Das Nachtwandeln

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Dr. W. C.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Nachtwandeln
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 133-134
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[133]
Das Nachtwandeln.

Der Uebergang vom Wachen zum Schlafe ist kein plötzlicher; der Geist umschleiert sich, aber seine vollkommene Ruhe tritt nicht so bald ein; erst nach und nach werden die Wahrnehmungen unserer Sinne weniger empfunden, und nur bei dem festen, traumlosen Schlafe erlischt die Mittheilung der äußeren Sinnesorgane an die Seele vollständig. In diesem Zustande sind wir bewußtlos, und nur der Herzschlag und die Athmung verrathen das noch vorhandene Leben. Ist nun den ersten Forderungen der Natur, der absoluten Ruhe, Genüge gethan, so kommen wir allmählich wieder zu uns selbst; der Körper bleibt zwar noch leblos, aber der Geist wird wieder rege; die Sinne machen ihm auf’s Neue Mittheilung ihrer Empfindungen, und zuletzt werden wir in eine Welt der Phantasie versetzt – wir beginnen zu träumen. Wir befinden uns nun plötzlich in irgend einer Umgebung, in irgend welcher Situation, ohne uns aber einen Aufschluß geben zu können, wie wir da hinein gekommen sind; wir werden plötzlich aus der einen in eine andere Situation versetzt, ohne daß wir begreifen, wie, ohne logischen Zusammenhang; denn nur die Einbildung, die Phantasie ist im Traume thätig, nicht aber die Vernunft. Die Verhältnisse zwischen Raum und Zeit, zwischen Ursache und Wirkung werden dabei nicht berücksichtigt, und es herrscht nur der Zufall und das regellose, bunte Durcheinander. Zuweilen wird diese Zusammenhangs- und Regellosigkeit so auffallend, daß wir selbst im Traume wissen, daß wir nur träumen, und daß wir uns gleichsam als passive Beobachter von den Bildern unserer Phantasie trennen. Oft aber gestalten sich unsere Träume in sehr geregelten Formen; Dinge, welche uns während des Tages beschäftigten, sie treten dann auch des Nachts im Schlafe vor unser inneres Ich; wir arbeiten im Schlafe an der Lösung von Problemen, und nicht selten stellt sich träumend der Gedankengang in so logischer Weise dar, daß wir träumend das vollenden, woran wir im Wachen vergebens arbeiteten.

Wenn die wache Vorstellung erloschen ist, kann sich der Geist unumschränkt bewegen die vielen schwächenden und ablenkenden Momente, welche ihn im Wachen benachteiligten, haben nun aufgehört zu wirken; die Phantasie hat ein freies Feld gewonnen, und in diesem Zustande geschieht es, daß wir Gedichte machen, daß wir Lieder componiren, an deren Aufführung oder Vollendung wir im Wachen verzweifelten. Auf diese Weise beendete Farini seine „Teufels-Sonate“; umsonst bemühte er sich, die Arbeit zum Abschluß zu bringen, und schlief mit dem Gedanken an dieselbe ein. Da erscheint ihm im Traume der Teufel und verspricht ihm seine Sonate zu vollenden, wenn er ihm dafür seine Seele verschreibe. Farini geht auf den Vorschlag ein, und der Teufel trägt ihm nun das Ende seines Stückes in bezaubernder Weise auf der Violine vor; der Musiker erwacht und bringt die Melodien, welche er soeben träumend hörte, auf das Papier. Aehnliche Beispiele giebt es noch viele.

Die Lebhaftigkeit des Traumes kann sich sogar so steigern, daß der Schlafende sein Lager verläßt und die Arbeiten des wachen Lebens wieder aufnimmt. Das Gedächtniß, die Gewohnheit und die Einbildungskraft spielen auch hier, bei dem Somnambulismus, wie in jedem anderen Traume, die erste Rolle, und nur diesen drei Factoren allein ist die Sicherheit zuzuschreiben, mit welcher der Nachtwandler seine begonnenen Arbeiten fortsetzt, neue beginnt, oder sich auf seine nächtlichen Spaziergänge macht. Der ganze Unterschied zwischen dem Somnambulismus und denn einfachen Traume besteht nur darin, daß der Nachtwandler das, was er träumt, auch wirklich thut, während der gewöhnliche Träumer sich nur mit den Bildern seiner Phantasie abgiebt und sich in Situationen versetzt glaubt, in denen er sich in der That nicht befindet.

