Das Satyrspiel von 1878

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Textdaten
<<< >>>
Autor: Franz Mehring
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Satyrspiel von 1878
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 24–27
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[24]
Das Satyrspiel von 1878.
von Franz Mehring.

Wie eine tief erschütternde Tragödie schritt das gewaltige Jahr, welches so eben zur Vergangenheit geworden, über die Bühne der deutschen Geschichte. Die großen Aufzüge und Heerschauen des socialdemokratischen Wühlerthums, die in den ersten Monaten alle patriotischen Herzen mit ahnungsvollen Schrecken erfüllten, die fluchwürdigen Attentate, in denen sich die elektrische Spannung wie in fahlen Blitzen entlud, die Wahlbewegung, welche das ganze Volk aufrief, zu retten und zu richten, die Verhandlungen des Reichstages die dem nationalen Willen die gesetzgeberische Klarheit und Schärfe gaben, endlich das Walten und Wirken des Socialistengesetzes, das mit unbarmherziger Sichel die hochwogenden Saaten der Friedensstörer und Unruhstifter niederstreckte – wie nach allen dramatischen Regeln rollt sich das Trauerspiel in Spannung, Steigerung, Verwickelung, Entwickelung und Sühne ab. In einer Richtung aber läßt sich der künstlerische Vergleich nicht durchführen: das Satyrspiel folgte nicht der Tragödie, sondern lief schon mitten durch sie hindurch. Nur in der schönen Welt des Scheins bluten die großen Schmerzen und Wunden rein ans, waltet frei von jenem peinlichen Erdenreste das ernste Schicksal, welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt. Im rauhen Leben der Wirklichkeit jedoch mischen sich unlöslich Großes und Niederes, Furchtbares und Groteskes, Erhabenes und Närrisches; in das feierliche Läuten der Glocken , welche zum Gerichte rufen, klingt schrillen Hohnes die Schellenkappe des Harlekins. So tönte in die bewegtesten Scenen des eben vollendeten Jahres der verworrene Lärm der christlich-socialen Agitation, eines Satyrspiels der Zeitgeschichte, das eine schmähliche Travestie biblischer Gedanken und Worte war und deshalb auch den biblischen Titel tragen sollte: Wölfe in Schafskleidern.

Nicht zwar, als ob sich christlichem Sinne und religiöser Sitte ein fruchtbares und weites Wirkungsfeld gerade auf dem Gebiete unserer socialen Wirren öffnete. Nur die böswillige Feindseligkeit des flachsten Materialismus könnte es leugnen. Die Armen- und Krankenpflege namentlich der katholischen Kirche weist Einrichtungen auf, die theilweise noch Muster darstellen auch für das freie, von confessionellen Fesseln nicht beengte Walten moderner Humanität. Die evangelische Kirche ist leider zu lange in unfruchtbaren Dogmenkriegen verstrickt gewesen, als daß sie nicht mehr wie billig ihres hohen Berufes hätte vergessen sollen, die treueste Freundin der Armen und Schwachen zu sein. Besännen sich ihre unfehlbaren Päpstlein auf diese schöne Pflicht, kehrten sie um von den falschen Pfaden der Verdächtigung jeder freieren Richtung, die auf dem Boden der evangelischen Kirche eine bleibende Versöhnung sucht mit dem nationalen Leben und der nationalen Wissenschaft – wahrlich, es wäre eine billige und traurige Weisheit, darüber zu spotten, wenn vielleicht die ersten Schritte auf dem neuen und schwierigen Wege nur ein ungeschicktes Stolpern wären. Aber nicht in diesem Zeichen wurde jene vielbesprochene christlich-sociale Agitation eingeleitet, nicht eine Verleugnung, sondern eine ungeheuerliche Ausdehnung des orthodoxen Treibens stellt sie dar; sie war der keckste Versuch, der je im heitern Lichte des neunzehnten Jahrhunderts unternommen wurde, die Fackel und das Schwert des Ketzerrichters über die schwierigsten Probleme der Politik und der Wissenschaft entscheiden zu lassen. Sie rief die Mächte der Tiefe als willkommene Bundesgenossen auf, selbst wider die besten Christen und ehrlichsten Patrioten, sobald sie nur um Haaresbreite von dem Götzendienste des starren Buchstabens wichen. Nach kurzem Taumel endete das Abenteuer so schmählich, wie dasselbe es verdiente, aber die es unternahmen, sind heute noch nicht von ihrem Wahne geheilt, sind heute noch tonangebende Wortführer im Banne der evangelischen Kirche; noch liegt ihre Herrschaft, eine bleierne Last, auf allen frei aufstrebenden Geistern, die ehrwürdige Formen mit frischem Leben füllen [26] möchten; aus diesem Grunde, wie schwer es jedem feineren Gefühle auch werden mag, in einen wirren Hexensabbath der widrigsten Leidenschaften zu blicken, ist es wohl nützlich und zweckmäßig, daß dieses tragikomische Schattenspiel in seinen Hauptgestalten und Hauptscenen nochmals vor den geistigen Auge eines großen Leserkreises vorübergleite, den Einen zum abschreckenden Exempel, den Andern zur ernsten Mahnung, daß sie sich rüsten und wappnen gegen die Todfeinde moderner Cultur und Wissenschaft, sie mögen kommen, woher sie wollen.

