Das Kartenschlagen

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Autor: Dr. P. Schellhas
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Titel: Das Kartenschlagen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 768-770
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Kartenschlagen.

Von Dr. P. Schellhas.

Es war zu einer späten Abendstunde im Floréal des Jahres I der französischen Republik – im Mai 1703 –, als drei Männer die Rue Tournon in Paris durchschritten und das Haus Nr. 153 (heutzutage Nr. 5) betraten. An der Thür des Hauses sah man ein Schild mit der Aufschrift „Mlle. Lenormand, Buchhändlerin.“ Die drei Männer waren unauffällig gekleidet und in große Mäntel gehüllt, indessen ein aufmerksamer Menschenbeobachter hätte in ihren Zügen doch eine beredte Sprache lesen können. Der erste hatte einen intelligenten Gesichtsausdruck, und seine dünnen, fest zusammengepreßten Lippen verrieten rücksichtslose Entschlossenheit und die Fähigkeit grausamen Hasses, der zweite zeigte wilde, gemeine und brutale Züge und die funkelnden Augen eines Tigers, der dritte ein ideal schönes, schwärmerisches Antlitz, aber zugleich den leidenschaftlichen Ausdruck eines Fanatikers seiner Ueberzeugungen.

Die Männer betraten ein einfach ausgestattetes Zimmer und wurden von einer stattlichen jungen Dame anfangs der zwanziger Jahre mit klug blickenden Augen empfangen.

„Bürgerin Lenormand,“ sagte der eine der Besucher, „erschrecken Sie nicht! Wir wünschen von Ihnen unsere Zukunft zu erfahren.“

Die Angeredete stutzte eiuen Augenblick, mischte dann mehrere Kartenspiele und begann die Karten auf dem Tische auszubreiten. „Ihr Schicksal war mir schon bekannt, Bürger,“ sagte sie dann zögernd und sehr betreten, „und die Karten bestätigen es auch heute wieder. Erlassen Sie mir, es auszusprechen, fragen Sie nicht!“

„Wir sind nicht Männer, die man durch Prophezeiungen schrecken kann. Sprechen Sie!“

„Nun, wenn Sie es denn wünschen: Sie werden, ehe noch das kommende Jahr vollendet ist, alle drei eines gewaltsamen Todes sterben –“

Die Besucher entfernten sich mit gezwungenem Lachen.

Es waren Robespierre, Marat und Saint-Just. Marat wurde zwei Monate später von Charlotte Corday ermordet, die beiden andern endeten im Juli 1794 auf der Guillotine. Und die Wahrsagerin, die ihnen ihr Schicksal vorhergesagt hatte, war die berühmte Kartenlegerin Lenormand, die Sibylle von Paris …

So wird uns erzählt, und wer die damalige Zeit kennt, der wird kein Bedenken haben, an dieser Erzählung jedenfalls so viel für wahr zu halten, daß die drei großen Revolutionsmänner in der That die bekannte Kartenlegerin aufgesucht haben. Zur Zeit, als diese Scene spielte, griff das Schicksal gewaltig in die Lebensverhältnisse ein. Menschen, die heute noch angesehen und wohlhabend dastanden, bestiegen auf irgend ein unvorsichtiges Wort, eine heimtückische Denunziation hin morgen das Schafott; charakterlose Abenteurer aus der Hefe des Volkes kamen zu Ehren, um über kurz oder lang von ihrer Höhe zu stürzen; zahllose Familien hatten Angehörige, die in den Gefängnissen schmachteten, aus denen es selten einen andern Ausgang gab als den zur Guillotine. Der Boden war mit Blut gedüngt, niemand war des morgigen Tages sicher. Eine solche Zeit war dem Wahrsagewesen günstig wie keine zweite. Alle Gesellschaftsklassen strömten in das kleine unscheinbare Haus in der Rue Tournon, in dem vom Jahre 1792 bis zu ihrem Tode die Sibylle wohnte, die mit Hilfe der Karten den dunklen Schleier der unheimlichen, drohenden Zukunft zu lüften verstand und von deren Kunst man Wunderdinge erzählte.

