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Das Haidedorf/Der Haidebewohner

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[140]

4.
Der Haidebewohner.


Und als des andern Tages die ersten Sonnenstrahlen glänzten, und die Haidedorfbewohner bereits im Festputze gerüstet waren, um zur fernen Kirche zu gehen: so war einer der Bewohner mehr, und einer der Kirchgänger mehr. Die Nacht hatte es Manchem verwischt, daß er gekommen, aber der Morgen brachte ihnen wieder neu den neuen Besitz, damit sie sich daran ergötzten: die Einen mit ihrer Neugierde, die Andern mit ihrer Liebe – Alle aber hatten eine unsichere Scheu, selbst die Eltern, was es denn wäre, das ihnen an ihm zurückgebracht worden sei, und ob er nicht ein fremdes Ding in der übrigen Gleichheit und Einerleiheit des Dorfes wäre.

[141] Er aber stand schon angekleidet, und zwar in dem leinenen Haidekleide und dem breiten Hute im Freien, und schaute mit den großen, glänzenden, sanften Augen um sich, als die Mutter zu ihm trat und ihn fragte, ob er auch in die Kirche gehen werde, oder ob er müde sei, und Gott zu Hause verehren wolle.

„Ich bin nicht müde,“ antwortete er freundlich, „und ich werde mit Euch gehen;“ denn er sah, daß die Mutter zum Kirchengehen angezogen war, und daß auch der Vater in seinem Sonntagsrocke aus dem Hause komme.

Festliche Gruppen zeigten sich hie und da auf dem Anger des Dorfes; Manche traten näher und grüßten, Andere hielten sich verschämt zurück, besonders die Mädchen, und wieder andere, welche zu Hause blieben, und in der Festtagseinsamkeit das Dorf hüten mußten, standen unter den Hausthüren oder sonst wo, und schauten zu.

Und als noch Pfingstthau auf den Haidegräsern funkelte und glänzte, und als die Morgenkühle wehte, setzte sich schon Alles in Bewegung, um zu rechter Zeit anzulangen – und so führte denn Felix das alte Weib an seiner Hand, und leitete sie so zärtlich um den sanften Haidebühel hinan, wie sie einstens ihn, da er noch ein schwacher Knabe war und Sonntags Vormittags die Ziegen und Schafe zu Hause lassen durfte, damit er hinausgehe und das Wort Gottes höre. Der Vater ging innerlich erfreut daneben, die Andern theils voran, theils hinten. Endlich war die letzte Gruppe hinter dem Bühel verschwunden, die Nachschauenden traten in ihre Häuser zurück, und kurz darauf war jene funkelnde Einsamkeit über den Dächern, die so gern an heitern Sonntagvormittagen in den verlassenen Dörfern ist; – die Stunden rückten trockener und heißer vor, eine dünne blaue Rauchsäule stieg hie und da auf, und mitten in dem Garten des Haidehauses kniete die hagere Großmutter und betete. – Und wie endlich nach stundenlanger Stille durch die dünne, weiche ruhende Luft, wie es sich zuweilen an ganz besonders schweigenden Tagen zutrug, der ferne feine Ton eines Glöckleins kam, da kniete manche Gestalt auf dem Rasen nieder, und klopfte an die Brust; – dann war es wieder stille und blieb stille – – die Sonnenstrahlen sanken auf die Häuser nieder, mehr und mehr senkrecht, dann wieder schräge, daß die Schatten auf der andern Seite waren – endlich kam der Nachmittag, und mit ihm alle Kirchgänger – sie legten die schönsten Kleider und Tücher von dem erhitzten Körper, thaten leichtere an, und jedes Haus verzehrte sein vorgerichtetes Pfingstmahl.

[142] Und was war es denn, was ihnen an Felix zurückgebracht worden war, und warum ist er denn so lange nicht gekommen, und wo ist er denn gewesen?

Sie wußten es nicht.