Vor etwa drei Jahren wurde der deutsche Büchermarkt durch ein dickleibiges Werk bereichert, welches über die christliche Gesellschaft und den radicalen Socialismus zu handeln versprach, der Verfasser derselben hieß Rudolf Todt und war ein märkischer Landpfarrer, welcher in der Welteinsamkeit seines Dörfleins den heroischen Entschluß gefaßt hatte, die sociale Frage zu lösen. Er wählte hierzu ein ebenso bequemes, wie überraschendes Mittel: er schrieb besagtes Buch, welches auf etwa fünfhundert Seiten den Nachweis zu erbringen sucht, daß alle Hetz- und Schlagworte des socialdemokratischen Wühlerthums niederer Gattung genau dasselbe seien, was einst der Erlöser auf seinen Wanderungen im heiligen Lande gelehrt habe, wenn auch ein Bischen mit anderen Worten. Wohlgemerkt: die Hetz- und Schlagworte des socialdemokratischen Wühlerthums niederer Gattung – denn von den wissenschaftlichen Werken des radicalen Socialismus wußte Herr Todt entweder nichts, oder er wollte nichts davon wissen. Die materialistische Weltanschauung von Marx, welche das Wirken aller geistigen und sittlichen Kräfte im Völkerleben leugnet und die ganze Weltgeschichte nur als ein Spiel der grobsinnlichen, materiellen Bedingungen auffaßt, unter denen die menschliche Gesellschaft ihren Lebensunterhalt erwirbt und umtauscht, stößt naturgemäß jeden Gottesglauben von ihrer Schwelle, und auf dieser Weltanschauung baut sich das ganze System des modernen Communismus auf. Allein dieser geringfügige Umstand hinderte Herrn Todt nicht, zu erklären, daß die Leugnung Gottes nur ein äußerliches Beiwerk der neuen Lehre sei, welches sich die guten Socialdemokraten von den bösen Liberalen angewöhnt hätten. Ganz im Gegentheile suchte er nachzuweisen und wies es in seiner Art auch nach, daß die deutsche Socialdemokratie durchaus und durchweg auf dem Felsengrunde der Bibel fuße. Was beispielsweise ihren Grund-, Haupt- und Kernsatz von der Nothwendigkeit des Gemeineigentums angeht, so fragt Herr Todt entrüstet, wie man nur den tiefen, sittlichen Gehalt dieses Gedankens verkennen könne? „Er ist die Consequenz des göttlichen Wortes (I. Moses 1, 28 ff.): Füllet die Erde und machet sie Euch unterthan und herrschet über die Fische im Meere etc.“