Marie Anne Lenormand war im Jahre 1790 als junges Mädchen nach Paris gekommen, um sich einen Broterwerb zu suchen. In Alençon (Orne) 1772 geboren, hatte sie eine gute Erziehung im Kloster der Benediktinerinnen genossen; sie war nicht ungebildet und vor allem eine Menschenkennerin ersten Ranges, von feiner Beobachtungsgabe und sicherem Takt, den sie oft bei ihren Wahrsagungen hochstehenden Persönlichkeiten gegenüber zu bewähren hatte. Es mag sein, daß sie überdies eine hochgesteigerte Fähigkeit besaß, aus der Gegenwart, aus den gegebenen Situationen und aus den Charakteren der Personen, die sie aufsuchten, im natürlichen Zusammenhang der Dinge auf die Zukunft zu schließen. Nur diese Eigenschaften können die Erfolge erklären, die sie erzielte. Ihre Karten dienten ihr dabei wahrscheinlich nur als nebensächlicher Hokuspokus, als äußerliches Beiwerk für ihre nach den Schilderungen der Zeitgenossen oft wunderbar zutreffenden Prophezeiungen.

In der Lenormand erreichte ein Aberglaube seine höchste Blüte, dessen Entstehung und Entwicklung wir in Frankreich vorzugsweise beobachten können. Die abergläubische Kunst des Kartenschlagens oder Kartenlegens wurde von jeher in den romanischen Ländern besonders gepflegt. Die romanischen Völker sind im allgemeinen mehr zum Aberglauben und zu phantastischer Mystik geneigt als die nüchterne germanische Rasse. Die abergläubische Sitte tritt gleichzeitig mit den Spielkarten überhaupt in Europa auf, sie wurde gegen Ende des 14. Jahrhunderts besonders durch die Zigeuner, die Träger und Vermittler so vielen Aberglaubens, eingeführt und fand allmählich immer weitere Verbreitung.

Wir hören, daß schon unter Ludwig XIV eine gewisse Marie Ambruget großes Ansehen als „Cartomancienne“ genoß, wie der französische Ausdruck für diese Art von Wahrsagerinnen lautet. Sie soll dem König den Sieg bei Denain über den Prinzen Eugen vorhergesagt haben, wofür sie nach Eintreffen ihrer Prophezeiung von dem „Roi solei“ ein Honorar von 6000 Livres erhalten haben soll. Unter Ludwig XV begann die Kartenschlägerei bereits in der guten Gesellschaft Mode zu werden; es werden uns die Namen verschiedener Kartenschläger und Kartenschlägerinnen genannt, die großen Zulauf hatten.

Kein Aberglaube ist so dumm und ungereimt, daß man ihn nicht in ein System bringen könnte. Wie Frankreich in der Lenormand die berühmteste Pythia des Kartenschlagens hervorgebracht hat, so war auch der erste Theoretiker dieser „Kunst“, der sie mit vieler Gelehrsamkeit zu einer „Wissenschaft“ erhob, ein Franzose. Alliette hieß dieser „Gelehrte des Kartenschlagens“, er war ein Perückenmacher seines Zeichens. Unter dem Pseudonym Etteilla, einer Umkehrung seines Namens, schrieb er in den Jahren 1780 bis 1790 – also vor der Lenormand – sehr tiefsinnige Werke über die Theorie der Kunst, aus den Karten zu wahrsagen, eine Sammlung abergläubischer und phantastischer Weisheit, angeblich aus uralten ägyptischen und chaldäischen Quellen geschöpft. Er wurde der Hohepriester des Kartenschlagens, der dem Aberglauben Ordnung und System gegeben hat, und noch heute gilt er als der Meister der Theorie dieser Kunst; die zahllosen Anleitungen dazu stützen sich auf die Autorität des „berühmten Etteilla.“