Die räthselhafte Erscheinnung des Nachtwandelns wird meistens in der späten Jugend beobachtet. Der Schläfer erhebt sich dabei gewöhnlich nach dem ersten festen Schlafe, kleidet sich an, macht Licht und beginnt auf’s Neue seine unterbrochenen Arbeiten; er geht ebenso sicher wieder auf sein Lager zurück und hat am nächsten Morgen beim Erwachen keine Erinnerung mehr an seine nächtlichen Erlebnisse. Solche Nachtwandler sind im Ganzen harmlos; sie schaden weder sich noch Anderen. Die Entschlüsse, welche sie im Wachen gefaßt hatten, die Gedanken, welche ihnen während ihrer Arbeit auftauchten, sie verfolgen sie auch im Traume, und die Eindrücke, welche sie wachend in ihre Erinnerung aufnehmen, wirken auch im bewußtlosen Zustande auf sie ein. Sie haben ihrer Einbildungskraft eine gewisse Spannkraft auferlegt, und die letztere kommt dann zur Geltung, wenn der freie Wille, vom Schlaf umfangen, nicht dagegen wirkt, und es folgt der Schlafende willenlos einem Antriebe, einem Vorsatze, den er bereits wachend faßte. Die Erinnerung an gewisse Dinge beschäftigt ihn auch im Traume und treibt ihn von seinem Lager auf; er beginnt im Wahne der Einbildung zu gehen und zu sprechen; er bedarf zu dieser Thätigkeit durchaus nicht der freien Vernunft und des freien Willens; Handlungen und Bewegungen, welche wir von Jugend an lernten, wie das Gehen und das Sprechen nahmen unsere Aufmerksamkeit nur während unserer ersten Versuche in Anspruch, als wir aber jene zusammengesetzten Bewegungen begriffen und gelernt hatten, geschahen dieselben auch ohne unseren vorgefaßten Willen. Die Vernunft und der Wille übergaben die Herrschaft über jene Thätigkeiten an gewisse Theile des Gehirns, an die sogenannten Coordinationscentren (wahrscheinlich im Kleingehirn und im verlängerten Mark gelegen) und diese überwachen nun jene combinirten Bewegungen und bringen sie zur Thätigkeit unter der Wirkung jedes Antriebes, auch eines solchen, welcher nicht von der freien Vernunft hergeleitet ist. Diese Antriebe können äußere Sinneseindrücke sein, sie können aber auch aus dem Gedächtniß und aus der Einbildung hervorgehen.

Selbst wachend verrichten wir oft ohne Bewußtsein Handlungen, an die wir gewöhnt sind; so lesen wir mechanisch in einem Buche weiter oder phantasiren auf dem Claviere ruhig fort, wenn auch unsere Aufmerksamkeit durch andere Dinge in Anspruch genommen wird. Wenn wir bei einem Schreck aufschreien oder die Flucht ergreifen, so geschieht dies ohne, oft sogar gegen unseren Willen. Dasselbe gilt auch vom Nachtwandler; auch er geht herum; er spricht und singt gleichsam gegen, wenigstens ohne seinen Willen. Die Vernunft ist vom Schlafe befangen, aber das Gedächtniß übernimmt hier die Rolle des freien Willens und läßt ihn im bewußtlosen Zustande sogar oft Dinge vollbringen, an deren Gelingen er im Wachen verzweifelte. Die Handlungen eines Schlafwandlers sind bewußtlos, aber durchaus logisch.

Man glaubt bemerkt zu haben, daß der Somnambulismus von gewissen Mondesphasen abhänge; dieser Annahme fehlt jedoch die Begründung. Es scheint, daß jede erhöhte Reizung der psychischen Sphäre, sei es durch anstrengendes Nachdenken, sei es durch Aerger oder dergleichen, den ersten Anstoß zum Nachtwandeln giebt. Dinge, die uns lebhaft interessiren, kommen sehr oft in unsere Träume, und ebenso verfolgen auch den Schlafwandler die Gedanken bis in den Schlaf, und sein Traum wird dann so lebhaft, daß er ihn auch in Wirklichkeit vollbringt. Der Nachtwandler steht dann unter der Leitung einer instinctiven Gewalt, einer unbewußten Intelligenz auf; er findet sich im Dunkeln so weit zurecht, als er mit den Räumlichkeiten, in denen er sich bewegt, vertraut ist; nur dem Ortssinn allein ist es zuzuschreiben, daß der Somnambule selbst mit geschlossenen Augen nirgends anstößt und allen Hindernissen aus dem Wege geht. Jedoch sind Täuschungen auch nicht selten; es ist vorgekommen, daß Nachtwandler das Fenster für die Thür hielten, und indem sie durch dasselbe in’s Freie treten wollten, auf die Straße fielen und verunglückten. Ein Anderer hielt das Fenstersims für ein Pferd, und indem er sich rittlings darauf setzte, machte er in seiner Einbildung einen Spazierritt.

