Das Reliquienkästlein des deutschen Reichs

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Textdaten
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Autor: L. O.
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Titel: Das Reliquienkästlein des deutschen Reichs
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 446
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[446] Das Reliquienkästlein des deutschen Reichs. Jüngst hat der deutsche Reichstag als jährliche Unterstützung für das „Germanische Museum“ in Nürnberg achtzehntausend Thaler bewilligt und damit seine Anerkennung für das patriotische Unternehmen, dem Andenken nationalen Culturlebens eine Stätte zu bereiten, und zwar mitten im Herzen Deutschlands und in einer Stadt, die wie keine andere sich dazu eignet, auf das Würdigste bethätigt. Um so weniger würdig muß uns das neueste Unternehmen erscheinen, mit welchem man in Nürnberg auf jene Anerkennung antwortet. Das längst Verkündete und Befürchtete ist nun empörende Thatsache geworden: man beginnt Nürnbergs Thore und Ringmauern niederzureißen!

So soll denn unsere ehrwürdigste deutsche und einst freie Reichsstadt, das „Reliquienkästlein des deutschen Reichs“ – so viel „Heiligthümer“, wie nach altem Sprachgebrauch die Benennung lautet, umschließen diese Mauern – sie soll aufhören das zu sein, aufhören lebendiges Zeugniß abzulegen von dem, was die Väter bauten, und ein Wallfahrtsort zu sein für Alle, die sich gern einmal zurückversetzen mögen in die Blüthezeit deutscher mittelalterlicher Kunst und Herrlichkeit, deren Erinnerungen wir jetzt noch in Nürnberg auf Schritt und Tritt begegnen. Denn die Reliquien und Heiligthümer, um die es sich hier handelt, sind keine sagenhaften Todtengebeine, es sind unsterbliche Kunstschöpfungen deutscher Meister, wie Albrecht Dürer, Adam Kraft, Veit Stoß, Peter Vischer etc., die herrlichen Kirchen, von frommen Baubrüderschaften in reinster Gothik erbaut, die noch stehenden Häuser der berühmten Geschlechter, die einst die freie Reichsstadt regierten, darunter Namen, die im Dienst der Wissenschaft sich unsterblich gemacht, wie Pirkheimer, Beheim, Scheurl etc., das herrliche Rathhaus, in dem die denkwürdigsten Reichstage gehalten wurden, die Veste, in welcher mancher deutsche Kaiser verkehrt, wo einst jene Burggrafen von Nürnberg wohnten, deren Sprößling jetzt die deutsche Kaiserkrone trägt, und wo Jahrhunderte lang der alte Krönungsornat als „Reichsheiligthum“ aufbewahrt worden ist. So ist eben ganz Nürnberg selbst sammt seinen Gassen und Gäßlein, seinen Brücken, Thoren und Wällen ein germanisches Museum, so ist es, einzig in seiner Art, ein treu bewahrtes, lebensvolles Denkmal aus dem Mittelalter wie keine andere Stadt im Reich!

Blutet uns das Herz, wenn eine Frevlerhand an irgend einem schönen Monument aus alter Zeit sich vergreift, es schädigt und entweiht – wie sollten wir ruhig zusehen, wenn man einer solchen Stadt ihren bisher treubewahrten Charakter raubt? Dazu gehörten aber vor Allem diese epheuumwachsenen hohen Mauern, diese grünen Gräben, diese mittelalterlichen Thürme, die zum Theil noch zu Meister Dürer’s Werken gehören, diese Brücken, von denen die eine nach der Ponte di Rialto in Venedig erbaut ist, indeß eine andere, der schmale Henkersteig, hunderte von Schauergeschichten erzählt, deren jede das malerischste Bild gewährt, diese Thore, die uns gleichsam darauf aufmerksam machen, daß es uns obliegt, die Stadt, in die sie uns führen, mit Ehrfurcht zu betreten! Ist Nürnberg erst eine offene, flach daliegende Stadt geworden, wie jede andere: dann werden auch seine inneren Denkmale und Alterthümer einen großen Theil ihres Werthes verlieren. Denn wodurch Nürnberg eben einen so eigenthümlichen Zauber ausübt, das ist die Harmonie, in der sich hier Alles befindet – sie ist zerstört, wenn die alterthümlichen Ringmauern verschwinden. Hat man auch hier wie anderwärts die Wälle ausgefüllt, breite Stadteingänge geschaffen, moderne Paläste statt der Wartthürme erbaut, dann werden die kleinen alterthümlichen Häuser mit ihren hölzernen Gängen etc. nur einen unsaubern Anblick gewähren und man wird eilen, auch sie zu vertilgen; dann werden schließlich die krummen, engen, schiefen Gassen keinen alterthümlichen, sondern nur einen altmodischen und kleinstädtischen Eindruck machen; dann wird man eilen müssen, auch hier durchzubrechen, zu nivelliren, zu erweitern, und wer weiß, steht dann nicht auch eines der festungsartigen Häuser der alten Patriziergeschlechter im Wege, stört nicht irgend ein zierliches Chörlein den modernen Geschmack, wird nicht endlich auch der „schöne Brunnen“ oder das „Gänsemännchen“ verruckt werden müssen, damit Raum sei für den modernen industriellen Verkehr – so unberechenbar sind die Consequenzen, zu denen das Neuerungsphilisterthum schließlich kommen wird, wenn es ihm wirklich gelingen sollte, jetzt zu siegen!

Natürlich stützt man sich bei diesem vandalischen Beginnen auf dem Anschein nach gewichtige Gründe. Man hält es für nothwendig, durch Abbruch der an sich ja allerdings jetzt überflüssigen Thore den Verkehr in der Stadt zu erleichtern, und nennt den Abbruch der Wälle eine Sanitätsmaßregel. Man beruft sich namentlich auf die einem viele Hände beschäftigenden Industriezweig unentbehrlichen Knochenniederlagen hinter den Wällen, deren schädliche Ausdünstung durch die hohen Mauern festgehalten werde. Wäre es aber nicht besser, diesen Niederlagen eine andere Stätte anzuweisen, als die alten Mauern niederzureißen?

Was endlich die Verkehrserleichterung betrifft, so steht ihr Nutzen schwerlich in richtigem Verhältniß zu dem der Stadt auf anderen Gebieten durch die unselige Maßregel zugefügten Schaden. Die Stadt hat längst jenseits ihrer Wälle, wo ja auch der Bahnhof liegt, ansehnliche Vorstädte erhalten. Dort reiht sich ja schon ein Fabrikschornstein – diese Wahrzeichen der Städteblüthe des neunzehnten Jahrhunderts – an den andern, dort stehen die modernen Villen der reichen Industriellen, dort entfaltet sich ein immer regeres Leben des Gewerbfleißes. Möge es so fortblühen und möge auch darin Nürnberg wie bisher einen so wohlthuenden Eindruck auf alle Besucher machen, daß es nicht verfällt und zurückgeht wie manche andere einst berühmte Reichsstadt, sondern daß es den culturfortschrittlichen Geist der Neuzeit zu vereinigen weiß mit der Erinnerung an die einstige reichsstädtische Blüthezeit! Möge rings um das alte Nürnberg ein neues immer größer wachsen und gedeihen, aber möge es das alte hüten als einen heiligen Schatz, den es von den Vätern überkommen, ein Erbgut, das zu ehren auch den spätesten Enkeln selbst die größte Ehre bringt!

L. O.