der gute Herr Volkner in einem lederüberzogenen Wagen, um seine Mündel abzuholen. Er selber hatte einen studentenhaften grauen Radmantel um. Sein Bräunchen wieherte den ganzen Rückweg über vor Ungeduld über das Nebelwetter und über die zwei Garderobekoffer hinter ihm, die sich ihm auf die Nerven legten.

Marie Kärner. hatte ein Handtäschchen im Schooße und in ihr Sacktuch eingewickelt das altmodische kleine finstere Bildniß ihres Vaters, auf welchem sein letzter Blick geruht hatte. Herr Volkner redete davon, daß seine alte Frau schon dreimal die Kaffeetücher gewechselt habe zum Empfange ihres lieben Gastes. Der Kutscher sang dem Bräunchen ein heiseres Hohnlied über die empört wackelnden Ohren hinüber, und der Regen plätscherte eintönig über dem Lederdache des Wagens, in welchem das unbeschützte Haupt der Waise einer fremden Zukunft entgegengerüttelt wurde.




5. Testamentsvollstrecker.

Schloß Lobenstein war ein altes Gebäude, aber im modernsten Stile renovirt. Es war ganz im Florenzer Geschmack der Medici gebaut. Galerien liefen rings um den Hof. An den unteren Simsen waren die Wappen der verschiedenen angeheiratheten Stämme angebracht, an den oberen Simsen Ritterbüsten und Ritterfrauenbüsten. Die Zimmer selber hatten noch den altflorentinischen Stil, aber sie waren von Mr. Jasmin möblirt.

Das intime Empfangszimmer der alten Gräfin war ein wahres Bijou in seiner Art, ein graues Tapetennest, mit hellgelben Seidenflaumen ausstaffirt. Die Gräfin in einem rosenfarbenen Mousselin-Deshabillé lag wie ein verwehtes Rosenblatt auf ihrem Sopha. Die alte Dame hatte soeben den Besuch ihres Sohnes gehabt. Der junge Graf hatte ihr le bon jour gegeben, und sie hatte ihm gesagt: „Und wenn Du in die Stadt hinüberkommst, Leon, erkundige Dich nach dem Befinden des Fräuleins.“

„Ah!“ rief Graf Leon, „Mama, ist das unbedingt nothwendig?“

„Mein lieber Sohn,“ sagte die Gräfin in ihrem südländisch sanften Französisch, „wir werden übermorgen Besitzer ihres Landhauses, und man muß ein Geschäft mit Artigkeiten maskiren.“

In demselben Augenblicke hatte ein Bedienter die Ankunft eines „Gespannes“ gemeldet und in zweiter Reihe die Ankunft eines Fräuleins, welches aus dem Gespann gestiegen war. Und er nannte den Namen des Fräuleins aus hochadeliger Dienerverachtung mit falschem Accente.

„Sie kommt, um mir die Condolenzvisite zu erwidern!“ sagte die alte Gräfin fast athemlos. „Sie kennt die Convenienzen, die Du ignoriren willst, Leon!“ Dabei war die alte Gräfin sehr blaß; sie war in eine sehr luftige Mousselin-Sommerwolke gekleidet und sah sehr bekümmert und ängstlich aus. Wie der Besuch eintrat, lag sie wirklich einem verwehten Rosenblatte gleich auf dem Sopha. Graf Leon hatte sich erhoben.

Marie Kärner, in einfache Cachemir-Trauerkleider gehüllt, das von der Hitze zerrüttete Haar aus ihrer Stirn streichend, trat ein. Man sagte ihr freundlichen Empfang, Marie erklärte, sie komme, um dafür zu danken, daß die Frau Gräfin so freundlich gewesen sei, und Graf Leon sprach etwas dazwischen hinein, endlich trat die Pause des Geplauders ein. Und während sowohl die Gräfin als Leon den Mund öffneten, um diese Pause zu brechen, begann Marie Kärner zu sprechen:

„Und nebenbei, Frau Gräfin, hat mich noch eine Pflicht hierhergerufen. Ein Vermächtniß, einen letzten Befehl meines Vaters möchte ich es nennen –“

[466] „Aber, Fräulein! Sie haben mir ja nichts gesagt von einem letzten Befehle Ihres Vaters … für mich …“

„Ich habe ihn auch erst erfahren vor drei Tagen. In dem alten Bibelbuche, in welchem er zu lesen pflegte und welches ich als ein heiliges Vermächtniß aus dem Landhause mit mir nahm, befand sich zwischen dem ledernen Einbande und dem angeklebten Titelblatte ein ein Brief, ein Brief an die Adresse meines Vaters.“ Marie Kärner schwieg. Sie hatte rasch, höflich, sehr erhitzt gesprochen.