In der Kirche war er mit gewesen; – fast so kindlich andächtig, wie einst, hatte er auf die Worte des Priesters gehorcht, sanftmüthig war er neben der Mutter nach Hause gekehrt, und wenn dann bei Tische der Vater das Wort nahm, so brach Felix das seine aufmerksam ab, und hörte zu – und gegen Abend saß er mit der Großmutter im Schatten des Hollunderbusches, und redete mit ihr, die ihm ganz sonderbare und unverständliche Geschichten vorlallte – – und wenn dann so den Tag über die Neugier der Mutter in sein Auge blickte, halb selig, halb schmerzenreich, wenn sie nach den einstigen weichen Zügen forschte – ihren ehemaligen heitern, treuherzigen, schönen Haideknaben suchte sie – – – und siehe, sie fand ihn auch: in leisen Spuren war das Bild des gutherzigen Knaben geprägt in dem Antlitze des Mannes, aber unendlich schöner – so schön, daß sie oft einen Augenblick dachte, sie könne nicht seine Mutter sein; – wenn er den ruhigen Spiegel seiner Augen gegen sie richtete, so verständig und so gütig – oder wenn sie die Wangen ansah, fast so jung, wie einst, nur noch viel dunkler gebräunt, daß dagegen die Zähne wie Perlen leuchteten, dieselben Zähne, die schon an dem Haidebuben so unschuldig und gesund geglänzt – und um sie herum noch dieselben lieblichen Lippen, die aber jetzt reif und männlich waren, und so schön, als sollte sogleich ein süßes Wort daraus hervorgehen, sei’s der Liebe, sei’s der Belehrung – –

„Er ist gut geblieben,“ jauchzte in ihr dann das Mutterherz; „er ist gut geblieben, wenn er auch viel vornehmer ist, als wir.“

Und in der That, es war ein solcher Glanz keuscher Reinheit um den Mann, daß er selbst von dem rohen Herzen des Haideweibes erkannt und geehrt wurde.

Was lebte denn in ihm, das ihn unangerührt durch die Welt getragen, daß er seinen Körper als einen Tempel wiederbrachte, wie er ihn einst aus der Einsamkeit fortgenommen? – –

Sie wußten es nicht; nur immer heiterer, und fast einfältiger legte sich sein Herz dar, so wie die Stunden des ruhigen Festtages nach und nach verflossen.

Spät Abends erzählte er ihnen, da alle um den weißen buchenen Tisch saßen, und auch Marthe mit ihrem Kinde da war, und Benedikt [143] und andere Nachbarn – er erzählte ihnen von dem gelobten Lande, wie er dort gewesen, wie er Jerusalem und Bethlehem gesehen habe, wie er auf dem Tabor gesessen, sich in dem Jordan gewaschen; – – den Sinai habe er gesehen, den furchtbar zerklüfteten Berg, und in der Wüste ist er gewandelt. – Er sagte ihnen, wie seine gezimmerten Truhen mit dem Postboten kommen würden, dann werde er ihnen Erde zeigen, die er aus den heiligen Ländern mitgebracht – auch getrocknete Blumen habe er, und Kräuter, aus jenem Lande und Fußtritte des Herrn, und was nur immer dort das Erdreich erzeuge und bringe – und viel heiliger, viel heißer und viel einsamer seien jene Haiden und Wüsten, als die hiesige, die eher ein Garten zu nennen – – und wie er so redete, sahen alle auf ihn, und horchten – und sie vergaßen, daß es Schlafenszeit vorüber, daß die Abendröthe längst verglommen, daß die Sterne emporgezogen, und in dichter Schaar über den Dächern glänzten.

Von Städten, den Menschen und ihrem Treiben hatte er nichts gesagt, und sie hatten nicht gefragt. Die Worte seines Mundes thaten so wohl, daß ihnen gerade das, was er sagte, das Rechte däuchte, und sie nicht nach Anderem fragten.

Marthe trug endlich das schlafende Kind fort, Benedikt ging auch, die Nachbarn entfernten sich – und noch seliger und noch freudenreicher, als gestern gingen die Eltern zu Bette, und selbst der Vater dachte, Felix sei ja fast, wie ein Prediger und Priester des Herrn.