Ueber Alliette und seine Anhängerschaft brausten die Stürme der Revolution dahin, und in den gewaltigen politischen Umwälzungen verschwand er vom Schauplatze der öffentlichen Wirksamkeit, die für ihn immerhin so einträglich gewesen war, daß er ein eigenes Haus in Paris und ein nicht unbedeutendes Vermögen besaß. Er hatte den Boden vorbereitet für das Auftreten seiner größeren Nachfolgerin, der Lenormand, die ihm in der Praxis bedeutend überlegen war. Sie, die in einer Zeit der gewaltigsten politischen Umwälzungen in Europa lebte, sah in ihrem Kabinett fast alle Größen, geistige und politische Berühmtheiten ihrer Epoche, sie hat unter vier Augen mit ihnen gesprochen, ihre geheimen Wünsche erfahren, sie hat ihre Physiognomien, ihre Charaktere studiert, ihre verborgenen Schwächen beobachtet. In der That, die Lebensgeschichte der Lenormand bietet uns eine der seltsamsten Komödien des Aberglaubens – ein heiteres Schauspiel glücklicherweise, denn wir können nicht sagen, daß der Einfluß der berühmten Sibylle irgendwie direkt unheilvoll gewesen sei. Dazu war sie zu sehr die Wahrsagerin der großen Welt, in der man den Ton des Anstands wahren mußte. Man kann nur staunen, wenn man hört, wer alles bei ihr sich Rat erholt hat. Wenn sie ihre Memoiren geschrieben hätte, so würden wir darin zweifellos manchen interessanten Beitrag zur intimeren Zeitgeschichte finden. Leider hat sie nur eine Reihe von Schriften hinterlassen, die zwar vielfach an die politischen Ereignisse der Zeit anknüpfen, aber von phrasenhaftem Stil, mit Prophezeiungen untermischt und ohne tieferes Interesse sind. Diese Werke hatte sie [769] selbst im Verlag, und darum bezeichnete sie sich in der Öffentlichkeit als Buchhändlerin. Gewiß wurde die Lenormand vielfach lediglich aus Neugierde aufgesucht; die Beschäftigung mit der Wahrsagerei galt als eine Art seltsamer Unterhaltung, die einmal Mode war, aber es gab genug Leute, die sie in ernsten Dingen zu Rate zogen und sie in ihre geheimsten Angelegenheiten einweihten. Und dazu gehörte z. B. die erste Gemahlin Napoleons I, Josephine Beauharnais, bei der sie besonderes Vertrauen genoß. Schon als diese noch Madame Beauharnais war, soll die Lenormand ihr den Tod ihres ersten Gatten und ihre Wiederverheiratung mit einem Offizier vorhergesagt haben, dessen Stern sie noch zu hohen Ehren bringen werde, und ebenso ihre spätere Scheidung von Napoleon I. Auch als Kaiserin ließ Josephine noch die Wahrsagerin in ihr Palais kommen. Hier hat diese auch, wie sie selbst erzählt, eine Begegnung mit Napoleon gehabt, der sie schon vor Jahren konsultiert haben soll, als er den abenteuerlichen Plan hegte, Frankreich zu verlassen und in die Dienste des Sultans zu treten. Sie hat auch auf Veranlassung der Kaiserin Josephine im Jahre 1807 das vollständige Horoskop Napoleons I aufgestellt, das ihr bei ihrer Verhaftung im Jahre 1809 abgenommen und seitdem auf der Pariser Polizeipräfektur aufbewahrt wurde und in dem man auch eine Stelle finden will, die auf Napoleon III deutet. Wir glauben indessen kaum, daß ein Mann wie Napoleon I ihren Wahrsagungen eine ernstere Bedeutung beigelegt hat. Sehr erklärlich ist dagegen das Vertrauen, das ihr seitens der Kaiserin Josephine entgegengebracht wurde. Denn diese war Kreolin von Geburt und abergläubisch wie nur eine Kreolin es sein kann.

Ludwig XVIII hat schon als Graf von Provence am Abend vor seiner Flucht aus Paris die Lenormand aufgesucht und gab ihr auch als König häufig geheime Audienzen in den Tuilerien; sie soll ihm die Ermordung des Herzogs von Berri vorhergesagt haben.

Die Fürsten, die im Jahre 1818 zum Aachener Kongreß versammelt waren, suchten fast alle die Sibylle auf, die sich damals ebenfalls nach Aachen begeben hatte. Friedrich Wilhelm III von Preußen soll sich, wie erzählt wird, als Bauer verkleidet und scherzend zu ihr geäußert haben, er sei „un paysan sans soucis“ („ein Landmann ohne Sorgen“), worauf sie ihm schlagfertig erwidert habe: „Das ist richtig, da Sie der Besitzer von Sanssouci sind.“ Wie die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ 1840 bei Gelegenheit des Todes Friedrich Wilhelms III berichtete, soll die Lenormand im Jahre 1815 dem Könige sein Todesjahr und dasjenige Napoleons I richtig vorhergesagt haben. Ein merkwürdiges Schauspiel fürwahr, zu sehen, wie die Männer, die selbst an der Geschichte ihrer Zeit mitarbeiteten, das Orakel der Kartenschlägerin zu Rate zogen!

