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Das Schweigen im Walde

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Textdaten
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Autor: Ludwig Ganghofer
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Titel: Das Schweigen im Walde
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–12, S. 1–14, 37–48, 69–80, 101–110, 133–142, 166–171, 197–205, 229–242, 280–290, 306–316, 342–352, 374–384
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[1]

Das Schweigen im Walde.

Roman von Ludwig Ganghofer.


1.

Die letzten Häuser verschwanden hinter Büschen und Bäumen. Aber man hörte noch den Lärm des Dorfes, den Hall verschwommener Stimmen und das Geläute einer Kirchenglocke, welche zur sonntäglichen Vesper rief. Entlang dem zerrissenen Ufer eines Wildbaches ging es noch eine Weile an Bergwiesen und zerstreuten Feldgehölzen vorüber, dann begann das schmale Sträßlein sacht zu steigen. Während die Kutsche mit langsamer [2] Fahrt in den von Sonnenglanz umwobenen Hochwald einlenkte, klang vom Dorfe her noch ein letzter Glockenton, als möchte das im Thal versinkende Treiben der Menschen Abschied von dem jungen Reisenden nehmen, der in Gedanken versunken hinauf in die Berge fuhr.

Die steigende Straße verlor sich in immer dichteren Wald. Der klomm zur Rechten gegen die Hochalmen empor, zur Linken senkte er sich in eine Schlucht, aus deren Tiefe sich die Stimme des Wildbaches noch wie leises Murmeln vernehmen ließ. Unter den Bäumen war Stille, als wollte der Wald nach der drückenden Hitze des Julitages schon lange vor Abend in Schlummer sinken. Man hörte nur den müden Hufschlag und das Räderknirschen im groben Kies der Straße.

Vor die schwerfällige Landkutsche waren zwei Maultiere gespannt. Sie gingen den ihnen wohlbekannten Weg mit gleichmäßigem Schritt und machten dem alten, weißbärtigen Bauernknecht, der sie zu lenken hatte, nur geringe Mühe. Er konnte die Zügel lässig im Schoße halten und ab und zu ein kleines Nickerchen erledigen, aus dem ihn das Holpern des eine Wasserrinne passierenden Wagens immer wieder aufrüttelte. Wurde er munter, so versuchte er mit seinem Nachbar auf dem Bocksitz ein Gespräch anzuknüpfen, verstummte aber bald wieder, eingeschüchtert durch das vornehm ablehnende „Ach?“ und „So!“, das er sich mit all seiner gutmütigen Redseligkeit als einzige Antwort verdiente. Man sah diesem Nachbar den „hochherrschaftlichen Lakai“ an der würdevollen Haltung an, die er trotz der siebenstündigen Wagenfahrt noch immer bewahrte. Er trug einen Reiseanzug aus dunklem Cheviot, adrett wie nach dem Modejournal geschnitten, und ein kleines schwarzes Hütchen, unter dessen schmaler Krempe sich das peinlich frisierte Blondhaar gleich einer polierten Bernsteinschale um den Hinterkopf und über die Schläfen legte. Ein noch junges Gesicht, und hübsch, so daß es hätte gefallen können. Aber in seiner rasierten Glätte und bei dem Bestreben, stets einen wichtig ernsten Ausdruck in den Blick der graublauen, im Grunde doch recht gedankenlosen Augen zu legen, glich es dem stilvollen Antlitz eines mittelmäßig begabten Schauspielers, der seine beste Rolle außerhalb der Bühne spielt. Es lag auch, neben halber Ehrlichkeit, ein wenig Komödianterie in der Art und Weise, wie sich der Diener nach dem Fond der Kutsche umwandte, als wäre er in Sorge um das Befinden seines jungen Herrn.

„Fühlen sich Durchlaucht von der Fahrt nicht sehr ermüdet?“

Der Fürst schien nicht zu hören – wenigstens gab er keine Antwort. Regungslos, wie schlafend, und den Kopf mit dem grauen, schmucklosen Jägerhütchen ein wenig seitwärts geneigt, lag er in die Lederkissen der Kutsche geschmiegt und ließ die Hände auf der leichten Reisedecke ruhen, die um seine Kniee geschlungen war – zwei schlanke, frauenhaft gepflegte Hände, deren durchscheinende Blässe von schwerer, kaum noch überstandener Krankheit erzählte. So bleich wie diese Hände war auch das schmale, feingeschnittene Gesicht, von dessen Blässe sich das dünne Bärtchen, das die herb geschlossenen Lippen umrahmte, und der linde Flaum, der sich um Kinn und Wangen kräuselte, als tiefer Schatten abhoben. Wie der seltsame Widerspruch dieser Züge fesselte! Jede Linie so weich und milde gezeichnet, als wären diese Züge das Erbteil einer schönen Mutter, das einer Tochter geschenkt sein wollte und sich zu einem Sohn verirrte; und dennoch der Ausdruck eines klar geprägten Willens, in jedem Zug das Merkmal einer fest gefügten männlichen Natur; dazu ein Körper, schlank und sehnig aufgeschossen, dessen jugendliche Kraft durch die überstandene Krankheit nicht gebrochen, nur gefesselt schien und sich auch in der müd’ versunkenen Haltung noch verriet, mit welcher der Fürst im Wagen ruhte.

Er hielt die Augen geschlossen; doch schlief er nicht – das Leben, das in seinen Zügen spielte, verriet es. Hatte er die Lider geschlossen, weil ihn nach all dem blendenden Sonnenglanz der langen Fahrt die Augen schmerzten? Oder wollte er das Bild der Landschaft vor seinem Blick erlöschen machen, um die Bilder seiner Gedanken ungestört und klar vor seiner Seele zu schauen? Freundliche Bilder schienen das nicht zu sein! Das bittere Lächeln, das einen tiefen Zug um die Lippen schnitt, erzählte von Leiden, welche besiegt, doch nicht vergessen sind und in der Seele nachwirken wie das Brennen einer Wunde, die vernarben will.

Bei diesem Sinnen und Brüten atmete der stille, freudlose Träumer in tiefen Zügen die reine Waldluft, ihre Frische wie unbewußte Erquickung genießend.

Da unterbrach ein heller Laut die Stille der Landschaft. Ueber die Wipfel hin, von einer fernen Höhe klingend, tönte der schwebende Jodelruf einer Mädchenstimme, verschwamm in den sonnigen Lüften und weckte an den Felswänden, die der Wald verhüllte, noch ein leises Echo.

Der Fürst hörte nicht. Aber der Lakai auf dem Bocksitz spitzte die Ohren, lächelte ein wenig und fragte halblaut den Kutscher: „Giebt es hier Sennerinnen?“

„No freilich! Viere oder fünfe müssen herinn sein im Gaisthal. Und eine is dabei … vor der muß man ’s Hütl ziehen. Die Burgi von der Tillfußer Alm … was wahr is, muß wahr sein … aber das is schon ein bildsaubers Madl.“

„Die Tillfußer Alm? Wo liegt die?“

„Gleich dem Jagdhaus vor der Nasen, auf hundert Schritt!“

Der Wagen rollte aus dem dicht geschlossenen Wald auf eine offene Höhe hinaus, und der Kutscher deutete mit der Peitsche. „Da schauen S’ her! da kann man ’s ganze Gaisthal überschauen, drei Stund weit naus bis gegen Ehrwald.“

Hastig wandte sich der Lakai und sprach in den Wagen zurück: „Bitte, Durchlaucht, von dieser Stelle kann man das ganze Jagdgebiet übersehen.“

Der Fürst schlug die Augen auf – große, dunkle Augen von schwimmendem Glanz – und erhob sich im Wagen, den der Kutscher auf einen Wink des Lakaien angehalten hatte.

Beim Anblick dieser weitgedehnten, in all ihrer wundersamen Größe doch so ruhigen Landschaft stieg eine warme Röte in die bleichen Wangen des Fürsten. Es war aber auch ein Bild, das einem für Schönheit der Natur empfänglichen Menschen die Seele mit Staunen erfüllen mußte.

Zu Füßen der Straße zog sich ein schmales Hochthal mit fast ebener Sohle bis in weite Ferne, kaum merklich gewunden, eine einzige große Linie, gezeichnet von der weitausholenden Hand des Schöpfers. Durch das lange Thal hin schlängelt sich die Gaisthaler Ache, in enggedrängtem Bette aus- und einbiegend um vorspringende Felsen und Waldecken, bald grünlich schimmernd bei ruhigem Gefäll, bald wieder blitzend in der Sonne und zersprudelt zu weißem Schaum. Das ganze Thal entlang reiht sich zur Linken ein Felskoloß an den anderen; neben der ungestüm aufstrebenden „Munde“ erhebt sich die wuchtige „Hochwand“, hinter dem klobigen „Igelstein“ drängt sich der steile „Tejakopf“ hervor, und den wirkungsvollen Abschluß bildet die „Sonnenspitze“ mit ihrer schlanken, auf breitem Sockel ruhenden Pyramide. Von dunklem Blau umschleierte Kare schneiden in den Leib der steinernen Riesen ein, und über die steil gesenkten Felsenrippen klettern die Fichtenwälder empor als schmale Zungen und verlieren sich mit einsam vorgeschobenen Bäumen zwischen die Latschenfelder, welche die Brust der Berge umhängen wie grüne Sammetverbrämung. Verstaubter Schnee, den immerwährender Schatten auch gegen die Sonne des Juli schützte, füllt mit zerrissenen Formen alle tieferen Buchten im Gestein, und von ihm aus ziehen, den lebenden Wald zersprengend, die Lawinengassen nieder mit verwüstetem Gehäng. Gerade der Stelle zu Füßen, auf welcher der Wagen hielt, lagen Hunderte von gebrochenen Stämmen wirr über den Bach geschleudert – doch in der Tiefe sah dieser zerstörte Wald sich an wie Spielzeug, das Kinderhände im Uebermut durcheinander geworfen. Aus diesem Wirrsal ragte eine seltsame Rute hervor: eine gewaltige, wohl hundertjährige Fichte, die eine Lawine aus dem Grund gerissen, durch die Luft gewirbelt und mit dem Gipfel wieder in die Erde gebohrt hatte, so daß der Stamm mit seinem Wurzelwerk zum Himmel ragte.

Gegenüber diesem ernsten Bild des Schattens lag, von goldnem Schimmer umwoben, die Sonnenseite des Thales. Ueppig grünende Wälder wechselten mit blumigen Almgehängen. Sanft verschwommen klangen die Glocken der weidenden Rinder von den Höhen nieder, und auf den lichtgrünen Weideflächen erkannte man die zerstreuten Tiere der Herde als helle, bewegliche Punkte. Ueber den Almen lagen wieder die Wälder, aus denen sacht gerundete, nur selten von einer kahlen Wand durchschnittene Kuppen aufwärtsstiegen; und wie die Welt verschließend, so stolz und steil, erhob sich über diese grünen Wellen [3] der gezahnte, stundenlange Grat des Wettersteingebirges, im Glanz der Sonne wie ein goldenes Gebild erscheinend. Je weiter und weiter das sich hinzog, desto blauer tönten sich die Felsen, so daß sie in der Ferne mit der golddurchwobenen Farbe des Himmels fast in eins zerflossen.

„Wie schön!“ Tief atmend hatte der Fürst dieses Wort vor sich hingesprochen; und als die Kutsche über die leicht fallende Straße niederrollte, lag er nicht mehr mit stillem Brüten in die Kissen des Wagens versunken, sondern schickte in lebhafter Achtsamkeit die Augen nach allen Seiten auf die Reise.

Eine Weile führte der Weg zwischen einem latschenbewachsenen Hang und dem Ufer der Ache dahin, nun wieder durch schütteres Gehölz und dann im Bogen über eine weite Blöße gegen ein Waldplateau empor, in dessen Mitte, wie aufsteigender Rauch verkündete, das von mächtigen Fichten umschützte Jagdhaus stehen mußte. Der Fürst beugte sich aus dem Wagen, um besseren Ueberblick zu haben – er schien gespannt auf das Jägerheim, das ihm die Fürsorge eines Freundes in dieser Bergeinsamkeit erworben und bereitet hatte. Als sich die Kutsche einem aus Steinen am Waldsaum erbauten Stalle näherte, hörte man unter den Bäumen eine erregte Männerstimme rufen:

„Er kommt! Er kommt!“

Der Fürst lächelte. Da waren wohl Vorbereitungen für einen feierlichen Empfang getroffen?

Etwa hundert Schritte ging der Weg noch durch schattigen Hochwald, dann traten die Bäume auseinander, im Kreis das sanft geneigte, von heller Sonne überglänzte Weidefeld der Tillfußer Alm umschließend. Inmitten des Feldes lag eine steinerne Sennhütte mit rauchendem Schindeldach – und vor der Thür der Hütte stand mit gekreuzten Armen eine junge Sennerin, die dem anfahrenden Wagen neugierig entgegenblickte.

Der Kutscher stieß den Lakai mit dem Ellbogen an und blinzelte gegen die Hütte hinunter. Martin reckte den Hals, doch eines der Jägerhäuschen, welche dicht neben dem Wege standen, verdeckte ihm die Aussicht.

Kleine Fähnchen mit den tiroler Farben schmückten die Giebel der Jägerhütten, eine Flagge wehte auf dem Dach des größeren Fremdenhauses, und ein hoher, von grüner Fichtenguirlande umschlungener Mast, auf welchem zwischen der deutschen und der österreichischen Fahne eine Flagge mit den Farben des fürstlichen Hauses flatterte, erhob sich vor dem Staketenzaun, der den Hofraum des großen, zweistöckigen Jagdhauses umschloß. Auf einem das Almfeld überblickenden Hügel ruhend und angelehnt an den bergwärts steigenden Fichtenwald, grüßte das schmucke, mit rötlichem Zirbenholz verschalte Gebäude freundlich seinem jungen Herrn entgegen, leuchtend in der Sonne, mit blinkenden Fenstern und halb versunken in einen gutgemeinten, aber nicht besonders zierlich geratenen Aufputz von Kränzen und Guirlanden, an denen in dicken Büscheln die roten Tannenzapfen baumelten.

Neben der Hausthür hatten in schmucker Feiertagstracht fünf Jäger Aufstellung genommen, und vor ihnen, wie ein Korporal vor seinen Rekruten, stand der Förster, dessen Rang nicht nur das goldene Emblem auf dem Joppenkragen, sondern auch der würdige Ernst in Haltung und Miene erkennen ließ – eine klobig stramme Gestalt mit breiten Schultern, ein derbes Gesicht mit rötlich gekraustem Vollbart und mit braunen Augen, gutmütig wie Kinderaugen; doch ein paar verdächtig angeschwollene Aederchen an Stirn und Schläfen ließen vermuten, daß der Förster zeitweilig an „gachen Hitzen“ zu leiden hatte.

Als die Kutsche in den Hofraum einfuhr, warf der Förster noch einen musternden Blick über die Jäger, welche die Köpfe entblößten, dann schwang er den Hut und rief mit einer Stimme, welche heiser gegen seine Aufregung kämpfte: „Unser neuer, hochverehrter Jagdherr, Seine Duhrlaucht Fürst Heinrich Ettingen-Bernegg, er lebe hoch!“

Die Stimmen der Jäger fielen ein. Nur ein einziger von ihnen schwieg und blickte dem anfahrenden Wagen gleichgültig entgegen: doch als er den Fürsten sah, streckte sich seine Gestalt, und der Blick seiner Augen schärfte sich, als gäbe ihm der Anblick seines jungen Herrn zu denken.

„Hoch! Hoch!“ klangen die Stimmen der anderen. Dann kam noch ein unerwarteter Nachklang, drunten bei der Sennhütte, hell wie der Ton eines Silberglöckleins: „Hooooch!“ Und diesem Ruf folgte ein Jauchzer, der hinaufkletterte bis in die höchste Stimmlage einer kräftigen Mädchenkehle.

Die Jäger schmunzelten, während der Förster etwas aus der Fassung geriet, denn er schien nicht recht zu wissen, ob diese programmwidrige Zugabe zur Empfangsfeierlichkeit ernst oder spöttisch gemeint war. Aber der Fürst lächelte, und freundlich grüßend nickte er der Sennerin zu, welche kichernd um die Ecke der Almhütte verschwand.

Der Lakai war vom Bock gesprungen und hatte den Wagenschlag geöffnet.

Der Fürst stieg aus, und nun sah man erst, wie kräftig und schlank er gewachsen war. Der schlichte Jägeranzug aus schottischem Loden, mit kurzen Bundhosen und hohen braunen Schnürschuhen, paßte kleidsam zu dieser jugendlichen Gestalt, aus der alle Schwäche und Ermüdung plötzlich verflogen schien. Er bot dem Förster die Hand. „Ich danke Ihnen! Das ist ein lieber Empfang, den Sie mir bereitet haben!“ Freundlich bestaunte er den etwas plump geratenen Schmuck des Hauses. „Und wie hübsch Ihnen das gelungen ist! Wirklich, Sie haben mir die Ankunft im Jagdhaus zu einer Freude gemacht.“

Der Förster bekam ein Gesicht so rot wie ein Krebs, der im besten Kochen ist. „Is’s wahr? G’fallt’s Ihnen? No, Gott sei Dank! Da is mir ein ganzer Stein von der Seel’! Denn daß ich’s g’rad’weg raussag’ … auf d’ letzt hab ich schon selber ein bißl g’forchten, es g’fallt Ihnen net. Unsereins versteht sich halt schlecht auf solchene Deggerazionsg’schichten … P’lagt haben wir uns freilich g’nug, aber ang’stellt haben wir uns alle miteinander wie der Holzknecht, wenn er ein Grillenhäusl macht! Aber Gott sei Dank … weil’s Ihnen nur g’fallt!“ Er nahm die Hand des Fürsten in den Schraubstock seiner Fäuste. „Und da sag’ ich halt jetzt Grüßgott und Weidmanns Heil, Herr Fürst! Jetzt lassen Sie’s Ihnen halt gut gehn bei uns da heraußen! Wissen S’, wir haben uns schon verzählen lassen, wie schwer krank als S’ g’wesen sind … ja, meiner Seel, und ein bißl g’ring schauen S’ auch noch aus am Leib … wie ein Hirscherl, das mit knapper Not über ein’ schiechen Winter nüber g’rutscht is!“

Der Lakai warf einen erschrockenen Blick auf seinen Herrn.

Der aber betrachtete den Förster mit offenem Wohlgefallen.

„Aber passen S’ nur auf, Duhrlaucht, unser Lüftl da heraußen, das richt’ Ihnen schon wieder z’samm auf’n Glanz!“

Der Fürst lächelte. „Ja, ich merk’ es schon jetzt: ich werde mich wohlfühlen hier! Die Luft, in welcher Sie sich so kerngesund ausgewachsen haben, wird auch mir bekommen!“ Er gab dem Lakai einen Wink, ins Haus zu treten. „Aber nun will ich meine Jäger kennenlernen. Ich bitte, mein lieber … wie heißen Sie, Herr Förster?“

„Kluibenschädl!“

Der Fürst schien nicht zu verstehen. „Wie, bitte?“

Verlegen schwieg der Förster, und sein rotes Gesicht wurde noch röter. Dann platzte er heraus: „Wenn Duhrlaucht nix dagegen haben … ich heiß halt einmal Kluibenschädl! Da is nix dran z’ ändern!“

Der Fürst konnte nur schwer seinen höflichen Ernst bewahren. „Mein Ohr ist nicht gewöhnt an die hier üblichen Ausdrücke und Namen,“ sagte er, „verzeihen Sie also, Herr Förster, wenn ich nicht gleich verstanden habe.“

„Klui–ben–schädl!“ buchstabierte mit etwas gereizter Deutlichkeit der Förster, dem die Adern an den Schläfen schwollen.

„Jetzt hab’ ich verstanden!“ Erheitert bot Ettingen dem Förster die Hand. „Aber wollen Sie nun die Güte haben, mir die Jäger vorzustellen?“

Der Förster trat vor seine Leute hin. „Bitte, Duhrlaucht … die ersten zwei, das sind der Kassian Birmoser und der Krispin Ruef, die zwei Jäger von Leutasch draußen. Der dritte da, das is der Sylvester Beinößl, der Jäger von Ehrwald drunten. Und die letzten, das sind die zwei Tillfußer Jäger, der Toni Mazegger und der Praxmaler-Pepperl.“

Der Fürst hatte jedem Jäger die Hand gereicht und jeden mit prüfendem Blick betrachtet. Mazegger und Praxmaler schienen sein besonderes Interesse zu erwecken. Die beiden standen nebeneinander, wie unfreundlicher Schatten neben warmer, gesunder Helle. Mazegger, der jüngste von allen, mochte etwa dreiundzwanzig Jahre zählen. Recht auffällig unterschied sich seine

Gestalt von dem derben, bäuerischen Typus der anderen. Fast glich er einem Städter, der sich mit gesuchter Echtheit in die malerische Tracht der Hochlandsjäger gekleidet hat. Das hagere, von dunklem Flaum umkräuselte Gesicht war sonnverbrannt wie die Gesichter der anderen, und trotzdem erschien es blaß und ohne Blut. Ein Zug von unwilliger Verschlossenheit lag um den scharfgezeichneten Mund, und unter dem Schatten, den die schwarzen, in dicken Büscheln vorfallenden Haare über die Stirne warfen, brannten die tiefliegenden Augen mit düsterem Feuer.

„Sind Sie hier in der Gegend geboren?“ fragte der Fürst, dem der südländische Typus des jungen Jägers auffiel.

„Nein, Durchlaucht. Ich bin in der Nähe von Trient daheim,“ erwiderte Mazegger in einem Hochdeutsch von kaum merklicher Dialektfarbe.

„Und Ihre Eltern? Was sind die?“

Dem Jäger schienen die Fragen seines Herrn nicht willkommen zu sein; er gab seine Antwort zögernd, während er vor sich niederblickte und den Hut zwischen den Händen zerknüllte. „Mein Vater war Lehrer. Aber als man bei uns im Dorf die deutsche Schule aufhob und die italienische einführte, wurde mein Vater abgesetzt. Das hat er nicht überlebt … er ist ins Wasser gesprungen.“

Der Fürst trat einen Schritt zurück, peinlich berührt. Aber sein Mitgefühl war stärker als das Befremden, das der gallige Ton des Jägers in ihm geweckt hatte. „Sie haben Trauriges erlebt … das trägt sich schwer! Und deshalb verließen Sie Ihre Heimat?“

Eine Furche grub sich zwischen Mazeggers schwarze Brauen. „Nach dem Tod meines Vaters hab’ ich nicht weiterstudieren können und bin zu Verwandten gekommen, die draußen in der Leutasch wohnen. Ich hab’ verdienen müssen, und die zwei letzten Jahre, solang’ der Herr Herzog die Jagd noch hatte, hab’ ich immer Aushilfsdienste geleistet. Vor sechs Wochen, wie die Jagd an Durchlaucht übergegangen ist, bin ich von Graf Sternfeldt als Jäger angestellt worden.“ Während er diese letzten Worte eintönig hersagte, musterten seine schwarzen Augen den Fürsten mit einem halb scheuen, halb feindseligen Blick – wie man einen Menschen betrachtet, von dem man in unbehaglicher Ahnung eine Gefahr befürchtet.

Ettingen schien das Verletzende dieses Blickes zu fühlen, denn leichte Röte glitt ihm über die Stirn. Doch diese Regung überwindend, sagte er freundlich: „Sie sollen es gut bei mir haben. Und ich hoffe, Ihr Beruf macht Ihnen Freude und läßt es Sie verschmerzen, daß Sie die Schule aufgeben mußten.“

Mazegger schwieg. Und Förster Kluibenschädl, der wohl die unliebsame Stimmung überbrücken wollte, sagte lachend: „Mir scheint eher, die Schul’ hat ihn aufgeben, und net er die Schul’! ’s Parieren is bei ihm net die stärkste Seiten! Aber er wird sich schon machen mit der Zeit!“ Das war gewiß gut gemeint, aber aus Mazeggers Augen huschte ein zorniger Blick über das lachende Gesicht des Försters. Doch dieser fuhr unbeirrt fort: „Ja, ja! Wenn er möcht’, der Toni, könnt’ er sich zu ei’m ganz tüchtigen Jäger auswachsen. Wenigstens hätt’ er ’s beste Beispiel an seinem Tillfußer Kameraden. Denn unser Praxmaler-Pepperl ist ein Jäger … allen Respekt!“

„Aber … aber … Herr Förstner!“ stotterte Praxmaler so stolz verlegen wie ein Kind, das der Lehrer vor der ganzen Schule lobt. Die Fußspitzen nach einwärts drehend, wand er die Schultern und blickte verwirrt zu seinem Herrn auf.

Mit wohlgefälligem Blick ruhten die Augen des Fürsten auf dem in seiner Gesundheit anheimelnden Bild des Jägers, der ein paar Jahre älter als Mazegger sein mochte. Eine Gestalt wie aus Eisen gefügt, strotzend von Kraft und Jugendfülle. Die von den kurzen Lederhosen freigelassenen braunen Kniee waren durchrissen von Narben, welche verrieten, daß Praxmaler beim Klettern über die Felsen um seine Haut nicht sehr besorgt war. Das runde, dunkelgebräunte Gesicht war an Kinn und Wangen rasiert, und auf der vollen Oberlippe, die bei stetem Lächeln die gesunden Zähne sehen ließ, saß ein zausiges Blondbärtchen. Das Hübscheste an diesem Gesicht waren die hellblauen Augen mit ihrem klaren, strahlenden Glanz. Das aschblonde, schimmerige Haar umhüllte den Kopf mit hundert winzigen Ringeln – „Kreuzerschneckerln“ nennt sie ein Volkswort – und das war anzusehen, als hätte man dem Praxmaler-Pepperl ein gekraustes Lammfell über die Ohren gestülpt.

Immer verlegener wurde der Jäger, je länger ihn der Fürst mit schweigendem Lächeln betrachtete. Und schließlich, als könnte er diese stumme Musterung nicht länger ertragen, stotterte er: „Herr Fürst … wenn S’ morgen gleich ein’ guten Gamsbock schießen möchten … ich weiß ein paar sichere! Mögen S’? Ja?“

„Ich danke, lieber Praxmaler! Doch mit dem Jagen hat es noch Zeit. Vorerst muß ich mich hier in Ruhe einrichten. Aber wenn ich meinen ersten Birschgang mache, sollen Sie mich führen! Ja? Bis dahin … auf Wiedersehen! Und macht euch alle heute einen vergnügten Abend, laßt euch aus Küche und Keller geben, was euch schmeckt! Adieu!“ Grüßend lüftete Ettingen den Hut und schritt, vom Förster begleitet, zur Thüre des Jagdhauses. Während sie über die steinerne Treppe zum Flur hinaufstiegen, fragte er: „Haben Sie Familie, Herr Förster?“

Kluibenschädl machte ein erschrockenes Gesicht. „Familli? Ich? Und so ein unguts Frauenzimmer im Haus? Na na! Da bleib’ ich schon lieber allein! Die Weiberleut! Auf die bin ich gar net gut zum Reden! Bloß hinschauen darf so ein Frauenzimmer auf ein g’sund’s Platz’l, so schießt schon ein Unkraut in d’ Höh’, und ein braves Mannsbild stolpert drüber! Na na! Da mag ich nix wissen davon! Und wenn S’ g’scheit sind, Duhrlaucht, machen Sie’s g’rad’ so! Hüten S’ Ihre liebe, kostbare Jugend vor die Weiberleut … man hat net viel mehr davon als Wehdam und Aerger! Ja, is schon wahr!“ Der Förster lachte mit breitem Behagen.

Schweigend wandte der Fürst sich ab und blickte von der Schwelle hinaus über Wald und Berge.

„Hier, Duhrlaucht,“ sagte Kluibenschädl, der im Flur des Jagdhauses die erste Thüre geöffnet hatte, „da hat der Herr Kammerdiener sein Stüberl.“

Der Fürst nickte zerstreut und warf einen flüchtigen Blick in das kleine Zimmer.

„Und hier is die G’schirrkammer!“ Der Förster öffnete die gegenüberliegende Thür; man sah in einen weißgetünchten Raum, welcher rings um die Wände bestellt war mit Schränken und weißen Geschirrregalen. An der nächsten Thüre ging Kluibenschädl vorüber, ohne die Klinke zu berühren. „Da schlaft die Jungfer Köchin! Und da nebendran, das is die Holzleg’, dahinter is der Hausmagd ihr Kammerl … und die ander Thür da … man merkt’s schon am feinen G’rücherl … die führt in die Kuchl. Die fürstlichen Zimmer … bitte, Duhrlaucht, sich hinaufbemühen zu wollen … die liegen droben im ersten Stock.“

Sie stiegen über die Treppe hinauf, und der Förster öffnete die zunächst liegende Thüre. Das wäre das Gastzimmer, erklärte er, in welchem Graf Sternfeldt die drei Wochen gewohnt hätte, um den ganzen Betrieb der neu übernommenen Jagd zu ordnen und das Jagdhaus einzurichten. Es war eine freundliche Stube, in ihrer Ausstattung allerdings nur für den Geschmack eines Mannes berechnet, der keine besonderen Ansprüche macht.

Nun ging’s zum Speisezimmer – ein großer, dreifensteriger Raum, anheimelnd in seiner hellen, blinkenden Frische. Die schneeweiße Kalkmauer war rings um das Zimmer bis über die halbe Wandhöhe mit rötlichem Zirbenholz getäfelt. Aus dem gleichen Holz waren die Möbel angefertigt. Um zwei Ecken zog sich – die Einrichtung einer Bauernstube nachahmend – eine massive Holzbank, vor welcher zwei Kreuztische standen, mit rotgestickten Leinwanddecken belegt. Eine runde Bank umgab den weißen tiroler Ofen, und in einer Wandecke war ein „Herrgottswinkelchen“ geschaffen, dessen Kruzifix mit grünen Latschenzweigen und frisch blühenden Alpenrosen geschmückt war.

„Wie hübsch und gemütlich!“ Die Hände in die Mufftaschen der Jagdbluse vergrabend, ließ sich der Fürst auf die Ofenbank nieder. „Hier muß ich mich ja behaglich fühlen!“ Heiter begann er mit dem Förster zu plaudern, bis ihr Gespräch durch den Kammerdiener Martin unterbrochen wurde, welcher fragen kam, für welche Stunde Durchlaucht das Diner befehle. Der Fürst sah nach der Uhr. „In zwei Stunden, gegen halb Acht. Ich will mich noch ein wenig in der Umgebung des Jagdhauses umsehen. Für jetzt nur eine Tasse Thee!“ Eine Weile plauderte er noch mit dem Förster, dann ließ er sich hinüberführen in die „Fürstenzimmer“, wie Kluibenschädl mit nachdrücklichem Respekt betonte.

Und da gab es für den Fürsten eine Ueberraschung, die ihm Freude machte. In seinem Stadtpalais in Wien befand sich ein kleines Jagdzimmer, in dem er sich mit Vorliebe aufzuhalten pflegte – und die Einrichtung dieses Zimmers fand er fast bis in das kleinste Detail hier nachgebildet, als sollte ihm der trauliche Raum zum Willkommen sagen: Fühle dich hier zu Hause von der ersten Stunde an! Das war der gleiche Holzplafond, in hellem und dunklem Braun gehalten. Die gleiche Ledertapete mit eingepreßten Tierbildern, der gleiche Waffenschrank – sogar die beiden Jagdstücke von Snyders, die im Stadtpalais den kostbaren Wandschmuck seines Lieblingszimmers bildeten, fand er hier durch zwei treffliche Kopien ersetzt. Auch der gleiche Diwan und die gleichen, mit Seehundsfell bezogenen Lehnstühle. Nur zwei Möbelstücke des Stadtzimmers waren hier durch andere vertreten: statt des Spieltisches ein Schreibtisch, und statt eines Schrankes, der eine Sammlung Ridingerscher Holzschnitte und alter Stiche nach berühmten Jagdbildern enthielt, stand hier eine kleine Bibliothek mit ein paar hundert Bänden.

Und noch etwas war anders als in der Stadt: die Luft, welche frisch und würzig hereinströmte durch die zwei offenen Fenster, und der Ausblick, den diese boten.

An eines der Fenster war der Fürst getreten. Er blickte hinaus über Wald und Berge und preßte die Fäuste auf seine Brust, die sich wölbte unter einem tiefen, durstig trinkenden Atemzug. Lange stand er so, in ernstes Sinnen versunken, als vergliche er das Bild, das in sonnigem Frieden vor seinen Augen glänzte, mit dem Wirbel des Lebens und allem Sturm der Leidenschaft, der hinter ihm lag. Er nickte vor sich hin, und ein müdes, bitteres Lächeln zuckte um seine Lippen.

Geduldig stand der Förster neben der Thür und wartete.

Lautlose Minuten vergingen, bis ein Geräusch den Fürsten aus seinen Gedanken weckte. Verloren blickte er auf – Martin hatte das anstoßende Schlafzimmer geöffnet und sich wieder entfernt.

Der Fürst wandte sich vom Fenster. „Verzeihen Sie, lieber Förster … und ich bitte …“ die Worte versagten ihm.