Auch auf die Haide war er gleich nach den Feiertagen gegangen, auf seiner Rednerbühne war er gesessen; die Käfer, die Fliegen, die Faltern, die Stimme der Haidelerche und die Augen der Feldmäuschen waren die nämlichen. Er schweifte herum, die Sonnenstrahlen spannen, – dort dämmerte das Moor, und ein Zittern und Zirpen und Singen – – – und wie der Vater ihn so wandeln sah, mußte er sich über die dünnen grauen Haare fahren, und mit der schwielenvollen Hand über die Runzeln des Angesichts streichen, damit er nicht glaube, sein Knabe gehe noch dort, und es fehlen nur die Ziegen und Schafe, daß es sei wie einst, und daß die lange, lange Zeit nur ein Traum gewesen sei. Auch die Nachbarn, wie er so Tag nach Tag unter ihnen wandelte, wie ihn schon alle Kinder kannten, wie er mit jedem derselben, auch mit dem häßlichen, so freundlich redete, und wie er so im Linnenkleide durch die neuen Felder ging – glaubten ganz deutlich, er sei einer von ihnen, und doch war es auch wieder ganz deutlich, wie er ein weit anderer sei, als sie.

[144] Eine That müssen wir erzählen, ehe wir weiter gehen, und von seinem Leben noch entwickeln, was vorliegt – eine That, die eigentlich geheim bleiben sollte, aber ausgebreitet wurde, und ihm mit eins alle Herzen der Haidebewohner gewann.

Als endlich die gezimmerten Truhen mit dem Postboten in die Stadt, und von da durch Getreidewagen auf die Haide gekommen waren, als er daraus die Geschenke hervorgesucht und ausgetheilt, als er tausenderlei Merkwürdiges gezeigt, Blumen, Federn, Steine, Waffen – und Alles genug bewundert worden war, – trat er desselben Tages Abends zu dem Vater in die hintere Kammer, als er gesehen hatte, daß derselbe hineingegangen, und, wie er gern that, sich in den hineinfallenden Fliederschatten gesetzt hatte – er trat beklommen hinein und sagte mit fast bebender Stimme: „Vater, Ihr habt mich auferzogen, und mir Liebes gethan, seit ich lebe – ich aber habe es schlecht vergolten; denn ich bin fortgegangen, daß Ihr keinen Gehülfen Eurer Arbeit hattet, und Eurer Sorge für Mutter und Großmutter – und als ich gekommen, warfet Ihr mir nichts vor, sondern waret nur freundlich und lieb; ich kann es nicht vergelten, als daß ich Euch nicht mehr verlassen und Euch noch mehr verehren und lieben will, als sonst. So viel Jahre mußtet Ihr sein, ohne in mein Auge schauen zu können, wie es Eurem Herzen wohlgethan hätte; – aber ich bleibe jetzt immer, immer bei Euch. – Allein weil mich Euch Gott auch zur Hülfe geboren werden ließ, so lernte ich draußen allerlei Wissenschaft, wodurch ich mir mein Brot verdiente, und da ich wenig brauchte, so blieb Manches für Euch übrig. Ich bringe es nun, daß Ihr es auf Euer Haus wendet, und im Alter zu Gute bekommet, und ich bitte Euch, Vater, nehmet es mit Freundlichkeit an.“

Der Alte aber, hochroth, zitternd vor Scham und vor Freude, war aufgesprungen und wies mit beiden Händen die dargebotenen Papiere von sich, indem er sagte: „Was kommt Dir bei, Felix? Ich bin so erschrocken, – da sei Gott vor, daß ich die Arbeit und Mühe meines Kindes nehme – ach, mein Gott, ich habe Dir ja nichts geben können, nicht einmal eine andere Erziehung, als die Dir der Herr auf der Haide gab, nicht einmal das fromme Herz, das Dir von selber gekommen. – Du bist mir nichts schuldig – die Kinder sind eine Gottesgabe, daß wir sie erziehen, wie es ihnen frommt, nicht wie es uns nützt; – verzeihe mir nur, Felix, ich habe Dich nicht erziehen können, und doch scheint [145] es mir, bist Du so gut geworden, so gut, daß ich vor Freuden weinen möchte“ – –