Aehnliche Beispiele, von denen das ganze Buch wimmelt, oder genauer: aus denen es besteht, können hier nicht angeführt werden, sie gehören in ein Handbuch über Geisteskrankheiten, und es muß genügen, das Endergebniß dieser kritischen Untersuchungen über die socialistische Theorie wortgetreu wieder zu geben; es lautet: „Ihre Grundprincipien bestehen nicht nur vor der Kritik des Neuen Testaments, sondern enthalten geradezu evangelische, göttliche Wahrheiten; ihre Anklagen gegen die heutige Gesellschaftsordnung sind größtenteils begründet, ihre Forderungen berechtigt.“

Diese wundersame Weisheit hatte der Pfarrer Todt aus der Bibel „destillirt“ und „geklärt“, wie er sich auszudrücken liebte; daneben hatte er freilich auch noch eine andere Methode angewandt, welche sich schwer kennzeichnen läßt, ohne die einem so „frommen“ Manne gebührende Ehrfurcht zu verletzen. Um zum Beispiel zu erhärten, daß das Wachsthum des nationalen Wohlstandes heutzutage immer nur den besitzenden Classen zu Gute komme, citirte Herr Todt eine Budgetrede Gladstone’s von 1863, worin bei Betrachtung der englischen Einkommensteuer und ihrer Erträge eine überraschende Vermehrung von Macht und Reichthum der besitzenden Classen erwähnt wird, verschwieg aber wohlweislich, daß der englische Schatzkanzler in demselben Athemzuge eine gleichzeitige Hebung der arbeitenden Classen festgestellt hatte, die er in jeglichem Lande und Zeitalter beinahe beispiellos nannte. Herr Todt ließ also behufs besserer Aufwiegelung der Arbeiter durch unwahre Vorspiegelungen einen Mann von Gladstone’s Weltruf genan das Gegenteil von dem sagen, was er gesagt hat. Aber selbst bei dieser nicht gerade hervorragenden Leistung war er nur ein Nachbeter und Nachtreter socialdemokratischer Vorgänger. Marx selbst hatte ihm das Hetzkunststückchen vorgemacht, wobei es sich der profane Mann denn freilich gefallen lassen mußte, daß sein Kunststückchen von wissenschaftlichen Gegnern eine literarische Fälschung sonder Gleichen genannt wurde.

Nicht um ihrer selbst willen, sondern als das Kukuksei, aus welchem die christlich-sociale Agitation entschlüpfte, beansprucht diese Schmähschrift eine ausführlichere Erwähnung. Bei ihrem Erscheinen wurde sie wenig beachtet, die publicistische und wissenschaftliche Kritik zuckte einfach die Achseln, auch die „Kreuzzeitung“ war ehrlich genug, diese Demagogie beim rechten Namen zu nennen, nur die ultramontanen Blätter, welche einen so wunderbar feinen Instinct für alles Unheil haben, welches der evangelischen Kirche droht, priesen das Werk als eine glänzende Offenbarung socialpolitischer Weisheit. Indessen die grellen Trompetenstöße dieser Reclame verhallten, und so würde das Geisteskind des Pfarrers zu Barenthin längst den ewigen Schlaf in den ungeheuren Katakomben der socialpolitischen Maculatur schlummern, wenn sich nicht eben in den ersten Tagen von 1878 herausgestellt hätte, daß es nicht sowohl eine harmlose Abhandlung, als eine „große That in Worten“ darstellen solle. Denn aus den Geist und das Zeugniß dieses Buches hin thaten sich mit Herrn Todt der Hofprediger Stöcker und eine kleine Schaar von Agrariern, Schutzzöllnern, Pietisten, Particularisten und Socialisten zu einem Centralverein zusammen, der die „sociale Reform“ auf Grund „evangelischer göttlicher Wahrheiten“ einzuleiten beabsichtigte. Zunächst wurde ein Wochenblatt unter dem Titel „Staatssocialist“ gegründet, welches die Fäden weiter spinnen sollte, die in dem Buche von Todt geknüpft waren.