Kluibenschädl wurde dunkelrot über das ganze Gesicht. „Aber Duhrlaucht, jesses na,“ stammelte er scheu und mit gedämpfter Stimme, „ich hab’ ja eh schon g’merkt, daß ich überflüssig bin, und gern hätt’ ich mich schön stad nausdruckt zur Thür … aber wie ich Duhrlaucht so sinnieren hab’ sehen, meiner Seel, da hab’ ich mich nimmer z’rühren ’traut!“

Dieses so schlicht und unbeholfen sich äußernde Zartgefühl schien den Fürsten warm zu berühren. Lächelnd reichte er dem Förster die Hand. „Sie sind ein lieber, guter Mensch! Und ich danke Ihnen für alle Mühe, die ich Ihnen heute schon verursacht habe. Morgen früh – um 9 Uhr – bitt’ ich Sie, mit mir zu frühstücken. Dann machen wir zusammen einen Orientierungsmarsch durch das Gaisthal. Ja?“

„Dank der Ehr’, Duhrlaucht! Und werde pünktlich zur Stelle sein!“

Das Gesicht des Fürsten noch mit einem scheu prüfenden Blick überhuschend, schob sich Kluibenschädl zum Zimmer hinaus. Als er draußen stand und die Thüre zugezogen hatte, spitzte er gedankenvoll die Lippen. „Psssss … mir scheint, mir scheint! Entweder ich kenn’ mich net aus, oder den hat ein Frauenzimmer in die Klupperln g’habt!“ Bedächtig griff er sich an die Nase. „Mannderl, Mannderl, das laß dir wieder zur Warnung sein!“

Draußen im Hof traf er mit dem Praxmaler-Pepperl zusammen, der um die Hausecke geschossen kam, die beiden Arme mit Weinflaschen vollgepackt. „Da schauen S’, Herr Förstner!“ rief der Jäger mit Zwinkern und Schmunzeln. „Da hab’ ich was Kühls für ein hitzigs Züngerl! Den trag’ ich nunter zu der Burgi … die andern sind schon drunten … Da müssen S’ mithelfen!“

„Dank schön!“ erwiderte Kluibenschädl mit Würde. „Machts eure Dummheiten allein! Und beim Weintrinken, da bin ich Filosoff … das heißt auf deutsch: ein Freund der stillen Genüsse.“ Sprach’s, zog dem Praxmaler-Pepperl eine Flasche unter dem Arm hervor und ging der nächsten Jägerhütte zu.

Praxmaler lachte und eilte zur Sennhütte hinunter. Man hörte das laute Hallo, mit dem er von seinen Kameraden empfangen wurde.

Eine Weile später trat der Fürst aus der Thür des Jagdhauses. Als er die Stimmen hörte, die von der Sennhütte heraufklangen, lehnte er sich mit den Armen über den Zaun und lauschte eine Weile dem lustiger als harmonisch klingenden Gesang.

„Glückliche Menschen! Ohne Wunsch und ohne Sorgen!“ Müd’ lächelnd murmelte der Fürst diese Worte vor sich hin und wanderte langsam über den Fahrweg hinunter und durch den schmalen Waldstreif, der das Almfeld umschloß. Er kam zu einer weiten Blöße, die schon im Schatten lag; doch durch die Lücken, welche sich zwischen den Wipfeln in den Waldkamm senkten, warf die Sonne noch lange, schimmernde Goldbänder über das Weideland und die jungen Fichten hin. Weiße Kühe mit leise bimmelnden Glocken zogen weidend durch das niedere Gesträuch, andere lagen zerstreut im Gras und wandten nur träg’ die Köpfe, wenn der einsame Spaziergänger an ihnen vorüberschritt.

Ziellosen Ganges wanderte Ettingen über die Lichtung, bald mit stillen Augen die klare Schönheit des Abends und der leuchtenden Lüfte trinkend, bald wieder versunken in brütende Gedanken, die ihn der Umgebung und des Weges nicht achten ließen.

Auf lindem Rasen schreitend, merkte er nicht, daß er den schmalen Pfad verlor und aus farbiger Dämmerhelle in tieferen Schatten trat. Als er, aus seinem Brüten erwachend, einmal aufblickte, sah er, daß er mitten im Hochwald stand, der eine Strecke sich eben hinzog und dann sacht zu steigen begann.

„Wie still dieser Wald! Wie schön in seinem Schweigen!“

Zwischen den Wurzeln einer mächtigen Fichte ließ sich der Einsame zur Ruhe nieder. So saß er still, den Kopf an den Stamm gelehnt, die Hände um das Knie geschlungen. Lächelnd, im Genusse der Ruhe, die auch seine Seele umfing, staunte er mit träumenden Augen hinein in dieses wundersame Waldesschweigen. Kein Halm zu seinen Füßen, kein Zweig zu seinen Häupten bewegte sich, auch nicht der leiseste Lufthauch atmete durch den Wald. Stark und ruhig, mit schlankem und ungeschädigtem Wuchse, stiegen die hundertjährigen Bäume zum Himmel auf, jeder ein König in seiner sturmerprobten Kraft. Alle kleinen, niederen Gewächse waren verkümmert und gestorben im Schatten dieser Großen; sie allein bestanden, und bescheidenes Moos nur webte zwischen ihren weitgespannten Wurzeln seinen grünen Sammet über Grund und Steine. Sogar vom eigenen Leibe hatten die Riesen alle niedrigstehenden Aeste abgestoßen und gesundes, saftiges Leben nur den strebenden Zweigen bewahrt, die sich aufwärtsstreckten bis zur Höhe des Lichtes. Das flutete goldleuchtend um die Wipfel her, ließ selten einen verlorenen Schimmer niedergleiten in den Schatten, der zwischen den braunen Stämmen lag, und dort nur, wo der Grund zu steigen anfing, brach es, einer Lichtung folgend, mit breiter, brennender Welle quer durch den Wald.

„Wer das so könnte wie der Wald: alles Schwächliche und Niedrige von sich abstoßen, nur bestehen lassen, was stark ist und gesund – so stolz und aufrecht hinaussteigen über den Schatten der Tiefe und die Helle suchen, die hohen reinen Lüfte! Wer das so könnte! …“

Langsam glitt der Blick des einsamen Träumers über einen der Stämme empor zum grünen Wipfel, der sich in der Sonne badete. Da huschte pfeilschnell ein kleiner Schatten durch den Sonnenglanz, in der Höhe schwankte ein Zweig, wiegte sich eine Weile sacht und kam wieder in Ruhe. Ein paarmal ließ sich ein leises Schnalzen vernehmen, und dann schallte ein süßer Vogelruf durch das Schweigen des Waldes. Nach kurzer Stille wiederholte sich der Ruf, und spielend kam der Vogel über die Zweige niedergeflattert, immer tiefer, bis zu den dürren Stümpfen der abgestorbenen Aeste – ein grauer Vogel von der Größe einer Amsel, mit weißem Streif um die Kehle. Es war eine Ringdrossel, diese lieblichste Sängerin des Bergwaldes. Hurtig drehte sie das schlanke Körperchen, guckte mit den kleinen Aeuglein emsig nach allen Seiten und flötete immer wieder ihr schmachtendes Liedchen. Plötzlich hob sie aufmerksam das Köpfchen und streckte sich – fast im gleichen Augenblick huschte sie auch davon und schwang sich schräg hinauf in die sonnigen Wipfel. Dort, wo der rote Schein den Schatten des Waldes durchbrach,

dort oben hatte sich Geröll bewegt, wie unter dem Tritt eines Tieres.

Was kam da? Spähend neigte der Fürst das Gesicht, um zwischen den Stämmen einen Ausblick zu finden. Und da sah er’s kommen, was er in dieser verlorenen Waldeinsamkeit am wenigsten erwartet hatte – eine Reiterin! Er lächelte. „Ach, sieh doch! Mein stiller Wald hat auch sein Märchen!“

Eine Reiterin. Und welch eine seltsame! Ein junges Mädchen, nach ländlicher Art gekleidet, saß auf einem Esel, der mit roter Decke gesattelt war. Wohl führte die Reiterin einen Zügel in den Händen, doch sie hielt ihn lässig, versunken in die Betrachtung des Waldes, und das Grautier ging wie es wollte, hier ein paar Halme von der Erde zupfend, dort wieder von den Zweigspitzen der Brombeerstauden naschend, die mit wirrem Astwerk den Saum der Lichtung verschleierten. Nun trat das Tier unter den letzten Bäumen hervor in die volle Sonne, und durch eine Gasse zwischen den Stämmen konnte der Fürst die ganze Gestalt der jungen Reiterin gewahren, deren Haupt und Schultern er umschimmert sah vom Feuer des Abendlichtes. Er lächelte. „So könnte ein Märchendichter die Bergfee schildern, wie sie aus den Felsen tritt, umstrahlt von dem gleißenden Goldglanz, der geheimnisvoll aus den Tiefen des geöffneten Berges hervorglüht.“

Doch das Gewand der „Bergfee“ war nicht aus Zindel gewoben, wie er bei den Elfen in Mode ist. Ein braunes, schlichtes Röcklein schwankte faltig bis auf die Füße nieder, an deren kleinen, aber ländlich plumpen Schuhen die Nägel blitzten. Ein rot und weiß geblümtes Leibchen, einem Mieder ähnlich, umspannte die Büste; die bauschigen Aermel des Hemdes, das mit loser Krause den Hals umschloß, verhüllten die Arme bis zu den zarten Handgelenken. Am braunen Ledergürtel hing ein kleiner Strohhut mit weißer Hahnenfeder und daneben – wie das Schulränzlein eines Bauernkindes – eine Tasche aus ungebleichter Leinwand mit roten Säumen.

Die Tochter eines Bauern? Nein! dem widersprach nicht nur der tadellose Schnitt und die saubere Frische des wohl ländlich einfachen, aber doch von auffälligem Sinn für malerische Wirkung zeugenden Gewandes. Solch einen schlanken, bei all dieser jugendlichen Kraft doch zart geformten Körper hat keine Bauerndirne – noch weniger solch eine sichere, selbstbewußte Haltung, um die eine Dame von Welt dieses Mädchen hätte beneiden können! Dazu dieses stolze Köpfchen! Das Gesicht schien von der Sonne gebräunt, doch es hatte fein geformte Züge, ein rein und schön geschnittenes Profil. Das braune Haar, das im roten Glanz der Sonne wie blankes Kupfer schimmerte, war in zwei Zöpfe gebändigt, die sich wie ein schwerer Kronreif um die Stirne schlangen.

Ohne sich um das Grautier zu kümmern, blickte die Reiterin zu den leuchtenden Wipfeln auf, und für nichts anderes schien sie Augen und Sinn zu haben als für das brennende Farbenspiel der abendlichen Lüfte.

Aus diesem Schauen erwachte sie erst, als das Tier, thalabwärts schreitend, wieder in den Schatten des Waldes trat. Mit ruhiger Hand lenkte sie den Grauen zwischen den bemoosten Felsblöcken hindurch zu einer breiteren Waldgasse. Dann wieder begann sie dieses träumende Schauen, mit einem Lächeln, so innerlich und wissend, als vernähme sie aus dem Schweigen des Waldes eine Stimme, die kein anderer hörte und verstand – nur sie allein.

Das Grautier stutzte – und da gewahrte die Reiterin den Einsamen. Nicht erschrocken, nur verwundert, machte sie mit dem Zügel eine Bewegung, die das Tier zum Stehen brachte – und betrachtete den Regungslosen mit einem Blick, der zu fragen schien: Wer bist du? Was hast du in meinem Wald zu schaffen?

Und was für Augen sie hatte! Augen, groß und klar und seetief – so recht die Augen, wie sie das Märchen hat!

Der Blick dieser Augen verwirrte den schauenden Träumer. Halb sich aufrichtend griff er nach der Mütze.

Da nickte die Reiterin einen stummen Dank – unter einem Lächeln, als hätte seine Verwirrung auch ihr sich mitgeteilt – und mit leisem Zuruf brachte sie das Grautier in Gang.

Er sah ihr nach. Wie der schlanke Leib beim Auf- und Niedersteigen des Tieres sich elastisch bewegte, wie sie sich neigte und das Köpfchen bald zur Rechten und bald zur Linken beugte, um den dürren Aesten auszuweichen – wieviel Schönheit lag in dieser Bewegung! Als sie thalwärts ritt und zwischen den Stämmen schon zu verschwinden drohte, erhob sich der Fürst, um sie noch einmal zu sehen. Und jetzt verschwand sie im Dämmerschatten des tieferen Waldes. Manchmal hörte man noch einen gedämpften Tritt des Tieres, immer ferner, immer leiser – dann war wieder Schweigen im Wald.

Die Drossel schlug. Der Fürst aber hörte sie nicht. Er stand an die Fichte gelehnt und blickte der Tiefe des Waldes zu, wo es grauer und immer grauer wurde zwischen den Stämmen.

„Wo habe ich nur diese Augen schon gesehen? Wo nur? Wo?“

Er sann und forschte. Dann plötzlich fiel es ihm ein: auf einem Bild!

„Seltsam! Wie der phantastische Traum eines Künstlers sich in Wirklichkeit erfüllen kann!“

Aufatmend hob er den Blick zu den Wipfeln, deren Glanz erloschen war.

„Es dunkelt?“ fragte er sich erstaunt, als könnte er nicht begreifen, daß jetzt die Nacht beginnen sollte.

Ohne zu wissen, daß er es that, stieg er durch den grauen Wald bergaufwärts der Richtung zu, aus welcher die Reiterin gekommen war. Kaum hundert Schritte hinter der Lichtung fand er einen breiten Pfad, der zur Höhe führte – man sah im Dunkel des Waldes die steigenden Serpentinen schimmern.

„Von dort oben kam sie.“

Von der Höhe des Waldes meinte er einen Schritt zu hören. Er lauschte, aber da war’s wieder still.

„Ist jemand hier?“

Nur ein dumpfes Echo gab Antwort. Eine Weile noch stand der Fürst und lauschte. Dann stieg er den Pfad hinunter, der nach kurzer Strecke in den am Ufer des Wildbaches laufenden Thalweg einmündete. Hier stand ein Wegweiser, dessen Arm zur Höhe zeigte, von welcher der Fürst gekommen war. Mit einiger Mühe entzifferte er bei der sinkenden Dämmerung die Inschrift: „Zum Steinernen Hüttl.“

Da hörte er eine rufende Stimme: „Durchlaucht! …“

„Martin! Hier!“

Der Lakai kam atemlos gerannt.

„Gott sei Dank! Ich war schon in Sorge, daß Durchlaucht sich verirrt hätten!“

„Ich danke, Martin. Aber deine Sorge war überflüssig. Mich verirren? Hier? Das ist unmöglich. Rechts und links die Berge – man hat nur dem Bach zu folgen. Du brauchst mir ein andermal nicht wieder nachzugehen. Ich finde schon meinen Weg.“


2.

Der letzte Dämmerschein des Abends war erloschen, über dem Jagdhaus lag eine klare, sternschöne Nacht.

Im Wohnzimmer des Fürsten standen die Fenster offen, und die Lampenhelle warf lange rötliche Lichtbänder über das dunkle Almfeld hinaus. Das Gebimmel der Glocken war verstummt, die Rinder hatten sich längst zur Ruhe niedergethan, doch in Burgis Sennhütte ging es noch lustig zu – Schwatzen und Lachen wechselte mit Gesang und Zitherspiel.

Mit behaglicher Rast in einen Lehnstuhl geschmiegt, saß der junge Fürst am offenen Fenster, und während er den Rauch der Cigarette vor sich hinblies, lauschte er bald den wirren Stimmen dieses unermüdlichen Frohsinns, der durch die Nacht zu ihm heraufklang, bald wieder blickte er sinnend über die schwarzen Wipfel hinüber zu den Felswänden, die sich mit grauem Schatten emporhoben in das tiefe Stahlblau des sternhellen Himmels. Wie stark und feurig in der reinen Höhenluft diese Sterne funkelten! Und wie groß sie erschienen! Als wären es andere schönere Sterne als jene, die man dort unten sieht, in der staubigen Ebene und in der rußigen Stadt!

„Ach, die Stadt! Gott sei Dank, ich bin weit von ihr!“

Tief atmend erhob sich der Fürst und schleuderte den Rest der Cigarette aus dem Fenster.

Ein paarmal wanderte er durch das Zimmer, dann setzte er sich an den Schreibtisch, um einen Brief zu beginnen, für den er das Blatt schon zurecht gelegt hatte.

 „Mein lieber, treuer, väterlicher Freund!

Ich danke Dir ehrlich und von Herzen! Und ich kann nicht schlafen gehen, bevor ich Dir das nicht gesagt habe. Als damals, nachdem das Schlimmste überstanden war, meine Aerzte befahlen: drei Monate nach dem Süden und dann ungestörte Ruhe in reiner Höhenluft! … als Du sagtest: Reise nur, und bis du wiederkommst, will ich für dich ein Flecklein Erde aussuchen, das dir gefällt und das dir Ruhe giebt! … sieh, Lieber, da wußt’ ich schon, wie treu und gut Du für mich sorgen würdest. Aber heute kam ich im Jagdhaus an und habe mehr gefunden, als ich selbst bei einer ungebührlichen Rechnung auf Deine Freundschaft erwarten konnte. Weiß Gott, ein herrlicher Fleck Erde! Welch ein stilles, trauliches Waldheim hast du mir da bereitet! Und Dank für die herzliche Absicht, mit der Du meine behagliche Stube von zu Hause hier nachgebildet hast! In ihr sitz’ ich und schreibe. Ja, Liebster, ich habe mich hier daheim gefühlt von der ersten Stunde an. O wie viel Ruh’ ist hier! Neun Stunden bis zur nächsten Stadt! So viel schöne Ruhe! Und sie beginnt auch schon zu wirken. Als ein Müder kam ich hier an, und jetzt fühl’ ich mich frisch und stillvergnügt – wirklich, ich bin ruhig! Kein Brennen meiner Wunde mehr. Wenn mich eines noch quält, so ist es nichts anderes als Bitterkeit gegen mich selbst. Kein Nachdenken über das Vergangene mehr! Nein, gedankenlos, nur von einem kalten Grauen durchrieselt, betracht’ ich all den Taumel, der mich ausgestoßen – wie ein aus tiefer Ohnmacht Erwachter den Wasserstrudel anstarrt, der ihn als einen halb Ertrunkenen ans Land geworfen hat.

Jetzt atme ich auf. Jetzt fühl’ ich mich erlöst auch von der letzten Kette dieser wahnsinnigen Leidenschaft, und weiß: jetzt bin ich frei!

Frei! Frei! Könntest Du doch dieses kleine Wort so lesen, wie ich es im Niederschreiben fühle! Frei! Frei! Und das war ich noch gestern nicht – noch weniger in den Tagen zuvor.

Ach, Liebster, diese Irrfahrtswochen im Süden, das war eine häßliche Zeit! Der Ekel schüttelte mich bis auf die Knochen – doch mitten in all dem bittern Nachgeschmack kam es mir immer wieder wie ein süßer Tropfen auf die Zunge – eine Erinnerung, die sich wie Sehnsucht fühlte! Dann fragt’ ich mich immer wieder erschrocken: lieb’ ich sie denn noch? kann ich sie denn noch lieben? Ich gab mir tausend- und aber tausendmal ein Nein zur Antwort. Aber es ließ nicht von mir! Und dazu noch diese Menschen, die mich mit ihrer cynischen Neugier immer wieder in die Unruh’ zurückstießen, kaum daß ich halbwegs zur Ruhe gekommen. Diese Begegnungen – ich sage Dir, es war wie ein Schicksal! Als hätte sich unser ganzer Kreis von zu Hause systematisch über meine Reiseroute verteilt, nur um mich zu martern – wo ich auch immer ging und stand, in Capri, Amalfi, Rom, Bordighera, Salò – überall lief mir einer über den Weg, und die erste Frage eines jeden war immer eine Frage nach ihr! Ich sage Dir, man wird in unserer guten Gesellschaft durch keine Großthat so berühmt, als wenn man sich vergißt und vom sauberen Trottoir des Lebens hinuntertappt in die Gosse.

Sogar heute früh noch, als ich in Innsbruck in den Wagen steigen wollte – wer steht vor mir? Der Edle von Sensburg! der ‚kleine süße Mucki‘ – Du weißt, wer ihn so zu rufen liebte! Dieser unausstehliche Kerl! Und seine erste Frage: ‚So allein, mein lieber Fürst?‘ Und dabei sah er sich um, als müßte er sie aus dem Hotelthor treten sehen. Ich hätte ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen mögen – aber ich that es nur mit der Antwort: ‚Allein? Gott bewahre! Ich reise mit meinem Kammerdiener!‘ Er nahm das für einen guten Witz, und ich wurde ihn nicht los, bevor ich nicht erfahren hatte, daß er von einem Tennis-Match käme – natürlich vom Karersee, diesem allerneusten Taubenschlag à la mode – und natürlich trug er auch eigenhändig das Lederetui mit dem geheiligten Rakett. Das vertraut er seinem Bruder nicht an – als Gleichnis gesagt, denn ich weiß nicht, ob er einen hat. Und als er mir’s abgequetscht hatte, wohin ich ging, schien er auf eine Einladung zur ‚Gamsjagd‘ zu warten – er sagt natürlich nicht Gemse, sondern ‚Gams‘, immer echt, der kleine süße Mucki – aber ich ließ ihn warten und den Kutscher fahren. Doch während der ganzen Fahrt verfolgte mich dieses Kattunmustergesicht – und immer roch ich seine peau d’ Espagne – er hatte, während er mit mir sprach, den Arm auf die Wagenlehne gestützt.

Um das Parfüm loszuwerden, nahm ich mir in Leutasch eine Bauernkutsche. Aber es half nicht. Jetzt quälte mich die Erinnerung an all die Tage und Nächte, die ich mit diesem Menschen verbrachte, weil sie es als lustigen Sport betrachtete, ihren scheckigen Narren aus ihm zu machen. Ich glaube fast, daß er ihr unentbehrlicher war als ich! Ach, zum Teufel mit all diesem Ekel! Ich bin ihn doch los! Was schwatz’ ich denn noch davon! Ja, ja und ja, ich bin erlöst, bin frei! Bin es seit heute – seit ich hier bin! Wie das so kommen konnte – ich begreife es selber kaum und fühl’ es wie ein Wunder, das an mir gewirkt wurde – ich weiß nicht, durch wen. Oder geschah mir wie einer Raupe, die sich in ihrer abgestorbenen Hülle quält und windet, bis diese plötzlich von ihr abfällt? Oder kam es anders? Vielleicht hat der Wald aus seinem schönen Schweigen zu mir gesprochen: sieh her, wie ruhig und still ich bin, sei du es auch! Und ich hab’s gehört, verstanden und befolgt.

Aber was soll ich nun in der glücklich gewonnenen Freiheit mit mir beginnen? Daß mich „neue Freuden“ nicht locken, begreifst Du – ich bin ein gebranntes Kind. Aber ich habe doch noch ein Leben vor mir. Was soll ich ihm geben? Heute und für lange Wochen bin ich zufrieden mit der Ruhe, die ich hier gefunden habe. Es redet so schön, mein Schweigen im Walde! Doch wenn mich der Winter von hier verjagt? Denn bis zum ersten Schnee will ich bleiben. Was dann? Arbeit? Gewiß, Arbeit! Doch welche Arbeit? ‚Da stock’ ich schon‘ … und bei Gott, ich muß mir’s erst überlegen, was ich schreiben will.“

Er warf die Feder hin und stützte eine Weile die Stirn in beide Hände. Dann erhob er sich, wanderte durch das Zimmer und trat ans Fenster. –

Aus der Stube, die unter dem Jagdzimmer des Fürsten lag, fiel ebenfalls die Helle einer Lampe über den Hof hinaus, doch nur als matter Schein, denn am Fenster waren die Gardinen vorsichtig zugezogen.

In dieser Stube saß Martin am Tisch, auf dem eine Briefmappe aufgeschlagen war. Er hatte eine schon halbgeleerte Flasche Bordeaux vor sich stehen, schmauchte eine Cigarette seines Herrn und hielt studierend den Federstiel in der Hand.

Der Klang der Schritte, welche gleichmäßig über seinem Kopfe hin und her wanderten, ließ ihn zur Decke blicken.

„Wenn ich jetzt wüßte, was er denkt da droben, dann wüßt’ ich auch, was ich schreiben soll!“

Bedächtig blies er eine dicke Rauchwolke über den Briefbogen hin und begann mit zierlichem Schnörkel die Ueberschrift:

 „Hochverehrte Frau Baronin!
 Meine gnädigste Gönnerin!

Obwohl ich Bemerkenswertes nicht zu melden habe, erlaube mir Frau Baronin doch heute noch eine Nachricht zu senden, um kurz zu berichten, daß unsere allverehrte Durchlaucht heute nachmittag, etwas angegriffen von der langen Fahrt, aber doch bei wünschenswert gutem Gesundheitszustand, im Jagdhaus eingetroffen sind.

Selbes liegt in einer vollständig unkultivierten und öden Berggegend, was vermuten läßt, daß es Durchlaucht nicht sehr lange hier aushalten werden. Für den Komfort Seiner Durchlaucht im Jagdhause selbst haben Graf Sternfeldt leidlich gesorgt.

Dagegen befinden sich die Zimmer im Fremdenhaus und auch das einzige Gastzimmer im Fürstenhaus in einem sehr primitiven Zustand. Letzteres Zimmer, welches von den Jägern das ‚Grafenstüberl‘ genannt wird, wurde durch mehrere Wochen von Graf Sternfeldt bewohnt. Das Meublement genügt kaum den bescheidensten Ansprüchen, und da bei einem Besuche der gnädigen Frau Baronin nur dieses eine Zimmer in Betracht kommen kann – Frau Baronin können doch nur im Fürstenhause selbst absteigen, auch liegt das Zimmer auf dem gleichen Flur mit den Zimmern Seiner Durchlaucht –, so werde ich einem verläßlichen Menschen in Innsbruck sofort den Auftrag geben, bis zum Eintreffen der gnädigen Frau Baronin alles Nötige zu beschaffen, damit das Zimmer vollkommen würdig des zu erwartenden Gastes gestaltet werden kann. Da diese Aenderung ohne Wissen Seiner Durchlaucht ausgeführt werden muß, bitte ich gnädige Frau Baronin unterthänigst, meine Eigenmächtigkeit Seiner Durchlaucht gegenüber zu vertreten und vielleicht die Sache so darzustellen, als hätte ich mich von der gnädigen Frau Baronin nur deshalb für diesen delikaten und vertraulichen Auftrag gewinnen lassen, weil es sich um eine freudige Ueberraschung für Seine Durchlaucht gehandelt hätte.

Sonst habe ich Wichtiges nicht zu melden. Nur noch das Eine, daß Durchlaucht heute früh in Innsbruck mit Herrn von Sensburg zusammentrafen und selben sehr ungnädig behandelten, wofür sich Herr von Sensburg in gewohntem Takt mit doppelter Liebenswürdigkeit revanchierten. Hier in dieser menschenverlassenen Wildnis sind Begegnungen, welche die gnädige Frau Baronin interessieren und möglicherweise beunruhigen könnten, durchaus nicht zu befürchten.

Doch hatten wir heute abend, bei der Vorliebe Seiner Durchlaucht für einsame Spaziergänge, bereits einen kleinen Schreck zu überstehen. Durchlaucht hatten gegen sechs Uhr das Jagdhaus verlassen, wohl um sich etwas Motion zu machen, für halb acht Uhr war das Diner befohlen, aber es wurde acht Uhr, es wurde finster …“

Martin hielt im Schreiben inne und blickte zur Decke hinauf.

Dort oben waren die hin und her wandernden Schritte verstummt. –

Der Fürst hatte sich wieder zum Schreibtisch gesetzt, um seinen Brief zu vollenden.

„Ich sinne und sinne, aber mir will die Erleuchtung nicht kommen,“ schrieb er. „Arbeit! Ja! Mich sehnt nach ihr. Und nicht nur deshalb, weil ich von Jugend auf an sie gewöhnt wurde. Ich glaube doch wohl, daß sie fürs Leben eine Notwendigkeit ist, wie Luft und Freude. Aber da seh’ ich Dich lächeln, Du liebenswürdigster aller Residenzbummler, und höre Dein paradoxes Lieblingswort: Arbeit ist ein Fluch, das hat schon die Bibel gesagt, und das ist ein kluges Buch! Aber all Deinem schlendernden dolce far niente zum Trotz weiß ich doch, daß Du im Grunde Deiner Seele anders denkst. Das ist ja überhaupt Deine Art so: anders zu sprechen, als Du denkst – nein, so gesagt wär’s eine Unhöflichkeit – ich hätte schreiben sollen: anders zu denken, als Du sprichst! Aber mir gegenüber hast Du ja immer eine Ausnahme gemacht.

Thu’ es auch jetzt! Gieb mir einen Rat! Was soll ich beginnen, um aus meinem in die Irre geratenen Leben einen Zweck zu machen? Und giebt es für mich keine Arbeit, welche Ziel und Zweck hat – gut, so will ich das Zwecklose schaffen. Aber schaffen will ich. Nur schaffen! Und hätt’ ich auch keinen besseren Dank davon als einen müden Abend und einen festen Schlaf. Doch was soll ich? Ins Regiment zurück? Noch heute, wenn Krieg in Aussicht wäre! Aber für die Parade und den bewaffneten Frieden dienen? Nein! Oder soll ich mich ins Parlament wählen lassen? Ich wüßte nicht, für welche Partei, denn was ich politisch denke, verträgt sich mit keiner. In mir mischt sich der Absolutist mit dem extremen Republikaner. Ich müßte heute mit den Junkern stimmen und morgen mit den Sozialisten! Eine parlamentarische Unmöglichkeit! Nein, ich danke! Aber Holzhacken, wörtlich und bildlich genommen, kann ich doch nicht – dazu sind meine Hände nicht robust genug. Da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als daß ich mich auf meine Scholle setze. Seinen Acker mit Verstand bewirtschaften und seinen Besitz bei gesundem Leben erhalten, das ist doch schließlich auch eine Arbeit, die ihren redlichen Zweck hat. Und auf meinen Gütern beschäftige ich ein paar hundert Menschen! Für die als Herr zu sorgen, ihr Dasein zu einem menschlich erträglichen, nach Möglichkeit zu einem behaglichen zu machen – ist das nicht auch ein Zweck? Dazu noch ein guter? Für die große Menschheit arbeiten zu wollen, ist Donquichoterie – aber meine paar hundert Leute daheim, das ist eine Menschheit im kleinen, und für die kann ich arbeiten.

Daheim? … Aber hab’ ich denn noch ein Daheim? Mein Haus in der Stadt ist mir verleidet. Und unser schönes Bernegg? Seine Mauern sind mir tot geworden, seit das Leben erlosch, das in ihnen wirkte – seit meine Mutter starb. Ich kann mir nicht denken, wie ich dort leben soll … ich, und allein! Das wirst gerade Du mir nachfühlen können. Ich weiß doch, wie hoch Du von meiner Mutter dachtest, als sie noch lebte, und welch’ ein ehrendes Andenken Du ihr über den Tod hinaus bewahrst. Wenn ich mit Dir plaudre von ihr, wird Dein spottendes Auge ernst und Dein sarkastisches Lächeln ein anderes, das völlig Deine Züge verwandelt.

Und vor Jahren, wenn Du mir von allem Lob das Beste sagen wolltest … weißt Du es noch? … dann sagtest Du zu mir: ‚Du Sohn Deiner Mutter!‘ Das Lob war unverdient. Wie viel hat meine Mutter mich gelehrt, und wie wenig hab’ ich gelernt von ihr! Was sie aus der Tiefe ihrer Seele gab, das hab’ ich nur äußerlich angenommen, und es fiel bei der ersten stürmischen Lebensprobe wieder ab von mir, wie die Patina von einer Bronze, die in neues Feuer kommt! Diese klare, ruhige Harmonie des Lebens, dieses stete Versöhnen und Sichbescheiden, diese willensstarke Fähigkeit, in allem Unglück noch ein Glück zu erkennen und eine Freude auch noch im bittersten Weh zu finden – das war dem Wesen meiner Mutter angeboren.

Sie hatte das, wie man Augen hat, mit denen man sieht, und Sinne, mit denen man fühlt. Und all dieses Stille, Ruhige floß von ihr auf den einsamen und verschüchterten Knaben über, aus jedem Druck ihrer linden, zärtlich führenden Hand, aus jedem Blick, der mit Liebe auf mir ruhte. Aber es wurzelte nicht in meinem Herzen, es war bei mir nur ein Angelerntes und war vergessen bei der ersten verwirrenden Frage, mit der mich das Leben prüfte!

Ob es wohl auch so gekommen wäre, wenn ich die Mutter nicht verloren hätte? Nein! Nein! Ihre lebende Nähe wäre mir ein Schutz gegen jeden häßlichen Aufruhr meines Blutes gewesen. Denkst Du noch an unseren alten Suttner, der früher auf Bernegg als Förster in der einsamen Hirschau diente? Im Jähzorn mißhandelte er seine Frau und seine Kinder und machte seinen Untergebenen den Dienst zu einer Marter. Da nahm ihn meine Mutter als Wildmeister des Parkes ins Schloß – und ihre Nähe, ihr Blick verwandelten den Wüterich in einen ruhigen Menschen. Hätte meine Mutter noch gelebt, ich weiß, es wäre nie geschehen, was ich jetzt, da ich mit allem Katzenjammer einer Menschenseele von diesem Rausch ernüchtert bin, mit Fäusten hinausstoßen möchte aus meinem besudelten Leben.