Und kaum hatte er das Wort heraus, so brach er in lautes Weinen aus, und tastete ungeschickt nach Felix Hand – Dieser reichte sie; er konnte sich nicht helfen, er mußte sein Antlitz gegen die Schulter des Vaters drücken, und das grobe Tuch des Rockes mit seinen heißesten Thränen netzen. Der Vater war gleich wieder still, und sich gleichsam schämend und beruhigend sagte er die Worte: „Du bist verständiger als wir, Felix. Wenn Du bei uns bleibst, arbeite, was Du willst; ich verlange nicht, daß Du mir hilfst – da ist ja Benedikt und seine Knechte, wenn es noth thäte; auch habe ich schon ein Erspartes, daß ich mir im Alter einen Knecht nehmen kann. – Du aber wirst schon etwas arbeiten, wie es Gott gefällig und wie es recht ist.“

Felix aber dachte in seinem Herzen, er werde doch in Zukunft, wenn es nöthig sei, lieber in der That selbst, und durch Leistung des eben Mangelnden beistehen, damit ihm das Herz nicht so weh thäte, wenn er dem Vater gar nichts Gutes bringen könnte. Ach, das Beste hat er ja schon gebracht, und wußte es nicht, das gute, das überquellende Herz, das jedem, selbst dem gehärtetsten Vater ein freudigeres Kleinod ist, als alle Güter der Erde, weil es nicht Lohn nach außen ist, sondern Lohn in der tiefsten, innersten Seele.

Der Vater that nun gleichgültig und machte sich mit diesem und jenem im Zimmer zu thun; kaum aber war Felix hinaus, so lief er eiligst zur Mutter und erzählte ihr, was der Sohn hatte thun wollen – sie aber faltete die Hände, lief vor die Heiligenbilder der Stube, und that ein Gebet, das halb ein Frevel stürmenden Stolzes, halb ein Dank der tiefsten Demuth war.

Dann aber ging sie hin und breitete es aus.

Das war nun klar, daß er gut war, daß er sanft, treu und weich war, und das sahen sie auch, daß er schön und herrlich war; – des Weitern forschten sie nicht, was es sei, und was es sein werde.

Er aber ging her, und ließ sich weit draußen von dem Dorfe entlegen, auf der Haide ein Stück Landes zumessen, und begann mit vielen Arbeitern ein steinernes Haus zu errichten. – Daß es größer werde, als er allein brauche, fiel Allen auf; aber als es im Herbste fertig war, als es eingerichtet und geschmückt war, bezog er es gleichwohl allein, und so verging der Winter. Es kam der blüthenreiche Frühling – und Felix saß in seinem Hause auf der Haide, und herrschte, wie einst, über alle [146] ihre Geschöpfe, und über all die hohen stillen Gestalten, die sie jetzt bevölkerten.

Was war es denn aber, was den Eltern und Nachbarn an ihm zurückgebracht worden ist?

Sie wußten es nicht.

Ich aber weiß es. Ein Geschenk ist ihm geworden, das den Menschen hoch stellt, und ihn doch verkannt macht unter seinen Brüdern – das einzige Geschenk auf dieser Erde, das kein Mensch von sich weisen kann. Auf der Haide hatte es begonnen, auf die Haide mußte er es zurücktragen. Bei wem eine Göttin eingekehrt ist, lächelnden Antlitzes, schöner als alles Irdische, der kann nichts anders thun, als ihr in Demuth dienen.