Der „Staatssocialist“ erwies sich den Begründern dankbar und seiner Aufgabe durchaus würdig. Er stellte sein Vorbild noch über die heilige Schrift und that den denkwürdigen Ausspruch: wenn statt der achtzig Millionen Bibeln, welche von England aus vertrieben werben, deren nur vierzig Millionen und statt der anderen vielleicht hunderttausend Exemplare des Todt’schen Buches verbreitet würden, so müßte das religiöse Resultat ein günstigeres sein. Dabei suchte er den großen Meister noch zu übertreffen und schrieb gleich in einer seiner ersten Nummern mit lapidarer Kürze über die heutige Ordnung: „Der rasende Concurrenzkrieg wirft die Menschheit aus dem Besitze aller ihrer Heiligtümer. Es giebt keine Ruhe des Geistes, keinen Frieden der Seele mehr. Ueberall Enteignung! Der Mann verliert seine Würde, das Weib seine Ehre.“ Um diese frohe Botschaft überallhin zu verbreiten, sollte das deutsche Reich in zwölf Agitationsbezirke geteilt und in jedem derselben ein beständiger Agitator unterhalten werden. Als „vortreffliches Material“ für diesen Posten wurden junge Schullehrer und junge Kaufleute empfohlen, als unentbehrlichste Eigenschaft für ihre Thätigkeit eine starke, deutliche Stimme bezeichnet, nebenbei wurde dann noch erwähnt, daß sich solche Personen die notwendigen Kenntnisse rasch aneigneten. Dies Alles war deutlich zu lesen in einem Circular des Centralvereins für Socialreform, welches sein Organ veröffentlichte.

Nunmehr begann die Sache ruchbar zu werden im deutschen Reiche, aber allzu stolz durfte sie nicht auf die Sensation sein, welche sie erregte. Daß sich alle Elemente des freisinnigen und patriotischen Bürgerthums gegenüber dieser Filiale der socialdemokratischen Agitation – und zwar einer Filiale, die viel widerwärtiger war, als der Hauptstock – Schulter an Schulter zusammen schlossen, braucht kaum hervorgehoben zu werden, aber die Gerechtigkeit gebietet zu betonen, daß das ganze, Unternehmen auch von positiv christlicher Seite, so von Professor v. d. Goltz in Königsberg, von Beyschlag’s „Deutsch-evangelischen Blättern“ und Andern, einer geradezu vernichtenden Kritik unterzogen wurde. Auch die meisten Mitglieder des Centralvereins, soweit sie überhaupt einen politischen und wissenschaftlichen Namen zu verlieren hatten, zogen sich bald offen oder stillschweigend zurück.

Im Reichstage geißelte Graf Bethusy-Huc in starken Worten den unglaublichen Humbug. Daneben hatten sich die Herren Todt und Genossen dann freilich auch mancherlei fördernder Unterstützung zu erfreuen, besonders Seitens amtlicher Organe der evangelischen Kirche. Das Consistorium der Provinz Sachsen empfahl sogar ausdrücklich das Todt’sche Buch seinen untergebenen Geistlichen [27] zum eifrigen Studium der socialen Frage. Auch einzelne socialdemokratische Agitatoren des allerniedrigsten Schlages stürzten sich wie die Motten in die flackernde Flamme. So jener in der letzten Zeit oft genannte Schneider Grüneberg, welcher die Umwälzung der bestehenden Ordnung bekanntlich zunächst durch seine komisch wirkenden Versündigungen an dem ehrwürdigen Gefüge der deutschen Grammatik versuchte; so ein gewisser – Hödel aus Leipzig, der um agitatorisches Material bat und es nebst einem aufmunternden Schreiben erhielt.