Oft ist die Sinnesthätigkeit des Schlafwandlers ganz normal; er sieht die Leute seiner Umgebung; er spricht mit ihnen; er antwortet richtig auf Fragen; zuweilen musicirt er auch, und dieses Alles ohne Bewußtsein. In anderen Fällen ist er aber gegen die Außenwelt gleichsam abgestumpft. Er reagirt auf keine Sinneseindrücke, sondern beschäftigt sich nur mit den Bildern seiner Phantasie, er spricht mit Personen, welche er zu sehen [134] glaubt, oder er hält, wie jener Schulmeister, vor einer eingebildeten Versammlung Unterricht. Es ist auch vorgekommen, daß Nachtwandler ihre Feinde verfolgten, sie züchtigten und geschehene Unbill rächten. Hier begeht der Unglückliche allerdings leicht ein Verbrechen; das Gefühl der Rache wohnt in ihm auch im schlafwandlerischen Zustande, aber die wache und vernünftige Ueberlegung seiner Handlungen fehlt; er folgt einem instinctiven Triebe und vollbringt so eine blutige That, zu welcher es unter der Herrschaft der bewußten Intelligenz nicht gekommen wäre.

Soave erzählt von einem zweiundzwanzigjährigen Apothekergehülfen, welcher im Zustande des Nachtwandelns seine täglichen Arbeiten auch während der Nacht verrichtete; er bereitete Recepte, und waren diese unrichtig abgefaßt, so merkte er sofort die Fehler und weigerte sich die Arzneien zu machen. Er las in diesem Zustande viel, und hatte man vorher seine Buchzeichen entfernt oder an einen anderen Ort gethan, so blätterte er weiter, bis er die richtige Stelle auffand, dabei äußerte er sich einmal sehr ungeduldig darüber, daß Jemand ein Vergnügen daran finde, seine Buchzeichen wegzunehmen. Oft sprach er mit sich selbst über eben gelesene Stellen, besonders über Fragen, über die er mit seinem Herrn disputirt hatte. Wenn Soave, der ihn dabei beobachtete, ein Blatt Papier vor das Buch hielt, so wurden seine Gedanken plötzlich unterbrochen und er verfiel in tiefen Schlaf, aus welchem er jedoch bald wieder zum somnambulen Zustande erwachte. Die Apothekersfrau stellte sich einmal als seine Schwester und sprach als solche mit ihm; er merkte die Täuschung nicht; ein andermal kam sie als Magd, welche etwas kaufen wollte, von außen herein, suchte ihn bei der Bezahlung zu täuschen und behauptete ihm einen halben Scudo gegeben zu haben, während sie ihm in der That einen Lira gab; der Gehülfe aber merkte den Betrug und ließ sich nicht irre führen. Sein Arzt fragte ihn einst in diesem Zustande, ob er nicht wisse, daß er nachtwandele; daraufhin wurden seine Gedanken wieder verwirrt; er schlief ein, um bald darauf wieder zum Somnambulismus überzugehen.

Eines anderen Schlafwandlers, welcher ebenfalls im Traume seine täglichen Arbeiten fortsetzte, wird in der Encyclopédie méthodique gedacht; ein junger Geistlicher schrieb in diesem Zustande seine Predigten, las dann jede Seite laut herunter und corrigirte dabei an verschiedenen Stellen. Hielt man ihn vor sein Manuscript ein gleich großes Blatt weißes Papier, so schrieb er die Correcturen, ohne etwas zu merken, auf ganz dieselben Stellen, wo sie im Originale hätten stehen sollen. Der Inhalt seiner Arbeit stand ebenso, wie die räumlichen Verhältnisse der Zeilen und Wörter, deutlich vor seinem Gedächtnisse.