Aber als dieser Irrsinn meines Herzens begann, da ahnt’ ich ja nicht, wie er enden würde. Da war ein Fühlen in mir, als hätt’ ich das Heiligste, das Schönste und Herrlichste des Lebens gefunden. Und wenn ich zurückdenke an jene Zeit, an jenes selige Zittern und Hoffen, an den ganzen Feuersturm des ersten Gefühls, dann wird es mir schwer, zu denken: ich hätte bedächtig und besonnen meine glatte Straße gehen und mir ein angenehm temperiertes ‚Glück‘ mit ruhiger Ueberlegung schaffen können, um Sommer für Sommer als guter Mann meiner guten Frau kohlbauend auf meinem Gut zu sitzen und während des Winters in der Stadt keine Opernpremiere, keinen Rout und keinen Hofball zu versäumen.

Ach, Liebster! der Gedanke, daß solch ein ‚wohlgeordnetes‘ Glück mich hätte treffen können, weckt in mir ein gelindes Grauen – und dennoch steckt es in mir wie ein Gefühl der Klage, wie ein reuevoll schmerzliches Bedauern, daß es nicht so kam! Aber wenn ich es auch ‚so gut‘ gefunden hätte? Wäre dieses windstille Treibhausglück wohl auch von Dauer gewesen – bis zu einem sanften, in Gott ergebenen Lebensabend? Vielleicht hätte sich auch dann einmal in dunkler Stunde das Blut meines Vaters in mir geregt, um mit roher Faust die ganze gläserne Herrlichkeit in Scherben zu schlagen, irgend einem Unwert oder einer Häßlichkeit zuliebe?

Mein Vater! – – das Wort ist kalt für mich – ist mir

[14] nicht mehr als eben nur ein Wort. Als mein Vater jenen tödlichen Sturz auf der Rennbahn that, war ich ja noch ein halbes Kind. Sein Tod hatte keinen Schmerz für mich, nur einen Schreck, den ich fühlte und doch nur halb verstand. Und dieser scheue Schreck verwandelte sich in ein Gefühl unheimlicher Bangigkeit, als ich eines Abends einen unserer Gäste, der die Nähe des zwölfjährigen Knaben nicht beachtete, zu einem anderen sagen hörte: ‚Der gute Ettingen hat sich den Hals recht à propos gebrochen, sonst hätte er noch seinen Namen und seinen Besitz, seine Frau und seinen Jungen in den Sumpf geritten!‘ Damals verstand ich dieses böse Wort nicht, es machte mich nur zittern und that mir weh – aber es brachte das eine Gute, daß ich mich noch zärtlicher und inniger an die Mutter anschloß, wie in der Ahnung, daß meine Liebe ihr Herz vor irgend einem herben Leid zu beschützen hätte. Später, freilich, hab’ ich von boshaften oder auch nur von dumm geschwätzigen Zungen den Kommentar jenes Wortes reichlich genug empfangen, um den stillen ernsten Blick meiner Mutter zu verstehen, ihre Liebe zur Einsamkeit, ihre Furcht vor Stadt und Menschen. Weiß Gott, lieber Freund, ich habe keine Anlage zu falscher Sentimentalität – aber es geht mir warm durch das Herz, wenn ich mir sage: ich habe meiner Mutter, so lange sie lebte, keine Enttäuschung und keinen Schmerz bereitet. Sie konnte lächelnd die Augen schließen und sterbend glauben, daß sie in ihrem Sohn ein tadelloses und wohlgebautes Werk ihrer Liebe und ihres Lebens hinterließe.

Und nun? Wie steht es vor Dir, dieses Werk meiner Mutter? In meiner Seele sieht es aus wie in den löcherigen Taschen eines Bettlers, und ich weiß nicht mehr, was ich für mein halbverzehrtes Leben noch glauben und hoffen soll. Ich hätte leben sollen als meiner Mutter Sohn und hab’s meinem Vater nachgethan. Gar übel hat mich bei diesem Rennen um das vermeinte Glück das zügellose Tier meiner Leidenschaft in den Sand geworfen! Sand – wie höflich das Wort gewählt ist! Wohl habe ich mich leidlich wieder aufgerichtet und den schlimmsten Schmutz von mir abgeschüttelt, aber ich spüre den Sturz an Leib und Seele! Und da konnt’ ich vor einer halben Stunde noch schreiben: ich bin genesen, ich fühle mich frei. Nein! Ich bin es nicht! Sonst hätt’ ich Dir nach diesem einen Wort ein anderes nicht mehr zu sagen gehabt. Oder bin ich es doch? Und weiß ich nur die quälende Stimmung dieses Augenblicks nicht klar zu erkennen? Was mich jählings mit so brennender Unruhe drückt – ist es vielleicht doch eine letzte Kette, die mich noch fesselt an das Vergangene? Es könnte auch das Grauen sein – vor der Leere und dem Unwert meines kommenden Lebens! Eine reuevolle, heiße Sehnsucht, die mit ausgestreckten Armen begehrt und dennoch weiß, daß sie unstillbar ist! Die Erkenntnis, daß jenes lautere, schöne Glück, das ich gefunden wähnte, mir verloren ist für immer! Heiliges Glück … das ist ein Finden auf reinem Weg! Wer durch Sumpf gewatet ist, darf keinen Tempel mehr betreten!

Ein böser Gedanke! Der hätte mir nicht kommen sollen! Aber ich will’s versuchen, ihn wieder aus mir hinauszustoßen, mit Gewalt – und will schon zufrieden sein, nur weil ich einsam bin, stadtferne und mir selbst gegeben. Und wie häßlich auch das Leben ist, dem ich entfloh und das mich erwartet – schön ist doch die sommerduftende Stille, in der ich hier atme; schön ist die Nacht, die da draußen mit großen, zitternden Sternen leuchtet; schön ist das tiefblaue Rätsel des schlafenden Himmels und das graue Wunder der nachtverschleierten Berge!

Und hättest Du nur den Abend gesehen, der dieser Nacht voranging!

Aber solche Schönheit läßt sich nur fühlen, nicht mit Worten sagen! Und wie sicher vor allen bösen Gedanken, wie ruhig war ich, als ich so einsam da draußen unter den stillen, alten, himmelstrebenden Bäumen saß!“

Da stockte dem Schreibenden die Feder. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und blickte nach dem offenen Fenster, in dessen Rahmen sich der schwarzgezahnte Wipfelkamm des nahen Waldsaumes und darüber ein Stücklein des stahlblauen Himmels mit zwei funkelnden Sternen zeigte.

So saß er eine Weile, dann schüttelte er unter leisem Lächeln den Kopf – und begann wieder zu schreiben:

„Jetzt fühl’ ich auch: die schöne Ruhe, die ich da draußen gefunden habe, überkommt mich wieder! Ein Trost für die Nacht … ich glaube, daß ich schlafen werde!

Und nun Adieu, lieber Goni! Wüßt’ ich nicht, daß Du in der Stadt bleibst, um als Freund für mich zu handeln, so würd’ ich Dir schreiben: komm’ und laß uns die Schönheit teilen, die mich hier umgiebt! Aber ich hoffe doch, daß dieser unbehagliche Freundschaftsdienst Dich nicht allzulange zurückhalten wird und daß ich Dich bald in meinem schönen Bergtuskulum, das ich Dir verdanke, begrüßen kann. Mit diesem Herzenswunsch bin ich Dein
 dankbar getreuer Heinz Ettingen.“

Der Fürst couvertierte den Brief und schrieb die Adresse: „Graf Egon von Sternfeldt – Wien.“ Er wollte dem Diener läuten, doch lächelnd nahm er den Brief noch einmal aus dem Couvert und schrieb mit rascher Feder: „Als Nachschrift eine Bitte. Ein Zufall hat mich heut’ an Arnold Böcklins Bild ‚Das Schweigen im Walde‘ erinnert – Du kennst wohl das Bild: auf dem Einhorn reitet die weiße Waldfee unter den Bäumen dahin, mit großen träumenden Märchenaugen, und lauschend, als hätte das tiefe Waldschweigen noch redende Stimmen, die kein Menschenohr vernimmt, nur sie allein. – Schon vor drei Jahren, als ich das Bild in einer Ausstellung sah, hätt’ ich es gerne gekauft. Aber es hatte schon seinen glücklichen Besitzer. Wie schade! Nun sind Erinnerung und Wunsch in mir wieder wach geworden. Aber wer einen solchen Schatz besitzt, überläßt ihn keinem anderen, und ich werde mich mit einer Reproduktion begnügen müssen. Willst Du mir die besorgen? Einen Stich oder eine Radierung. Willst Du? Ja? Und meinen Dank im voraus.      Heinz.“

Der Fürst siegelte den Brief und läutete dem Diener, dann trat er ans offene Fenster.

Drunten in der Sennhütte ging es lustig her. Der Wein schien in den Köpfen der Jäger seine Wirkung zu üben, und ihre sangesfröhliche Stimmung hatte sich in wirres Kreischen und Lachen aufgelöst. Das schwieg zuweilen, als wären die Lacher für einige Augenblicke dieses lauten Lärmens müde geworden. Dann klang’s wieder auf – und der Uebermut dieser konfusen Stimmen hörte sich seltsam an in der schwarzen, schweigenden Einsamkeit der Bergnacht.

Der Lakai trat in das Zimmer. „Durchlaucht befehlen?“

„Dort liegt ein Brief. Hast du dich schon erkundigt, wie die Post besorgt wird?“

„Die Leutascher Jäger sind noch hier. Einer von ihnen wird den Brief zur Besorgung übernehmen. Von morgen an wird ein regelmäßiger Postdienst eingerichtet.“

Der Fürst nickte und ging zur Thür des Schlafzimmers; als ihm der Lakai folgen wollte, sagte er: „Ich danke, Martin. Geh nur, ich brauche dich nicht mehr.“

Von der Sennhütte klang eine Lachsalve herauf, so toll und lärmend, daß der Fürst aufblickte.

Martin runzelte unmutig die Stirne. „Ich werde die Leute sofort zur Ruhe verweisen und für die strengste Stille sorgen …“

„Nein, nein! Laß sie nur! Sie sollen sich amüsieren, solang’ es ihnen Freude macht. Ich werde deshalb nicht schlechter schlafen. Adieu, Martin! Morgen früh sieben Uhr das Bad. Und für neun Uhr hab’ ich den Förster zum Frühstück gebeten. Gute Nacht!“

Der Fürst trat in das Schlafzimmer und zog hinter sich die Thür zu.

Martin schloß die beiden Fenster; dann glitt er lautlos, als ob er die Sohlen einer Katze hätte, auf den Schreibtisch zu. Er nahm den Brief, las die Adresse und lächelte. Vorsichtig, um das Siegel nicht zu verletzen, drückte er den Brief an den Kanten zusammen, so daß sich die Klappe des Couverts ein wenig ausbauchte. Da konnte er nun ein paar Worte deutlich lesen: „… heut’ an Arnold Böcklins Bild ‚Das Schweigen im Walde‘ erinnert – Du kennst wohl das Bild: auf dem Einhorn reitet ...“

Beruhigt schob Martin den Brief in die Brusttasche seines Fracks und löschte auf dem Schreibtisch die Lampe aus.

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3.

In der Sennhütte schien die weinfröhliche Stimmung in bedenkliche Wärme zu geraten. Man hörte zwei zornig streitende Stimmen – neben einem rauhen Baß den kräftigen Tenor des Praxmaler-Pepperl. Aber die beiden Gegner schienen ihre Fehde doch nicht sonderlich ernst zu nehmen, denn ihr Zankduett löste sich bald wieder in helles Gelächter auf. Die Gläser klapperten, und ein übermütiger Jauchzer tönte in die stille Nacht hinaus.

Förster Kluibenschädl, der in einem der Jägerhäuschen noch lesend bei einem trüb brennenden Petroleumlämpchen am Tische saß, blickte beim Hall dieses Jauchzers verloren auf, atmete schwer, that einen tiefen Zug aus der Pfeife – ohne zu merken, daß sie schon erloschen war – und las mit erregter Spannung weiter. Sein rundes volles Gesicht glühte in dunkler Röte, obwohl die Sommernacht nicht allzu schwül und der eiserne Sparherd, auf dem er sich zum Nachtmahl den gewohnten Schmarren bereitet hatte, schon längst erkaltet war. Aber Förster Kluibenschädl war ein Freund litterarischer Genüsse,

hatte eine wahrhaft unglückselige Leidenschaft für „schöne Bücheln“, dazu eine leicht zu rührende Seele, und obwohl er in der Praxis des Lebens dem schönen Geschlechte nicht sonderlich freund war, bevorzugte er doch in der Kunst gerade jene „Bücheln“, die von Liebe handelten, von recht viel Liebe und von treuer Liebe! Und die aufregende Geschichte, die er just verschlang, heizte seinem in Spannung zitternden Herzen so erschrecklich ein, daß ihm diese innerliche, atembeklemmende Glut den Schweiß in schimmernden Perlen auf die Stirne trieb.

Die heißgespannte Erregung des Lesers war aber auch begründet. Man denke nur: in dem dreibändigen „frei nach dem Englischen bearbeiteten“ Roman „Das Geheimnis von Woodcastle“ hielt er soeben bei der hochwichtigen Scene, in welcher „Lord Fitzgerald“, der enterbte, von Unglück und Feinden verfolgte Held, die heimliche Botschaft seiner Geliebten empfängt und in mitternächtiger Stunde sich aufmacht zur heißersehnten und entscheidenden Unterredung mit „Lady Maud“, der holdseligen, von Haß und Eifersucht bewachten Herrin von Woodcastle. Die Nacht ist rabenschwarz, eine Eule wimmert um die zerfallenen Zinnen, unheimlich murmelt der Fluß, und geheimnisvoll flüstern die alten „Rüstern“ des Parkes. Wohl ahnt der Lord die Gefahr, die ihn umlauert; doch keine Macht der Welt kann ihn zurückhalten, in die Arme der Geliebten zu eilen, und so schreitet er furchtlos durch die finstere Nacht dahin, nur begleitet von seinem treuen Neufundländer, der gleich dem Schatten eines Löwen an seiner Seite wandelt. Rosige Träume von Glück und Liebe erfüllen die große, stolze Seele „unseres Helden“, und so ganz versunken ist er in die Gedanken an seine holde „Maud“, daß er die zischelnde Stimme überhört, die sich plötzlich im schwarzen Schatten der alten Mauer hören läßt: „Das ist er!“ Doch „Lion“, der treue zottige Freund, hat blitzschnell die Gefahr erkannt, die seinem Herrn droht; seine Haare sträuben sich, er stößt ein drohendes Knurren aus, aber im gleichen Augenblick –

„Mar’ und Josef!“ stotterte Kluibenschädl, dessen Augen sich in gruseliger Spannung erweiterten. „Jetzt g’schieht ihm was!“ Wütend schlug er die Faust auf den Tisch. „Aber gleich hab ich mir’s denkt … und grad heut’ muß er sein’ Revolver daheimlassen … so ein verliebts Kalbl, so ein unvorsichtigs!“ Schnaubend vor Erregung legte er sich mit beiden Ellbogen über den Tisch und beugte die glühende Nase auf das Heft nieder, denn es flimmerte ihm vor den Augen, daß er kaum zu lesen vermochte.

– Im gleichen Augenblick stürzen vier vermummte Gestalten aus der Mauernische hervor. Wohl springt der treue Hund dem ersten der Banditen heulend an die Kehle, doch ein wohlgezielter Dolchstoß streckt das mächtige Tier zu Boden.

„Ah, da hört sich aber doch alles auf!“ Dem Förster traten vor Erbarmen um das schöne Tier dicke Thränen in die Augen.

Dann starrte er eine Weile tiefergriffen vor sich nieder. Schluckend erhob er sich, wischte mit dem Aermel zuerst die Thränen aus den Augen, dann den Schweiß von der Stirne, und nun brach’s mit heiligem Zorn aus ihm heraus: „Die Raubersbuben, die gottverfluchten! Und so ein treu’s unschuldigs Tierl!“ Er packte mit grober Faust das Heft. „Den Schmarren lies ich nimmer weiter!“ Wütend schleuderte er das „Geheimnis von Woodcastle“ in die Tischschublade, dann erhob er sich vom Tisch und ging auf die zweischläfrige Bettstatt zu, um seine Ruhe zu suchen.

Und da war er nun auch so weit schon Herr seiner Sinne, um den fidelen Spektakel nicht mehr zu überhören, der von der Sennhütte heraufklang. Er sah nach der Uhr. „Halb Zwölfe schon! Das geht aber doch ein bißl über d’ Schnur! Ich merk’ schon, da muß ich Polizeistund’ machen!“ Er nahm seinen Hut und ging zur Almhütte hinunter, aus deren Thür ein matt beleuchteter Qualm hervordrang, als wäre in der Sennstube Feuer ausgebrochen.

Der große von einem flackernden Talglicht und dem halb schon erlöschenden Herdfeuer beleuchtete Stubenraum war so dick vom Qualm der Pfeifen erfüllt, daß Kluibenschädl, als er auf die Schwelle trat, die Gestalten der Sennerin und der vier Jäger, die um den mit Flaschen und Gläsern bestellten Tisch saßen, kaum zu unterscheiden vermochte.

Als ihn die fidele Kneipgesellschaft erkannte, wurde er mit lautem Halloh begrüßt. Die junge Sennerin, die vom Weine auch ihr Teil bekommen hatte, empfing den unerwarteten Gast mit einem trillernden Juhschrei im höchsten Diskant, und Pepperl, mit dem gefüllten Schoppenglas in der Hand, sprang auf, daß der dreibeinige Stuhl einen Purzelbaum machte. „Jeh, der Herr Förstner!“ jubelte er und schwang das Glas, wobei er sein Gesicht und die zerzausten „Kreuzerschneckerln“ mit einem ausgiebigen Spritzer taufte. „Was sagen S’, Herr Förstner! Heut’ geht’s lustig zu! Kreuzlustig und schnackerlfidel! Sie! Und ein Weinderl is das! Ein Weinderl! Uüüh! Da, trinken S’ nur glei! Der Herr Förstner soll leben! Hoooch!“

Burgi und die drei anderen Jäger fielen lachend ein, so daß der Förster, der mit beiden Armen zur Ruhe winkte, den fröhlichen Spektakel mit seiner Stimme kaum übertönen konnte.

„Stad, sag ich! Stad! Seids denn schon ganz verruckt! Hat denn noch keiner auf d’ Uhr g’schaut, was? Droben im Fürstenhaus sind lang schon d’ Lichter ausg’löscht, und ihr machts in der Nacht um halb Zwölfe noch eine Metten wie ein Träupl Rekruten! An unsern guten Herrn Fürsten denkt wohl gar keiner nimmer, was? Daß er sterbenskrank g’wesen is! Daß er Ruh’ braucht und ein bißl schlafen muß! Oes seids Lackeln übereinander! Meiner Seel’ … gegen enk wenn man gut is, da hat man den richtigen Dank davon!“ Bei diesem Schlußwort knöpfte er energisch seine Joppe zu und drehte der verblüfften Gesellschaft den Rücken.

In der Sennstube war es mäuschenstill geworden. Burgi schlich zur Kammerthür und fuhr sich verlegen mit der Schürze über das glühende Gesicht. Die drei Jäger saßen wie Klötze, und Pepperl stand so erschrocken, als hätte man ihm unversehens einen Kübel eiskalten Wassers über den Kopf gegossen. Und da man bei solchem Stimmungswechsel, wenn man sein Gewissen nicht völlig rein weiß, die erste Schuld immer gern auf einen anderen schiebt, fuhr er mit heiserem Geflüster einen der Jäger an: „No also, da hast es jetzt! Mit deiner Streiterei!“

„Ah, da schau her!“ brummte Birmoser, der Jäger von Leutasch, in seinem tiefsten Baß. „Du selber hast ja noch viel ärger g’schrien als wie ich!“

Pepperl kam aus der Fassung. „Natürlich, wenn ich dir dein’ Spektakel verbieten muß … das geht doch net, ohne daß ich auch ein paar Wörtln sag …“ Er stockte und schien zu fühlen, daß seine Ausrede auf krummen Füßen ging. Er fuhr sich mit dem Aermel über die heiße Stirn, warf in tiefer Zerknirschung einen Trauerblick auf die beiden noch ungeleerten Flaschen und stotterte: „Thuts mir die zwei Flaschen zustöpseln! Jetzt trink’ ich kein Tröpfl nimmer!“

Dieser ehrlichen Reue gegenüber hielt Kluibenschädls Aerger nicht länger stand. Obwohl im Ernste niemand den Versuch machte, Pepperls Aufforderung zu befolgen, sagte er begütigend: „No no no no! Gar so übers Knie muß man auch net gleich alles abbrechen! Bleibts halt meintwegen in aller Ruh noch ein halbs Stündl bei einander sitzen, bis der Wein schön langsam aus’trunken is … und damit’s g’schwinder geht, hilf ich halt ein bißl mit, in Gottsnamen!“ Er füllte sich ein Schoppenglas bis zum Rand und leerte es auf einen Zug. „Sooooo!“ Als er das Glas niederstellte, gewahrte er, daß nur vier Jäger am Tische saßen.

„Wo is denn der ander’,“ fragte er verwundert, „der Mazegger-Toni?“

„Fort is er,“ antwortete Beinößl, der Jäger von Ehrwald, „schon gleich am Nachmittag is er fort, wie der Herr Fürst ’kommen is!“

„Was? Heut’? Und fort? Daß der aber allweil was Extrigs haben muß! Und jetzt bei der Nacht? Daß er weiß Gott wo umeinander strawanzt, das möcht’ ich mir ausbitten! Da muß ich gleich ein bißl nachschauen.“ Kluibenschädl ging zur Thüre. Auf der Schwelle brummte er über die Schulter zurück: „Also! Fein Ruh halten! Gut’ Nacht! Und um Zwölfe is Polizeistund!“

„Ja ja! Gut’ Nacht, Herr Förstner,“ erwiderten die Jäger. Nur Pepperl schwieg. Er hatte seinen Stuhl wieder aufgerichtet, saß mit gespreizten Beinen und machte ein Gesicht, als ginge ihm ein trüber Wirbel im Kopf herum. Die Sennerin kam aus der Kammer geschlichen und brach, als sie die so trübselig verwandelte Gesellschaft sah, in fröhliches Kichern aus, das sie mit der Schürze zu ersticken suchte. „Ui jegerl! Der hat enk aber derwischt bei die lustigen Haar’! Und du?“ Sie puffte den Praxmaler-Pepperl in den Rücken. „Was is denn mit dir? Was hast denn?“

„G’nug hab’ ich, scheint mir!“ gestand Pepperl in ehrlicher Selbsterkenntnis.

Das Mädchen lachte, so hell und vergnügt, daß ihr die Jäger beschwichtigend zuwinkten. Da drückte sie die Hand auf den Mund, huschte zur Hüttenthür, guckte in die schwarze Nacht hinaus und kicherte: „Er hört’s ja nimmer!“

Der Förster war in der Finsternis verschwunden. Nur seine stolpernden Schritte waren noch zu hören.

Aus dem kleinen Fenster des Hegerhäuschens, auf das er zutappte, schimmerte mattes Licht. „No also, er muß ja daheim sein!“ Kluibenschädl ging auf das offene Fenster zu, packte die Gitterstäbe und steckte den Kopf hinein.

Eine rußende Petroleumlampe brannte in dem winzigen Stübchen, das mit den zwei Kotzenbetten, dem Tisch und dem eisernen Kochherd so reichlich angeräumt war, daß knapp noch schmaler Platz verblieb, um aus- und einzugehen. Das eine Bett war leer, auf dem anderen lag Mazegger ausgestreckt, angekleidet, die Hände hinter dem Kopf verschlungen, mit offenen Augen, die zur Decke starrten. Sein bleiches Gesicht war von Unruhe durchzuckt.

„He! Du!“

Mazegger fuhr mit dem Kopf in die Höhe. Als er den Förster am Fenster sah, nickte er wortlos und erhob sich.

„Was is denn mit dir? Wo warst denn am Abend?“

„Dienst hab’ ich gemacht.“

„Dienst? So? Wo denn? Leicht draußen beim Sebensee?“

„Nein!“ Glühende Röte flog über das bleiche Gesicht des Jägers. Doch seine Stimme klang ruhig. „Auf der Gaiseltalp!“

„Gegen Leutasch ’naus?“ fragte der Förster, als schiene ihm diese Meldung nicht völlig glaubhaft. „Hörst du, die G’schicht kommt mir ein bißl brenzlig vor. Die gnädige Duhrlaucht giebt euch zur Einstandsfeier ein’ freien Abend, und derweil sich deine Kameraden amaßiren, schießt dir gahlings der Pflichteifer ein? Und das soll ich glauben?“

Mazegger hob die Schultern und trat zum Tisch, um die rußende Flamme der Petroleumlampe herunterzuschrauben.

Kluibenschädl musterte den Jäger mit etwas mißtrauischen Augen. Dann sagte er: „Meinetwegen, … soll’s wahr sein oder net! Aber wenn Dienst g’macht hast, so mußt ja müd’ sein. Drum leg’ dich nieder und blas’ d’ Lampen aus. ’s Petroli für nix und wieder nix verbrennen und unserer guten Duhrlaucht ’s Geld zum Sack ’naus räuchern … das leid’ ich net!“

Mazegger löschte die Lampe aus, stieß in der finsteren Stube die Schuhe von den Füßen und warf sich aufs Bett.

Der Förster schüttelte seufzend den Kopf; doch mehr gutmütiges Bedauern als Aerger sprach aus seiner Stimme: „Meiner Seel’, Toni, du bist aber doch … ein recht ein unguter Mensch bist, ja! Aber wart’ nur, ’s Leben wird dich noch zwiefeln, dich! Und morgen in der Fruh stehst auf um Drei und machst dein’ Dienst gegen Leutasch ’naus, ins Hämmermoos! Verstanden?“

Er schlug den Fensterladen zu und schüttelte wieder den Kopf, während er langsam davon ging. „So is er doch sonst net g’wesen! … Möcht’ nur wissen, was er denn eigentlich hat die ganze Zeit her?“ Ein paar Ländlertakte pfeifend, nickte er vor sich hin. „Schier mein’ ich, daß ich mir’s denken kann!“ Nun lachte er. „O du narrische Welt! Der Lapp, der dumme! Was der sich einbild’t!“

Da sah er vom Fürstenhaus das Licht einer kleinen Blendlaterne durch die Finsternis einherschwanken, gleich einem Stern, der auf unsichtbaren Stelzen ging. „He? Was is denn? Wer kommt denn da?“

Es war der Lakai des Fürsten.

„Was? Sie, Herr Kammerdiener? Ja was suchen S’ denn so spat in der Nacht?“

„Zwei Briefe hab’ ich zu bestellen. Sind die Leutascher Jäger noch hier?“

„Ja, drunten bei der Sennerin hocken s’. Geben S’ die Brief nur her, ich trag’ s’ gleich nunter.“

„Ich danke, Herr Förster, bemühen Sie sich nicht, ich trage die Briefe selbst hinunter.“

Der Förster lachte. „Wenn S’ meinen, Sie können’s besser … meinetwegen! Und Gut’ Nacht!“

„Gute Nacht!“

Vorsichtig leuchtete Martin auf die Erde nieder, um nicht über die Steine und Krautbüschel des Almfeldes zu stolpern. Vor der Thür der Sennhütte nahm er das kleine Lodenmäntelchen ab, das er um die Schultern trug. Vermutete er, in wärmere Luft zu kommen – oder wollte er durch Enthüllung seiner kleidsamen Dienstgala den Eindruck seiner Persönlichkeit verstärken?

Sein lautloser Schritt und das vornehm leise Hüsteln, das er beim Eintritt in die rauchige Stube hören ließ, störte die kleine Zechgesellschaft nicht in ihrer tuschelnden Heiterkeit.

Zum Gaudium der anderen Jäger hatte Pepperl, dem die weinselige Stimmung heiß aus Wangen und Augen leuchtete, die Sennerin an beiden Armen gefaßt und suchte sie zum Tisch zu ziehen. Unter Lachen und Kichern wehrte sich das Mädchen. „Au weh! Du Narr du! Was machst denn! So hör’ doch auf! Brichst mir ja d’ Arm’ auseinander!“ Um sich frei zu machen, zuckte und zerrte sie wie eine Forelle, die am Haken hängt. Dennoch schien sie dieses grobe Neckspiel nicht im geringsten übelzunehmen. Jeder Wehlaut, den sie ausstieß, wurde durch neues Kichern abgelöst, und triumphierend blitzten ihre Augen, als sie mit der Hüfte einen festen Widerhalt an der Tischecke fand. Schon war es ihr gelungen, den einen Arm zu befreien. Doch Pepperl haschte ihn wieder.

„Aber geh, so sei net so dumm und hock’ dich ein bißl her zu mir! Ich thu’ dir ja nix!“

„Ich mag net! Auslassen! Oder ...“

„Oder was?“ Lachend griff Pepperl noch derber zu. „Mach weiter, komm her!“ Er zog, daß der schwere Tisch, gegen den das Mädchen sich stemmte, ins Rutschen kam. Ein paar leere Flaschen rollten zu Boden, die Gläser stießen klirrend aneinander, und das gab einen Lärm, daß Beinößl unter Zischen und Winken mahnte: „Der Förstner kommt!“ Um die Neckerei zu beenden, wollte er der Sennerin zu Hilfe eilen – aber das war überflüssig.

Pepperl, von einem blendenden Lichtstrahl ins Gesicht getroffen, hatte jählings die Arme des Mädchens fahren lassen. Burgi taumelte zurück und wäre über die hölzerne Bank gestürzt, wenn sie nicht knapp mit einer Hand noch die Tischkante hätte erhaschen können. Doch das lustige Lachen, mit dem sie sich aufrichtete, erstickte zu einem leisen Schrei, als sie plötzlich die schwarze Gestalt mit der Blendlaterne gewahrte. „Alle guten Geister …“ stotterte sie. Da erkannte sie den Gast, kicherte halblaut vor sich hin und trat verlegen ein paar Schritte zurück. Den Kopf gegen die Schulter geneigt, die Hände auf dem Rücken, musterte sie den Lakai vom glattfrisierten Kopf bis zu den blinkenden Schnallenschuhen.

Schweigend saßen die drei Jäger hinter dem Tisch und kauten an den Spitzen der erkalteten Pfeifen. Pepperl hatte die Fäuste in den Joppentaschen vergraben, saß zurückgelehnt auf seinem Sessel, die Beine lang ausgestreckt, und machte mit weit offenen Augen ein ganz merkwürdiges Gesicht. Er wußte wohl, daß droben im Fürstenhaus ein Kammerdiener eingezogen war, aber hier in der Hütte standen ihm nun zwei Kammerdiener vor Augen, und die beiden hatten die sonderbare Eigenschaft, daß sie sich im Kreis um ihn herum bewegten. Dabei lächelten sie so verdächtig – ein Lächeln, das dem Praxmaler-Pepperl, je länger er es ansah, das Blut immer heißer in die Stirne trieb. Schwül atmend griff er nach seinem Kopf und wühlte in den Kreuzerschneckerln. Da sah er plötzlich nur einen Kammerdiener.

Der aber lächelte noch immer so … und in prüfender Beschaulichkeit hob er die Blendlaterne hoch, um das Gesicht der Sennerin besser zu beleuchten. Wie hübsch dieses Mädel war! So mitten in dem strahlenden Lichtkreis, mit dem kirschroten Mund, mit den Schmunzelgrübchen in den runden heißbrennenden Wangen, mit den dunklen Feueraugen und dem wirrgezausten Braunhaar über der glühenden Stirn! Martin ließ den Schein der Blendlaterne über die Sennerin niedergleiten – und lächelte.

Burgi verstand dieses Lächeln nicht, sonst wäre sie wohl noch verlegener geworden. Aber das Schweigen währte ihr zu lange. Deshalb lachte sie und sagte: „Der Herr Kammerdiener vom Fürsten droben? Gelt? Wissen S’, ich hab’ Ihnen halt aufs erste G’schau net ’kennt … weil S’ gar so schwarz vor mir dag’standen sind! No also, grüß Gott halt in meiner Hütten!“ Freundlich reichte sie ihm die Hand und lachte wieder. „Ich hab völlig schon g’meint, der Leibhaftige steht vor mir in der schwarzen Stiefelwichs!“ Kichernd drückte sie das Kinn auf die Brust.

Martin lächelte gezwungen. „Na, hören Sie, mein schönes Kind, das ist gerade kein Kompliment. Und ich habe schon gedacht,

daß ich Ihnen als rettender Engel erschienen wäre, um Sie aus den groben Fäusten dieses ungalanten Flegels zu befreien.“

„Oho!“ Pepperls Stimme klang heiser und sein Gesicht war anzusehen, als hätte man ihm Zinnober auf die Stirn gestrichen.

„Sie wünschen?“ fragte Martin und hob die Laterne. „Ist das einer von unseren Jägern?“ wandte er sich ruhig an die Sennerin und musterte wieder mit kühlem Blick die Gesellschaft. „So viel Manier könntet ihr wohl haben, um zu wissen, daß man aufsteht, wenn jemand von der Herrschaft eintritt!“

Die drei Jäger hinter dem Tisch sahen sich mit großen Augen an und erhoben sich schwerfällig.