Damals war er fortgegangen, er wußte nicht, was er werden würde – eine Fülle von Wissen hatte er in sich gesogen: es war der nächste Durst gewesen, aber er war nicht gestillt; er ging unter Menschen, er suchte sie völkerweise – er hatte Freunde – er strebte fort, er hoffte, wünschte und arbeitete für ein unbekanntes Ziel – selbst nach Gütern der Welt und nach Besitz trachtete er: aber durch alles Erlangte, – durch Wissen, Arbeiten, Menschen, Eigenthum – war es immer, als schimmere weit zurückliegend etwas, wie eine glänzende Ruhe, wie eine sanfte Einsamkeit – – – hatte sein Herz die Haide, die unschuldsvolle, liebe Kindheitshaide mitgenommen? oder war es selber eine solche liebe, stille, glänzende Haide? – – Er suchte die Wüsten und die Einöden des Orients, nicht brütend, nicht trauernd, sondern einsam, ruhig, heiter, dichtend. – Und so trug ihn dieses sanfte, stille Meer zurück in die Einsamkeit, und auf die Haide seiner Kindheit – – und wenn er nun so saß auf der Rednerbühne, wie einst, wenn die Sonnenfläche der Haide vor ihm zitterte und sich füllte mit einem Gewimmel von Gestalten, wie einst, und manche daraus ihn anschauten mit den stillen Augen der Geschichte, andere mit den seligen der Liebe, andere den weiten Mantel großer Thaten über die Haide schleifend – und wenn sie erzählten von der Seele und ihrem Glücke, von dem Sterben und was nachher sei, und von Anderem, was die Worte nicht sagen können – und wenn es ihm tief im Innersten so fromm wurde, daß er oft meinte, als sehe er weit in der Öde draußen Gott selbst stehen, eine ruhige silberne Gestalt: dann wurde es ihm unendlich groß im Herzen, er wurde selig, daß er denken könne, was er dachte – und es war ihm, daß es nun so gut sei, wie es sei.

[147] Die blödsinnige Großmutter war die erste gewesen, die ihn erkannt hatte.

„Es sind der Gaben eine Unendlichkeit über diese Erde ausgestreut worden,“ hatte sie eines Tages gerufen, „die Halmen der Getreide, das Sonnenlicht und die Winde der Gebirge – da sind Menschen, die den Segen der Gewächse erziehen, und ihn ausführen in die Theile der Erde; es sind, die da Straßen ziehen, Häuser bauen, dann sind andere, die das Gold ausbreiten, das in den Herzen der Menschen wächst, das Wort, und die Gedanken, die Gott aufgehen läßt in den Seelen. Er ist geworden, wie einer der alten Seher und Propheten, und ist er ein solcher, so hab’ ich es vorausgewußt, und ich habe ihn dazu gemacht, weil ich die Körner des Buches der Bücher in ihn geworfen; denn er war immer weich wie Wachs, und hochgesinnt, wie einer der Helden.“

Die Großmutter war es aber auch mit der er sich allein mehr beschäftigte, als alle Andern mit ihr; er war der Einzige, der sie zu flüssigen Reden bringen konnte, und der Einzige, der ihre Reden verstand; er las ihr oft aus einem Buche vor, und die hundertjährige Schülerin horchte emsig auf, und in ihrem Angesichte waren Sonnenlichter, als verstände sie das Gelesene.

So war der Frühling vergangen, so waren wieder Pfingsten gekommen: – aber wie waren es dießmal andere Pfingsten, als vor einem Jahre. Eine doppelte furchtbare Schwüle lag auf beiden, auf dem Dorfe, und auf Felix, und bei beiden lösete sich die Schwüle am Pfingsttage – aber wie verschieden bei beiden!

Ich will noch, ehe wir von seinem einfachen Leben scheiden, dieses letzte Ergebniß, das ich weiß, erzählen.

Wenn er so manchmal von der Haide kam und durch das Dorf ging, Geschenke für die Kinder seiner Schwester tragend, Steinchen, Muscheln, Schneckenhäuser und dergleichen, die Locken um die hohe Stirne geworfen, wie ein Kriegsgott, und doch die schwarzen Augen so sehnsuchtsvoll und schmachtend: dann war er so schön, und es trug ihn wohl manche Dirne der Haide als heimlichen Abgott im Herzen verborgen, aber er selber hatte einen Abgott im Herzen; – einen einzigen Punkt süßen heimlichen Glückes hatte er aus der Welt getragen, als er ihre Ämter und Reichthümer ließ – einen einzig süßen Punkt durch alle Wüsten – und heute, morgen, dieser Tage sollte es sich zeigen, ob er sein Haus für sich allein gebaut, oder nicht. – Alle Kraft seiner Seele [148] hatte er zu der Bitte aufgeboten, und mit Angst harrte er der Antwort, die ewig, ewig zögerte.