Von Heer erzählt von einem Manne, welcher schlafend Verse machte; er pflegte oft des Nachts in der Stube umherzugehen, wobei er sein Kind auf dem Arme trug; seine Frau begleitete ihn dabei und entlockte ihm bei dieser Gelegenheit alle seine Geheimnisse.

Der leichteste Grad des Somnambulismus macht sich durch unruhigen Schlaf, durch lautes Reden im Traume und durch Antworten auf gestellte Fragen bemerbar; hierher gehört ebenfalls das Fortmarschiren ermüdeter eingeschlafener Soldaten, sowie das fortgesetzte laute Lesen, während man bereits eingeschlummert ist. Dieser Zustand bildet den Uebergang vom gewöhnlichen Traum zum Nachtwandeln.

Am Anfang dieses Jahrhunderts lebte in Leipzig ein Mann, Namens Wagner; des Sonntags war er Organist an der Universitätskirche, und während der Werktage fungirte er als Bierwirth im „Pelikan“. Dieser Mann hatte die Gewohnheit, bei jeder Gelegenheit einzuschlafen, aber dabei doch seine Arbeit, mit der er sich gerade beschäftigte, fortzusetzen. Er schlief beim Kartenspiele ein, aber jedesmal, wenn die Reihe an ihn kam, gab er seine Karte richtig aus. Desgleichen erwähnt Rudolphi eines Schustergesellen in Mailand, welcher träumend zu arbeiten pflegte; jedesmal, wenn man ihm etwas sagen wollte, mußte man ihn erst durch starkes Klopfen wecken.

In den höchsten Graden verläßt der Nachtwandler das Haus; er öffnet Thür und Fenster, geht hinaus in’s Freie oder Lustwandelt auf dem Dache. Dabei legt er die gefährlichsten Wege mit einer Sicherheit zurück, deren er im wachen Zustande nicht fähig gewesen wäre; es fehlt ihm eben die bewußte Ueberlegung seiner Handlungen die Gefahr, in welcher er schwebt, bleibt ihm verborgen, und so schreitet er am Tode sicher vorüber, ohne Schwindel, ohne Zaudern; er zweifelt nicht an der Möglichkeit seiner Unternehmungen, und „wer wagt, gewinnt“. Oft genug verunglückt ein Nachtwandler bei diesen gefährlichen Spaziergängen; wenn er dabei plötzlich erwacht und nun die Gefahr sieht, in welcher er schwebt, bemächtigt sich seiner die Furcht; die Kühnheit, welche ihn im bewußtlosen Zustande sicher vorwärts leitete, hat ihn verlassen und er kann oft ohne fremde Hülfe nicht mehr zurück. In anderen Fällen legt er, ohne zu erwachen, den Weg, den er gekommen, ebenso sicher wieder zurück, geht zu Bett und schläft ruhig weiter. Am andern Morgen weiß er von dem Vorgefallenen nichts mehr, und es fehlt sogar oft selbst jede Traumerinnerung.

Eine genügende Erklärung dieses räthselhaften Zustandes ist noch nicht gegeben worden; man nahm an, daß hierbei die gesammte Lebensthätigkeit auf das vegetative Nervensystem einwirke, und vermittelst der Centralorgane Nervenbewegungen bewirke. Diese Auslegung sagt im Ganzen nicht viel; sie würde höchstens die Bewegungen des Schlafwandlers, nicht aber die Zweckmäßigkeit und Sicherheit derselben erklären. Letzteres beruht auf Gewohnheit, denn Alles, was der Somnambule thut, ist die Fortsetzung seiner täglichen Verrichtungen; wenn er neue Arbeiten beginnt, so hatte er den Gedanken dazu im Wachen und bei klarem Bewußtsein erfaßt; er führt im Schlafe gewissermaßen nur die Pläne aus, welche er früher wachend entwarf.

Prophetische und magische Kräfte findet nur Derjenige bei einem Nachtwandler, welcher dieselben suchen und finden will; ein unbefangener und nüchterner Beobachter entdeckt auch bei einem Schlafwandler nichts Uebernatürliches, und nur der Mystiker greift zu magischen Kräften der menschlichen Natur, um eine ungewöhnliche, deshalb aber nicht unnatürliche Thatsache zu erklären.

Dr. W. C.