Die Gräfin streckte ihre Hand aus und hielt das dargereichte Papier gefaßt. Sie hatte dabei sehr große Augen und wieder trockene Lippen. Aber sie zog den alten Brief nicht an sich, sondern sie mußte noch fragen: „Und in welchem Zusammenhange steht dieser Brief mit mir?“

„Das, Frau Gräfin, wird Ihnen vielleicht der Inhalt sagen.“

„Sie haben ihn also gelesen?“

„Ich mußte wohl.“

Mit diesen Worten neigte sich Marie Kärner zu der Hand der Gräfin nieder – rasch, wie unwillkürlich, und drückte einen Kuß auf dieselbe. Es glich dies seltsamer Weise keinem Acte der Demuth, sondern einer plötzlichen Regung des Edelmuthes von Seiten des jungen Mädchens; denn die Gräfin erröthete unter der Berührung bis in ihre hohe stolze Stirn hinauf.

Man sprach nur wenig mehr. Marie Kärner entfernte sich zur passenden Zeit. Die alte Gräfin und Graf Leon blickten aus dem Fenster ihrem einfachen Gefährte nach, bis es unter den wilden Kastanienbäumen der Allee verschwand. Es war ein drückend heißer Sommertag. Und doch athmete die alte Gräfin leicht und frisch. Ihre Hand lag auf ihrem Busenstreifen, welcher den alten Brief barg.

„Leon!“ rief sie. Graf Leon wandte sich bald um. Er erwachte gleichsam aus einem Traume. „Leon, willst du heute nach Tische deine Cigarre bei mir rauchen? Ich rauche mit Dir, denn sonst würdest Du nicht dazu zu bringen sein, Deine Siesta nach Gewohnheit zu halten. Du hast mich ja doch um etwas zu fragen, Leon.“

„Ich, meine liebe Mama? Ich wüßte nicht!“

Die alte Gräfin machte ein trauriges sinnendes Gesicht und sagte: „Nun, dann habe ich Dir etwas zu erzählen und Dich um etwas zu bitten.“ Sie stand dabei vor ihm in ihrer rosenrothen Mousselinwolke, mit den koketten dunklen Wellen um ihr freundliches altes Gesicht, und ihre Hand lag auf der seinigen.

Graf Leon küßte diese Hand und erwiderte einige kindlich bescheidene Worte.

Bienen und Fliegen summten um das offene Fenster. In der Küche prasselte das Feuer zum Diner unter Hackebegleitung. Der Kammerdiener Loj meldete mit einer Verbeugung, die Kammerjungfer Gusta wünsche sehnlich eine hochgnädige Aufklärung über das Zickzack einer neuen Kleiderfalbel für den Nachmittagsausfahranzug. Ein weißer Schmetterling verirrte sich für einige Secunden in das Zimmer. Das stille Schloß war so alltäglich und gewöhnlich wie immer.




7. Das Samenkorn des Geheimnisses.

Als Leon Stasingen Nachmittags in das Zimmer seiner Mutter trat, fand er dieselbe seiner wartend. Sie hielt ein Buch in der Hand. Vor ihr auf dem Tische lag neben einem Vasenhalse, in welchem eine schlanke sanftfarbige Irisblume welkte, der alte Brief, den an diesem Tage die verwaiste Tochter des alten Nachbars gebracht hatte.

Die geflochtenen Stroh-Jalousien des Zimmers waren halb herabgelassen und warfen flimmernde Lichtnetze auf den mit Bastmatten belegten Boden. Das Sonnenlicht ward dadurch gedämpft und die Temperatur im Zimmer behaglich. Keine Vögel sangen draußen, die Nachmittagsruhe hielt alle umfangen. Graf Leon küßte seiner Mutter die Hand und sprach von ihrem Befehle – lächelnd. Aber der Blick der Gräfin war sinnend und ernst und ein Schatten lag über ihrer Stirn wie der Widerschein eines Schmerzes oder einer Angst.