Pepperl blieb sitzen, legte breit den Arm über den Tisch und sah mit funkelndem Blick zu Martin auf. „Da muß schon ein anderer kommen, bis ich aufsteh! Wegen Ihnen reiß’ ich mir noch lang kein’ Haxen aus!“

„Aber Pepperl, geh, was hast denn?“ stotterte Burgi erschrocken. Und Beinößl griff über den Tisch hinüber und schüttelte den Erregten mit derber Faust an der Schulter. „Geh, Peppi, was machst denn? Bist denn verruckt?“

„Na! Ich net! Aber in Ruh lassen soll er mich! Der!“ Die Mahnung zum Frieden schien Pepperls Zorn nur noch geschürt zu haben. „Wenn er auch noch so pikfein dreinschaut wie ein aus’zogener Tintenspritzer, deswegen is er doch net mehr als wie ein Stiefelputzer, der sein’ Bürsten daheim lassen hat!“

Martin legte vornehm den blonden Kopf zurück und sah mit kaltem Blick über den Jäger weg.

Dieser Blick rührte in Pepperl den wallenden Zorn zum Sieden auf. „Sie! Ich sag’s Ihnen … bleankeln S’ net so mit Ihrem ausg’waschenen G’schau! Und wenn S’ auch ’s Madl schon halb mit die Augen g’fressen haben … ich bin net so leicht zum Schlucken! Verstanden? Mit solchene Augen können S’ enkere Frauenzimmer in der Stadt drin anschauen … aber kein Madl bei uns daheraußen!“

Ohne auf Pepperl zu hören, war Martin zum Tisch getreten. „Geht einer von den Jägern noch heute nach Leutasch?“

„Jawoll!“ erwiderten Birmoser und Ruef.

Dem letzteren, der von beiden der minder bekneipte zu sein schien, reichte Martin ein großes Couvert, das er aus der Brusttasche zog. „Uebergeben Sie dieses Couvert, das zwei Briefe enthält, morgen früh in Leutasch dem Postboten. Die Briefe sollen erst auf der Post in Seefeld aus dem Couvert genommen werden. Das ist strenger Befehl Seiner Durchlaucht. Haben Sie verstanden?“

„Jawoll!“

Mit wohlwollendem Lächeln wandte sich Martin zur Sennerin, welche wortlos dastand. „Gute Nacht, mein schönes Kind!“ Sacht und freundlich klopfte er sie auf die Wange, dann hob er die Laterne, um seinen Weg zu beleuchten, und verließ die Hütte.

Mit keinem Blick sah Burgi dem Abziehenden nach. Sie war bleich und hielt die zornblitzenden Augen auf Pepperl gerichtet. Die drei Jäger hinter dem Tisch begannen zu lachen und wollten mit ein paar derben Späßen über den unbehaglichen Ernst des Augenblicks hinwegturnen. Aber da trat die Sennerin mit raschen Schritten vor Pepperl hin.

„Du! Jetzt will ich dir was sagen!“ Ihre Stimme zitterte. „Wir zwei sind gute Freund’ g’wesen in aller Lustigkeit … net mehr und net weniger. Aber von heut an hat’s ein End’ damit! Solchene Sachen leid’ ich net in meiner Hütten … da kannst dir ein anders Platzl suchen!“

„So? So?“ kollerte Pepperl. „Ist dir am End gar schon Angst um ihn, weil ich ihm seine schmalzigen Haar’ ein bißl auf’kampelt hab?“ Höhnend deutete er mit beiden Armen nach der Thüre. „So geh doch, geh … main scheenes Gindd … und thu ihn schön führen am Armerl, daß er net stolpert!“

Glühende Röte flog über Burgis Wangen und ihre Hände ballten sich im Zorn. „Jetzt sei aber stad, gelt … du rauschiger Unfirm, du. Und kümmer’ dich lieber, daß du ein Helfer findst, der dich heut’ noch auf dein’ Strohsack lupft! Ja, schau mich nur an! Was für ein Recht hast denn eigentlich du, daß dich kümmerst um mich? Wie mich einer anschaut … geht denn das dich was an? Jetzt grad’ mit Fleiß, jetzt soll er mich anschaun wie er mag! Dich frag’ ich noch lang net drum … net heut’ und net morgen! Und überhaupt … heut’ hab’ ich g’nug … von enk alle miteinander!“ Wütend packte sie den hölzernen Wassereimer und goß seinen Inhalt über das müd flackernde Herdfeuer aus, so daß unter dem plätschernden Guß auch das letzte Flämmlein jählings erlosch.

„Aber Madl, so geh,“ fiel Beinößl beschwichtigend ein, „der ander’ giebt ja schon Ruh … jetzt sei doch net du die Narrische.“

Ohne zu hören, warf Burgi den Eimer zu Boden, ging zum Tisch und blies das in einer leeren Flasche steckende Talglicht aus. „So! Jetzt hab ich Polizeistund’ g’macht!“ grollte sie in der Finsternis, welche plötzlich die Hütte erfüllte. „Gut’ Nacht miteinander!“

Die Jäger lachten, nur Pepperl nicht; und als er in der Dunkelheit die Kammerthüre gehen und drinnen den schweren Eisenriegel klirren hörte, sprang er auf. „He! Burgi! Du! Geh her, ich muß dir was sagen noch!“ Als keine Antwort kam, begann er mit beiden Fäusten an die Kammerthür zu trommeln.

Während Birmoser bedächtig am Tisch umhertappte, um die letzte noch ungeleerte Flasche für sich zu retten, legten sich Ruef und Beinößl bei der Kammerthür ins Mittel und lotsten den Praxmaler-Pepperl unter gütlichem Zureden zur Sennstube hinaus in die stille, sternenschöne Sommernacht.

Pepperl wehrte sich mit Armen und Füßen. „Laßts mich aus! Ich sag’s enk im guten! Ich muß ihr was sagen! Laßts aus!“

Aber die beiden hielten fest und zogen an, daß Pepperl auf den vorgestemmten Füßen eine Rutschpartie übers Almfeld machte.

„Na! Und na! Und ich geh’ noch net heim! Ich muß ihr was sagen!“

„Jetzt halt dein’ Schnabel einmal, du Niegl, du eifersüchtiger!“ schnauzte ihn Beinößl an.

„Was? Eifersüchtig? Was? Daß ich net lach’!“ Und richtig, Pepperl lachte mit seiner heiseren Stimme laut in die Nacht hinaus. „Was geht denn mich die Burgi an! Im ganzen Leben hab’ ich nix g’habt mit ihr! Auf Ehr und Seligkeit! Und ich will auch nix haben mit ihr! Na! Net um d’ Welt! Ich mag net! Na! Oes seids mir die richtigen Freund’! Das muß ich sagen! Saubere Freund’! Und bringen ei’m solchene Sachen auf! Was? Helfts am End auch schon dem andern? Ja?“

„Geh, du Narr! Aber paß nur auf … der wird dich g’hörig verklampern beim Fürsten!“

„Verklampern? So? Meintwegen! Soll er mich halt verklampern! Jetzt is mir schon alles eins! Und meine Freunderln, meine guten … gelt, ja? … die machen ihm leicht noch ein’ Zeugen? Ja! Laßts aus! Mit enk will ich nix mehr z’schaffen haben! Na!“

Mit energischem Ruck befreite er seine Arme, rückte trotzig seinen Hut übers Ohr, wie einer, der weiß: jetzt hat mich alles verlassen, jetzt bin ich auf mich allein gestellt! – Und während ihm die Jäger lachend nachsahen, stolperte er einsam durch die Finsternis der nahen Hütte zu, die er mit dem Förster bewohnte.

Aber in seinen Ohren war ein böses Wort zurückgeblieben: „Verklampern! … Paß auf, der wird dich g’hörig verklampern beim Fürsten!“

Tief aus bedrückter Seele seufzend, erreichte er die Thüre des Försterhäuschens – und ohne zu prüfen, ob sie offen oder geschlossen wäre, suchte er eine Viertelstunde lang in allen Taschen nach dem Schlüssel. Als er ihn nicht fand – weil der Schlüssel im Schlosse steckte – ließ er sich in dumpfer Erschöpfung auf die Schwelle nieder und nahm seinen sumsenden Kopf in beide Hände.

Undeutlich und verworren tauchten die Ereignisse, die sich in der Sennhütte abgespielt hatten, vor seinem erwachten Gewissen auf. „Teufi, Teufi, Teufi! Was hab’ ich denn jetzt da für Sachen g’macht! Jetzt glaub’ ich schon selber, daß ich ein bißl z’viel derwischt hab!“ Schwer atmend erhob er sich, tappte unter den Bäumen bis zum Röhrenbrunnen und steckte den heißen Kopf in den Wasserstrahl. Unter Schnauben und Prusten stand er über den Rand des Troges gebückt; das eiskalte Wasser, das ihm die Ohren und das Gesicht umpritschelte und durch den Joppenkragen über den Rücken rann, machte ihn schauern und zittern; doch geduldig hielt er den kalten Guß so lange aus, bis es in seinen vom Wein umdusterten fünf Sinnen wieder hell zu werden begann. Dann zog er die Joppe herunter und rüppelte mit ihrem Futter den Kopf, bis die Haare leidlich trocken waren.

Seufzend kehrte er zur Hütte zurück. Und da war es ihm fast leid, daß er diese radikale Wasserkur unternommen hatte. Denn im Weindusel hätte er wohl bald den Schlaf gefunden und wäre die verwünschten Gedanken losgeworden – aber jetzt, da er zur klaren Erkenntnis der „Dalkerei“ gekommen war, die er drunten in der Sennhütte angestiftet hatte, jetzt wußte er, daß es für diese Nacht vorbei war mit Schlaf und Ruhe.

Ob’s nicht am besten wäre, gleich alles dem Förster ehrlich zu beichten? Trotz dieser Einsicht zog Pepperl vor der Thüre die Schuhe herunter, um nur ja durch kein Geräusch den Förster aus seinem Schlaf zu wecken. Doch als er in das finstere Stübchen trat, hörte er dumpfes Stöhnen und abgerissene Worte, wie sie ein Kranker im Fieber redet. Erschrocken machte er Licht und leuchtete mit der Kerze über das Bett.

Kluibenschädl, welcher, halb entkleidet, mit der Lederhose auf der Matratze lag, hatte die wollene Kotze über die Kniee hinuntergestrampelt und arbeitete mit den Fäusten in der Luft herum. Sein Gesicht war dunkelrot, und röchelnd sprach er im Schlaf: „Raubersbuben! … Abfahren! … Laßts mir mein’ treuen Hund in Ruh’! … Abfahren, sag’ ich … oder es kracht. …“

Pepperl griff zu und rüttelte den von seiner Romanlektüre phantasierenden Förster, bis dieser sich nach der anderen Seite umkehrte, worauf er in ruhigen Schlaf verfiel. Der Jäger aber blies das Licht aus, legte die Joppe über einen Stuhl, streifte die Hosenträger von den Schultern nieder und kroch unter die Decke. Aber ihn floh der Schlummer; unruhig wälzte er sich auf dem Lager und kaute an einem Seegrasstengel, den er aus der Matratze gezogen hatte.

„Teufi, Teufi, Teufi! Morgen in der Fruh, bis ich heimkomm’ von der Birsch, da hat er mich schon verklampert!“ – Und der Fürst? Was der wohl sagen würde? – „Nobel, Pepperl, nobel! Fein hast dich aufg’führt!“ Er dachte sich diese Worte nicht, nein, er hörte sie, hörte so klar die ruhig ernste Stimme seines Herrn und sah so deutlich seine vorwurfsvollen Augen auf sich gerichtet, daß ihm vor Zerknirschung und heißer Reue der Schweiß aus den Schläfen brach. „Teufi, Teufi, Teufi! Was thu’ ich denn nur?“

Da fiel ihm der herrliche Vierzehnender ein, der in den Latschenfeldern über dem Sebensee seinen Standort hatte. Wenn es das Glück wollte, daß er den Fürsten auf diesen Staatshirsch zu Schuß bringen könnte – gleich bei der ersten Birsche! Solche Weidmannsfreude würde den Groll seines Herren gewiß besänftigen oder ihn doch in eine Stimmung bringen, in der sich Pepperl alle Reue über seine „rauschige Flegelei“ vom Herzen schwatzen und sich halbwegs verteidigen konnte.

Aber wie verteidigen? Daß ihm der Blick, mit dem der Kammerdiener die Sennerin gemustert hatte, wie Feuer ins Blut gefahren war – das konnte er doch dem Fürsten unmöglich sagen. Was hat sich denn ein Jäger um die Augen zu kümmern, die der fürstliche Herr Kammerdiener macht? Und dann – was ging den Praxmaler-Pepperl die Burgi an? Daß er von der was wollte … Gott behüt’! Das wär’ ja doch die reine Narretei! Wenn ein Jäger, der selber nicht viel mehr als seine Büchse hat, an so was denkt, muß er doch ein bißchen rechnen und schauen, daß er sich ein Bröserl einheiratet. Aber die Burgi! Ui jegerl! Wenn sich die nicht im Winter ein Paar Strümpfe strickte, konnte sie im Sommer barfuß laufen! Das Mädel eine blutarme Sennerin, der die Mutter längst schon gestorben, und der Vater ein alter Notnickel, der sich mit Tagelohn frettete und für fünfzig Kreuzer Monatszins in einem Stüberl hauste, in dem die Mäuse am Strohsack nagen mußten, weil’s was anderes nicht zu knuspern gab! Und was seine Mutter wohl sagen würde, wenn er eines Tages mit der Nachricht käme: „Du, Mutterl, ich denk’ mir, ich nimm die Burgi!“ Die alte Frau würde vor Schreck und Jammer die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: „Ja Bub, ja Pepperl, ja bist denn narrisch, bist denn ganz verruckt? Hast selber nix zum Beißen … vierhundert Gulden liegen vom Vater her noch Schulden auf unserem Häusl … und da bringst mir so ein Weibsbild, das bloß ein’ einzigen Rock für Kirch’ und Arbeit hat!“

Gott bewahre! Für solch einen Narrenstreich war der Praxmaler-Pepperl viel zu gescheit! An die Burgi zu denken, das wär’ ihm auch im Traum nie eingefallen! Und überhaupt, wenn er an die Burgi hätte denken wollen – sie war ja doch auf der Tillfußer Alm schon Sennerin im zweiten Sommer – da hätte er doch nicht warten müssen bis heut’! Bis ihm der fürstliche Herr Kammerdiener die Nase auf das Butterlaibl stieß! Daß die Burgi ein mudelsauberes Mädel war, das brauchte sich Pepperl von keinem anderen sagen zu lassen, am allerwenigsten von so einem! Er hatte doch selber Augen im Kopf! Aber zum Heiraten gehört eben noch mehr als ein rotes Göscherl!

Wo also käme da die Eifersucht her? Zum Lachen! Eifersucht! Die Burgi und er, sie beide waren halt junge, lustige Leut’, und da sitzt man halt gern beisammen und kudert und lacht! Mehr will man nicht voneinander! Gott bewahre … auf Ehr’ und Seligkeit! Und das Lachen ist ja noch lang’ keine Sünd’! „’s Leben is eh’ nur lauter Plag … wenn man das bißl Lachen net hätt’, wär’ gar nix dran.“ Und aufs Lachen verstand sich die Burgi! Mit ihren Grübchen und ihren Blitzäugerln! „Wenn einer aufs Heiratsgut nicht anstehen müßt’ und könnt’ die Burgi nehmen wie sie geht und steht … Teufi, Teufi, Teufi! Der krieget ein lustig’s Leben! Der wär’ zum Neiden, ja!“

Er atmete schwer, und unter der wollenen Decke begann ihm immer schwüler zu werden. So viel wie in dieser nächtlichen Stunde hatte er schon lange nicht gedacht, und die ungewohnte Kopfarbeit machte ihm heiß.

Aber nach all dieser Gedankenmühe war er doch wenigstens zu der beruhigenden Ueberzeugung gekommen, daß er „von der Burgi nichts wollte,“ und daß es „helllichte Narretei“ war, wenn ihn seine Kameraden der Eifersucht ziehen. Was ihn in diese „rauschige Wut“ gegen den fürstlichen Herrn Kammerdiener versetzt hatte, das hatte mit der Burgi nichts zu schaffen – das war etwas ganz, ganz anderes! Der Praxmaler-Pepperl war eben mit einem „g’schamigen G’müt“ behaftet, und da hatte jener Blick des Lakaien auf ihn gewirkt, als hätte man ihm eine Handvoll Schmutz ins Gesicht geworfen! Das wäre auch so gewesen, wenn es sich um ein Nannerl oder um eine Stasi gehandelt hätte! Wenn Menschen so in der Einsamkeit auf einem Flecklein Erde nebeneinander hausen, da müssen sie füreinander einstehen in Not und Gefahr, jedes ist verantwortlich für das Wohl und Wehe des anderen! Nun hatte der Praxmaler-Pepperl allerdings eine recht armselige Kenntnis von den Tiefen und Untiefen eines weiblichen Herzens, aber es war ihm doch die billige Redensart geläufig: „Junge Madln, o du mein Gott, die sind ja so viel dumm!“ Und da sitzt nun solch ein junges, lebensfrohes, bildsauberes dummes Ding in der einsamen, unbewachten Sennhütte, ist an nichts anderes gewöhnt als an den gefahrlosen Verkehr mit „so unfirmigen Lümmeln“, wie der Praxmaler-Pepperl einer war – und da kommt nun so ganz ein anderer, so ein Pikfeiner aus der Stadt, mit silbernen Schnallen auf den Schuhen, mit seidenen Strümpfen und mit süßen Redensarten wie „Main scheenes Gindd!“ – Ja du lieber Herrgott, da ist ja ein Unglück geschehen, ehe man sich umschaut!

Und da sollte Pepperl nicht das Recht und die Pflicht haben, das zu verhindern? Das war er schon dem armen alten Vater schuldig! Wohl hatte der alte Brentlinger eine bedenkliche Vorliebe für den Doppeltgebrannten, aber er trug doch auch ein richtiges Vaterherz in seiner Brust! Und was wird er sagen, wenn er es einmal erfahren muß … das ganze schreckliche Unglück der Burgi! Er meinte ihn schelten und schluchzen zu hören – dem Pepperl kamen selber die Thränen in die Augen – so rührte ihn der Kummer des alten, braven Mannes. „Himmelkreuzteufi noch einmal!“ Er streckte drohend seine Arme in die Finsternis. „Zerreißen und schlitzen thu ich den Kerl in der Luft, wann er das Madl net in Ruh laßt!“ Schwer atmend schob er die wollene Kotze von seiner Brust. „Herrgott, hat’s da eine Hitz’ herinn! Na! Da steh’ ich schon lieber auf … schlafen kann ich eh’ nimmer heut!“

Achtsam, um den schnarchenden Bettkameraden nicht zu wecken, erhob er sich, strich ein Zündholz an und sah nach der Uhr. Ein paar Minuten fehlten noch bis Drei. „No also, es is ja eh schon Birschzeit!“ Sinnend, als sollte ihm ein besonders guter Einfall kommen, stand er in der finsteren Stube und starrte das Zündholz an, das sich im Erlöschen krümmte wie ein feuriger Wurm; dann packte er mit der einen Hand seine Joppe und die Schuhe zusammen, mit der anderen den Hut, die Büchse und den Rucksack und schlich auf den Fußspitzen hinaus.

Lautlos zog er hinter sich die Thüre zu und machte sich unter freiem Himmel in aller Hast zum Birschgang fertig.

Schon begann im fernen Osten ein mattes Dämmern, und die Sterne wollten erlöschen. Schwarzgrau dehnte sich das betaute Almfeld, der Brunnen plätscherte, und halblaut bimmelte die Glocke eines Rindes, das irgendwo im Grase lag. Ganz deutlich unterschied man schon im Zwielicht die grobe Mauer der Sennhütte und in dem trüben Mauergrau das schwarze Fensterchen.

Dieses Fenster betrachtete Pepperl mit wägenden Blicken. Das heilige Pflichtgefühl – das heißt die Verantwortung, die er dem alten Brentlinger gegenüber zu haben glaubte – war ihm mit solcher Heftigkeit „eingeschossen“, daß er ganz unmöglich zur Morgenbirsche ausziehen durfte, ohne dem „dalketen Madl“ eine ernste Warnung zu erteilen.

Mit langen Sprüngen rannte er über das Almfeld hinunter wie einer, der gestohlen hat. Aber da hörte er im nahen Hegerhäuschen den rasselnden Wecker gehen. Schnaufend hielt Pepperl inne und besann sich.

„Na na! Das braucht ja keiner z’ wissen, daß ich ihr ein bißl predigen muß!“

Und just, als hinter den trüben Scheiben des Jägerstübchens der Lichtschein aufging und Mazeggers Silhouette im hellen Fenster erschien, drückte sich Pepperl um die Ecke der Almhütte. Daß die Thüre geschlossen war, machte ihm wenig Kopfzerbrechen, denn er kannte den primitiven Mechanismus dieses Schlosses: mit dem Messer fuhr er durch eine Spalte der Bretter und hob innen ohne Mühe den Riegel auf. In der Sennstube herrschte rabenschwarze Finsternis. Da war denn der Weg zu Burgis Kammerthür ohne einiges Stolpern und Gepolter nicht zu finden.

Hätte die junge Sennerin auch den Schlaf einer alten Bärin gehabt, sie hätte erwachen müssen bei dem Spektakel. „Mar’ und Josef! Was is denn?“ klang Burgis schlaftrunkene Stimme aus der Kammer.

„Nix is’s! Gar nix! Na na! Bloß ich bin’s!“ flüsterte Pepperl durch die Klumsen der Kammerthüre, sanft und freundlich wie ein guter Hirte zu seinem Schäflein reden muß. „Und weißt, ein bißl was sagen muß ich dir! Ganz ebbes Wichtigs! Ja! Geh’, Burgerl, geh’, sei g’scheit und komm ein bißl aussi!“

„Fahr’ ab, du da draußen! Gelt! Und laß mich schlafen!“

Diese widerspenstige Antwort machte den Praxmaler-Pepperl seufzen und brachte ihm die bittere Erkenntnis bei, welch eine schwierige und undankbare Aufgabe es ist, den Menschen das Gute und Rechte zu predigen. Einige Sekunden blieb er lautlos vor der schwarzen Thüre stehen. Dann pochte er schüchtern mit dem Knöchel an die Bretter und flüsterte mit aller Traulichkeit, deren seine vor Erregung bebende Stimme noch fähig war:

„Schau, Burgerl, thu net trutzen jetzt! Geh, Madl, komm, sei g’scheit und mach’ ein bißl auf! G’wiß wahr, ich mein’ dir’s gut … und so viel sorgen thu ich mich um deintwegen, ja … drum schau, ich muß dir was sagen!“

„Schlafen laß mich!“

„Na, Burgerl! Na! Ich därf dich net schlafen lassen! Ich muß dir ein paar Wörteln sagen in der Güt’ … ich hab’ die Verpflichtigung …“

„Was? Verpflichtigung? Ja freilich, da kannst recht haben,“ klang es mit gereiztem Lachen aus der Kammer, „die Verpflichtigung hast, daß dich niederlegst auf deine Ohrwascheln und dein’ Dampus verschlafst!“

„Auf Ehr’ und Seligkeit, Madl, ich bin so nüchtern wie der Pfarrer vor der Fruhmeß’ …“

„Hörst, du, laß die heiligen Sachen aus’m Spiel! So was vertrag’ ich net … z’ mittelst in der Nacht schon gar net!“

„Madl, ich sag’ dir’s im guten, thu mich net abweisen! Dein Glück is am Spiel … hörst, Madl … dein Glück! Mach’ auf, sag’ ich … oder es reut dich noch einmal, daß d’ ein’ abg’wiesen hast, der ’s ernst und ehrlich mit dir g’meint hat als ein rechtschaffener Mensch …“

„Ja hörst denn noch allweil net auf? Jetzt wird’s mir aber z’ dumm, das muß ich schon sagen!“ Heißer Unmut bebte in der Stimme der Sennerin. „Bis um Zwölfe in der Nacht hab’ ich enker rauschige Metten in der Hütten haben müssen … in der Fruh muß ich wieder frisch bei der Arbeit sein, und da soll ich net einmal die paar Stündeln schlafen können in der Ruh’? Fahr ab, sag’ ich! Für heut’ hab’ ich g’nug von enk alle miteinander! Und mit dir? Mit dir bin ich ganz fertig! Verstehst! Das is ’s letzte Wörtl g’wesen! Gut’ Nacht!“

Pepperls Geduld war zu Ende. Er sah es deutlich ein: bei dieser verstockten Seele war in Güte nichts auszurichten – dem heiligen Zweck zuliebe, der ihn hergeführt hatte, mußte er „sanfte Gewalt“ gebrauchen. Also faßte er mit beiden Fäusten die Klinke und rüttelte an der Kammerthür, daß die Bretter rasselten. „Mach’ auf! Und ob jetzt willst oder net … anhören mußt mich! In meiner Verpflichtigung steh’ ich da, als ob ich dein armer, guter Vater wär’ … oder als ob d’ ein’ Bruder hätt’st an mir, der sich in Kümmernis um d’ Schwester sorgen thut! Zum letztenmal sag’ ich dir’s: mach’ auf!“

Das wirkte. Noch ehe Pepperl völlig ausgesprochen hatte, öffnete sich die Kammerthüre – freilich nur um einen schmalen Spalt. Und aus diesem Spalt, in welchem undeutlich etwas Weißes schimmerte, kam etwas Schwarzes herausgeflogen, wie eine Nachteule aus ihrem finsteren Felsenschlupf. Dieser sonderbare, aber sehre gewichtige Vogel flog dem Praxmaler-Pepperl grob an die Wange, fuhr ihm wie mit scharfen Klauen übers Ohr und klatschte schwer zu Boden. Im gleichen Augenblick schloß sich die Kammerthüre wieder und der Riegel klirrte.

„Ah, da hört sich aber die G’mütlichkeit auf!“ brummte Pepperl, halb beleidigt und halb verblüfft. In unbewußter Neugier bückte er sich, tappte mit den Händen auf dem Boden herum – und als er den merkwürdigen Vogel haschte, zeigte es sich, daß er keine Flügel hatte, sondern sich anfühlte wie ein Pantoffel mit genagelter Sohle. Bei dieser Entdeckung schoß dem Praxmaler-Pepperl eine „gache Hitz’“ bis unter die Kreuzerschneckerln hinauf, wie überschürtes Feuer in den Schornstein fährt. „So also? So dankst mir du?“ Seine Stimme klang, als wäre ihm die Kehle zugeschnürt. „Meintwegen halt …“ dabei schleuderte er den Pantoffel gegen die Kammerthür, daß es krachte wie ein Schuß, „so renn’ halt ins Verderben, wie ’s dumme Hehndl in’ Fuchsenbau! Ich sag’ dir nix mehr!“

Tief atmend griff er nach seiner Büchse und stürmte zur Hüttenthür hinaus. Da vernahm er Schritte – und um nicht gesehen zu werden, duckte er sich hinter den Holzstoß, der an der Hüttenmauer aufgeschichtet war.

Im fahlen Grau des Morgens schritt Mazegger an der Hütte vorüber, die Büchse auf dem Rücken, das bleiche Gesicht tief vorgebeugt und zu Boden starrend wie einer, der etwas sucht, was sich nimmer finden läßt.

Trotz allen Aufruhrs, den Pepperl in seiner getäuschten und bekümmerten Hirtenseele toben fühlte, hatte er doch noch Augen für das schwer Gedrückte, das aus Mazeggers Haltung sprach. „O heiliger Mar’ und Josef! Mir scheint, der spinnt schon wieder … der arme Narr!“ Seufzend und den fremden Kummer nicht minder schwer als die eigene Sorge fühlend, blickte er dem Jäger nach, bis Mazegger zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann schlich er um den Holzstoß herum bis zur Ecke der Hüttenmauer, warf einen spähenden Blick zum Fürstenhaus hinauf und eilte mit langen Sprüngen dem nahen Walde zu.


4.

Förster Kluibenschädl machte am Morgen keine Birsche, nur einen kleinen Waldmarsch gegen Leutasch hinaus, um sich für das Frühstück im Fürstenhaus den schuldigen Appetit zu holen.

Im Hochwald, der das Weidefeld der Hämmermoosalpe umschließt, traf er mit Mazegger zusammen, der gebeugten Kopfes und in Gedanken versunken seines Weges daherkam.

„He! Toni!“

Der Jäger fuhr auf wie ein Träumer, welcher unsanft geweckt wird.

Mißmutig schüttelte der Förster den Kopf. „Ja Toni! Wie schaust denn aus? Ja bist denn du auch noch ein Jager? Wie kannst denn so umeinanderlaufen? Schamst dich denn gar net?“

Mazegger, über dessen bleiches Gesicht eine Spur von Röte huschte, schien nicht recht zu wissen, wie ihm geschah. Er betrachtete seine Büchse – aber die war spiegelblank, ohne ein Flecklein Rost. Er blickte suchend an seinen Kleidern hinunter – aber die waren tadellos sauber.

„Was ist denn?“ murrte er, und seine schwarzen Augen schossen einen gereizten Blick auf den Förster. „Wo fehlt’s denn schon wieder?“

„Dein Hütl schau dir an!“

Toni nahm den Hut ab, und da sah er, daß er von seiner Spielhahnfeder die Sichel verloren hatte.

„Die muß ich mir gestern am Abend abg’stoßen haben! Aber freilich, wenn der Herr Förstner schon wegen so was brummt …“

„So? Meinst? … Gestern verlierst dein Federl, und heut’ laufst umeinander mit ’m Stümperl. Was so was für ein’ Jager bedeut’ … wenn das net begreifen kannst, da thust mir was! Ja! Leid thust mir! B’hüt’ dich Gott!“

Der Förster drehte dem Jäger den Rücken und wanderte durch den Wald hinunter ins Bachthal.

Auf dem Heimweg hörte er aus einem nahen Jungholz die Stimme der Sennerin, welche die Kühe zum Melken eintrieb. Sonst pflegte Burgi bei diesem Geschäft vergnügt zu singen und zu jauchzen; heut’ aber schalt sie mit Zorn und Aerger auf das widerspenstige Vieh.

Das fiel dem Förster auf und er fragte sich: „Was das Madl heut’ nur hat, weil ’s gar so viel ungut thut?“

Als er gegen neun Uhr vormittags die Tillfußer Alm erreicht hatte und ins Försterhäuschen trat, sah er den Praxmaler-Pepperl, mit einem nassen Handtuch um die Stirne, in schwerem Schlaf auf der Matratze liegen.

„No also! Jetzt brummt ihm der Schädl, von der lustigen Nacht! Ja ja, ’s Leben hat halt allweil seine Zwidrigkeiten … und aller Zucker schmeckt ei’m sauer auf d’ Letzt!“

Lautlos, um den stöhnenden Schläfer nicht zu wecken, machte er Toilette zum Frühstück, das heißt, er wischte mit einem Handtuch die Schuhe sauber und bürstete einen Scheitel ins Haar.

Als er hinaufkam ins Herrenhaus, hatte er seine Freude an dem frischen Aussehen des Fürsten, der fest und gut bis in den hellen Morgen hinein geschlafen hatte. Und da gab’s gleich was zu lachen. Denn als der Fürst versicherte, er hätte einen Schlaf gethan wie ein Bauer, fuhr es dem Förster lustig heraus: „Na, hören S’, Duhrlaucht, das is aber doch g’spaßig! Sie sagen: wie ein Bauer! Und unsereiner, wenn er so recht gut g’schlafen hat, unsereiner sagt: heut’ hab’ ich g’schlafen wie ein Fürst!“

Während des ganzen Frühstücks behielt das Gespräch die heitere Stimmung bei, mit der es begonnen hatte, und Ettingen amüsierte sich über all die drollig derben und doch von einem gesunden Kern erfüllten Lebensweisheiten, die ihm dieser rauhborstige Philosoph in der Jägerjoppe zu hören gab.

Gleich nach dem Frühstück machte sich Ettingen fertig für den „Orientierungsmarsch“, der bis zum Abend dauern sollte. Martin war dem Fürsten beim Umkleiden behilflich, und als er ihm gerade die Schuhe zuschnürte, sagte er mit dem süßesten seiner Töne: „Ich bitte um Vergebung, wenn ich Durchlaucht eine Unbehaglichkeit bereite, aber ich sehe mich leider gezwungen, gegen einen der Jäger … ich glaube, er heißt Praxmaler … ernstliche Beschwerde zu führen. Der Mann hat sich gestern in so ungehöriger Weise gegen mich benommen … er hat allerdings die zweifelhafte Entschuldigung, daß er schwer bekneipt war … aber die Art, in der er sich mit mir zu sprechen erlaubte …“

„War jedenfalls begründet!“ unterbrach ihn der Fürst. „Du wirst den Jäger eben gereizt haben … schon gut, schweige nur, ich bin nicht neugierig. Ich kenne dich, mein lieber Martin! Und deshalb sag’ ich dir ein für allemal: Verschone mich hier im Jagdhaus mit solchem Klatsch! Und laß du die Jäger in Ruhe! So … und jetzt kannst du mir meinen Hut bringen.“

Als der Fürst aus dem Jagdhaus trat, stand Kluibenschädl schon wegbereit vor der Thüre, mit der Büchse hinter dem Rücken.