Wohl kam Pfingsten näher und näher, aber zu der Schwüle, die unbekannt und unsichtbar über des Jünglings Herzen hing, gesellte sich noch eine andere über dem ganzen Dorfe drohend, ein Gespenst, das mit unhörbaren Schritten nahte; – nämlich jener glänzende Himmel, zu dem Felix sein inbrünstiges Auge erhoben, als er jene schwere Bitte abgesandt hatte, jener glänzende Himmel, zu dem er vielleicht damals ganz allein emporgeblickt, war seit der Zeit wochenlang ein glänzender geblieben, und wohl hundert Augen schauten nun zu ihm ängstlich auf. Felix, in seiner Erwartung befangen, hatte es nicht bemerkt; aber eines Nachmittags, da er gerade von der Haide dem Dorfe zuging, fiel ihm auf, wie denn heuer gar so schönes Wetter sei; denn eben stand über der verwelkenden Haide eine jener prächtigen Erscheinungen, die er wohl öfters, auch in morgenländischen Wüsten, aber nie so schön gesehen, nämlich das Wasserziehen der Sonne: – aus der ungeheuren Himmelsglocke, die über die Haide lag, wimmelnd von glänzenden Wolken, schossen an verschiedenen Stellen majestätische Ströme des Lichtes, und, auseinanderfahrende Straßen am Himmelszelte bildend, schnitten sie von der gedehnten Haide blendend goldne Bilder heraus, während das ferne Moor in einem schwachen milchichten Höhenrauche verschwamm.

So war es dieser Tage oft gewesen, und der heutige schloß sich wie seine Vorgänger; nämlich zu Abends war der Himmel gefegt, und zeigte eine blanke hochgelb schimmernde Kuppel.

Felix ging zu der Schwester, und als er spät Abends in sein Haus zurückkehrte, bemerkte er auch, wie man im Dorfe geklagt, daß die Halme des Kornes so dünne standen, so zart, die wolligen Ähren pfeilrecht empor streckend, wie ohnmächtige Lanzen.

Am andern Tage war es schön, und immer schönere Tage kamen und schönere.

Alles und jedes Gefühl verstummte endlich vor der furchtbaren Angst, die täglich in den Herzen der Menschen stieg. Nun waren auch gar keine Wolken mehr am Himmel, sondern ewig blau und ewig mild lächelte er nieder auf die verzweifelnden Menschen. Auch eine andere Erscheinung sah man jetzt oft auf der Haide, die sich wohl früher auch mochte ereignet haben, jedoch von Niemand beachtet; aber jetzt, wo viele tausend und tausend Blicke täglich nach dem Himmel gingen, wurde sie als unglückweissagender Spuk betrachtet: nämlich ein Waldes- und [149] Höhenzug, jenseits der Haide gelegen, und von ihr aus durchaus nicht sichtbar, stand nun öfters sehr deutlich am Himmel, daß ihn nicht nur Alles sah, sondern daß man sich die einzelnen Rücken und Gipfel zu nennen und zu zeigen vermochte – und wenn es im Dorfe hieß, es sei wieder zu sehen, so ging Alles hinaus, und sah es an, und es blieb manchmal stundenlang stehen, bis es schwankte, sich in Längen- und Breitenstreifen zog, sich zerstückte, und mit eins verschwand.

Die Haidelerche war verstummt; aber dafür tönte den ganzen Tag, und auch in den warmen thaulosen Nächten das ewige einsame Zirpen und Wetzen der Heuschrecken über die Haide, und der Angstschrei des Kibitz. Das flinke Wässerlein ging nur mehr wie ein dünner Seidenfaden über die graue Fläche, und das Korn und die Gerste im Dorfe standen fahlgrün und wesenlos in die Luft, und erzählten bei jedem Hauche derselben mit leichtfertigem Rauschen ihre innere Leere. Die Baumfrüchte lagen klein und mißreif auf der Erde, die Blätter waren staubig und von Blümlein war nichts mehr auf dem Rasen, der sich selber wie rauschend Papier zwischen den Feldern hinzog.

Es war die äußerste Zeit. Man flehte mit Inbrunst zu dem verschlossenen Gewölbe des Himmels. Wohl stand wieder mancher Wolkenberg tagelang am südlichen Himmel, und nie noch wurde ein so stoffloses Ding wie eine Wolke, von so vielen Augen angeschaut, so sehnsüchtig angeschaut, als hier – aber wenn es Abend wurde, erglühte der Wolkenberg purpurig schön, zerging, lösete sich in lauter wunderschöne zerstreute Rosen am Firmamente auf, und verschwand – und die Millionen freundlicher Sterne besetzten den Himmel.