Und als dann ihr Sohn an ihrer Seite saß, legte sie für einen Augenblick ihr feines Taschentuch an den Mund und Graf Leon merkte, daß es stark nach Wohlgeruch duftete.

„Leon,“ sagte die Gräfin, „ich habe ernst mit Dir zu reden. Lange habe ich mich danach gesehnt, und habe ich mich davor gefürchtet. Es lag wie das Bewußtsein einer alten Schuld auf mir. Die eine Hälfte dieser Schuld will ich jetzt abtragen; die andere Hälfte …“ Die Gräfin schwieg einen Augenblick.

Graf Leon, verwirrt auf den Brief sehend, den seine Mutter jetzt zur Hand nahm, sagte: „Sie sind traurig, Mama!“

Die Gräfin fuhr fort: „Dieser Brief, Leon, ist ein Brief von meiner Hand, den ich vor vielen, vielen Jahren an Daniel Kärner geschrieben habe.“ Das Spitzentüchlein näherte sich wieder dem verstummenden schönen Munde, und in den Augen der alten Dame flimmerte es wie eine unterdrückte Thräne.

Leon Stasingen hatte seine Mutter nie weinen sehen. Er starrte auf. „Mama, mein Gott! Ein Brief von Ihnen an diesen Mann! Haben wir denn jemals mit diesem Hause in Verkehr gestanden? Haben unsere Familien einander jemals gekannt, oder – anerkannt?“ Die Aufregung in dem Wesen des jungen Grafen rührte vielleicht von seiner Bestürzung über den Ernst und die Traurigkeit seiner Mutter her, vielleicht auch bewegte ein anderes Erschrecken, eine andere jähe Hoffnung sein Herz.

Die Gräfin legte mit einer raschen Bewegung den Brief auf den Tisch, daß die Irisblume in dem Vasenhalse leicht erzitterte, und sagte mit gepreßter Stimme, hastig aufathmend, wie um eine Last von sich abzuwälzen:

„Höre mich an, mein Sohn. Jetzt, da das Geheimniß mit dem verstummten Munde des alten Mannes begraben ist, jetzt, da kein Hauch davon die Wände dieses alten Hauses mehr beflecken und den Lazur seines Wappens trüben kann, da das Geheimniß todt ist wie der verwehte Windhauch der Mitternacht, jetzt, wo ich froher und ruhiger sein sollte, jetzt drängt es sich gewaltsam empor aus meinem eigenen Herzen; ich muß es Dir vertrauen, wenn es mich nicht erdrücken soll. Denn ein Geheimniß ist wie ein begrabener Zauber. Erst wenn er tief genug verborgen und verscharrt ist, blüht er mächtig an’s Licht in einer geheimnißvoll nächtlichen Flamme.

Höre mich an. Unterbrich mich nicht. Als Mädchen schon liebte ich Deinen Vater – heiß, trotzig. Ich war ein verzogenes Kind, stolz und eigenwillig wie mein stolzer und eigenwilliger Vater. Wir waren herabgekommen. Mein Cousin, Graf Stasingen, war ein verschuldeter, bildschöner Officier. Er mußte die Armee quittiren wegen tausend kleinlicher Verbindlichkeiten. Das, was ich Dir jetzt erzählen will, wollte Dein Vater im Sterben beichten. Die Angst und das Gewissen hoben ihm die Brust wie ein Krampf und ließen ihn nicht sterben. Als er aber dem Priester seine Lippen öffnen wollte, schloß ich ihm dieselben mit einem Kuß der Angst und der Drohung. Ein Priester ist doch nur ein Mensch – es giebt Stunden, wo er trinkt. Dein Vater durfte das nicht beichten. Um ihm die Angst zu verscheuchen, gelobte ich ihm in’s Ohr, für ihn zu beichten – Dir zu beichten. Dein Vater starb da mit freierem Athem. Ich vollbringe jetzt diese Pflicht.