Auf der Schwelle blieb der Fürst eine Weile stehen, blickte lächelnd hinaus in den reinen zauberhaften Glanz des Morgens und drückte tiefatmend die Hände auf die Brust. „Wie schön! Und diese Luft!“

„Ja, gelten S’, bei uns daheroben, da schnauft man sich leicht! Und ein Tagerl is das heut’, das kann sich sehen lassen! Heut’ müssen wir schon ein bisserl wo ’naufsteigen, damit S’ die richtig’ Aussicht kriegen. Ja, gleich da hinter’m Jagdhaus steigen wir ’nauf, da haben wir den schönsten Reitsteig bis zum Steinernen Hüttl!“

Der Fürst blickte auf, als wäre bei diesem Namen eine Erinnerung in ihm wach geworden. „Zum Steinernen Hüttl?“ Er lächelte. „Gut! Steigen wir hinauf!“

Sie verließen den Hof.

„Wohnen Leute dort oben … beim Steinernen Hüttl?“

„Aber freilich! Der Senn und sein Bub’.“

„Sonst niemand?“

„Gott bewahr’!“

„Wirklich? Niemand sonst?“

„Na! Kein Mensch sonst! Es steht ja bloß die einzig’ Sennhütten droben.“

„Aber gestern am Abend, als ich den kleinen Spaziergang machte … ich glaube, es war auf dem Weg zum Steinernen Hüttl … da kam jemand von dort oben herunter.“ Wieder lächelte der Fürst. „Und das war nicht der Senn. Auch nicht sein Bub’.“

„No ja, wird halt ein Tourist g’wesen sein.“

„So? Meinen Sie?“

„Ja freilich! Wissen S’, Duhrlaucht, da droben is ein Uebergangl vom Zugspitz und von der Knorrhütten ’rüber. Da kommen schon diemal Touristen vom Bayrischen her, ja der Weg is net grob und is gut zum gehn.“

„Auch für Damen?“

„Ah ja! Ich bin schon öfters einer begegnet. Und das muß ich sagen: die haben mir allweil g’fallen. Ich bin net gut auf d’ Weiberleut’ z’reden … aber wenn ich merk’, daß eine ihr Freud’ an der lieben Natur und an die Berg’ hat und noch ein bißl was anders versteht als ihr Kuchlg’schäft, da lupf’ ich mein Hütl gar net ungern. Ein bißl G’rechtigkeit muß der Mensch auch bei die Weiberleut gelten lassen, ja!“

Sie waren zum Försterhäuschen gekommen, unter dessen Thüre der Praxmaler-Pepperl stand, mit hängenden Armen und einwärts gedrehten Fußspitzen: das verkörperte schlechte Gewissen. Sein Gesicht war übernächtig und bleich, nur die linke Wange, auf welcher er im Schlaf gelegen hatte, war rot gefleckt. Scheu blickte er seinem Herrn entgegen, und dieser Blick schien in banger Sorge zu fragen: „Bin ich jetzt schon verklampert oder net?“

Lächelnd nickte der Fürst ihm zu. „Ausgeschlafen, Pepperl?“

Diese freundliche Ansprache verwandelte den Jäger in einen anderen Menschen. Seine Gestalt streckte sich, als wäre ihm jählings alle Müdigkeit der durchwachten Nacht aus den Gliedern geblasen, und dunkle Röte schoß ihm übers ganze Gesicht. „G’rad’ hab’ ich noch ein Stünderl nachg’holt,“ sagte er mit verlegenem Lachen, „denn das is wahr, Herr Fürst, … ja, das muß ich sagen … heut’ nacht, mein’ ich, hab’ ich ein bißl z’viel derwischt!“ Und kleinlaut, als bedürfte diese Thatsache doch einer Entschuldigung, fügte er hinzu: „Enker Wein is halt so viel stark! Allweil brummt’s mir noch ein wengerl unter die Haar!“

Das kam so drollig heraus, daß Ettingen laut und herzlich lachen mußte. Da faßte der Jäger Mut. „Wissen S’, Duhrlaucht, beim Sebensee draußen, da steht unser bester Hirsch! Ein Vierzehnerg’weih hat er droben, nix Schöneres giebt’s nimmer auf der ganzen Welt! Heut’ am Abend schau’ ich mir sein’ Auszug an, und wenn er am richtigen Fleckerl steht, so müssen S’ mit, Duhrlaucht, gleich morgen in aller Fruh! Die Freud’, Herr Fürst, daß S’ Enkern ersten Hirsch mit’m Pepperl schießen … die Freud’, die müssen S’ mir machen! Recht schön thät’ ich bitten drum! Gelten S’ ja?“

„Ja, Pepperl! den holen wir uns morgen!“

In der ersten Freude stieß Pepperl einen klingenden Juchzer aus. Dabei fuhr er mit dem Kopf so derb gegen einen vorspringenden Balken der Hütte, daß der Förster rief: „Hö, hö, hö, laß mir doch wenigstens ’s Häusl noch stehn!“

„Ja, schiergar hätt’ ich’s mit umg’rissen,“ meinte Pepperl, rieb sich die Haare und verschwand mit brennendem Eifer in der Hütte.

Als er nach einer Weile, fertig für den Birschgang, wieder aus der Thüre trat, war der Förster mit dem Jagdherrn schon im Wald verschwunden. Lustig blinzelnd lugte Pepperl zum Fürstenhaus hinauf und gewahrte an einem offenen Fenster den Kammerdiener.

„Ja, Mannderl, paß nur auf! Morgen fallt der Vierzehner … nachher kannst mich verklampern, wie d’ magst!“

Schon wollte er mit langen Schritten seinen Weg beginnen. Aber da blieb er erschrocken wieder stehen und sah mit sorgenvollem Blick zur Sennhütte hinunter.

„So, schön! Jetzt bleibt mir das dumme Madl den ganzen Tag ohne B’hütung! Mar’ und Josef, was thu’ ich denn da?“

Aber in dieser Sorge bekam der Praxmaler-Pepperl zu merken, daß es im Himmel einen gütigen Gott und draußen in der Leutasch einen gestrengen Bauern gab, der wöchentlich von der Tillfußer Alm seine zwanzig Pfund Butter sehen wollte.

Denn während Pepperl noch in Gedanken stand, wurde drunten an der Sennhütte die Thüre zugesperrt, und Burgi, mit der hohen, gegen die Sonnenwärme dick vermummten Butterkraxe auf dem Rücken, schritt über das Almfeld hinunter dem Walde zu.

Ein Strahl der Freude leuchtete über das Gesicht des Jägers. „Gott sei Lob und Dank! ’s Madl muß abtragen heut’. Da kommt’s vor Abend nimmer z’ruck,“ so rechnete er in Gedanken, „derweil is der Herr Fürst schon wieder daheim … und da muß er bei der Arbeit sein, der G’schniegelte!“ Mit einem seelenvergnügten Juchzer quittierte er das Ergebnis dieser Rechnung und rief – mit unverkennbarer Schadenfreude im Ton der Stimme – über das Almfeld hinunter: „He! Burgi! Thu’ mir dein’ braven Vattern schön grüßen, gelt!“

Er lachte nur, als die Sennerin sich umblickte, ohne ein Wort zu erwidern. Und mit langen Sprüngen eilte er schräg durch den Wald hinunter.

Es dauerte gar nicht lange, da erschien unter der Thüre des Fürstenhauses der Herr Kammerdiener in weiß und grün gestreifter Hausjacke, eine Cigarette zwischen den Zähnen und ein weißes Hütchen auf dem schön frisierten Kopf. Den Rauch in die Sonne blasend und dazwischen eine Arie aus „Rigoletto“ pfeifend, spazierte er über das Almfeld hin und her; wie im Zufall geriet er vor die Sennhütte – und fand die Thüre verschlossen.

„Fräulein Burgi!“ rief er ganz leise durch die Ritzen der Bretter, „Fräulein Burgi!“

Als er keine Antwort erhielt, wanderte er mit gründlich verstimmter Miene davon. Beim Jägerhäuschen blieb er stehen und blickte durch das offene Fenster.

Drinnen lag Mazegger angekleidet auf dem Bette, das Gesicht in die Arme vergraben.

„Heda! Sie!“

Der Jäger erhob sich. Seine Augen waren heiß gerötet.

„Halten Sie sich fertig bis in einer Stunde. Sie haben einen Brief nach Leutasch zu bringen, der noch heute mit der Post nach Innsbruck muß.“

Mazegger nickte und biß die Zähne übereinander.

Als gält’ es plötzlich ein hochwichtiges und unaufschiebbares Geschäft zu erledigen, eilte Martin ins Fürstenhaus hinauf, holte aus seiner Kammer ein Notizbuch und ein Centimeterband, begab sich in das „Grafenstübchen“ und verriegelte hinter sich die Thüre. Hier saß er eine Weile und betrachtete überlegend den anspruchslos möblierten Raum und die weißgetünchten Wände. Dann maß er alle Mauern und Fenster ab – und begann in sein Notizbuch eine lange Liste zu schreiben:

„1) Zartgeblümte Seidentapete auf mattblauem Fond, für 46 qm Wandfläche; Plafond 16 qm.

2) Für zwei Fenster seidene Gardinen von etwas tieferem Blau; Spitzen als Unterlage; Leisten in Weiß und Silber; Stores in gedämpftem Rosa oder zartem Heliotrop, mit allem Zubehör.

3) Portieren für 1 Thüre, Stoff und Farbe der Gardinen; ohne Spitzen; mit allem Zubehör.

4) Englischer Teppich, 16 qm, 4 zu 4, das Blumenmuster der Tapete entsprechend.“

So schrieb und schrieb er, bis die Liste über fünf Seiten seines Notizbuches ausgewachsen war. Dann verließ er das Stübchen, verschloß die Thüre und steckte den Schlüssel zu sich.

Eine halbe Stunde später trug Mazegger einen Brief davon, der an einen Hotelier in Innsbruck adressiert war. –

Für fünf Uhr nachmittags war das Diner befohlen. Wenige Minuten früher kehrte der Fürst zurück.

Trotz der weiten, siebenstündigen Wanderung, die kreuz und quer durch Wälder und Latschenfelder und über steile Almen gegangen war, verriet seine Haltung keine Spur von Müdigkeit. Sein Gang war strammer und fester als am Morgen, seine Augen hatten Leben und Feuer, die heiße Julisonne hatte ihm das Gesicht verbrannt, daß es glühte – nur die Stirne, soweit sie im Schatten der Hutkrempe lag, war weiß geblieben.

Bei der Ankunft vor dem Fürstenhaus forderte er den Förster auf, die Mahlzeit mit ihm zu nehmen. Dieser dankte verlegen und sagte zu; nur habe er vorher noch mit Mazegger etwas Wichtiges zu besprechen.

Ohne beim Försterhäuschen anzuhalten, ging er auf die Jägerhütte zu; es gewitterte in seinen kleinen Blitzaugen. Als er die Hütte leer fand, lachte er höhnisch auf.

„So so? Net daheim bist? Aber wart’ nur, Bürscherl, auf d’ Nacht, da kommst mir schon!“

Seine üble Laune war auch nicht besser geworden, als er später vom Essen kam und sich vorm Betreten der eigenen Hütte von neuem überzeugt hatte, daß Mazegger nicht daheim war.

In der finsteren Stube hatte er eben das Licht angezündet, da kam der Praxmaler-Pepperl in die Thür gestürmt, atemlos von einem zweistündigen Dauerlauf.

„Herr Förstner! Der Hirsch is heut’ am richtigen Fleckl g’standen … wenn der Herr Fürst morgen in der Fruh mit mir ’nausgeht zum Sebensee, kommt er ihm an auf hundert Schritt’!“

„No also, geh nur gleich ’nauf und thu’s ihm melden!“

Pepperl stellte die Büchse nieder und rannte davon. Als er nach einer Viertelstunde zurückkam, berichtete er mit aller Freude, deren er in seiner Erschöpfung noch fähig war: „Morgen kracht’s! Der Herr Fürst geht mit! Um Zwei in der Fruh wird abmarschiert!“ Er stellte den Wecker, dann stieß er die Schuhe von den Füßen und warf sich völlig angekleidet auf die Matratze. Aber nach einer Minute richtete er sich wieder auf. Droben im Fürstenhaus war ihm der „Schwarzlackierte“ begegnet – und jetzt überfiel ihn der Gedanke an die Sennhütte drunten, an das „dumme unb’hütete Madl“ und an Burgis „armen alten Vattern“, mit finsterer Sorge.

„Sie, Herr Förstner,“ sagte er dann zu seinem braven Vorgesetzten, der sich wieder in das „Geheimnis von Woodcastle“ vertieft hatte, „wenn S’ daheimbleiben, sollten S’ Ihnen doch ein bißl um den Herrn Kammerdiener kümmern.“

„Warum denn?“ klang’s unwillig zurück.

„Mir scheint, er muß ein bißl Langweil’ haben, wenn der Herr Fürst net daheim is.“

„Soll er halt was Vernünftig’s lesen!“

„Plauschen, mein’ ich, thut er lieber!“

„Soll er mit der Köchin plauschen!“

„Oder mit der Burgi? Net?“

„Ja, meinetwegen, mir is alles recht!“

„Aber wissen S’ … der Burgi, mein’ ich … der g’fallt er net recht … die kann die Stadtischen net leiden. Und wann er plauscht mit ihr … ja … da könnt’ s’ ihm leicht ein unb’schaffens Wörtl sagen, das ihn verdrießen muß. Ja … wenn er plauscht mit ihr … ich mein’, da sollten S’ doch dabei sein … damit sich die Burgi ein bißl z’ruckhalt’, Wissen S’!“

„Ja, ja, is schon recht! Laß mich nur jetzt in Ruh’! Und thu schön leuchten, gelt, daß der Herr Fürst net stolpert in der Finstern! Und schau, daß den Hirsch mit heimbringst! Und halt’ dich ordentlich auf der Birsch, gelt, daß d’ mir kein’ Schand’ net machst!“

„Na, na, da wird sich nix fehlen!“

Der Förster war ans Fenster getreten. Da sah er, wie drüben in der Jägerhütte der Lampenschein aufleuchtete. Sofort verließ er die Stube und ging mit langen Schritten hinüber.

Mazegger kniete vor dem eisernen Sparherd, um Feuer anzuschüren.

„Du? Wo warst denn heut’?“

Zögernd erhob sich der Jäger. Er schien es gleich zu merken, daß sich ein Gewitter über ihm entladen sollte. Mißtrauisch betrachtete er den Förster und sagte: „Der Kammerdiener hat mir einen Brief übergeben, den hab’ ich nach Leutasch getragen.“

„So? Da kannst freilich aufs Wild net aufg’schaut haben. Aber was hast denn gestern g’sehen? Auf der Abendbirsch’?“

„Nichts.“

„So? Gar nix? Und draußen im Hämmermoos bist g’wesen?“

Mazegger wandte sich zum Herd und nickte.

Da brach das Gewitter los. „Du Lugenschüppel, du gottverlassener! Ja, schau mich nur an mit dei’m käsigen G’sicht! Ang’logen hast mich wieder! Net wahr is, daß gestern im Hämmermoos draußen warst! Da schau her ...“ der Förster griff in die Joppentasche und warf dem Jäger die Sichel einer Spielhahnfeder vor die Füße, „da hast dein Federl wieder. Am Steig zum Steinernen Hüttl droben hab’ ich’s g’funden. Warum lügst mich denn so an?“

Brennende Röte war über das bleiche Gesicht des Jägers geflogen. Seine Augen funkelten, aber er sprach kein Wort.

Der Förster betrachtete den Burschen vom Kopf bis zu den Füßen. Dabei verrauchte sein Zorn, und er sagte mit ruhigem Ernst: „Toni! Jetzt will ich dir die letzte Verwarnung geben! ’s Lugen, das weißt, ’s Lugen vertrag’ ich net. Alles kann ich ei’m Jager verzeihen, alles ... ein Jager is auch nur ein schwacher Mensch, und dazu noch, wenn’s ein junger is ... alles kann ich ihm verzeihen, aber ’s Maul wenn er aufmacht im Dienst, so muß ich ein wahrs Wörtl hören. Und drum sag’ ich dir’s jetzt, als dein Fürg’setzter: lügst mich noch ein einzigsmal an, so kannst deine sieben Zwetschgen packen ... und b’hüt dich Gott!“

Schweigend starrte der Jäger in die Lampenflamme und nagte an den Lippen.

„So! Und jetzt reden wir noch was anders miteinander ... weißt Tonerl, als Mensch und Mensch.“

Mazegger drehte langsam das Gesicht über die Schulter und seine Augen wurden klein, seine Lippen schmal.

„Ich bin dir gut g’wesen, Toni, wie ich gut bin zu alle Leut´ ... Und schau, gar oft, wenn deine eigensinnigen und gachzornigen Streich’ so g’macht hast, hab’ ich mir ’denkt: trag’s ihm net nach, er is halt verwildert, hat als Kind viel Unglück erfahren ... d’ Mutter hat er hergeben müssen und hat den Vater verloren. Aber wer in verstandsame Jahr’ kommt, sollt dengerst in ihm ein bißl aufrichten können, was bucklet g’raten is. In dir aber, Toni, wachst sich was aus, was mir gar nimmer g’fallt. Und manchmal schaut’s mich an aus deine Augen, daß ich mich fürchten möcht’ ... fürchten um deinetwillen. Und da fallt dir jetzt gar noch so ein Unsinn in’ Kopf und ins Blut ...“

Der Jäger fuhr mit heiserer Stimme auf: „Herr Förster ...“ Drohendes Feuer blitzte in seinen Augen. „Sagen Sie mir meinetwegen als Vorgesetzter, was Sie mir sagen wollen ... das muß ich anhören ... aber was über den Dienst hinaus und mich allein angeht, das bitt’ ich gefälligst in Ruh’ zu lassen!“

„So?“ Dem Förster schwollen an den Schläfen die Adern; doch seine Stimme blieb ruhig. „So sag’ ich dir’s halt im Dienst: mach’ du deine Birschweg’, gelt, und lauf net allweil deiner Narretei nach statt dem Jagdschutz! Meinst denn, ich weiß net, warum mich gestern wieder ang’logen hast und heimlich beim Steinernen Hüttl droben warst? Ich müßt’ ja rein ein’ Eselstritt von einer Hirschfährten net unterscheiden können, ’s Fräul’n Petri wird halt auf der Alm droben g’malt haben, und da bist ihr wieder nachg’stiegen, gelt? Aber ich rat’ dir’s im guten: denk’ ein bißl, wer du bist und wer das Fräul’n is! Ja, schau mich nur an! Und laß mir das Fräul’n in Ruh, das sag’ ich dir ... sonst hast es mit mir z’thun! Brock’ dir du ein Blümerl, das für dich g’wachsen is am Weg ... aber steig mir net über die Gartenzäun’ und streck’ deine Händ’ net aus nach ei’m Sternderl, das am Himmel glanzt.“

Mazegger lachte, und ein häßlicher Zug legte sich um seinen Mund. „Ein Sternderl? So? Ah ja, das is freilich nix für einen, wie ich einer bin. Da muß freilich ein anderer kommen! Ein ganz ein B’sonderer! Vielleicht so einer wie unser gnädiger Herr Fürst! So bieten Sie ’s ihm doch an ... er hat ihr ja gestern eh’ schon nachblinzelt mit seinen hochfürstlichen Augen, der ...“

Weiter kam Mazegger nicht; eine schallende Ohrfeige schnitt ihm die höhnische Rede ab. Einen Augenblick stand er wie versteinert, mit aschfahlem Gesicht – dann sprang er wie ein wütendes Raubtier dem Förster an den Hals. Der wankte unter der Wucht, mit der sich der Jäger auf ihn geworfen hatte. Aber seine Füße fanden wieder den Halt.

„Du! ... Du! ... So einer bist du! So einer!“ keuchte er.

Dann rangen sie miteinander, stumm, und es gehörte die ganze zähe Kraft dieses schweren Mannes dazu, um die Fäuste von sich abzuwehren, die wie eiserne Klammern seinen Hals umschlossen hielten. Ein Ruck, und der Förster hatte Luft bekommen – ein kräftiger Schwung seiner stählernen Arme, und Mazegger taumelte gegen die Wand.

„So, du!“ Schwer atmend brachte Kluibenschädl den aufgerissenen Hemdkragen wieder in Ordnung. „Jetzt sind wir fertig miteinander, wir zwei! Ueber vier Wochen such’ dir ein’ anderen Dienst! Müßt’ ich mich net schenieren, daß ich dem Herrn Fürsten den Grund sag’, so thät ich dich heut’ auf d’ Nacht noch davonjagen. Aber dem Herrn Fürsten z’lieb soll’s heißen, daß d’ selber ’kündigt hast! Verstehst? Und jetzt Gut’ Nacht! Und solang ’s Fräul’n am Sebensee draußen is, gehst mir nimmer ’naus ... das sag’ ich dir!“ Er drehte dem Jäger den Rücken und schritt zur Thüre.

Leichenblaß und zitternd an allen Gliedern starrte Mazegger ihm nach – und als der Förster schon in der Thür verschwinden wollte, riß der Jäger das Messer von der Hüfte und hob es zum Stoß. Er machte auch einen taumelnden Schritt. Aber dann sank ihm der Arm. Er schleuderte das Messer fort und preßte die zitternde Hand an seine Stirn.

Das hatte der Förster nicht mehr gesehen. Er stand schon draußen in der Nacht. Unschlüssig blickte er zum Fürstenhaus hinauf, an dem alle Fenster hell in den dunklen Abend hinausleuchteten. Ob er nicht doch seinem Herrn den Vorfall melden sollte? Aber er schüttelte den Kopf zu diesem Gedanken und ging in seine Hütte.

[69]
5.

Vor dem Jagdhaus droben wartete Pepperl pünktlich des Morgens um Zwei mit der Laterne, bis der Fürst aus der Thüre trat.

„So, da bin ich, Praxmaler! Es scheint, wir werden gutes Birschwetter haben.“

„Ein’ Morgen, Duhrlaucht, wie er net schöner sein könnt’.“

Martin war hinter dem Fürsten in der Thür erschienen und fragte:

„Bis um welche Stunde werden Durchlaucht zurück sein?“

„Das weiß ich nicht. Pepperl, was meinen Sie?“

Pepperl zog diplomatisch die Achseln auf und schmunzelte, wie man bei einem glücklichen Einfall lächelt. „Ja mein, da wird sich was G’naus net sagen lassen … Jagd is Jagd, da kann’s gehn, wie’s mag … es kann lang dauern, aber wir können auch in aller Fruh schon wieder daheim sein. Ja, Herr Kammerdiener … rühren S’ Ihnen nur net weg von Ihrem Posten, damit S’ net am End den Herrn Fürsten verpassen, wann er gahlings heimkommt. So, und jetzt geben S’ mir Ihr Büxl, Duhrlaucht … mit’m Bergstecken allein, da marschieren S’ Ihnen leichter! So … hab’ die Ehre, Herr Kammerdiener!“

Sie wanderten hinaus in die Nacht, Pepperl mit der gesenkten Laterne voran, und hinter ihm der Fürst, der zu Anfang etwas unsicher ging auf dem holprigen Weg, über den die schwankende Laterne ihren trüben, gaukelnden Schimmer warf. Aber es währte nicht lang’, und das Auge des Fürsten hatte sich an die Dunkelheit gewöhnt, sein Schritt an den rauhen Pfad.

„Sie können die Laterne löschen,“ sagte er, „dieses unruhige Licht stört mich nur … und ich hab’ es so gerne, in der Nacht zu gehen.“

Pepperl blies die Kerze aus, verbarg die Laterne in einem Busch und ließ seinen Herrn vorangehen auf dem Weg, der sich in dem nächtigen Walde mit mattem Grau von dem schwarzen Rasen abhob. Ein paarmal versuchte der Jäger ein Gespräch in Gang zu bringen. Da aber der Fürst, in Gedanken versunken, nicht zu hören schien, gab Pepperl schließlich diese Versuche auf. So wanderten sie stumm dahin, der kaum merklich steigenden Thalsohle folgend.

Die Nacht war schön und windstill; bald laut, bald wieder leiser werdend plauderte der Wildbach wie im Halbschlaf, in tiefer Schwärze stieg der schweigende Wald bergan, und über den grau verschwommenen Wänden funkelten am stahlblauen Himmel die zahllosen Sterne. Die Milchstraße, welche draußen in der dunstigen Ebene auch in hellen Nächten nur

matt erkennbar ist, schlängelte sich über den Sternenhimmel hin wie ein lichter Silberstrom, unterbrochen von schwarzen Inseln. Zuweilen ging ein sanftes Hauchen durch die finsteren Bäume – es währte nur kurz und schwieg dann wieder – als hätte die Natur im Schlummer wohlig aufgeatmet. Und wenn es kam, dieses kurze linde Hauchen, trug es von den Almen den Wohlgeruch der Brunellen ins Thal herunter, einen süßen Duft, der an köstliches Gewürz erinnerte. Wie schön war diese Nacht! Eine von jenen wundersamen Sommernächten, deren Schönheit dem lauschenden Wanderer in die Seele raunt: ich will dich vorbereiten auf den kommenden Tag, dessen Sonnenzauber und lichte Wunder du schon ahnen sollst, wenn noch der Sammetmantel meiner Schatten dich umschmiegt.

Immer wieder verhielt Ettingen die Schritte, stand regungslos auf den Bergstock gestützt und lauschte hinein in das nächtliche Schweigen des Waldes.

„Wie schön! Und diese Ruhe!“ Als er leis diese Worte vor sich hin murmelte, zuckte es über die langen Bergwände der Munde wie ein falbes Leuchten. Das währte nur einen Augenblick, doch alle Farben des Waldes, der Felsen und Almen erwachten in dieser Sekunde, um mit der nächsten wieder in Schlaf und Finsternis zu versinken.

„Was war das? Der Himmel ist klar …“

„Weit draußen im Flachland muß ein Wetter stehn. Da draußen hat’s ’blitznet … das war der Widerschein.“

Ettingen lauschte, als müßte er den fernen Donner hören. Doch in den sternfunkelnden Lüften blieb’s still und ruhig.

Er lächelte. „Sturm und Wetter da draußen … und hier die Ruhe! Das Schweigen im Walde!“

Sie schritten weiter.

Zwei Stunden waren sie fast gewandert, und über den östlichen Bergen begann sich schon der Himmel zu lichten, als ihnen durch den Wald, in welchem der Weg immer steiler wurde, leichte Nebelschleier langsam entgegenschwebten.

„Das Wetter von da draußen schickt seine Vorreiter in die Berge herein,“ sagte Ettingen, „der Tag wird trübe werden.“

„Gott bewahr’, Duhrlaucht … ein’ schönern Tag haben S’ noch nie net g’sehen! Der Nebel da, das is ja bloß der Seedampf. Wissen S’, zwischen die gachen Felsen droben, da liegt viel Firnschnee umeinand’, da bleibt auch im heißen Sommer d’ Nacht schön frisch … und in der Fruh, da fangt der Sebensee allweil zum rauchen an. Das muß so sein, das is ’s beste Wetterzeichen.“

Es währte nicht lang’, und sie waren völlig eingehüllt von den ziehenden Dämpfen. Man konnte auf zwanzig Schritte kaum noch einen Baum unterscheiden. Daß in den Lüften der Tag erwachte, sah man nur an dem Grau des Nebels, das immer lichter und lichter wurde.

„Wie lange haben wir noch zu steigen?“ fragte Ettingen.

„Ein Viertelstünderl noch … da is schon der See.“

Aber vom See war keine Spur zu gewahren. Nur ein paar grobe Felsblöcke des Ufers hoben sich in dem weißlichen Rauch mit verschwommenem Dunkel ab, man hörte das leise Geplätscher, mit dem das Wasser die Steine umspülte, und tief aus dem Ehrwalder Thal herauf summte das Brausen des Wasserfalles, der den Abstrom des Sees hinunterwarf über turmhohe Wände.

Der Pfad stieg immer mehr und verlor sich in ein steiles Latschenfeld. „Jetzt müssen wir schon die Füß’ ein bißl in acht nehmen. Weit haben wir nimmer zum Hirschen.“

Lautlos kletterten die beiden Jäger zwischen den Latschen hinauf. Je höher sie kamen, desto häufiger schüttelte Pepperl in Unruh den Kopf: der Nebel wollte nicht weichen.

Sie hatten im steilen Latschenfeld einen Rasenbuckel erreicht, als Pepperl seufzend im Klettern innehielt. „Jetzt können wir nimmer weiter! Der Hirsch muß wo umeinanderstehn auf den schönsten Schuß. Was machen wir jetzt? Wenn nur der Teufel gleich den ganzen Nebel kreuzweis reiten möcht’!“

Als wäre der fromme Wunsch des Jägers an die richtige Adresse geraten, so fuhr im gleichen Augenblick ein scharfer Windstoß über das Latschenfeld herunter und riß die wallenden Schleier entzwei.

„Mar’ und Josef!“ stotterte Pepperl. „Duhrlaucht … der Hirsch!“

Kaum hundert Schritte von den Jägern entfernt, kam der Hirsch gemächlich durch die Latschen gezogen und gabelte mit dem mächtigen Geweih wie spielend in die Büsche. Doch ehe Praxmaler die Büchse spannen und dem Fürsten reichen konnte, war der Nebel schon wieder zusammengeflossen, alles grau verhüllend.

Pepperl zitterte vor Aufregung an allen Gliedern und flüsterte: „Teufi, Teufi, Teufi, jetzt is g’fehlt! Jetzt hat er uns aber gleich im Wind … und nachher b’hüt’ dich Gott, Hirscherl!“

Aber da hörten sie in nächster Nähe das Brechen von Zweigen und den Schritt des Wildes. Wie ein großer, grauer Schemen tauchte dicht vor ihnen der Hirsch im Nebel auf – nun verhoffte er und wandte sich zur Flucht – aber da krachte auch schon der Schuß. Im Nebel war der Hall der Büchse dumpf und kurz, man hörte kein Echo, nur ein mattes Gepolter im Geröll, über welches der Hirsch gegen das Seethal hinunter flüchtete. Dann Stille.

Dem Praxmaler-Pepperl klopfte das Herz, daß man es hören konnte wie dumpfen Hammerschlag. Und die Hände um die Ohren höhlend, lauschte er thalwärts, als müßte er den Sturz des Wildes hören.

Scharf blies der Wind von den Felsen nieder. Der Nebel kräuselte sich um die Büsche und flatterte, er wurde lichter und lichter, und in der Höhe begann es schon zu schimmern wie mattes Blau und wie ein Rätsel des Sonnenglanzes. Da rissen die Schleier entzwei – wie sich ein Vorhang teilt, der ein heiliges Wunder verhüllte – leuchtende Matten sah man, ein steiles Latschenfeld in blauem Schatten, hier eine graue Wand und dort eine Reihe scharf geschnittener Spitzen, rosig angeflogen vom Schein der Morgensonne. Nur wenige Minuten, und die Höhe, auf der die Jäger ruhten, war völlig nebelfrei. In schweigender Größe dehnte sich rings um sie her die Felsenwildnis, in mächtigem Halbkreis umzogen von starrendem Gewänd – ihnen zu Füßen lag der Nebel ausgegossen, flach und weiß wie Milch, und drüben stiegen aus dem Meer dieser silbernen Dünste die Steinkolosse der Wetterschrofen auf, über deren wild zerrissenen Grat die goldleuchtenden Schneeferner der Zugspitze herüberblinkten. Schon sah man die Ehrwalder Alm, auf der sich mit dem fernen Gebrüll der Rinder die jauchzende Stimme eines Hirtenbuben mischte – schon stachen die Wipfel des Sebenwaldes schlank und spitz aus dem Nebel heraus – noch eine kurze Weile, und aus den in Luft und Sonne zerfließenden Dünsten leuchtete ein stilles grünes Wasserauge aus der Tiefe herauf: der Sebensee, ein kreisrundes Felsenbecken, erfüllt mit einer Flut von krystallener Klarheit. Steinfelder und flache Almgehänge umsäumten auf der einen Seite den See, und auf der anderen wurde sein Ufer gebildet durch mächtige Felsklötze, durch schroffe Wände und steile Latschenbeete, zwischen deren vereinzelten Zirbenbäumen und Fichten das Schindeldach einer kleinen Hütte leuchtete.

„Solch einen Morgen zu sehen … ist das nicht schöner als alle Jagd?“

Zum Glück für den weidmännischen Respekt, den ein Jäger vor seinem Jagdherrn haben soll, überhörte Pepperl diese stille, lächelnde Weisheit. Denn ehe der Fürst noch ausgesprochen hatte, war Praxmaler aufgesprungen, als hätte er plötzlich bemerkt, daß er auf glühenden Kohlen säße.

„Mar’ und Josef! Duhrlaucht! Der Hirsch! Da drunten liegt der Hirsch!!“ Die Freude schien Pepperl in einen Wahnsinnigen verwandelt zu haben. „Jesses Maria! Da liegt der Hirsch! Da liegt er ja! Da liegt er! Da liegt er!“ Ein Juchzer, daß alle Wände widerhallten von diesem jubelnden Schrei – und in der einen Hand den Bergstock, in der anderen die Büchse schwingend, sprang Pepperl über Büsche und Geröll hinunter, daß es anzusehen war, als müßte er sich bei jedem Sprung überstürzen, um Hals und Beine zu brechen. Jetzt verschwand er in den Latschen, doch ein heller Juchzer kündete, daß er mit gesunden Gliedern den Hirsch erreicht hatte.