Es konnte nicht ausbleiben, daß eine Wahrsagerin, die von politischen Persönlichkeiten der verschiedensten Parteien aufgesucht wurde, selbst auf das zu den Zeiten der Lenormand nicht ungefährliche politische Gebiet geriet. Es widerfuhr ihr mehreremal, daß sie sich mit den herrschenden Gewalten in Konflikt setzte. Gleich in der ersten Zeit ihrer Wirksamkeit wurde sie vom Wohlfahrtsausschuß als verdächtig verhaftet und kurze Zeit gefangen gehalten. Später hatte sie das Mißgeschick, sich den Zorn Napoleons I zuzuziehen. Eine Wahrsagerin, die seinem Ruhm als Heroldin diente, hätte sich Napoleon gefallen lassen, aber niemand, auch die Sibylle nicht, durfte es wagen, ihm zu widersprechen oder seinen Unternehmungen ungünstigen Ausgang vorherzusagen. Als sie dem ersten Konsul, der eine Expedition gegen England plante, öffentlich den Mißerfolg einer Landung an der großbritannischen Küste vorhersagte, wurde sie verhaftet und mit einem Jahre Gefängnis in einem Kloster bestraft. Noch einmal wagte sie es, den Gewaltigen herauszufordern, dessen Willen niemand trotzen durfte. Im Jahre 1809 wurde sie abermals wegen ungünstiger Prophezeiungen, die sie veröffentlicht hatte, gefangen gesetzt und später ausgewiesen. Sie rächte sich, indem sie von Brüssel aus Napoleons Untergang in einer Schrift vorhersagte, eine Prophezeiung, die ihrem historischen Scharfblick Ehre macht. Mlle. Lenormand ist stets von Gesinnung Royalistin gewesen, und diese Gesinnung machte sie zeitweise besonders populär. Als am 31. März 1814 die Verbündeten in Paris einzogen, wurden ihr von der Menge Ovationen gebracht, weil sie die Wiederherstellung der Dynastie prophezeit hatte.

Die Thatsache, daß die Großen und Mächtigen dieser Erde zu jener Zeit fast alle die Sibylle von Paris aufgesucht haben, kann uns psychologisch nicht in Erstaunen setzen. Einmal ist ja bekannt, welchen Einfluß die Mode auf alle Gesellschaftsklassen hat, und die Lenormand war eben damals Mode. Dann aber sind solche Menschen, die auf den politischen Höhen stehen, Herrscher und Staatsmänner, dem Schicksal in seinen großen Wandlungen mehr ausgesetzt, ihr Interesse, sozusagen, an der Zukunft ist ein größeres als bei den Menschen, die in der Alltäglichkeit leben, und so ist das Verlangen, in die Zukunft zu blicken, bei jenen sehr erklärlich. Im Charakter Wallensteins hat Schiller diesen Zug meisterhaft dargestellt. Wie der bekannte langjährige Vorleser Kaiser Wilhelms I, der Hofrat Louis Schneider, in seiner Lebensgeschichte des Kaisers erzählt, hatte er oft die Gelegenheit, zu beobachten, daß in den Kreisen der [770] Fürsten und Herrscher ein besonderes Interesse für übernatürliche Dinge, für Geister- und Gespenstergeschichten und Wahrsagungen vorhanden ist, eine Schwäche, von der übrigens, wie er ausdrücklich hervorhebt, Kaiser Wilhelm selbst gänzlich frei gewesen sei. Schneider erklärt diese Erscheinung durch den unheimlichen Reiz, den die Vorstellung von unerklärlichen Einflüssen, die auch dem Mächtigsten nicht erreichbar sind und denen auch der gewaltigste Herrscher unterworfen ist, für die Mächtigen der Erde hat.