Ich liebte also deinen Vater, meinen Cousin, diesen quittirten verschuldeten Officier, bis – bis zum Heirathen. Aber wie heirathen? Er hatte Gläubiger, die ihm Straßenkoth nachwarfen, und ich und Papa waren im steigenden Sinken. – das war ein Sinken ohne Ende, – Das ‚Verlorensein‘ in Geldsachen giebt einen merkwürdigen Leichtsinn. Eines Tages sagte mir mein Cousin: ‚Adalie, der junge reiche Nachbar hier, der Daniel Kärn, oder wie er heißt, der heute bei uns seine Visite gemacht hat, ist ein kleiner Crösus; er hat einen Stall voll der schönsten Reitpferde, er führt Grooms und Jockeys. Wir können da ersparen, wenn wir manchmal seine Wagen zu Schanden fahren und seine Pferde reiten. Die unsrigen werden ja bald der … Restaurirung bedürftig sein. Mache, daß er sich in uns vernarrt.‘ Ich lachte über die Rede – sie kam mir echt französisch-bohèmenmäßig vor, und das hatte seinen Reiz. – Ich – machte, daß der junge Kaufmannsnabob sich in uns … in mich vernarrte. Die Söhne ehemaliger reicher Wirthsleute, Kaufleute und Fleischhacker glauben ja, uns gleich zu werden durch Goldsachen, Pferde und neue Stiefelchen. Sie nehmen unsere ironische Unterthänigkeit für Anbetung und Verblüfftsein. Sie erkennen nicht, daß ihre Goldketten wie plumpes Silber anmuthen, und ihre Brillantringe wie bleierne Jahrmarktsringelchen durch die Bewunderung, die sie selber diesen Dingen zollen. Daniel Kärner, ein ehrlicher, hübscher, goldkettenbehängter, diamantberingter, nach Gold unausstehlich riechender, braver junger Mann verliebte sich in mich. Und [467] Cousin Stasingen wurde sein lachender Camerad im Reiten und Fahren. Und eines Abends erbrach mein Cousin Stasingen die Casse des Kaufmannshauses Joh. Jakob Kärner.“

Graf Leon machte eine jähe Bewegung. Die Gräfin, ruhig wie eine Statue, erhob ihre Hand.

„Der Geist meines armen Gatten, Deines Vaters, hat jetzt Ruhe,“ sagte sie. „Ich habe die Beichte abgelegt – für ihn. Ein Sohn kann nichts thun, als seinen Vater lieben. Ein Fremder könnte ihn beschimpfen. Und das Geheimniß mußte emporblühen aus seiner Samengruft. Der Adel des Fehltritts ist der Muth des Geständnisses. Gott segne meinen armen Mann!“

Die Gräfin faltete die Hände über ihrem Sohne, der in seinem Fauteuil in sich selber zusammenfiel.

„Er war schön, jung, von überreichen Cameraden umschwirrt. Er verlor den Halt in sich. Es ist ein Fluch unseres Standes, daß wir die Armuth für eine Ungerechtigkeit halten. Wir glauben, Gott sei uns den Reichthum schuldig, wie der Bucklige grollend glaubt, er habe ein Anrecht auf die Schönheit gehabt.

Mein Cousin wurde bei seinem Fehltritte ertappt. Zuerst von dem alten Cassendiener, welcher die That sah und von dem Thäter verwundet wurde. Dann kam der Sohn des Hauses, der im Geschäftsgebäude schlief, dazu. Der ließ seinen ‚Freund‘ entkommen, mit den Worten: ‚Fliehen Sie vor der Strafe, da Sie der Schande nicht mehr entfliehen können.‘ Ich wußte Alles noch in derselben Nacht. Das Entsetzen über die That, aber noch mehr die Verzweiflung um den Geliebten[WS 1] meines Herzens, raubten mir fast den Verstand. Im Morgengrauen eilte ich an eine Stelle, wohin ich den Kaufmannssohn bescheiden ließ. Ich wußte, daß er mich liebe, und ich wußte, daß sein einfaches bürgerliches Herz treuer und echter und länger an mir hängen werde, als andere Herzen.