Nun stieg auch Ettingen hinunter, und als er die Mulde betrat, in welcher der Hirsch, mit der Kugel im Herzen, verendet niedergebrochen war, kam ihm Pepperl schon entgegen, mit einem Sträußlein blühender Almrosen in der zitternden Hand. Die Augen des Jägers blitzten vor Freude, seine Wangen glühten vor Erregung. „Gratalier’, Herr Fürst! Gratalier’ zum ersten Hirsch bei uns daheraußen! Da kommen S’ her! Da, schauen S’ ihn an! Was das für ein Hirsch is! Ein G’weih hat er droben …. Teufi, Teufi, Teufi, is das ein G’weih! Und den Schuß, den er hat! Im Nebel ein’ so ein’ Schuß machen … wie ’nauf’zirkelt aufs Blatt! Gelten S’, Duhrlaucht … gelten S’, der freut Ihnen? Gelten S’ ja? – Und schauen S’, Duhrlaucht … weil S’ jetzt g’rad’ die schönste Freud haben … jetzt muß ich aber auch gleich was ’raussagen! Gestern auf d’ Nacht, Duhrlaucht … meiner Seel’, es is wahr: da hab’ ich mich schon schauderhaft aufg’führt! Ein’ Rausch hab’ ich g’habt, daß ich mich selber schenier’! Und … und im Rausch … no ja, da bin ich halt mit ’m Herrn Kammerdiener z’samm’g’wachsen und hab’ ihm schieche Sachen ins G’sicht ’neing’sagt … schieche Sachen, ja, Duhrlaucht, schieche Sachen!“ Er schnaufte, wie ein von schwerer Bürde Erlöster. „Jetzt is ’s heraußen! Gott sei Dank!“ In Zerknirschung blickte er an seinem Herrn hinauf. „Ich bitt’ schön, Duhrlaucht … thun S’ mir halt gnädig verzeihen! G’schehen soll’s nimmer … da leg’ ich mein’ Hand dafür ins Feuer! Thun S’ nur halt verzeihen! Gelten S’, ja?“

Lächelnd hatte Ettingen die so stürmische und bei all ihrem Ernst so drollig wirkende Beichte angehört. Nun klopfte er den Jäger freundlich auf die Schulter und sagte: „Ja, Pepperl, die Sünde soll vergeben und vergessen sein! Aber seien Sie klug und nehmen Sie ein andermal Ihren Durst in festere Zügel! Ja? Und nun sagen Sie mir … hat Ihnen Martin Ursache gegeben, daß Sie grob gegen ihn wurden?“

Eine dunkle Blutwelle schoß dem Jäger ins Gesicht, aber er sagte entschieden: „Na na, Duhrlaucht, g’wiß net! Der ang’fangt hat, der bin schon ich g’wesen!“ Ein Glück, daß sich Ettingen zu dem erlegten Hirsch wandte, um das Geweih zu betrachten – denn länger hätte Pepperl den forschenden Blick seines Herrn wohl kaum ertragen, ohne in ernstliche Verlegenheit zu geraten. Nun aber, da ihm Ettingen den Rücken kehrte, atmete er erleichtert auf, kreuzte die Fäuste über der Brust und that einen dankbaren Blick zum Himmel wie einer, der sagen will: „Gott sei Dank, jetzt bin ich wieder g’sund!“ Dann warf er die Joppe ab und zog das Jagdmesser, um an dem erlegten Hirsch das weidmännische Handwerk zu üben.

„Das seh’ ich nicht gerne,“ sagte Ettingen „bei dieser Arbeit laß ich Sie lieber allein. Ich steige zum See hinunter und warte dort, bis Sie nachkommen.“

Die Büchse zurücklassend, folgte er einem Almensteig, der in Windungen durch das Latschenfeld zum Seeufer hinunterführte.

Als er zu den lichter stehenden Bäumen kam, vernahm er den süßen Schlag einer Ringdrossel. Er lächelte. Der zärtliche Vogelschlag erweckte in ihm die Erinnerung an jenen ersten Abend – an jene seltsame Begegnung im schweigenden Walde.

In Gedanken versunken folgte er dem Pfad und blickte erst wieder auf, als er den See erreichte. Still und schimmernd lag die grüne Flut zu seinen Füßen, durchsichtig wie Glas … die glatte Oberfläche war durchzogen von langen Silberstrichen und spiegelte mit reinen Linien und grün behauchten Farben alle Felsblöcke des Ufers, die Bäume und einen sonnbeglänzten Berg. Durch eine tiefgeschnittene Bergscharte blickte schon die Sonne herein ins Seethal und durchleuchtete am Ufer einen breiten Streif des Wassers. Große Forellen, die dem Licht und der Wärme nachgezogen waren, sonnten sich hier am Ufer und standen so dicht am Spiegel, daß ihre sacht spielenden Rückenflossen halb aus dem Wasser ragten.

Ettingen blickte auf; er hatte bei diesem Schauen und Schlendern am Ufer den Pfad verloren und konnte nicht mehr weiter. Ein hoher, überhängender Felsen stieg vor ihm aus dem Wasser auf und versperrte den Weg. Aber die Nische, die der mächtige Steinblock bildete, bot ein liebliches Plätzchen zum Rasten – und das mußte auch schon ein anderer gefunden haben, denn unter dem Fels war eine Bank aus Steinen zusammengetragen und mit Fichtenzweigen und Moos belegt.

Er ließ sich nieder, und während er träumend in die stille grüne Flut blickte, spann er heiteren Sinns die Gedanken weiter, die ihn begleitet hatten, seit er den Schlag der Drossel vernommen.

Und seltsam! Wie eine Erinnerung sich nur so lebhaft vor den Augen gestalten kann? Er glaubte wirklich zu sehen, was er dachte – als wär’ es aus seiner Seele herausgetreten in die Luft, vor seinen Füßen versunken im See! Ganz deutlich sah er es, wie zum Greifen wahr – das schöne „Schweigen im Walde!“ Zwischen dem Spiegelbild der Alpenrosen, die über den Saum des Felsens niederhingen, sah es aus dem Spiegel der Flut zu ihm herauf wie ein stilles ernstes Nixengesichtchen mit großen klugen Augen! Die lockig aufgelösten Haare, die das Gesicht umschwankten, schienen in der grünen Flut zu schwimmen und aus der Tiefe heraufzustreben. Da kam eine Hand und strich die Locken zurück – im gleichen Augenblick verschwand das Gesicht, und jählings erweckt aus seiner träumenden Märchenstimmung, fuhr Ettingen betroffen auf. Nicht seine eigenen Gedanken hatte er gesehen, sondern ein Spiegelbild der Wirklichkeit – und als er hinaufspähte zum Rand des Felsens, hörte er das Rieseln kleiner Steine und einen leichten Schritt, der sich entfernte. Dann war wieder Stille. Von den überhängenden Büschen flatterten ein paar Almrosenkelche wie rote Käferchen durch die Luft und fielen in die Flut.

„Das schöne Wunder geht um … auf jedem meiner Wege!“ murmelte Ettingen vor sich hin und wanderte am Ufer zurück, um den verlorenen Weg zu suchen.

Endlich fand er ihn. Er zog sich steil durch die Latschen hinauf, wo er zur Höhe des überhängenden Felsens führte. Aber da versperrte ihm eine lebendige Barriere den Weg – ein Esel, der von den dürren Aesten einer altersmüden Fichte die zarten Fäden der Bartflechte herunterschmauste.

„So? Bist du auch da? Guten Morgen!“ Ettingen streckte die Hand, um das Grautier zu locken. Aber der Esel machte scheue Augen, schüttelte trutzig die langen Ohren, schlug mit den Hinterfüßen aus und sauste durch die Latschen gegen den See hinunter.

Lachend sah ihm Ettingen nach. „Höre, du! Wenn deine märchenhafte Herrin nicht freundlicher ist …“

Ueber den Zweigen einer Erlenstaude sah er ein dunkelblaues, noch feuchtes Schwimmkleid und einen weißen Bademantel zum Trocknen ausgebreitet.

Besonders empfindlich und sehr verzärtelt war sie also gewiß nicht, diese schweigsame Waldfee! An solch einem frischen Bergmorgen in 1600 Metern Höhe ein Seebad mit zehn Grad Reaumur … das war ein etwas gruseliges Vergnügen, gegen das sich unter Umständen auch eine ganz gesunde Männerhaut energisch wehren konnte! Und nun gar solch ein knospenhaftes, zierlich schlankes Ding, das die Zwanzig noch kaum überschritten hatte. Schon überschritten? Nein! Aus diesen großen, ruhigen Augen blickte wohl ein klarer Lebensverstand, wie ihn frühe Jugend nicht besitzt – doch diese schmalen Wangen hatten etwas kindlich Unentwickeltes, auf diesen schönen strengen Lippen lag’s wie ein Hauch der unberührten Reinheit, aus ihnen redete eine stille heitere Mädchenseele, die gewiß nur Sonne erlebt hatte, keinen Sturm und Schmerz!

Wer sie wohl sein mochte? Und was suchte und trieb sie hier? Daß sie die Natur liebte, sich selbst genug war und sich wohl fühlte in der Einsamkeit – das war ein gutes Zeugnis für ihre Herzens- und Geistesbildung. Denn wer die Welt nicht nötig hat, ist immer reicher als die Welt – und die Einsamkeit verträgt nur jener, der sich selbst in jeder Stunde etwas zu sagen hat.

Wer sie war? Vielleicht die Tochter stadtmüder Leute, die dort unten im Ehrwalder Thal ihre Sommerfrische genossen? Nein! Wenn sie noch Eltern hätte – die würden ihrem Kinde solche Freizügigkeit nicht gestatten, auch nicht einem Kinde, das neben eigenen Gedanken auch Mut und eigenen Willen hat – denn Mut gehörte dazu, wenigstens für ein Mädchen, so einsam in menschenferner Felsenwildnis zu hausen. Aber wo hauste sie?

Aus dem dichten Latschenfeld war Ettingen auf ein freies, nur von wenigen alten Wetterfichten durchsetztes Plateau getreten, das einen weiten, herrlichen Ausblick bot über den See und gegen das Gaisthal hinaus, über den Sebenforst und das Ehrwalder Thal. Inmitten des Platzes erhob sich ein kleines Blockhaus, aus dessen eisernem Kaminrohr sich dünne, milchblaue Rauchwölklein emporkräuselten in die sonnige Morgenluft. Ueberall an den Balken der Hütte schlangen sich dichte Epheuranken bis unter das vorspringende Dach, bildeten über der halb offenen Thür eine kleine Laube und ließen von den Holzwänden nicht viel mehr gewahren als die beiden kleinen, mit grünen Läden versehenen Fenster, hinter deren blanken Scheiben rote Vorhänge schimmerten. Neben der Thüre zog sich an der Wand eine Holzbank hin, auf welcher eine Messingpfanne zwischen hölzernen

Tellern und weißem Theegeschirr zum Trocknen in der Sonne stand. Ein roh gezimmerter Stangenzaun, an welchem eine schon dicht verwachsene Zeile junger Fichtenbäumchen angepflanzt war, zog sich im Geviert um die Hütte und umschloß einen kleinen sorgsam gepflegten Garten, der sich mit seinen grünen Rabatten, mit seinen leuchtenden Blumenbeeten und seinen weißen, kiesbestreuten Wegen gleich einer lieblichen und wundersamen Oase von der wilden Unkultur der Umgebung abhob. Aber auf diesen Beeten blühte keine der Zierblumen, wie sie in den Gärten des Thales heimisch sind – eine kundige Gärtnerhand hatte hier gesammelt und durch Pflege veredelt, was zwischen der Waldgrenze und den Schneefeldern der Berge an Blumen gedeiht. Neben feurigen Alpenrosen schimmerten die blauen Glocken des Enzian, Speik und Edelraute blühten neben dem Almrausch, dessen zarte, rosige Dolden schon zu verwelken begannen, Mardaun und Brunellen neben Arnika und zierlichen Orchisarten, und ein aus Felsen aufgebauter Hügel trug in seinen mit Erde ausgefüllten Spalten die kleinen blaßgrünen Stauden des Edelweiß, dessen Stöcke, nach den frischen saftigen Blättern zu schließen, hier gut zu gedeihen schienen, obwohl sie ohne Blüten waren. Die Farben all dieser seltenen Bergblumen, die hier in so reicher Fülle auf einem winzigen Flecklein Erde gesammelt waren, hatten etwas Ungewöhnliches und Seltsames, und zu diesem überraschenden Anblick gesellte sich der fremdartige, süße Duft, den diese blühenden Beete in den reinen Morgen hauchten.

Ein einziger Baum nur stand im Garten, in einer Ecke des Zaunes. Und der wunderliche Wuchs dieses Baumes stimmte zu allem übrigen, als hätte ihn die romantische Laune eines Künstlers unter Tausenden ausgewählt und hierher gestellt, um den ungewöhnlichen Eindruck dieses ganzen Gartenbildes noch zu erhöhen. Es war kein Baum – es waren sieben Bäume in einem: eine uralte riesige Zirbe, auf deren harfenförmig ausgebogenem Hauptstamm sieben senkrecht nebeneinander aufsteigende Aeste sich zu starken Stämmen ausgewachsen hatten. Der Baum war anzusehen wie eine gewaltige grüne Leier. Und diese Leier klang auch! Wenn der sachte Wind die Aeste bewegte, ging ein tiefes lindes Rauschen durch die zottigen Nadelbuschen, und mit diesem Grundton klangen leise feine Glockenstimmchen zu einem weichen, traumhaften Accord zusammen.

Verwundert – so recht wie einer, der im Märchen die Pforte einer verzauberten Stätte betritt – zur Neugier gereizt und doch von einer seltsamen Scheu zurückgehalten, stand Ettingen vor der Umfriedung des Gartens. Bald glitt sein Blick über die stillen Blumen hin, bald suchten seine Augen in den Wipfeln des Harfenbaumes die tönenden Glöckchen, bald wieder musterte er die Hütte und spähte nach Thür und Fenstern.

Er lächelte. „Hier muß es wohnen … mein Märchen!“

Und da kam es auch schon gegangen – drüben, auf der anderen Seite des Gartens, vom See herauf. Aber es kam nicht schwebenden Schrittes, nicht mit dem Lilienstab, so gar nicht märchenhaft, sondern festen Ganges, gut ausholend bei jedem Schritt, und während sie den linken Arm, um das Gleichgewicht zu halten, seitwärts streckte, trug sie in der rechten Hand eine große, wassergefüllte Gießkanne, deren schwere Last jede Linie dieses geschmeidigen Mädchenkörpers straffer spannte – ein Bild gesunden, jugendfrischen Lebens, kraftvoll und schön zugleich.

Auch anders gekleidet war sie als an jenem Abend im schweigenden Walde. Sie trug eine helle Bluse aus leichtem Flanell und dazu einen glatt fallenden braunen Lodenrock, unter dessen Saum noch ein Stücklein jener grauen Wollstutzen zu sehen war, wie die Sennerinnen sie bei der Arbeit zu tragen pflegen. Das reiche Haar, das nach dem Bade noch nicht völlig getrocknet schien, fiel ihr mit wirrem Geringel über Nacken und Schultern bis auf die Hüften nieder, und die um Stirn und Schläfen sich kräuselnden Härchen leuchteten in der Sonne so goldig, daß der ganze schöne Mädchenkopf wie von einem zitternden Schimmerkranz umgeben war.

Als sie mit dem Knie das Gartenthürchen vor sich aufstieß, gewahrte sie drüben am Zaun den ihrer harrenden Gast. Kaum merklich zuckte es um ihre Lippen, als hätte sie in Gedanken zu sich gesagt: Das ist er wieder, der von neulich, aus dem Gaisthaler Wald!

Ettingen lüftete das Hütchen. „Guten Morgen, mein Fräulein!“

Schweigend dankte sie, wohl freundlich, aber doch nicht anders, als man auf der Straße den höflichen Gruß eines Fremden erwidert.

„Und wollen Sie einem müden Sterblichen erlauben, daß er Ihren blühenden Zaubergarten betritt, um eine Minute zu rasten … dort, unter Ihrem singenden Baum?“

Nun blickte sie auf, und eine Furche lag zwischen ihren Brauen. Hatte ihr seine Frage wie Spott geklungen? Oder wie die banale Redensart eines Zudringlichen? Doch als ihr Auge dem seinen begegnete, glättete sich ihre Stirn und sie sagte ruhig:

„Treten Sie nur ein … dort das Thürchen hat keinen Riegel. Man sieht Ihnen ja an, daß Sie heute schon einen Weg hinter sich haben, der Ihnen warm gemacht hat. Dort bei der Zirbe finden Sie eine Bank … die hat Schatten.“

Während sie das sagte, ging sie auf die Hütte zu. Nun stellte sie die Kanne nieder und verschwand in der Thüre.

Welch einen weichen, traulichen Klang ihre Stimme hatte! Und wie diese paar Worte so einfach und natürlich hingeplaudert waren! Ettingen verwandte die Augen nicht von der Thüre, während er raschen Ganges die Fichtenhecke umschritt und den Garten betrat. Gerne hätte er einen Blick in das Innere der Hütte geworfen, aber die Thüre war zugelehnt. Einem der weißen Kieswege folgend, ging er auf die Zirbe zu, in deren Schatten er einen schwer gezimmerten Holztisch fand und eine aus bizarr gewachsenen Latschenzweigen geformte Bank, deren Holz unter dem Schnee vieler Winter schon völlig schwarz geworden war.

An diesem Tische mußte schon manch ein müder Wanderer gerastet haben, denn zahlreiche Buchstaben, ganze und halbe Namen, Jahreszahlen und absonderliche Zeichen waren in die morsche Tischplatte eingeschnitten. Auch der breite Stamm des Harfenbaumes war übersät mit solchen Zeichen, alten und neuen, unter denen eine Reihe von Einschnitten, die in der Mitte des Baumes regelmäßig übereinander angebracht waren, eine Art von Hausherrenrecht auf dieser Rinde zu beanspruchen schien. Da stand zu oberst in der Reihe: „LOLO, aetatis suae XIV – PAPA, aetatis suae XLV[1] – dabei eine Jahreszahl, und diese Zeichen waren umzogen von einer tief eingeschnittenen Herzlinie mit einer Flamme. Diese Inschrift war sieben Jahre alt – die Schnitte begannen schon in der Rinde zu vernarben. Darunter standen noch, ersichtlich von der gleichen Hand geschnitten, die Zahlen von fünf aufeinander folgenden Jahren, und die letzte dieser Zahlen – sie schimmerte noch weiß im Holz und hatte erst einen einzigen Winter überstanden – war umgeben von einem Kränzlein frischer Alpenrosen. Das berührte, als hätte die Spenderin dieser Blumen sagen wollen: „Du letztes Jahr! Wie warst du schön! Ich werde dich nie vergessen! Nie!“

Nachdenklich, von seltsamer Stimmung umfangen, betrachtete Ettingen diese Zeichen und Blumen, während ihm zu Häupten der Wind durch die buschigen Zweige der Zirbe strich und leis die melodischen Glockenstimmchen tönen machte.

„Lolo? …. Ob das ihr Name ist?“ …. Dann hatte ihr Vater dieses kleine Paradies geschaffen, hier in der einsamen, friedlichen Wildnis der Berge? Und mit ihrem Vater lebte sie hier? Sieben Sommer? Sieben schöne Sommer, so schön und reich, daß ihre Freude sich in die Rinde dieses Baumes grub, um ein Zeichen der Dauer zu haben? – Und weshalb war dieses jüngste Jahr noch nicht eingeschnitten? Zählte es nicht mehr?

Oder war die Hand erkaltet, welche diese anderen Zeichen eingegraben? Hatte sie den Vater verloren im vergangenen Jahr? … Deshalb diese Blumen um die letzte Zahl?

Da weckte ihn ein leises Klirren aus seinen Gedanken.

Drüben, beim Blockhaus, ging das Mädchen langsam an der die Holzwand säumenden Rabatte entlang, um den Epheu zu begießen. Er hatte überhört, daß sie aus der Hütte getreten war. Und nun trug sie die Haare aufgesteckt, nur lose über dem Scheitel zu einem Knoten geschlungen, aber das stand ihr fast noch besser zu Gesicht als das offene ungezügelte Gelock. Wie der Knoten die Fülle des Haares nicht bändigen wollte, wie die kleinen widerspenstigen Ringeln sich lösten und bei jedem Schritt um Stirn

  1. Lolo, im 14., Papa, im 45. Lebensjahre.
und Schläfen zitterten gleich zartem Goldgespinst – wie entzückend das anzusehen war!

Sie hatte die letzten Wassertropfen über den Epheu gesprengt und stellte die Kanne nieder, um einige der langen Grasschmehlen zu brechen, die bei der Hecke wuchsen. Achtsam zog sie die zarten Halme durch die Finger, um sie geschmeidig zu machen, und begann mit ihnen die herabhängenden Epheuranken an der Hüttenwand aufzubinden.

„Wie gut Sie das verstehen!“ sagte Ettingen. „Als ob Sie eine gelernte Gärtnerin wären!“

„Ach, nein! Meine Gärtnerkünste sind recht bescheiden. Zu Hause, in unserem Gemüsegärtchen, da ist mir die Mutter bei weitem über. Aber hier, was der kleine Garten da verlangt, das hab’ ich gelernt in sieben Jahren. Ja, das versteh’ ich.“ So plauderte sie, einfach und ruhig, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen – als spräche sie zu einem, den sie lange kannte, oder als läge es nicht in ihrem Wesen, Scheu vor einem Fremden zu empfinden. „Und sehr viele Mühe verlangen diese Beete gar nicht. Das hier sind ja keine verzärtelten Gartenpflänzchen. Das sind kräftige, dauerhafte Bergblumen! Nur der Epheu da … den haben wir aus dem tieferen Wald heraufgebracht … der hält im Hochsommer die Hitze nicht gut aus und will immer Wasser haben. Anfangs glaubten wir gar nicht, daß er durchzubringen wäre. Erst seit drei Jahren ist er so hübsch und kräftig in die Höhe gegangen und hat diese großen vollen Blätter bekommen. Nicht wahr … wie dieses tiefe saftige Grün mit dem rötlichen Holzton der Balken warm zusammenstimmt?“

Sie trat ein paar Schritte zurück, wie um die malerische Harmonie dieser leuchtenden Farben besser schauen und genießen zu können.

„Sie sind Künstlerin, Fräulein?“

„Ich? Künstlerin?“ sagte sie, fast erschrocken. Sie schüttelte den Kopf, ein leiser Seufzer schwellte ihre Brust, und schweigend nahm sie die Arbeit wieder auf.

Ettingen saß zu entfernt, um sehen zu können, daß ihr die Hände zitterten. „Verzeihen Sie meine Frage,“ sagte er. „Aber sie kam mir so auf die Zunge … nicht nur, weil Ihre letzten Worte mich an die Sprache erinnerten, wie ich sie manchmal habe von Malern reden hören … auch weil der erste Eindruck, den dieses entzückende Flecklein Erde mit seiner blühenden Schönheit auf mich machte, gleich den Gedanken in mir weckte: das kann nur ein Künstler geschaffen haben!“

Der stille Ernst ihrer Züge wandelte sich in sonniges Lächeln, und so leise, daß es Ettingen kaum noch hören konnte, fragte sie: „Weshalb glauben Sie das?“

„Dieser wunderbare Baum da? Steht er denn nicht schon ein paar hundert Jahre hier? Und der schöne Bergsee dort unten, dieses große grüne Märchenauge, hat wohl im Laufe der Zeiten viele, viele Besucher aus dem Thal herausgelockt. Wie mancher von ihnen mag schon im Zufall seiner Bergfahrt diesen Baum gefunden haben? Und da blieb wohl jeder eine Minute stehen, betrachtete den Baum und schüttelte den Kopf, indem er dachte: Merkwürdig, was doch für sonderbare Bäume wachsen können! Aber dann kam einmal ein anderer … keiner mit Alltagsgedanken unter der Stirn und mit landläufigen Gefühlen im Herzen … sondern einer mit weicher träumerischer Künstlerseele, die sich von aller Stille der Natur um so inniger angezogen fühlt, je unbehaglicher ihr der Lärm des Marktes ist. Der sah den Baum … und da muß er sich in seiner bilderschauenden Art doch gleich gedacht haben: Wie eine Harfe! Und diesen Gedanken … ich glaube wenigstens, es müßte so sein, daß sich in einem Künstlerkopfe der erste Einfall gleich weitergestaltet … diesen Gedanken spann er fort: Eine Harfe soll tönen, ich will ihr Stimme geben! Es mag ja sein, daß es zuerst nur eine heitere, naive Künstlerlaune war, vielleicht nur eine phantastische Spielerei, welche die sieben Glocken dort hinaufhängte in die Wipfel. Dann aber, als er hier im Schatten saß, an einem Tag wie heute … als über ihm die Zweige der grünen Harfe rauschten und leis und märchenhaft die Glocken klangen … wie schöne und reine Künstlerträume mögen da in seinem Herzen erwacht sein, schnell reifend in der Stille, die ihn umgab, ins Große wachsend beim Anblick dieser Steinriesen dort oben, beim Anblick dieser ganzen herrlichen Natur! Wie selbstverständlich, daß er denken mußte: Hier möchte ich Tage und Wochen bleiben, hier träumen und schaffen, hier möchte ich wohnen, nur mir gehören und die Welt vergessen! So baute er sich diese Hütte … und da gefiel ihm der kahle Grund nicht mehr, auf dem sie stand … er hatte Augen, die nach blühender Farbe dürsteten, und muß wohl ein großer Freund der wilden Bergblumen gewesen sein … und so begann er den Schmuck dieser Beete zu sammeln …“

„Nein, das kann man nicht so erraten!“ unterbrach sie ihn plötzlich. Sie hatte längst schon in der Arbeit innegehalten. Mit der einen Hand an die Hüttenwand gestützt, so stand sie in der leuchtenden Sonne und schaute zu ihm hinüber mit einem Blick, dessen Glanz ihm deutlich verriet, daß seine Worte ihr eine Freude bereitet hatten. „Jemand muß Ihnen das erzählt haben! Draußen in der Leutasch! Oder einer von den Jägern? Sagen Sie mir’s, wer hat Ihnen das erzählt?“

„Niemand, Fräulein! Das alles hab’ ich mir so gedacht, vorhin, als ich da draußen stand und über den Zaun hineinschaute in dieses blühende Idyll. Und wirklich? Ich habe erraten, wie es war?“

„Ja! So war es!“ Langsam kam sie einige Schritte näher. Aber sie sah ihn nicht mehr an, während sie sprach. Ihre Augen glitten über die Wände der Hütte, über die Blumen hin und hinaus zu den Wipfeln des klingenden Baumes. „So war es! So hat mein Vater den Baum gefunden. So hat er die Hütte gebaut. Aber das mit den Glocken dort oben, nein, das haben Sie nicht erraten. Das war keine Spielerei, keine Künstlerlaune! Das war eine Freude, die seine Liebe sich ausdachte … für mich! Ich war ja damals noch ein Kind! Aber der Baum ist mir heute noch lieb … noch lieber als damals! Wenn er so klingt wie jetzt … das erzählt mir –“

Sie verstummte, und schweigend saß Ettingen in ihren Anblick versunken. Wie schön sie war! Und wie viel rührend Kindliches redete aus der still versunkenen Art, mit der sie so regungslos zwischen all den blühenden Blumen stand und mit verträumtem Lächeln hinaufblickte zu den leis klingenden Wipfeln!

Plötzlich erwachte sie aus ihrem Schauen und schien sich zu erinnern, daß sie nicht allein war. Langsam strich sie mit der Hand über die Stirne. Dann nickte sie ihm zu, mit ihrem ernsten Lächeln, und sagte: „Aber alles andere? Ja! Wie gut Sie das erraten haben! Daß dieser Platz ihm lieb war wie kein anderer auf der Welt … weil es so schön ist hier, und so weit von allen Menschen. Und wie gerne er hier immer saß und träumte! Ja! Das Beste, was er geschaffen, hat er hier gefunden! Und er war ein Künstler … wenn das auch wenige nur gewußt haben! Er war ein Künstler!“

Wie sie das sagte! Ein Frommer, in dessen Seele der reine, lautere Gottesglaube eingewachsen ist mit tausend Wurzeln, kann nicht anders sagen: „Ich glaube an Gott, und daß er gut ist und groß!“ Sie hatte sich gebückt und eine der süß duftenden Brunellen gebrochen, die sie wie küssend mit den Lippen streifte.

„Wie gut erst müßten Sie von ihm denken, wenn Sie sehen könnten, was er geschaffen hat. Ich glaube, Sie hätten ihn verstanden! Sein bestes, das war seine Liebe zur Natur, und wie er sie kannte, und wie er sie zu deuten wußte! Und das hätten Sie ihm nachempfunden. Ich weiß es, denn Sie lieben die Natur und verstehen sie auch! Ja! Das hab’ ich Ihnen gleich angesehen, schon neulich, als ich Sie da draußen traf, im Tillfußer Wald! Der Platz war es, den Sie sich ausgesucht hatten! Und da hab’ ich mir gleich gedacht: Der weiß, was es da zu sehen und zu hören giebt! Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern, ich bin ja auch nur so an Ihnen vorbeigeritten …“

Sie brach ab und vergrub die Blume in ihr Haar.

Ettingen nickte nur. Er schien sich anderes nicht zu wünschen, als so schweigend zu sitzen und sie nur immer anzusehen, wie sie so ruhig in der Sonne stand, und ihr nur immer zu lauschen, wie sie so vor sich hin plauderte, als spräche sie gar nicht mit ihm, sondern mit sich selbst.

Da klang vom Gehänge des nahen Latschenfeldes herauf der helle Juchzer einer Knabenstimme.

Sie blickte über den Zaun hinunter, antwortete mit einem klingenden Jodelruf und wandte sich lächelnd zu Ettingen: „Da kommt mein kleiner Küchenbote, der für mich sorgt wie die biblischen Raben für den Elias.“ Während sie langsam auf das Gartenthürchen zuschritt, blickte sie über die sonnigen Berge hin. „Ein Tag ist das heute, ach, ein Tag …“

Ettingen nickte. „Er könnte nicht schöner sein!“


6.

Ein mager aufgeschossenes vierzehnjähriges Bürschlein kam in den Garten gesprungen – wohl ein Hüterbub von einer der naheliegenden Almen. Er trug ein mürbes, verwaschenes Kittelchen aus blauer Leinwand und ein abgewetztes Lederhöschen. Die hageren Beinchen waren von der Sonne so kupferbraun gebrannt, daß ihre lange Nacktheit gar nicht auffiel. Für einen Sennbuben, dessen Arbeit täglich sechzehn Stunden durch Schmutz und Unrat geht, war er ganz auffällig sauber gewaschen. Und das glatte Blondhaar, das unter dem verwitterten Filzhütchen hervorlugte, klebte ihm so naß an den Ohren, als hätte er vor wenigen Minuten erst den Kopf unter einer Brause herausgezogen. In der Hand trug er an einem Strick ein kleines Holzgeschirr, das mit Fichtenzweigen überbunden war.

So ehrfürchtig, als wäre er in eine Kapelle getreten, zog der Bub sein Hütlein. „Recht schön guten Morgen, Fräul’n Petri!“

Nun wußte Ettingen ihren ganzen Namen: Lolo Petri.

„Guten Morgen, Loisli! Bringst mir was?“

„Ja, Fräul’n! Aber der Vater laßt sich verentschuldigen, daß er heut nix anders hat als bloß ein Bröserl Butter und ein Tröpferl Milli. Aber morgen bring’ ich schon wieder was! Gelten S’, ich därf morgen wiederkommen?“ Der Bub stellte die Frage, als wär’ es für ihn ein Geschenk, wenn er kommen durfte.

„Morgen, Loisli? Büberl, morgen wird’s schlecht ausschauen!“ sagte sie, den Dialekt des Buben so weich und geläufig plaudernd, als hätte sie von Kind auf keine andere Sprache geredet. „Weißt, morgen fahr’ ich heim zum Mutterl.“

„Aber gelten S’, Sie kommen bald wieder?“

„Ja, Loisli! Heut über drei Tag, da därfst dich wieder einstellen bei mir.“

„Und gelten S’, nachher verzählen S’ mir wieder was?“

„Ja, mein Bürscherl, komm nur, und … Aber schau nur an, wie nett und sauber als dich heut gemacht hast! So! Brav! So laß ich mir’s g’fallen!“

Der Bub kicherte in verlegener Freude. „Ja, wissen S’, seit S’ mich neulich so ausg’scholten haben, trau ich mich nimmer ’rein mit ein’ schmierigen G’sicht. Aber, gelten S’, heut bin ich sauber?“

„Sauber, ja, aber da schau her …“ Sie nahm das Bürschlein bei der Hand und drehte an seiner Joppe den Aermel vor, der einen spannenlangen Riß über den Ellbogen hatte. „Was is denn das?“

Der Bub wurde rot und stotterte: „Mir scheint, das is ein Loch!“

Da lachte sie, hell und herzlich. „Ja, du, das scheint mir auch. Nur ’runter gleich mit ’m Jöpperl!“

„Thun S’ mir’s flicken, Fräul’n?“

„Freilich! Und bis ich fertig bin, kannst dort das Gießkanndl nehmen und kannst mir Wasser vom See raufholen, gelt? Weißt, jede Gutthat muß der Mensch verdienen!“

„Ja, Fräul’n! Und …“ Hurtig zog der Bub das Jöpplein herunter, „und tausendmal Vergeltsgott derweil!“ Er schoß auf die Gießkanne zu, packte sie und eilte mit langen Sprüngen davon. Während er durch die Latschen hinuntertrollte, nahm er die Brause von der Kanne, um das Rohr als Trompete benutzen zu können. So mißtönig diese Laute auch klangen – sie schienen dem Buben eine wahre Feiertagsfreude zu bereiten. Und als er sich müd geblasen hatte, begann er unter lustigem Jodeln auf der Kanne zu trommeln.