So war Freitag vor Pfingsten gekommen; die weiche blaue Luft war ein blanker Felsen geworden. Vater Niklas war Nachmittags über die Haide gekommen, das Bächlein war nun auch versiecht, das Gras bis auf eine Decke von schalgrauem Filze verschwunden, nicht Futter gebend für ein einzig Kaninchen; nur der unverwüstliche und unverderbliche Haidesohn, der mißhandelte und verachtete Strauch, der Wachholder, stand mit eiserner Ausdauer da, der einzige lebhafte Feldbusch, das grüne Banner der Hoffnung; denn er bot freiwillig gerade heuer eine solche Fülle der größten blauen Beeren, so überschwenglich, wie sich keines Haidebewohners Gedächtniß entsinnen konnte. – Eine plötzliche Hoffnung ging in Niklas Haupte auf, und er dachte als Richter mit den Ältesten des Dorfes darüber zu rathen, wenn es nicht morgen oder übermorgen sich änderte. Er ging weit und breit und betrachtete die Ernte, die keiner [150] gesäet, und auf die keiner gedacht, und er fand sie immer ergiebiger und reicher, sich, weiß Gott, in welche Ferne erstreckend – aber da fielen ihm die armen tausend Thiere ein, die dadurch werden in Nothstand versetzt sein, wenn man die Beeren sammle: allein er dachte, Gott der Herr wird ihnen schon eingeben, wohin der Krammetsvogel fliegen, das Reh laufen müsse, um andere Nahrung zu finden.

Da er heimwärts in die Felder kam, nahm er eine Scholle und zerdrückte sie; aber sie ging unter seinen Händen wie Kreide auseinander – und das Getreide, vor der Zeit Greis, fing schon an, sich zu einer tauben Ernte zu bleichen. Wohl standen Wolken am Himmel, die in langen milchweißen Streifen tausendfasrig und verwaschen die Bläue durchstreiften, sonst immer Vorboten des Regens; aber er traute ihnen nicht, weil sie schon drei Tage da waren, und immer wieder verschwanden, als würden sie eingesogen von der unersättlichen Bläue. Auch manch anderer Hausvater ging händeringend zwischen den Feldern und als es Abend geworden, und selbst zerstückte Gewitter um den Rand des Horizontes standen, und sich gegenseitig Blitze zusandten, – sah ein von der Stadt heimfahrender Bauer selbst die halbgestorbene Großmutter mitten im Felde knien, und mit emporgehobenen Händen beten, als sei sie durch die allgemeine Noth zu Bewußtsein und Kraft gelangt, und als sei sie die Person im Dorfe, deren Wort vor allen Geltung haben müsse im Jenseits.

Die Wolken wurden dichter, aber blitzten nur und regneten nicht.

Wie Vater Niklas zwischen die Zäune bog, begegnete er seinem Sohne, und siehe, dieser ging mit traurigem Angesichte einher, mit weit traurigerem, als jeder Andere im Dorfe.

„Guten Abend, Felix,“ sagte der Vater zu ihm, „gibst Du denn die Hoffnung ganz auf?“

„Welche Hoffnung, Vater?“

„Gibt es denn eine andere, als die der Ernte?“

„Ja, Vater, es gibt eine andere; – die der Ernte wird in Erfüllung gehen, die andere nicht. Ich will es Euch sagen, ich selber habe etwas für Euch und das Dorf gethan. Ich habe zu den Obrigkeiten der fernen Hauptstadt geschrieben, und ihnen den Stand der Dinge gemeldet; ich habe Freunde dort und manche haben mich lieb gehabt, – sie werden Euch helfen, daß ihr keinen Hauch von Noth empfinden sollet, und auch ich werde so viel helfen, als in meiner Kraft ist. Aber tröstet Euch und tröstet das Dorf: alle Hilfe von Menschen, werdet Ihr nicht brauchen; ich habe den Himmel und seine Zeichen auf meinen Wanderungen kennen [151] gelernt, und er zeigt, daß es morgen regnen werde. – Gott macht ja immer Alles, Alles gut, und es wird auch dort gut sein, wo er Schmerz und Entsagung sendet.“