Der Gewinn so streitbarer Kräfte war es wohl in erster Reihe, welcher schon wenige Wochen nach Gründung des Centralvereins veranlaßte, daß sich von ihm eine christlich-sociale Arbeiterpartei abzweigte, um der socialdemokratischen Concurrenz in aller Eile möglichst viel Terrain abzugewinnen. Eine Arbeiterpartei, vorläufig ohne Arbeiter, aber reich an Feldherren; Arm in Arm forderten Hofprediger Stöcker, Missionsprediger Wangemann und Schneider Grüneberg ihr verkommenes Jahrhundert in die Schranken. Die hauptstädtische Socialdemokratie nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf, es folgten jene berüchtigten Berliner Versammlungen, in denen die drei Männer mit einem Manne wie Most über Gott und Unsterblichkeit stritten. Nichts war der socialdemokratischen Agitation willkommener, als diese Spectakelstücke, boten sie doch reichlichsten Anlaß, ihre Anhänger anzuregen und zu unterhalten. Ihre gewandten Redner hatten mit den Gegnern leichtes Spiel; von Grüneberg ganz zu schweigen, verstand weder Stöcker noch Wangemann etwas von socialpolitischen Fragen; jener bekannte gern, wie „ein unschuldiges Kind“ in die Bewegung getreten zu sein, und dieser nannte sich nicht[WS 1] minder eifrig „zu dumm“ für die Beurteilung wirthschaftlicher Verhältnisse. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß, so lange sich die Discussion in diesen Volksversammlungen um rein religiöse Fragen drehte, namentlich Stöcker’s Auftreten nicht ohne sympathische Momente war. Er ist nicht hinterhältig und verschlagen wie Todt, sondern ein offener und resoluter Charakter. Dabei zeugte es von einem gewissen Muthe, wie er den Stier bei den Hörnern packte, und gegen den seichten Abhub des seichten Atheismus, den die communistischen Demagogen predigten, hob sich seine formvollendete Beredsamkeit immerhin vorteilhaft ab. Aber der leise Anflug von Wohlwollen, welcher sich hier und da der christlich-socialen Agitation zuwandte, erlosch sofort wieder, wenn Herr Stöcker, trotz seiner kindlichen Unschuld in wirthschaftlichen Dingen, den Arbeitern goldene Berge verhieß, ohne augenscheinlich die leiseste Ahnung, welche ungeheuerliche Verpflichtungen er damit einging. Und als nun gar jene scheuselige Frauen- und Mädchenversammlung stattfand, die zwischen Most und Wangemann richten sollte, und die in ihrem Verlaufe die widerlichsten Bilder der französischen Schreckensherrschaft wachrief, da packte alle Welt ein unsagbarer Ekel, und selbst die Socialdemokraten wurden des grausames Spiels überdrüssig. Der erste Streifzug der christlich-socialen Agitation in die Arbeiterwelt endete mit einer völligen Niederlage.

Sie athmete wieder auf, als die fluchwürdigen Attentate den Stern der Socialdemokratie erbleichen ließen und die Wahlbewegung in manchen ihrer Erscheinungen den Gedanken wachrief, daß im Trüben gut fischen sei. Eine Tageszeitung wurde gegründet, die „Deutsche Volkswacht“, deren Leitung ein „bewährter“ Genosse aus Süddeutschland übernahm. Sie trug an ihrer Stirn das Motto: „Liebe Deinen Nächsten als Dich selbst!“ aber nie ist dieses herrliche Wort mehr geschändet worden, als durch den literarischen Unrat, der sichtlich unter seinem Schutze verbreitet wurde. Selbst die schlimmsten Ausschreitungen der socialdemokratischen Presse vermögen mit diesen Leistungen kaum zu rivalisiren. Dabei zeigte sich wieder einmal, daß der Zorn ein schlechter Berater ist; in einer Polemik gegen das freisinnige „Deutsche Protestantenblatt“ in Bremen schrieb die fromme „Deutsche Volkswacht“: „Ausführungen der Protestantenvereinler tragen so recht das Eunuchenthum an der Stirn“, und „Protestantenvereinler mit ihren liberalisirenden Ansichten in kirchlichen Dingen erzeugen überhaupt in jedes christlich gesinnten Menschen Brust das Gefühl namenlosen Abscheus.“ So wurden die würdigsten Männer beschimpft von denselben Orthodoxen, welche die socialdemokratischen Grundsätze als „evangelische göttliche Wahrheiten“ kennzeichnen.