Lolo war in die Hütte getreten, um zu verwahren, was der Bub ihr gebracht hatte. Dann kam sie mit Nähzeug, setzte sich auf die Thürschwelle und begann die Wunde des Jöppleins in die Kur zu nehmen. Die Sonnenlichter, welche durch die Lücken der Epheulaube drangen, spielten mit Leuchten und Gezitter um ihre Gestalt.

Ettingen sah ihr lächelnd zu. „Geben Sie acht, Fräulein,“ sagte er nach einer Weile, „wenn der Bub das nächste Mal wiederkommt, wird er sein Kittelchen übel zurichten, um Ihnen Arbeit zu machen und länger bleiben zu dürfen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Bevor er das nächste Mal wiederkommt, wird er sein Jöpplein genau untersuchen und die Alm nicht verlassen, bevor ihm nicht die Mutter jeden Schaden ausgebessert hat.“

„Wie gut Sie von dem Jungen denken!“

„Wie er es verdient! Er ist ein braver, lieber Bub und wird einmal ein tüchtiger, herzensguter Mensch werden.“

„Denken Sie von allen Menschen so freundlich?“

„Von den guten, ja.“

„Aber von jenen, denen Sie neu begegnen? Und von denen Sie nicht wissen können, ob sie gut oder schlecht sind?“

„Auch von denen. Wer mißtrauisch ist, begeht ein Unrecht gegen andere und schädigt sich selbst. Ich glaube, daß wir die Pflicht haben, jeden Menschen für gut zu halten, solange er uns nicht das Gegenteil beweist.“

„Das ist eine wahre und schöne Lebensregel!“

„Nur eine selbstverständliche,“ sagte sie ernst, „eine, die keiner entbehren kann, der am Verkehr mit den Menschen Freude haben will.“

„Ja, mein Fräulein, Sie haben recht! Und im Grunde genommen denke auch ich nicht anders, nein, trotz allem nicht!“ Es ging wie ein trüber Gedanke über seine Stirne – aber das schien ihm selbst nur halb bewußt zu werden, denn gleich wieder lächelte er. „Und ich hörte das gerne von Ihnen sagen, denn … nun weiß ich doch, daß Sie auch mich für gut halten. Oder nicht?“

Sie hob das Gesicht, als hätte ihr diese Frage nicht gefallen. Aber an seinem Blick erkannte sie, wie heiter das gemeint war, und da sagte sie: „Ich wüßte nicht, womit Sie mir das Gegenteil bewiesen hätten.“

„Vielleicht durch die unbescheidene Hartnäckigkeit, mit der ich mich hier festgesetzt habe?“

„Das beweist nur, daß es Ihnen hier gefällt. Und das macht mir Freude!“

Der letzte Bergschatten, der noch auf einzelnen Beeten gelegen, war über die Hecke zurückgewichen, und Hütte und Gärtchen lagen in voller, ungetrübter Morgensonne. Der Wind war still geworden, und in den Wipfeln des Harfenbaumes schwiegen die Glocken. Man hörte nur noch den Wasserfall, der fern in der Tiefe rauschte, und das leise, feine Gesumm der wilden Bienen, die von überall her zu den blühenden Beeten geflogen kamen und gleich schwirrenden Fünklein in wirrem Zickzack die sonnige Luft durchschnitten.

Da brachte der Bub die zum Ueberlaufen gefüllte Wasserkanne. „So, Fräul’n, da bin ich schon wieder!“ Dabei stellte er die Kanne so energisch nieder, daß das Wasser rings über den Kiesweg spritzte.

„Ich dank’ dir, Bürscherl! Und schau, dein Jöpperl hab’ ich auch schon fertig. Komm, schlupf ’rein!“

Lolo hielt dem Buben das Kittelchen hin, und er fuhr mit beiden Fäusten in die Aermel. „Vergelt’s Gott tausendmal!“ Neugierig schielte er nach der geheilten Wunde. „Sie! Das haben S’ aber fein g’macht! Da sieht man ja gar nix nimmer!“

„Na, na! Die Mutter wird’s schon sehen, paß nur auf!“ Lächelnd gab sie dem Buben einen Klaps auf die Wange. „Und jetzt mach’, daß du heimkommst. Drunten brauchen sie dich bei der Arbeit.“

Loisli drehte das mürbe Hütlein zwischen den Händen, blickte mit glänzenden Augen zu dem Mädchen auf und bettelte: „Krieg’ ich noch ein Blümerl, Fräul’n?“

„Ja, Bürscherl, was willst denn für eins?“

„Ein Brunellerl thät ich gern haben. Die Enkern schmecken[1] viel feiner als die anderen von der Alm draußen.“

Lolo pflückte ein paar von den braunen Blütenköpfchen und reichte sie dem Buben. Sein Gesicht strahlte vor Freude, während er die Blumen achtsam hinter die Hutschnur schob. Und mit einem Juchzer rannte er davon, das leere Holzgeschirr im Kreis wie eine Schleuder schwingend.

Das Mädchen nahm die Gießkanne auf und begann den Epheu zu besprengen.

„Der Bub hat recht, Fräulein,“ sagte Ettingen, „die

Blumen hier gedeihen in Ihrer Pflege, sie sind schöner als die anderen dort oben und draußen im Wald.“

„Gewiß nicht. Sie sehen in der Blüte nur reicher aus, weil sie dichter stehen. Ich thue ja nicht viel mehr, als daß ich sie wachsen lasse.“

„Da sind Sie aber wirklich zu bescheiden. Und wie sehr diese Blumen die Pflege Ihrer Hand empfinden, kann ich Ihnen gleich beweisen. Hier …“ Ettingen nahm das kleine Rosensträußlein, das ihm Pepperl beim erlegten Hirsch gegeben, von seinem Hut, „ich habe ein paar Almrosen von dort oben mit heruntergebracht. Sehen Sie nur, wie klein diese Blüten sind und wie matt in ihrem Rot! Die sind ja mit den Almrosen, die Sie hier im Garten haben, gar nicht zu vergleichen. Wie groß und üppig die Kelche hier sind, wie feurig in der Farbe!“

Sie hatte zur Bank hinübergeblickt und lächelte, als sie seine Blumen sah. „Das ist richtig, ja. Aber der Unterschied kommt nicht von meiner Pflege, er liegt in der Gattung. Was Sie dort haben, das sind die gewöhnlichen Steinrosen, aber die meinen hier, das sind Edelrosen.“

„Edelrosen? So giebt es eine Aristokratie auch unter den freien Bergblumen?“

„Sie scheinen kein allzu eifriger Hochtourist zu sein, weil Sie diesen Unterschied nicht kennen. Sehen Sie …“ Lolo stellte die Kanne nieder, brach von den mit glühenden Blüten übersäten Rosenstauden einen der schönsten Zweige und kam zur Bank. „Der Unterschied ist am besten an den Blättern zu erkennen. Das Blatt der Steinrose hat mattes Grün und ist behaart, die Blätter der Edelrose sind glatt, von tiefem, wachsglänzendem Grün und auf der Unterseite braun angeflogen. Hier, vergleichen Sie nur …“ Sie reichte ihm das Rosenzweiglein und sagte dabei lächelnd: „Sie sind wohl erst kurz aus der Stadt gekommen? Und noch nicht lange in den Bergen?“

„Seit drei Tagen erst. Aber nun, mein Fräulein, da ich bereits Ihren Namen kenne …“

„Sie kennen meinen Namen?“

„Zur Hälfte hab’ ich ihn hier auf dem Baum gelesen … dann kam der Bub und grüßte Sie: Fräulein Petri! Da darf sich wohl auch Ihr dankbarer Gast Ihnen vorstellen: Ich heiße Heinz Ettingen.“

Sie nickte flüchtig, als wäre sein Name für sie etwas Nebensächliches – ein Name, den sie hörte, um ihn wieder zu vergessen.

„Und da leben Sie nun hier so allein den ganzen Sommer?“

„Den ganzen Sommer nicht, aber doch jede Woche ein paar Tage.“

„Aber in diesen paar Tagen sind Sie doch immer allein?“

„Heuer, ja, heuer bin ich allein,“ erwiderte sie leis und neigte das Gesicht.

„Daß Ihnen die Tage nicht zu lang werden, das begreif’ ich. Es ist ja so wunderbar schön hier. Jede Stunde muß Ihnen eine Fülle tiefer Eindrücke und reicher Gedanken bringen. Und doch … so einsam hier auszuhalten, dazu gehört für ein junges Mädchen ein seltener Mut.“

Das schien sie nicht zu verstehen. „Mut? Warum Mut?“ fragte sie verwundert. „Ist man nicht am sichersten, wenn man allein ist? Und was sollte ich denn hier zu fürchten haben? Der Sommer in den Bergen hat keine Gefahr, wenigstens hier in dieser Höhe nicht … und der Platz hier, auf dem mein Häuschen steht, ist sicher gegen Wildwasser. Lawinen und Schneestürme giebt es im Sommer nicht. Und eine Gewitternacht? Da sitz’ ich am liebsten dort auf der Thürschwelle und schaue hinaus in das Toben und Leuchten … und kann mich nicht sattsehen an den wundervollen Bildern, die jeder Blitz in der Finsternis lebendig macht.“

„Aber die Menschen, die der Zufall vor ihre Thüre führt? Und alle Menschen, mein liebes Fräulein, alle sind doch nicht gut!“

„Die Leute in der Gegend kennen mich, und ich kenne sie und weiß mit ihnen umzugehen … Und die fremden Touristen, die manchmal vor meine Thür kommen? Das sind nette, manierliche Menschen, mit denen ich gerne plaudere … wenn ich auch keine Sehnsucht habe nach der Stadt, so hör’ ich doch gerne von ihr erzählen. Und wer Freude an der Natur hat, der hat auch immer ein gutes Herz. Und wenn manchmal einer kam, der ein bißchen übermütig und ein wenig zudringlich wurde, weil er sah, daß ich allein war und jung bin und nicht häßlich …“

„Sehen Sie,“ rief Ettingen, und seine Stimme klang seltsam verändert, als hätte ihn plötzlich eine bange Sorge um dieses schöne, einsame Geschöpf befallen, „sehen Sie, das ist also doch schon geschehen!“

„Nicht oft!“ Sie blickte freundlich zu ihm auf, als hätte sie gefühlt, was aus dem Klang seiner Stimme redete. „Aber dann hab’ ich auch immer noch das rechte Wort gefunden, auf das sie hörten.“ Sie lächelte. „Nein! Ich habe nichts zu fürchten hier. Die einzige Sorge, die ich hier habe, geht nur meinen Garten an. Den, freilich, den haben sie mir manchmal bös geplündert, wenn ich ein paar Tage fort war. Wenn ihnen die Blumen nur Freude machten … in Gottesnamen! Ich hab’ mir wieder neue geholt von da draußen. Nur das Edelweiß … sehen Sie, dort auf dem Steinhügel, da hab ich ein paar Stückchen eingepflanzt … das Edelweiß ist im Wettersteingebirg so selten, und ich bekomme nur manchmal von den Jägern ein Stöcklein … aber ich kann mit aller Müh’ und Pflege kein Blümchen aufbringen. Kaum guckt ein Sternchen heraus, da ist’s schon wieder weg … mitgenommen von einem, der’s gefunden hat. Da muß ich mir eben denken: wer drunten im Thal das weiße Sternchen auf seinem Hut herumträgt, hat vielleicht an ihm noch größere Freude, als ich sie gehabt hätte. Nein! Sonst hab’ ich hier nichts zu fürchten. Und es ist so schön hier, so schön! Und ich bin auch nicht allein. Hier wohnt mein Erinnern mit mir, als wär’ es noch immer ein Wirkliches, und jeder neue Tag hier ist für mich eine neue Freude, die mein stilles, einfaches Leben reich macht.“

Ettingen betrachtete sie schweigend, gefesselt von dem Reiz dieses ruhigen Lächelns, von dem reinen und schönen Glanz dieser stillen, tiefen Mädchenaugen. Und dann sagte er plötzlich:

„Wie glücklich, Fräulein, wie glücklich sind Sie in Ihrem guten Glauben, in Ihrer furchtlosen Freude, in Ihrer reichen Einsamkeit!“

„Glücklich? Ja, ich war es … und ich bin es!“

Ein leichter Windhauch, wie sanftes Sonnenatmen, strich über den blühenden Garten hin, und durch die Zweige des Harfenbaumes ging ein leises Flüstern. Doch die Glocken tönten nicht.

Ettingen blickte zu den Wipfeln hinauf, als hätte er sich im stillen gefragt: „Warum klingen sie nicht?“ Und da gewahrte er, was er bisher noch nicht gesehen hatte: daß an einem der Stämme ein kleines Bild mit hölzernem Dächlein angebracht war, nach Art jener „Martertäfelchen“, die das Landvolk zu frommem Gedächtnis an Stellen errichtet, an denen ein Unglück geschah oder eine wunderbare Rettung sich vollzog.

„Ein Bild?“

Ettingen erhob sich, um das hochhängende Bildchen besser betrachten zu können.

Das kleine Gemälde war wohl von Schnee und Regen schon übel zugerichtet, doch in Zeichnung und Farben noch deutlich zu erkennen. Man merkte gleich, daß die kundige Hand eines geschulten Malers dieses Bildchen geschaffen hatte, obwohl es ganz den steifen, naiven Stil und die grellen Farben der ländlichen Marterbildchen zeigte – es sprach beabsichtigter Humor aus dieser Anlehnung an den bäuerlichen Kunstgeschmack. Die Landschaft war trotz aller Karikatur ganz unverkennbar: dieser blaue Kreis, das war der Sebensee, diese giftgrünen Zungen, das waren die Almgehänge und Latschenfelder, diese gelben Zuckerhüte stellten die beleuchtete Sonnenspitze und ihre Nachbarberge vor, und diese sieben grüngefransten Spieße, die an die Bäumchen eines Nürnberger Spielzeugkastens erinnerten, das waren die sieben Wipfel des Harfenbaumes. In seinem Schatten kniete ein bärtiger Mann mit steifgefalteten Händen und einem schwebenden Kreuzlein über dem Scheitel. Vor ihm stand, mit segnend ausgestreckten Händen und von einem Heiligenschein umgeben, die Gestalt eines Weibes, das an Genoveva denken ließ, denn die gelösten Haare umhüllten gleich einem Mantel den streng und keusch gezeichneten Leib, dessen einziger Schmuck ein grünes Kränzlein war. Die Erscheinung dieser heiligen Frau, die auf den betenden Mann so friedlich und erlösend wirkte, schien zwei abenteuerliche Spukgestalten in entsetzte Flucht zu jagen: eine üppige Teufelin und einen schmerbäuchigen Faun, der ein Schwein am Stricklein führte und einen Kranz von Würsten um den Leib geschlungen trug. Die beiden Unholde schnitten in ihrem Schreck so drollige Gesichter und waren mit so heiterer Laune karikiert, daß Ettingen lachen mußte.

„Ein köstlicher Scherz!“ sagte er. „Und der Humor dieses Bildchens wirkt auf mich, obwohl ich das Wunder, das hier verherrlicht ist, nicht recht verstehe. Darf ich wissen, was es bedeutet? Aber richtig, da steht ja auch eine Inschrift! Und gar eine lateinische!“ Er übersetzte: „Ich bete dich an und singe mein Lob dir, göttliche Mutter Natur, deren schönes Wunder mich erlöste aus den Klauen der Teufel, die da heißen: Unverstand des Pöbels und eitle Thorheit der Menschen! Mein Leben soll dir, o heilige Mutter, zum Danke geopfert sein wie ein Lämmlein mit schneeigem Fell, und meine Kunst, die vor die Säue geworfen war, soll einsam und sorglos blühen zu deinen Füßen, frei und schön, wie eine Blume deiner Berge!“

Der Klang seiner Stimme war ernst geworden, denn die seltsame Inschrift ließ ihn vermuten, daß hinter dem Scherz dieser Farben sich ein tiefes Weh verbarg. Und als er aufblickte, sah er, daß die Augen des Mädchens in Thränen schwammen.

„Fräulein?“

Sie wandte sich schweigend ab, als hätte sein Lachen und seine Frage in ihrer Seele ein Heiliges berührt, das sie dem Fremden nicht preisgeben wollte. Und als möchte sie auch ihre Bewegung vor ihm verbergen, ergriff sie die Gießkanne, um sie in die Hütte zu tragen.

Aber Ettingen vertrat ihr mit raschen Schritten den Weg. „Nein, Fräulein, so dürfen Sie nicht gehen! Mag ich für Sie auch ein Fremder sein, an den Sie schon morgen nicht mehr denken … aber ich habe hier eine so schöne Stunde verlebt, daß ich es mir nie verzeihen könnte, wenn ich Ihnen Ursache zu einer Verstimmung gegeben hätte. Ich fühl’ es, daß ich Sie durch meine Neugier und durch mein Lachen verletzt habe! Aber ich wußte nicht, daß ich es that! Seien Sie mir nicht böse!“

Da reichte sie ihm die Hand und lächelte, während ihre Augen noch in feuchtem Glanze schimmerten. „Ich bin Ihnen nicht böse, gewiß nicht! Dazu hätt’ ich doch gar kein Recht. Und Sie konnten ja wirklich nicht wissen, daß Ihr Lachen mir wehthat. Das Bildchen dort muß doch auch so heiter auf jeden wirken, der nicht weiß, was es bedeutet und wie es entstand. Ehe mein Vater das lustige Ding da malen konnte, mußte er alle Enttäuschung seines Lebens überwinden. Und als er das Bildchen dort an den Baum hängte, das bedeutete für ihn, daß er jede Hoffnung begrub und für immer darauf verzichtete, für sein Talent die Anerkennung der Welt zu gewinnen. Aber deshalb dürfen Sie nicht glauben, daß ihm der Mut oder die rechte Kraft gefehlt hätte …“

„Nein, liebes Fräulein, nein, das thu’ ich auch nicht, gewiß nicht! Was ich hier sehe und was ich von Ihnen hörte, läßt mich ja vom Wesen Ihres Vaters so manchen Zug erraten. Er muß als Mensch und als Künstler geliebt und gesucht haben, was weit abseits von der Heerstraße und ihren ausgefahrenen Geleisen liegt. Aber alles Ungewöhnliche begegnet so leicht dem Mißverstand. Und ich kann mir denken, daß eine feinbesaitete, stolze Künstlernatur auf die Dauer des nutzlosen Kampfes müde wird und der Welt verbittert den Rücken wendet.“

Sie atmete auf und nickte. „Ja! Das war es! Sein Stolz war zu tief verwundet! Kunst, das war für ihn nur das Große, Reine und Schöne. Auch das Wahre! Aber er hatte Augen, denen alle Dinge anders erschienen, als sie sonst den Menschen erscheinen. Da malte er nun alles, wie er es sah, nicht so, wie es die Leute sehen wollten. Und dann verstanden sie ihn nicht und …“ es zuckte wie Schmerz um ihre Lippen, „und lachten über ihn! Das war es, was er nicht ertrug … dieses Lachen immer! Das hat seinen Mut gebrochen … aber nur den Mut des Künstlers … als Mensch ist er ein fester und ganzer Mann gewesen! Das hat er bewiesen, als er starb!“

„Sie haben Ihren Vater verloren?“

„Verloren?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein! Was man zu tiefst in seinem Herzen besitzt, was mit uns verbunden ist in jedem Gedanken und Gefühl … das kann man nicht verlieren. Er starb … und das ist doch nur ein Wort, das den Ueberlebenden wehthut … mehr ist es nicht!“

Vom nahen Latschenfeld ließ sich das Klirren eines Bergstockes und der Hall schwerer Tritte hören.

Sie blickte auf, und wie erwachend fuhr sie mit der Hand über die Stirne.

„Ich muß gehen … verzeihen Sie … aber dort unten wartet meine Arbeit.“

Er meinte ihr nachzufühlen, weshalb sie diesen raschen Abschied nahm. Sie sah den Jäger kommen und wollte wohl jetzt nach allem, was sie gesprochen hatte, nicht von alltäglichen Dingen reden oder das lustige Geschwätz des Jägers hören. Deshalb machte er keinen Versuch, sie zurückzuhalten.

Mit stummem Gruß wollte sie gehen. Aber da reichte sie ihm plötzlich die Hand, sah mit feuchten Augen zu ihm auf und sagte: „Ich danke Ihnen.“

Das kam so überraschend für ihn, und der Klang ihrer Stimme berührte ihn so seltsam, daß er im ersten Augenblick nicht wußte, was er sagen sollte.

Da löste sie auch ihre Hand schon wieder aus der seinen und ging in die Hütte. Als sie nach kurzer Weile wieder ins Freie trat, hatte sie einen grob geflochtenen Basthut aufgenommen, dessen breite Krempe ihr Gesicht überschattete. Sie versperrte die Thür der Hütte, und ehe sie den Garten verließ, nickte sie noch einen Gruß zu Ettingen hinüber. Während sie dann langsamen Schrittes zwischen den Büschen gegen den See hinunterstieg, kam Praxmaler von der anderen Seite auf den Garten zugegangen.

Ettingen war an den Zaun getreten und blickte dem Mädchen nach. Er fühlte sich von dieser Begegnung im Innersten ergriffen, und die Gedanken schwirrten in ihm durcheinander, wie über den Blumen die wilden Bienen. Was hatte ihn nur so sehr bewegt? Der stille, schöne Reiz dieses Ortes? Oder die Erscheinung dieses Mädchens, ihre freie, ruhige Art, sich zu geben und zu sprechen? Oder der Einblick, den er in das seltsame Leben und Schicksal ihres Vaters gewonnen hatte, dieses weltflüchtigen Künstlers, der alle Dinge anders sah, als die Menschen sie zu sehen pflegen – und der in jeder Erinnerung dieses Ortes fortlebte, während sein Herz doch längst schon erkaltet war? Und wie mußte diese Tochter ihn geliebt haben, wie mußte auch jetzt noch der Gedanke an ihn ihr ganzes Leben füllen, da sie es wie ein kostbares Geschenk betrachtete, daß sie eine Stunde von ihm hatte sprechen dürfen!

„Ich danke Ihnen!“

Wie gut ihm dieses Wort gefiel! Es war ein Wort, das so tief blicken ließ wie dort unten der klare See! Und was ihr Vater auch als Künstler aus seiner weichen, träumerischen Seele herausgebildet und geschaffen haben mochte – er hatte sicher der Welt kein edleres Werk seines Blutes und Geistes hinterlassen als dieses junge schöne Menschenkind mit seiner freien und furchtlosen Lebensruhe, mit seinem tiefen, reinen Gefühl und seinem guten Denken!

Da weckte ihn die Stimme des Jägers aus seinem lächelnden Sinnen: „Grüß’ Ihnen Gott, Herr Fürst! Ein bißl lang’ hat’s ’dauert, gelten S’?“ rief Pepperl seinem Herren schon von weitem zu. „Aber der Tag wird heiß, da hab’ ich den Hirsch net liegen lassen können. Drum bin ich gleich ’nüber g’sprungen auf d’ Sebenalm und hab’ mich um ein paar Leut’ umg’schaut, die den Hirsch heut noch ’nausliefern ins Jagdhaus.“ Er hatte den Garten erreicht, setzte den Bergstock ein und schwang sich mit hohem Satz über den Zaun. „Aber gleich hab’ ich mir ’denkt, daß ich Ihnen da im Gartl von der Fräul’n Petri find’!“ Er blickte zur Hütte hinüber. „Schad’! Sie muß net daheim sein, ’s Hüttl is g’sperrt! Aber gelten S’, schön is daherinn! Ja, so ein Platzerl find’t man net leicht in der Welt! Das hat er verstanden, ihr Vater!“

„Sie haben ihn gekannt?“

„Den Maler-Emmerle? Aber freilich hab’ ich den ’kennt!“

„Wie sagten Sie, daß er hieß?“ „Emmerich Petri hat er g’heißen. Aber d’ Leut’, die haben halt allweil g’sagt: der Maler-Emmerle. In der ersten Zeit, wie er von der Münchnerstadt zu uns da ’raus ’kommen is und hat sich draußen in der Leutasch das Häusl ’kauft, da haben d’ Leut’ schon diemal ein bißl g’lacht über seine g’spaßigen Sachen. Aber nachher, ja, da haben s’ ihn fein gern mögen! Er is aber auch ein lieber, guter Mann g’wesen!“

„Er war ein Künstler?“

„Ein Kienschtler? Ah na! Gott bewahr’! Der is schon was Bessers g’wesen!“ beteuerte Pepperl, denn nach ländlicher Anschauung verstand er unter „Kienschtler“ nur die „Seiltanzler“ und „Kamödispieler“. „Wissen S’, ein Taferlmaler is er g’wesen … ein Marterl hat fein keiner net schöner malen können als wie der Herr Petri. Und die Heiligen, die er an d’ Häuser hing’malen hat, die schauen fein nobel aus. Und für ihm selber, da hat er diemal auch so Bildln g’malen … kleine und endsgroße …“

„Und Sie haben solche Bilder von ihm gesehen?“

„Aber freilich! Hängen ja draußten in sei’m Häusl noch alle Stuben voll. Sie, Herr Fürst, die Bildln, die müssen S’ Ihnen einmal anschauen!“ Pepperl kicherte lustig vor sich hin.

„Was da für narrische Sachen dabei sind! Am liebsten hat er allweil die jungen Buben g’malen, und völlig nacket … aber bloß in der oberen Hälft’,“ wieder kicherte Pepperl, „und statt die menschlichen Füß’ hat er ihnen allweil Gaisbockhaxln hing’malen. Und Rösser hat er g’malen mit Mannsbilderköpf’! Und Tigerkatzen mit Frauenzimmerg’sichter. Und Weibsbilder mit Karpfenschwanzln statt die Füß’! Und lauter so verruckte G’schichten …“ Pepperl schüttelte sich vor Lachen. „Gleich hinwerden könnt’ man vor lauter Gaudi, wann man so was anschaut!“

Auch Ettingen lächelte. Kentauren, Faune, Tritonen und Sphinxe – und dazu der Kunstverstand des guten Praxmaler-Pepperl: in diesem Kontrast lag eine Komik, der auch die ernste Stimmung Ettingens nicht zu widerstehen vermochte. Aber es widerstrebte ihm, noch weitere Fragen zu stellen. Schweigend trat er zum Tisch, warf die schon welk gewordenen Steinrosen über den Zaun und schmückte seinen Hut mit der Edelrose, die ihm Lolo Petri gereicht hatte.

Praxmaler riß die blauen Augen auf, als hätte er etwas ganz Unerhörtes erlebt, und stotterte:

„Aber, Duhrlaucht! Mar’ und Josef! Die Blümeln, die S’ da wegwerfen … das is ja der Bruch für ’n Hirsch!“

„Dieser Zweig gefällt mir besser!“

Pepperl schwieg; doch er schüttelte den Kopf und sah seinen Herrn von der Seite an. Daß es einen blühenden Zweig auf Erden geben konnte, der einem Jäger besser gefiel als der grüne Bruch für einen Vierzehnender – das war für ihn etwas völlig Neues und Unverständliches.

Ettingen setzte den Hut auf und griff nach dem Bergstock.

Da sagte der Jäger, als hätten seine Gedanken eine jähe Schwenkung gemacht: „Ja, schauen wir, daß wir heimkommen. Der Herr Kammerdiener wird eh’ schon auf der Paß liegen!“

Sie gingen zum Zaunthürchen, Pepperl mit langen Schritten voraus, während Ettingen zögernd folgte. Lächelnd blickte er noch einmal über die blühenden Beete hin und empor zu den still gewordenen Wipfeln des Harfenbaumes, die mit ihrem goldig umleuchteten Grün hinaufstiegen in das reine Blau des Himmels.

„Welch ein schöner, einzig schöner Morgen! Wie diese Luft sich atmet! Wie leicht und froh man sich fühlt … als ginge man einer großen Freude entgegen!“

Abermals schüttelte Pepperl den Kopf. Und nun seufzte er sogar. Denn er – in seinem verantwortungsvollen Herzen war der Gedanke an das „unb’hütete dumme Gansl“ wach geworden – er ging einer schweren Sorge entgegen.

Während sie dann schweigend auf schmalem Pfad über das Latschenfeld hinunterstiegen, fuhr der Jäger plötzlich aus seinen Gedanken auf und murmelte: „Was is denn das g’wesen jetzt?“ Er spähte über die Latschen hin.

„Was haben Sie?“ fragte Ettingen.

„G’wesen is mir, als hätt’ ich wen g’hört in die Latschen drin. Ich muß mich aber dengerst ’täuscht haben. Es rührt sich nix mehr.“

Sie schritten weiter und verschwanden im Schatten des nahen Waldes. Als ihre Schritte verhallt waren, rauschte es in den Latschen, und aus den Zweigen tauchte langsam das bleiche Gesicht Mazeggers auf.

Eine Weile stand der Lauschende unbeweglich und blickte mit funkelnden Augen gegen den Wald hinunter; in hartem Lächeln preßte er die schmalen blutlosen Lippen zusammen. Dann wand er sich langsam durch die dichten Büsche auf den Pfad hinaus. Hier legte er Büchse und Bergstock ab, kniete auf den Boden nieder und nahm mit zitternder Vorsicht aus seinem Rucksack ein blühendes Edelweißstöcklein hervor, dessen Erdballen mit einem Taschentuch umbunden war. Er entfernte das Tuch, kniff mit den Nägeln ein paar welk gewordene Blätter fort, schöpfte mit der Hand von dem Wasser, das neben dem Pfad in dünnem Faden sickerte, und besprengte den dürr gewordenen Wurzelballen und die erst halb entwickelten weißgrünen Blütensterne. In Unruhe und dennoch geduldig wartete er fast eine halbe Stunde, bis sich die schmachtenden Pflänzchen wieder erholt hatten und frisch erschienen.

Dann erhob er sich und stieg zum See hinunter. Als er den Waldsaum erreichte, spähte er mit heißen Augen ringsumher. Nun schlug ihm brennende Röte über das bleiche Gesicht, und hastig lehnte er Bergstock und Büchse an einen Baum.

[101] Am Ufer einer seicht verlaufenden Seebucht saß Lolo Petri auf einem Stein. Vor ihr stand eine leichte Feldstaffelei mit kleiner Leinwand, deren frische Farben eine begonnene Studie zeigten: ein Stück des Ufers mit dem Spiegelbild der überhängenden Blumen und einem halb versunkenen Wurzelstock. Die Skizze war nur erst in den Grundtönen angelegt, und dennoch verriet sie schon, mit welcher Treue diese klaren ruhigen Mädchenaugen alle Farben der Natur zu erfassen wußten. Aber sie schien mit ihren Gedanken nicht bei der Arbeit zu sein. Der Arm mit der Palette hing lose nieder, und während sie lächelte wie in freundlichem Erinnern, glitten ihre Blicke ziellos über den stillen See.

Da weckte sie der Schritt des Jägers. Als sie Mazegger

erkannte, glitt es wie ein Schatten des Unbehagens über ihre Züge. Doch als er sie mit seiner rauhen, erregten Stimme grüßte, dankte sie mit ruhigem Wort. Dann nahm sie die Arbeit auf, als wäre sie allein.

Er stand hinter ihr, dabei umklammerte die Hand so fest den Wurzelballen der kleinen Pflanze, daß die Erde zu Boden bröselte. Sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, sagte er leis: „Schauen Sie doch her, Fräulein, was ich Ihnen gebracht hab’!“

Sie hob das Gesicht, und der Anblick der seltenen Pflanze schien ihr Freude zu machen. „Ein Edelweiß! Wo haben Sie das gefunden?“

Schon wollte sie die Blumen nehmen, aber da begegnete ihr Blick seinen heißen Augen. Sie zog die Hand zurück. „Ich danke für Ihren guten Willen, Mazegger, aber ich kann diese Blume nicht nehmen.“

Aus dem Gesicht des Jägers war alles Blut gewichen. „Nicht nehmen können Sie das Blüml? So? Und warum nicht?“

„Weil … weil die Pflanze in der Blütezeit ausgegraben ist und verwelken muß. Sie gewöhnt sich nicht mehr an neuen Boden.“

„Das ist eine Ausred’! Vorige Woche hat Ihnen der Förster ein Edelweiß gebracht … und das hat doch auch schon geblüht! Warum soll das meinige nicht fortkommen! Oder … wollen Sie es nur nicht nehmen, weil es von mir ist?“

Sie schwieg und mischte auf der Palette eine Farbe.

„Fräulein …“ die Stimme des Jägers zitterte, „ich bin um das Blüml einen harten Weg gestiegen: Schauen Sie hinauf zur Tejawand … von da droben hab’ ich’s heruntergeholt … weil ich gemeint hab’, das Blüml macht Ihnen Freud’. Und jetzt frag’ ich in allem Ernst: wollen Sie das Edelweiß nehmen?“

„Nein!“ erwiderte sie ruhig.

Mit ersticktem Fluch zerquetschte er die Pflanze in der Faust und schleuderte sie weit in den See hinaus.