Ueber die Art und Weise, wie die Lenormand ihre Kunst ausübte, berichten uns verschiedene Zeitgenossen, so ein deutscher Geistlicher, den die Ereignisse von 1813 nach Paris geführt hatten. Die Wahrsagerin ließ sich für das „grand jeu“ („große Spiel“) 4 Napoleonsd’or und für das „petit jeu“ („kleine Spiel“) die Hälfte bezahlen, je nachdem ihre Prophezeiungen eingehend waren. Sie fragte den Besucher nach dem Anfangsbuchstaben seines Taufnamens, seines Vatersnamens, seines Heimatlandes und seines Geburtsortes, nach dem Tage der Geburt und endlich nach dem Namen seiner Lieblingsblume, seines Lieblingstieres und desjenigen Tieres, das ihm am meisten zuwider sei. Dann breitete sie nach den üblichen Vorbereitungen durch Mischen und Abheben eine Anzahl der verschiedenartigsten Kartenspiele auf dem Tische aus, und endlich studierte sie die Linien der Hand. Man sieht, daß sie einmal auf eine gewisse Charakteristik des Besuchers ausging und anderseits nicht nur das Kartenschlagen, sondern auch die Handwahrsagerei oder Chiromantie pflegte. Zum Schluß äußerte sie sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Besuchers in längerer Ausführung, die sie auf Wunsch auch schriftlich gab. Im übrigen verschmähte sie den mystischen Humbug in ihrem Aeußeren und ihrer Umgebung und war entsprechend ihrer eleganten Kundschaft mehr Weltdame als Zauberin und Hexe. Wie einträglich ihr Gewerbe war, zeigte sich bei ihrem Tode. Als sie im Jahre 1842 starb, hinterließ sie ein Vermögen von über einer Million Franken und eine ganze Anzahl kostbarer Gemälde und Kunstwerke.

Mlle. Lenormand – sie ist unverheiratet geblieben – bezeichnet den Höhepunkt der Kartenschlägerei. Keine ihrer Nachfolgerinnen hat im entferntesten wieder die Bedeutung gehabt und solche – Einnahmen wie sie. Die Zeiten waren der Wahrsagerei nicht mehr so günstig wie früher, der Aberglaube hatte aufgehört, Mode zu sein. In den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts gelang es in Paris noch einmal einem Wahrsager nach der Art der Lenormand, einem gewissen Edmond, einigen Ruf zu erlangen und die höheren Kreise der Gesellschaft anzuziehen, indessen war das nur eine vorübergehende Erscheinung.

In Deutschland hat die Kartenschlägerei niemals ähnliche Blüten hervorgebracht wie in Frankreich. Vereinzelt haben wir Beispiele, daß geschickte Schwindler und Schwindlerinnen einen größeren örtlichen Wirkungskreis gefunden und mehr oder weniger große Einnahmen erzielt haben, irgendwelche zeitgeschichtliche Bedeutung haben solche Erscheinungen nicht gehabt. Heutzutage blüht der Aberglaube vorzugsweise im geheimen. Wir wollen nicht behaupten, daß er ausschließlich auf die Ungebildeten beschränkt sei; denn gelegentlich zeigen uns Gerichtsverhandlungen, wenn es einmal einem solchen Betrüger gefährlicherer Art an den Kragen geht, daß auch in den gebildeten Kreisen die Anhänger der Wahrsagerei nicht fehlen. Aber es ist nicht mehr „guter Ton“, an dergleichen zu glauben; man schämt sich heutzutage, zu einer Wahrsagerin zu gehen, weil es als ein Zeichen von Unbildung gelten würde. Zum Teil wird die Kartenschlägerei ja vielfach als Scherz geübt, als harmlose Unterhaltung wie das Bleigießen in der Sylvesternacht und ähnliches. Insgeheim aber hat sie ihre Anhänger und besonders Anhängerinnen. Auf dem flachen Lande sind es umherziehende Zigeuner, Hausierer, Handels- und Jahrmarktsleute, die vor dem leider immer noch sehr abergläubischen Landvolk ihre schmutzigen Karten ausbreiten, stets in Furcht vor dem Gendarm und der Polizei. In den Städten sind es gewöhnlich einzelne ältere Frauen, die im geheimen ihren Kundenkreis haben, ganz besonders unter den Mädchen, denen der Liebste untreu geworden ist, oder die wissen wollen, ob er sie heiraten wird. Aber man sagt, daß mitunter – natürlich inkognito – auch andere Leute erscheinen. Ja, diese Kartenschlägerinnen kündigen sich sogar in den Zeitungen an, allerdings sehr verblümt, denn unsere Rechtsprechung steht auf dem Standpunkt, daß die öffentliche Ankündigung der Wahrsagerei als „grober Unfug“ aus § 360 Nr. 11 des Strafgesetzbuches zu bestrafen ist. Es ist das eine der bekannten freieren Auslegungen des „Groben-Unfug-Paragraphen“, die gewiß in diesem Falle nicht zu tadeln ist. Ebenso können in dem Wahrsagen gegen Entgelt unter Umständen die Voraussetzungen des Betruges gefunden werden. Im allgemeinen kann man sagen, daß die Kartenschlägerei, wie viele andere abergläubische Bräuche, im Abnehmen begriffen ist. Anderer, mehr moderner Aberglaube ist an ihre Stelle getreten.