Trotz allen Eifers im Schimpfen, Verdächtigen, Verleumden vereitelte der Wahltag die Hoffnungen, die auf ihn gesetzt waren; in drei Berliner Wahlkreisen bewarben sich christlich-sociale Candidaten; im Ganzen gewannen sie zusammen noch nicht anderthalb tausend Stimmen. Solch eine Niederlage hatte man nicht erwartet. Im Kreise seiner Getreuen klagte Herr Stöcker über diesen „unglückseligsten Tag seines Lebens“; zugleich theilte er die traurige Kunde mit, daß die Parteicasse bis auf den letzten Pfennig durch einen „schlechten Spitzbuben“ geplündert worden sei; unter dieser unerfreulichen Umschreibung verstand er seinen treuesten Waffenbruder, den Schneider Grüneberg, der sich gegen diese Beschuldigung energisch wehrte und in den Spalten der socialdemokratischen Presse sofort einen lärmenden Feldzug gegen seinen bisherigen Gönner eröffnete.

Auch der verschriebene Redacteur der „Deutschen Volkswacht“, die am Tage nach der Wahl sofort selig entschlief, bewarb sich nunmehr um die Mitarbeiterschaft an socialdemokratischen Blättern, wurde aber abgewiesen. Es ergab sich jetzt, daß dieser Kämpfer bisher socialpolitisch nur einer Nivellirung der Eigenthumsverhältnisse im engsten und persönlichsten Sinne gehuldigt hatte; er hatte Mündelgelder veruntreut und deshalb eine schimpfliche Gefängnißstrafe erlitten. Die geistlichen Leiter der Bewegung leugneten, darum gewußt zu haben, sie wurden der Unwahrheit überführt durch das Zeugniß des geistlichen Amtsbruders, der den rüstigen Streiter jenseits des Mains geworben hatte. Auch sonst flohen die Ratten von dem lecken Schiff. Fraglich ist überhaupt bis auf diesen Tag, ob die christlich-sociale Agitation jemals auch nur einen Anhänger aus Ueberzeugung unter den Arbeitern gehabt hat. Soweit öffentliche Kundgebungen einen Schluß gestatten, muß die Frage verneint werden. Hödel bekannte vor dem Staatsgerichtshofe, daß er nur um des „Geschäfts“ willen den „Schwindel“ mitgemacht habe, und Schneider Grüneberg erklärte sogar, daß sich noch kein sterblicher Mensch in das Lager dieser neuesten Weltverbesserer verirrt habe, der nicht durch die Spende eines ebenso unentbehrlichen, wie unnennbaren Kleidungsstückes dazu verführt worden sei.

Nach alledem aber hat der lächerlich-unheimliche Spuk noch kein Ende. Der „Staatssocialist“ hetzt und schimpft unverdrossen weiter; über das Thun und Treiben, die Stärke und den Umfang des Centralvereins für Socialreform, dem er dient, ist kaum etwas Anderes bekannt, als daß derselbe einige Reiseprediger zeitweise im deutschen Reiche wühlen ließ und einige hundert evangelische Geistliche geworben hat. Herr Todt giebt sich noch immer den Anschein, als ob die oberen Kirchenbehörden ein wohlgefällig Auge auf seinem Treiben ruhen ließen. Auch über Herrn Stöcker ist eine Art grönländischen Sonnenscheins gekommen, seitdem das Socialistengesetz erlassen ist. Manche Stammgäste der verbotenen Vereine und Versammlungen betrachten ihn vorläufig als magern Ersatz; so haben die allwöchentlichen Zusammenkünfte, die er beruft, einigen Zulauf. Schneider Grüneberg bemüht sich augenblicklich, eine christlich-sociale Gegenpartei zu gründen. Am verständigsten und würdigsten weiß sich Herr Wangemann nach den Stürmen und Wettern des Sommers zu fassen; er versucht die Socialdemokraten zu bekehren, welche im Gefängnisse zu Plötzensee eingethürmt sind.

So verlief das Satyrspiel von 1878; wer mag sagen, ob es sich noch in die Zukunft fortspinnen wird? Nur so viel darf man guten Gewissens behaupten, daß, wer sich mit solchen Hoffnungen trägt, kein aufrichtiger Freund der evangelischen Kirche ist. Auch wird die orthodoxe Priesterpartei auf diesem Wege sicherlich nicht ihr eigentliches Ziel erreichen, das heißt sicherlich nicht jenen Boden im Volke gewinnen, an dem es ihr bisher zur Förderung ihrer zelotischen Herrschafts- und Unterjochungszwecke gefehlt hat.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: micht