„Möge Dein Wort in Erfüllung gehen, Sohn, daß wir zusammen glückliche Festtage feiern.“

„Amen,“ sagte der Sohn, „ich begleite Euch zur Mutter; wir wollen glückliche Festtage feiern.“

Pfingstsamstags-Morgen war angebrochen und der ganze Himmel hing voll Wolken; aber noch war kein Tropfen gefallen. So ist der Mensch. Gestern gab jeder die Hoffnung der Ernte auf, und heute glaubte jeder, mit einigen Tropfen wäre ihr geholfen. Die Weiber und Mägde standen auf dem Dorfplatze und hatten Fässer und Geschirr hergebracht, um, wenn es regne, und der Dorfbach sich fülle, doch auch heuer wie sonst, ihre Festtagsreinigungen vornehmen zu können und feierliche Pfingsten zu halten. Aber es wurde Nachmittag, und noch kein Tropfen war gefallen, die Wolken wurden zwar nicht dünner – aber es kam auch Abend, und kein Tropfen war gefallen.

Spät Nachts war der Bote zurückgekommen, den Felix in die Stadt zur Post gesendet, und brachte einen Brief für ihn. Er lohnte den Boten, trat, als er allein war, vor die Lampe seines Tisches, und entsiegelte die wohlbekannte Handschrift:

„Es macht mir vielen Kummer, in der That, schweren Kummer, daß ich Ihre Bitte abschlagen muß. Ihre selbstgewählte Stellung in der Welt macht es unmöglich zu willfahren; meine Tochter sieht ein, daß es so nicht sein kann, und hat nachgegeben. Sie wird den Sommer und Winter in Italien zubringen, um sich zu erholen, und sendet Ihnen durch mich die besten Grüße. Sonst Ihr treuer, ewiger Freund.“

Der Mann, als er gelesen, trat mit schneebleichem Angesichte und mit zuckenden Lippen von dem Tische weg – an den Wimpern zitterten Thränen vor. Er ging ein paarmal auf und ab, legte endlich das erhaltene Schreiben langsam auf den Tisch, schritt mit dem Lichte gegen einen Schrein, nahm ein Päckchen Briefe heraus, legte sie schön zusammen, umwickelte sie mit einem feinen Umschlage, und siegelte sie zu – dann legte er sie wieder in den Schrein.

„Es ist geschehen,“ sagte er athmend, und trat an’s Fenster, sein Auge an den dicken finstern Nachthimmel legend. Unten stand ein verwelkter Garten – die Haide schlummerte – und auch das entfernte Dorf lag in hoffnungsvollen Träumen.

[152] Es war eine lange, lange Stille.

„Meine selbstgewählte Stellung,“ sagte er endlich sich emporrichtend – und im tiefen, tiefen Schmerze war es, wie eine zuckende Seligkeit, die ihn lohnte. Dann löschte er das Licht aus und ging zu Bette.

Des andern Morgens, als sich die Augen aller Menschen öffneten, war der ganze Haidehimmel grau, und ein dichter sanfter Landregen träufelte nieder.

Alles, alles war nun gelöset; die freudigen Festgruppen der Kirchgänger rüsteten sich, und ließen gern das köstliche Naß durch ihre Kleider sinken, um nur zum Tempel Gottes zu gehen und zu danken – auch Felix ließ es durch seine Kleider sinken, ging mit und dankte mit, und Keiner wußte, was seine sanften, ruhigen Augen bargen.

So weit geht unsere Wissenschaft von Felix, dem Haidebewohner. – Von seinem Wirken und dessen Früchten liegt nichts vor: aber sei es so oder so – trete nur getrost dereinst vor deinen Richter, du reiner Mensch, und sage: „Herr, ich konnte nicht anders, als dein Pfund pflegen, das du mir anvertraut hast,“ und wäre dann selbst Dein Pfund zu leicht gewesen, der Richter wird gnädiger richten als die Menschen.