Ich beschwor ihn, meinen Cousin, meinen Namen, meine Familie vor der Schande zu retten. Ich faltete meine Hände, ich fiel auf die Kniee, und küßte seine Hand! Ich gestand ihm in meiner Verwirrung, daß ich ihn nie geliebt habe, sondern nur in meinem Vetter lebe mit Herz und Seele, und das, was jeder für eine Ungeschicklichkeit halten würde, wurde uns zur Rettung. Daniel Kärner weinte bitterlich. Ich sehe noch heute, wie der Diamantring an seinem Finger und die Goldkette an seiner Brust dabei vibrirten, diese beiden Dinge, um derenthalben ich ihn so verachtete! Er weinte bitterlich, und die Verzweiflung über sein verlorenes, zertretenes Herzensleben machte ihn toll. Was lag ihm über dem Grabe seiner Liebe an der Ehre, an seiner Zukunft, an seinem Leben! Es hat junge Männer gegeben, die sich tödteten aus Schmerzen über das Zerfließen einer ersten Illusion. Daniel Kärner that mehr. Die Sache war von seinem Vater bereits den Gerichten angezeigt. Daniel Kärner, den man allein neben dem bewußtlosen Diener gefunden hatte, gestand ein, die That verübt zu haben.

Die Sache wurde nun vertuscht mit vielen Kosten; aber der Makel blieb auf dem jungen Kaufmann. Man wies mit Fingern auf ihn. Er verließ die Stadt, das Land. Vor seiner Abreise schrieb ich ihm einen Brief. Mein vor Scham brennendes Herz dictirte ihn mir in die Feder. In diesem Briefe gestand ich der ganzen Welt die Verirrung meines Verwandten und den Edelmuth und die Unschuld des jungen Menschen. Daniel Kärner ging in ein fremdes Land, ohne von dem Briefe Gebrauch zu machen. Aber er sandte ihn mir auch nicht zurück. Er schrieb mir: ‚Ich behalte den Brief, denn ich werde ihn vielleicht einst für meine Kinder brauchen, oder für ein Ereigniß, welches ich voraussehe‘. Ich wußte, was er damit meinte; ich heirathete meinen Cousin, der Tod eines reichen geizigen Onkels machte uns reich, aber nicht glücklich; die Jugendsünde lastete auf dem Gemüthe Deines Vaters, er suchte sich zu betäuben. Nach dem Tode des alten Kärner, viele, viele Jahre später, kehrte Daniel in seine Heimath zurück, er brachte eine Frau und ein Kind mit, er verkaufte das Geschäft, denn der Makel war auf seinem Leben geblieben, und er zog in das Landhaus, wo er ein einsames Leben führte. Nur zweimal noch hat er das Schloß betreten, mit dem Briefe in der Hand; es war, als Dein Vater sich so stark betäubte, daß Daniel Kärner mich unglücklich wähnte. Kannst Du Dir ein edleres Herz denken, Leon? O Gott! ich habe ihn geliebt, geliebt, seit er fortgegangen war, es war eine Liebe, unerträglich in ihrer Reue, aber selig süß in ihrem stillen Cultus. Nun ist er todt, der Tod hatte ihn zu schnell überrascht, als daß er selber mir den Brief hätte zurückstellen können, heute hat ihn sein verwaistes Kind gebracht, sie kennt dessen Inhalt. Leon, du weißt, man hat deinen todten Vater für hochmüthig gehalten, aber sein Hochmuth war sein Gewissen. Du weißt, ich werde für hochmüthig gehalten, aber mein Hochmuth ist die Erinnerung. Und Du bist einsam erzogen worden – für denselben Hochmuth, Leon, für den Hochmuth der Demuth, die Du üben sollst. Leon! Marie Kärner, das Mädchen, dessen Kindheit durch unsere Schuld verdüstert und freudenleer geworden ist, ich möchte es glücklich sehen, ich möchte für sie sorgen dürfen Tag für Tag. Sie ist wohlhabend, aber freundlos; blühend, aber traurig. Ich möchte sie zu mir nehmen; ich werde mir schon ein Recht erdenken dafür, ihr selber gegenüber, daß sie kommen muß! Leon, willst du mir darin helfen. Willst du mich unterstützen in meiner Pflicht, in meiner Sühne, indem du Mariens Bruder wirst?“

Leon war schon längst vor seiner Mutter auf den Knieen gelegen, und hatte ihre Hände an seine Lippen gepreßt. Jetzt, wie ihre Hand halb bittend und halb segnend über sein Haar fuhr, schaute er zum ersten Male auf, thränenüberströmt, und durch diese Thränen lächelnd: „Aber, Mama, ich liebe sie ja – ich liebe sie unaussprechlich! Und ich glaube, sie – sie liebt mich wieder.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gelieben