Da sah sie mit stummem Blick zu ihm auf. Dann rückte sie die Staffelei ein wenig beiseite, um das Motiv, das sie begonnen hatte, breiter überschauen zu können. Mit geballten Fäusten stand er hinter ihr und wartete, als müßte sie ihm noch ein Wort zu sagen haben.

„Also wirklich?“ unterbrach er die Stille mit heiseren Worten. „Das einzige Wörtl ist alles gewesen? Alles für mich?“

Sie schwieg und setzte die gemischte Farbe mit sicheren Pinselstrichen auf die Leinwand.

„Und vor den andern da droben, gelt, vor den hat man sich hinstellen können eine geschlagene Stund’ und plauschen, daß ein End’ schier nicht zu erleben war?“

Sie schien nicht zu hören, was er sagte.

„Aber der! Natürlich! Der ist halt was Feineres als unsereiner! Ein Fürst! Ah ja, da rentiert sich’s freilich, daß man’s Göscherl aufmacht! Aaaah! So ein gnädiger Herr Fürst!“

Nun blickte sie doch verwundert auf. „Ein Fürst? Wer?“

Mazeggers Antwort war ein Lachen, das sein ganzes Gesicht verzerrte. „Gut verstellen können Sie sich auch, das muß ich sagen! Aber Sie wissen schon, wen ich mein’! Er hat sich ja so gnädig lang’ bei Ihnen verhalten, daß er schier aufs Fortgeh’n vergessen hat!“

Da huschte eine leichte Röte über ihre Wangen. „Das war der Fürst? Der die Jagd im Gaisthal gepachtet hat?“

„Geh, Fräul’n, thun S’ nur nicht, als ob Sie das nicht gewußt hätten!“

„Nein, das hab’ ich nicht gewußt!“ erwiderte sie ruhig und wandte sich wieder zu ihrer Arbeit.

„Aber gefallen hat er Ihnen, gelt? Natürlich, wenn so einer kommt, mit seinem hochfeinen Spinnwebeng’sicht und seinen glanzigen Frauenzimmeraugen, aaah, da springen gleich alle verriegelten Thürln auf!“

Ohne die Arbeit zu unterbrechen, sagte sie mit kaum merklicher Erregung in der Stimme: „Wenn es der Fürst ist, von dem Sie sprechen, dann ist es auch Ihr Herr, der Sie ernährt und dem Sie Achtung schulden. Ich will mir denken, daß Sie nicht wissen, was Sie da geredet haben! Aber jetzt gehen Sie, Mazegger! Sie sehen, daß ich arbeite. Ich verliere das gute Licht, wenn Sie mich noch länger stören! Und wenn ich Ihnen raten darf, so suchen Sie sich auf dem Heimweg darüber klar zu werden, was Sie da für häßliche Dinge gesagt haben. Dann werden Sie selbst …“

Sein rauhes Lachen unterbrach sie. Er würgte an Worten, die ihm nicht über die Zunge wollten, und plötzlich faßte er mit rohem Griff ihren Arm.

Da erhob sie sich, und aus ihren Augen traf ihn ein so ruhig stolzer Blick, daß ihm die Hand von ihrem Arm fiel, als wäre sie gelähmt.

Schweigend kehrte sie dem Jäger den Rücken, legte den Farbenkasten zusammen und stellte ihn mit der Staffelei in den Schatten eines Baumes. Prüfend betrachtete sie noch einmal ihre Arbeit, nahm den Basthut ab und strich die Haare von den Wangen zurück. Dann stieg sie langsam gegen die Hütte hinauf.

Mazegger stand wie versteinert, so lange er sie noch sehen konnte. Als sie verschwunden war, reckte er seine Gestalt, wie von einem Bann erlöst, und brach in ersticktes Lachen aus. Das Gesicht von fahler Blässe überzogen, ging er zu dem Baum zurück, an den er seine Büchse gelehnt hatte. Zitternd klammerten sich seine Hände um die Waffe, während sein Blick die Höhe suchte, über deren Büsche das von Epheu umsponnene Dächlein herunterblinkte. Es war eine wilde Drohung, die aus seinen brennenden Augen flammte. Und dabei murmelte er vor sich hin: „Wart’ nur, du Stolze, du, wir reden schon noch ein Wörtl miteinander!“

Er warf die Büchse auf den Rücken und schritt in den Wald hinein. Jeden Pfad vermeidend, kletterte er an der Lehne des Berges hin. Und plötzlich warf er sich der Länge nach ins Moos und grub das Gesicht in die Arme. Fast eine Stunde lag er so. Müd’, als wären ihm alle Glieder wie gebrochen, richtete er sich endlich auf. Sein Gesicht brannte, und die Falten des Aermels hatten ihm Striemen auf die Wangen gedrückt.

Er zog die Uhr – es war Mittag geworden, und da konnte er nun ins Thal hinuntersteigen, ohne fürchten zu müssen, daß ihm der Förster auf dem Weg begegnen könnte, der ihm verboten war.




7.

Es war gegen ein Uhr mittags, als Praxmaler, völlig erschöpft vom raschen Lauf, bei den Jagdhäusern eintraf. Auf halbem Wege war er vorausgegangen unter dem Vorwand, die Heimkehr des Fürsten anzumelden, damit der „Herr Kammerdiener“ alle Bequemlichkeit für seinen Herrn in Bereitschaft halten könnte. Ettingen hatte dem Diensteifer des Jägers gerne zugestimmt, weil es ihm lieb war, mit seinen Gedanken allein zu sein. Da hatte nun Pepperl lange Schritte gemacht, und als er um die erste Wegbiegung herum und seinem Herrn aus dem Gesicht gekommen war, hatte er einen Dauerlauf angeschlagen, bei dem er schließlich das letzte „Bröserl“ seines Atems auspumpte.

Als er glücklich die Tillfußer Lichtung erreichte, schnappte er nach Luft wie ein aufs Trockene geratener Fisch nach Wasser. Die Faust auf seine schwer arbeitende Brust drückend, spähte er nach allen Seiten, ohne etwas Verdächtiges zu gewahren. Still und friedlich lagen die Jagdhäuser mitsamt der Sennhütte in der weißen Mittagssonne, über den Dächern zerfloß der blaue Rauch in der zitternden Luft, kein Mensch war zu sehen, nur ein paar Kühe grasten mit bimmelnden Glocken über das Almfeld hin.

Das Bild dieses sonnigen Friedens wirkte wie Oel auf die erregten Wogen in Pepperls Seele. Er atmete auf, und schweren Schrittes – denn es lag ihm wie Blei in den Knieen – stieg er zum Jagdhaus hinauf.

„He! Herr Kammerdiener!“ rief er mit lauter Stimme, als er in den Flur trat. „Herr Kammerdiener!“

Keine Antwort ließ sich hören.

Er wird halt in der Kuchl sein! dachte Pepperl und schritt auf die Thüre zu, aus der ihm so wundersame Düfte entgegenquollen, daß er schnuppernd die Nase hob. „Sakra! Sakra! Da giebt’s heut’ wieder was Nobels!“ Er stellte Büchse und Bergstock nieder, nahm das Hütlein ab und trat in die Küche.

Sein erster Blick suchte den Kammerdiener, und da er ihn nicht fand, vergaß er völlig, die Jungfer Köchin zu grüßen, und fragte nur: „Wo is er denn?“

„Wer?“

„Der Herr Martin.“

„Den hab’ ich den ganzen Morgen noch nicht gesehen. Wahrscheinlich sitzt er drunten in der Almhütte und schneidet der Sennerin die Cour. Ein rundes, gesundes Mädl … das ist so der Gusto von unserem Herrn Kammermops!“

„So is schön!“ stotterte Pepperl, dem der Schreck glühheiß in alle Glieder gefahren war. Ohne das verwunderte Gesicht der Jungfer Köchin zu sehen, stolperte er zur Thüre hinaus und rannte mit langen Sprüngen über das Almfeld hinunter. Als er den Stall erreichte, blieb er stehen und faßte sich bei der Joppe, als müßte er sich selbst Vernunft einreden: „Nimm dich z’samm’, Pepperl! Denn grob darfst nimmer werden! Sei du der G’scheiter’!“

Lautlosen Schrittes bog er um die Ecke der Sennhütte, und da hörte er schon aus der Almstube die beiden Stimmen. Ein so gerader und ehrlicher Bursch er auch war, der alle Heimlichkeiten haßte … jetzt konnte er sich’s doch nicht versagen, ein wenig zu lauschen. Auf den Fußspitzen schlich er an der Mauer hin und guckte durch eines der kleinen Rauchlöcher, welche die Wand durchbrachen – –

Da drinnen saß der Kammerdiener in seiner schwarzen, tadellosen Gala und mit glänzend frisiertem Scheitel am Tisch, hielt in vornehmer Nonchalance die Beine mit den Schnallenschuhen übereinander geschlagen und schmauchte eine Cigarette seines Herrn. Aber seinen hoch aufgezogenen Brauen war es anzumerken, daß er mit dem Ergebnis des vorausgegangenen Gespräches nicht sonderlich zufrieden war.

Ein paar Schritte vor ihm stand die Sennerin am Herd und rührte in dem großen Kupferkessel, der über dem flackernden Feuer hing, den „Molken“ um. Das hübsche Gesicht des Mädchens brannte – und das schien nicht nur von der Hitze des Feuers zu kommen, denn eine Furche des Unwillens lag zwischen ihren Brauen.

„Nun?“ fragte Martin nach einer Weile. „Warum so schweigsam, schönes Kind? Soll ich gar keine Antwort bekommen?“

Es schien kein freundliches Wort zu sein, das dem Mädchen auf der Zunge lag. Schon wollte sie sprechen – aber da hörte sie mit ihrem feinen Ohr ein leises Rascheln an der Mauer und schaute lauschend auf. Wohl hörte sie kein weiteres Geräusch mehr, alles war still da draußen – aber merkwürdig war es doch, daß an einem der Rauchlöcher die Sonnenhelle, welche durch die Oeffnung geleuchtet hatte, plötzlich verschwunden war.

Ein spöttisches und feindseliges Lächeln zuckte um Burgis Lippen. Aber dieses böse Lächeln löste sich in lustiges Schmunzeln auf, und während sie mit blitzenden Augen über die Schulter zu Martin hinüberguckte, sagte sie zögernd, als müßte sie sich auf jedes Wort besinnen: „Ja … wissen S’ … mit Ihnen hat ein Madl ein hart’s Reden! Sie sind so ein städtischer Pfiffikus, der ein’ gleich beim Hackerl hat! Da muß man Obacht geben auf jedes Wörtl. Sie sind ein bißl ein G’riebener, scheint mir … wenn S’ mir auch sonst net gar so übel g’fallen thäten, ja!“ Diese letzten Worte sagte sie mit auffallend lauter Stimme.

Martin schien diese jähe Schwenkung im Verhalten des Mädchens mit angenehmer Ueberraschung zu bemerken und gab seiner Antwort einen Herzton von fast überzeugender Ehrlichkeit: „Aber ich bitt’ Sie, mein liebes Kind, einen aufrichtigeren Menschen als ich bin, giebt es ja gar nicht mehr. Wenn ich Ihnen etwas sage, so können Sie sich drauf verlassen, daß es so ist!“

„No, wissen S’, gar so viel glauben thu’ ich Ihnen doch net!“ Burgi lachte. „Aber da mach’ ich mit Ihnen gar kein’ Ausnahm’! Die Mannsbilder alle miteinander sind Lugenschüppel … und schon gar, wenn s’ zu ei’m Madl von der Lieb’ reden. Da sind unsere Burschen im Ort draußen auch net anders als die nobligen Herrn aus der Stadt. Und erst die Jager! O du mein lieber Herrgott! Eh’ so einer ’s Maul aufmacht, hat er schon dreimal g’logen. Schauen S’ den Pepperl an, der sich neulich auf d’ Nacht so fein gegen Ihnen benommen hat … das is schon gar der Aergste! Z’widerer, wie mir der is, kann mir net leicht einer sein!“

„Na, hören Sie, mein liebes Kind, Sie werden mich doch nicht mit solch einem ungebildeten Lümmel vergleichen wollen?“

„Aber Gott bewahr’! Na, na! So viel Augen hab’ ich schon, daß ich ein’ Unterschied merk’.“

„Das ist nett von Ihnen, daß Sie mir das so aufrichtig sagen. Und eine Aufrichtigkeit für die andere … so gut wie Sie, liebe Burgi, hat mir in meinem ganzen Leben noch kein Mädel gefallen! Sie haben so was Heiteres, Gesundes, Frisches und Herziges …“

„Gehen S’ weiter, Sie süßer Schmalger, Sie!“ erwiderte die Sennerin lachend, aber sie wurde dabei doch rot bis über die Ohren, als hätte dieses schmeichelnde Bekenntnis nicht völlig wirkungslos an das verschlossene Thürchen ihres Mädchenherzens gepocht.

„Und das dürfen Sie mir auch glauben, daß ich in meinem Leben noch nie einem Mädel so was gesagt habe!“ sprach Martin, welcher seinen Vorteil zu erkennen glaubte, mit warm werdendem Eifer weiter. „Wahrhaftigen Gott, ich habe mich nie besonders viel um die Frauenzimmer gekümmert. Mein Dienst und mein Herr, das war für mich immer das Höchste … in einer so wichtigen Stellung, wie ich sie bekleide, hat man keine Zeit für Dummheiten übrig!“

„Dummheiten?“ wiederholte Burgi und blickte nachdenklich in den brodelnden Kessel. „No, wissen S’, gar so was Dummes kann d’ Lieb’ ja doch net sein!“

„Jaaa! Wenn es die richtige Liebe ist! Treu, aufrichtig und ehrenhaft! Das ließ’ ich mir auch gefallen. Aber so, wie sich das in der Stadt gewöhnlich macht … nein, dafür dank’ ich! Denn das kann ich Ihnen sagen … wenn ich wollen hätte … an jedem Finger hätt’ ich eine haben können!“

Burgi musterte den feinen Herrn mit prüfendem Blick und sagte: „No ja, das glaub’ ich gern, daß einer wie Sie sein Glück bei die Madln machen könnt’. Denn ein fürnehms und ein nobligs Mannsbild sind S’ schon, ja, das muß ich sagen! So nobel wie Sie geht net einmal der Herr Fürst umeinander. Ja, Sie, das hab’ ich mir schon die ganzen Tag’ her alleweil denkt … das thut doch net leicht ein Mensch, daß er sei’m Dienstboten ’s bessere G’wand zum Tragen giebt, und er selber tragt ein g’ringers. Der Herr Fürst, der muß Ihnen schon arg gern haben!“

„Er weiß aber auch, was er an mir hat!“ sagte Martin, über das naive Mißverständnis des Mädchens mit heiterem Lächeln hinübergleitend. „Und wenn es einmal an der Zeit ist, wird er mir auch für meine treuen Dienste in entsprechender Weise danken!“

Er blies eine Rauchwolke vor sich hin, lehnte sich behaglich zurück und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Ich bin ja mit meiner jetzigen Stellung ganz zufrieden, aber … mit der Zeit will man doch auch einmal daran denken, sich etwas selbständiger zu machen und eine Familie zu gründen.“

„Familli gründen?“ Dieses Bild schien für Burgi eine Nuß zu sein, die man erst knacken mußte, um auf den Kern zu kommen. „Ah so! Heiraten, meinen S’?“ Und sie hatte wohl einen ganz besonderen Respekt vor diesem Wort: „Heiraten!“ Das verriet die ehrfürchtige Breite, mit der sie es aussprach.

„Heiraten! Ja!“ Martin schmunzelte. „Es ist nicht gut, wenn der Mensch immer allein bleibt … das steht schon in der Heiligen Schrift.“

„Das is ein fromms und gottg’fälligs Wörtl, ja!“

„Und wenn ich einmal das Frauerl gefunden habe, das mir gefällt, dann brauch’ ich nur mit meinem Herrn zu sprechen. Da kann ich mir auf seinem Gut einen Posten als Schloßverwalter oder Inspektor aussuchen, wie es mir gerade paßt! Aaah, meine Frau, die wird’s einmal gut haben! Denken Sie nur, liebe Burgi … Licht, Holz und Wohnung, alles frei … und dazu einen Gehalt von drei- bis viertausend Gulden im Jahr!“

„Was! Vier – tausend – Gulden! Mar’ und Josef! Is das ein Geld!“ Burgi schlug vor Staunen die Hände zusammen und machte Augen, als wäre Martin plötzlich für sie ein anderer Mensch geworden – einer, den man ernst nehmen und mit Achtung behandeln mußte. Und in ihrem Staunen vergaß sie völlig jenes kleine Rauchloch, in dem die Sonne erloschen war. „Vier – tausend – Gulden! Mehr hat ja bei uns in Tirol kein Bischof! Sie, Herr Martin, da können S’ Ihnen freilich ein feines Stadtfräul’n aussuchen!“

„Na, wissen Sie, mit denen aus der Stadt …“ Martin schüttelte den Kopf und schnellte die Asche von der Cigarette. „Ich hab’ mir immer was anderes gedacht. So was Urwüchsiges und Unverdorbenes … das wär’ so mein Geschmack! Und dann … in einem unbewohnten Schloß die Zimmer lüften oder auf den Feldern hinter den Arbeitern her sein, das paßt mir auch nicht recht.“

„Um Gotts willen, Herr Martin, Sie werden doch die viertausend Gulden net auslassen!“

„Wenn ich mir aber was Besseres wüßte?“

Noch was Bessers? Gehen S’ weiter, das kann ich aber doch net glauben! Das giebt’s ja gar net!“

„Wer weiß!“ Martin lächelte geheimnisvoll. „Und … wenn Sie mir versprechen, daß Sie nichts weiterschwatzen … dann sag’ ich Ihnen etwas.“

„Ich? Und ein’ Tratsch machen?“ Diese Zumutung schien das Mädchen völlig gekränkt zu haben. „Na! Da thät’ ich mir lieber ’s Züngl abbeißen. G’wiß wahr, zu mir können S’ unscheniert reden. Von mir erfahrt kein Mensch kein Wörtl net!“

„Hand darauf?“

Burgi wischte sich zuerst die Hand an der Schürze ab, bevor sie einschlug. „Hand drauf, ja!“

Vertraulich zog Martin die schmucke Dirn’ an seine Seite und streichelte zärtlich ihre rauhe, sonnverbrannte Hand. Aber bei der Neugier, die in Burgi wach geworden, schien sie diese Einleitung gar nicht zu beachten, sondern blickte nur gespannt auf die Lippen, die ihr das „noch Bessere“ verkünden sollten.

„Das wissen Sie doch, daß unsere Durchlaucht diese große Jagd da auf zehn Jahre gepachtet hat?“

„Freilich, ja! Und der Pacht, und ’s Winterfutter, und die Jager alle, und ’s Jagdhaus, und ’s teure Leben da heroben … mein Gott, mein Gott, das muß dem Herrn Fürsten ein schöns Stückl Geld kosten!“

„Na, das glaub’ ich! Und da können Sie sich denken, daß da ein verläßlicher Mensch hergehört, der alles leitet und überwacht, die Verrechnung führt und die ganze Verpflegung besorgt …“

„Aber das macht ja der Herr Förstner! Und das is fein ein ehrenhafter Mensch! Auf den kann sich der Herr Fürst verlassen!“

„Ja, ja … ich will ihm auch von seinen guten Eigenschaften nichts abstreiten, aber … auf einen solchen Posten gehört denn doch ein Mensch von Bildung, der alles so zu richten versteht, wie es unserer Durchlaucht lieb und angenehm ist.“

„Um Gottes willen! Der gute Herr Förstner wird doch net sein’ Posten verlieren?“

„Gott bewahre! Der kann bleiben, was er ist … aber über ihn wird noch ein Jagdverwalter gesetzt, verstehen Sie?“

Ganz verstand sie die Sache nicht; aber sie nickte: „Ah ja! Ah ja!“

„Das wird wahrscheinlich noch heuer im Herbst gemacht, sonst jedenfalls im Frühjahr. Der Herr Fürst hat bereits mit mir über die Sache gesprochen, und … es ist alles schon soweit in Ordnung. Im Frühjahr wird draußen in Leutasch für den Verwalter ein neues Haus gebaut, natürlich zweistöckig, mit einem großen Garten, mit einem Stall für zwei Pferde und vier Milchkühe …“

„Da g’hört aber ein Heustadel und ein Holzschupfen auch dazu!“

„Natürlich! Wird gebaut! Selbstverständlich!“ Martin warf die Cigarette über den Tisch und zog das Mädchen dicht an seine Seite. „Na, und jetzt raten Sie mal, wer das sein wird … der neue Jagdverwalter?“ Lächelnd tätschelte er den runden molligen Arm der Dirn und zwinkerte mit vergnügten Augen zu ihr hinauf.

Da begriff sie: das also war das Bessere, was der Martin für sich wußte. Sie machte große Augen. „Am End’ gar Sie, Herr Martin!“

Er nickte.

„Hören S’, da därf man Ihnen aber gratalieren!“

„Nicht wahr? Aber … einen Haken hat die Sache doch noch!“

„Was denn für ein’?“

„Der Verwalter hier … das muß einer sein, der verheiratet ist.“

„No ja, so heiraten S’ halt. Für so ein’ Posten, da kann man’s schon riskieren.“

„So? Meinst?“

Sie merkte gar nicht, daß er sie duzte.

„Aber wo find’ ich denn nur so schnell eine, die mich nimmt?“

Nun lachte sie. „Ui jegerl, da finden S’ g’schwind eine. Bei so was greift doch jedwede zu mit alle zwei Händ’.“

„Na ja, aber … ich kenn’ eben keine.“ Martin legte den Arm um ihre Hüfte. „Und … jetzt sag’ mal, Burgerl … möchtest du mir denn nicht eine suchen helfen?“

„Ich?“ Sie lachte, als hätte sie in ihrem Leben etwas Lustigeres nicht gehört. „O du mein lieber Hergott! Mit so einer, wie s’ mir bekannt sind, da wären S’ sauber aufg’richt’t! Sie … und ein Bauernmadel!“

„Na, weißt du, das wird doch wohl nicht anders gehen. Eine vom Land werd’ ich mir nehmen müssen! Eine, die sich hier in der Gegend auskennt, und eine, die sich auf den Stall versteht … von Kühen und Pferden versteh’ ich nichts, rein gar nichts … das muß eben dann meine Frau besorgen.“

„Ah ja!“ Das leuchtete ihr ein, und sie wurde ernst. „Das is wahr, da brauchen S’ eine, die ihr Sach versteht und die g’hörig schaffen kann!“

„Na also, und da mußt du mir halt suchen helfen! Denk’ mal ein bißchen nach! Ich mein’ immer, daß du gar nicht weit zu suchen brauchst, um so eine für mich zu finden … eine, die mir so recht von Herzen gut sein könnte … so recht eine Hübsche, Frische, Gesunde …“

Sie fühlte den zärtlichen Druck seines Armes, spürte seinen heißen Atem, sah seine funkelnden Augen … und da begriff sie. Das wirkte, als hätte der Blitz vor ihr eingeschlagen.

Blässe und glühende Röte wechselten auf ihrem Gesicht. Sie wich zurück und versuchte seinen Arm von sich abzuwehren … aber es schien ihr bei diesem Befreiungsversuche doch die rechte Kraft zu fehlen, denn er gelang nicht.

Was in ihr vorging, war so deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen, als wären diese großen verdutzten Augen und diese brennenden Wangen wie ein Buch mit aufgeschlagenen Seiten. Ihr erster Gedanke war Unglaube, der sie lachen machte. Der Menschenverstand, der in ihrem hübschen Zauskopf wohnte – so schlicht und anspruchslos ihn die Natur auch geschaffen hatte – war zu gesund, um sie nicht vor dem groben Köder zu warnen, den sie da vor ihren Augen winken sah. Aber sie hätte nicht das praktisch rechnende Kind des Dorfes sein müssen, wenn ihr neben allem Zweifel nicht auch die Erwägung gekommen wäre: vielleicht is doch was dran … und wenn was dran is, därf ich mir’s net verscherzen! Und sie hätte nicht das arme, mit aller Not und Arbeit des Lebens kämpfende Mädel sein dürfen, um trotz allem Unglauben nicht auch die scheue Sehnsucht zu empfinden, die der Traum vom großen Los und von unverhofftem Glück erweckt. Ihr Herz war frei, sie dachte an keinen anderen – der Praxmaler-Pepperl war ihr ja „so z’wider wie net leicht einer“ – und wenn der gesunde Verstand ihr auch sagte: Glaub’ dem Schmalger nix, er lügt dich an! so hinderte das doch nicht, daß sich in ihrem summsenden Kopf ein winkendes Luftschloß auferbaute. Sie sah das zweistöckige Haus, den Garten mit Beeten und Wiese, den Stall mit Pferden und Kühen. Sie sah den Vater, den sie seit Jahren mit dem Schweiß ihrer Stirn und mit den Schwielen ihrer Hände ernährte, sorglos in seinem Stübchen sitzen. Sie sah sich im seidenen Kleid zur Kirche gehen und im ersten Betstuhl knieen. Sie sah sich am Sonntagnachmittag beim Kaffee, während die Thür sich aufthat und die Jäger zum Rapport erschienen, voran der Praxmaler-Pepperl, welcher höflich das Hütlein zog und mit einem manierlichen „Buckerl“ grüßte: Recht schön’ guten Abend, Frau Jagdverwalterin! – –

„Mar’ und Josef!“ stotterte sie zu Tode erschrocken – denn plötzlich wieder hatte sie an das Rauchloch da drüben denken müssen, in dem die Sonne verschwunden war. „Mar’ und Josef! Lassen S’ mich aus! Ich bitt’ Ihnen, lieber, lieber Herr Martin … lassen S’ mich aus!“

„Aber Burgerl, Kind, so sag’ mir doch …“ Martin versuchte, sie näher an sich heranzuziehen.

Doch da verfinsterte sich die Thür, und eine Stimme, die kaum merklich bebte und dennoch ganz anders war als die gewohnte Stimme des Praxmaler-Pepperl, klang in den Raum: „Recht schön’ guten Abend bei ’nander!“

Im gleichen Augenblick stand aber auch Burgi schon am Herd und begann im Kessel ein so verzweifeltes Rühren, als hätte sie Angst, daß der Molken rettungslos angebrannt wäre.

Martin streckte die Beine, brannte sich eine frische Cigarette an und schielte über das flackernde Zündholz nach dem Jäger.

Pepperl stand wie ein Baum unter der Thüre, die Daumen in die Hosenträger eingehakt. „Sie! Herr Kammerdiener! Tummeln S’ Ihnen! Der Herr Fürst wird gleich heimkommen!“

„Also ist er noch nicht daheim? Na, dann wird’s ja nicht so pressieren!“ meinte Martin und stäubte eine Aschenflocke von seinem Frack. Dann erhob er sich, zog die Weste glatt und ging zur Thüre. „Wollen Sie gefälligst den Weg freigeben? Ja?“

Pepperl rührte sich nicht. „Ja, gleich! Aber z’erst noch ein

Wörtl! Neulich auf d’ Nacht hab’ ich ein’ Rausch g’habt. Und da hab’ ich mich ein bißl ung’hörig aufg’führt gegen Ihnen … und das reut mich, ja! Aber heut’ bin ich nüchtern!“

Martin runzelte die Brauen. „Was soll das heißen?“

„Es is nur, daß der Herr Kammerdiener weiß, wie er dran is mit mir.“ Pepperl trat von der Thüre weg. „So!“

„Sie scheinen zu glauben, daß ich an Ihr unqualifizierbares Benehmen von neulich eine Minute später noch gedacht habe? Da thun Sie sich doch ein wenig zu viel Ehre an, junger Mann.“

„Is schon möglich! Unsereins halt’ eben ein bißl was auf sein’ Ehr’. Deswegen zwick ich Ihnen von der Ihrigen nix ab. Sie thät’ mir net in d’ Joppen passen! Na!“

Martin zuckte mit hochmütigem Lächeln die Schultern, und während er zur Thüre hinausschritt, grüßte er freundlich: „Adieu, Burgerl!“

„B’hüt’ Ihnen Gott, Herr Martin!“ klang es so dünn wie ein Zwirnsfaden vom Herd herüber.

Draußen waren Martins Schritte schon verhallt, und Pepperl stand immer noch stumm, breitspurig und regungslos neben der Thüre.

Burgi that, als wäre der Jäger Luft für sie. Bald hantierte sie mit dem Geschirr, bald wieder legte sie ein frisches Scheit in das flackernde Feuer, und bei allem drehte sie der Thüre immer den Rücken zu.

„Jaa!“ sagte Pepperl endlich, ging auf den Tisch zu, setzte sich auf den leergewordenen Stuhl und begann in aller Gemütsruhe sein Pfeiflein zu stopfen. Als diese umständliche Arbeit erledigt war, hob er das Bein und strich an der Lederhose das Zündholz an. „Ja, ja, ja, ja!“ nickte er vor sich hin, während er nachdenklich den brennenden Schwefel betrachtete. „So geht’s halt auf der Welt!“ Mit langen Zügen begann er zu paffen.

Burgi stöberte die brennenden Scheite durcheinander und schoß einen wütenden Blick nach dem Jäger.

„Mußt denn du allweil grad’ bei mir herinn sitzen?“

„Da herinn g’fallt’s mir halt, weißt!“

„So?“

„Ja!“

„Wär’ mir lieber, es thät’ dir wo anders besser g’fallen!“

„So?“

„Ja!“

„No, die Zeit, wo’s mir da herinn nimmer g’fallt, kann auch noch kommen!“

„Hoffentlich bleibt’s net gar z’lang’ aus!“

„Ja, is schon möglich! Es giebt Sacherln auf der Welt, die haben g’schwinde Füß’!“

„Geh? Is’ wahr?“

„Ja!“

Mit trockenem Lachen faßte Burgi die Holzlatte, um den Inhalt des Kessels wieder aufzurühren. Eine Weile hörte man nur das Knistern des Feuers und das angestrengte Paffen des Jägers.

„Heut’ macht’s aber ein’ staden Tag!“ sagte Pepperl endlich. „Plauschen wir lieber ein bißl was!…… No also, wie geht’s und wie steht’s denn allweil, Frau Jagdverwalterin? Haben S’ heut’ den herrschaftlichen Stall schon auf’putzt? Ja?“

Burgi fuhr auf wie von einer Natter gestochen. Aber im ersten Augenblick wußte sie nicht, was sie sagen sollte. Ihre Finger arbeiteten, als hätte sie etwas unter den Händen, dem es übel ergehen sollte. Plötzlich trat sie auf den Jäger zu, beugte den Kopf bis zu seiner Nase hinunter und zischelte ihm ins Gesicht: „Du! Jetzt will ich dir was sagen! Um alles andere frag’ ich net … aber bei’m Herrn Martin seiner Privatsach’, die er mir anvertraut hat, da hab’ ich d’ Hand drauf ’geben, daß nix weiter kommt. Du! Das möcht’ ich mir fein ausbitten, daß du jetzt ein’ Tratsch machst, und daß’s nachher hint’nach heißen thät’: ich hab’s g’sagt! Verstehst mich?“

Pepperl blies ihr den Rauch ins Gesicht, daß sie husten mußte, und zuckte die Achseln. „Das kann ich jetzt halten, wie ich mag! Ich hab’ ja nix versprochen!“

„So? So?“ Fuchtelnd wehrte sie mit beiden Händen den Rauch von sich ab. „Gleich schauen thät’s dir schon, dir, daß d’ jetzt umeinander rennst in der ganzen Gegend und alles ausschreist! Gelt?“

Das Blut stieg ihm ins Gesicht, aber er blieb ruhig. „So? Schaut’s mir gleich? No ja!“ Und paff, hatte sie wieder eine Wolke unter der Nase.

„Jetzt hör’ einmal auf!“ fuhr sie ihn hustend an. „Und blas mir net allweil dein’ Stinkadores ins G’sicht!“

„Freilich, du vertragst halt bloß so ein fein’s Cigarettendampfl! Uebrigens … wenn dir sonst kein’ Sorg’ net aufliegt, als daß ich ein’ Tratsch mach’, da kannst dich trösten. Lugen red’ ich net weiter, und … daß ich den Schwindel mit der Jagdverwaltung glaub’, für so strohdumm möcht’ ich mich von die Leut’ schon net halten lassen!“

Burgi atmete erleichtert auf und kehrte zum Herd zurück. Einen „Tratsch“ brauchte sie nicht zu fürchten, das wußte sie jetzt. Und über das Loch, das Pepperl mit dem Wörtlein „Schwindel“ in ihrer halben Hoffnung aufgerissen hatte, machten ihre Gedanken einen großen Sprung.

„Bist ihm halt neidisch, gelt?“

„Dem? Na!“

„Und ärgern thust dich, daß er sich mit dir net abgiebt!“

„Daß ich ihm net g’fall’, das begreif’ ich! Weißt, ich hab’ halt an mir nix so ‚Urrwixigäs‘ und ‚Härzigäs‘, wie er’s gern hat!“

„Natürlich, so ein Lümmel wie du!“

„Ja freilich! Ich hab’s ja hören können, daß dir net leicht einer so z’wider is wie ich!“

„So?“ Die Schadenfreude blitzte aus ihren Augen. „Hast das auch aufg’schnappt! Ich hab’s eh’ nur g’sagt, damit du’s hörst!“

„Geh?“

„Ja! Meinst ’leicht, ich hab’ dich net umraspeln hören hinter der Wand da draußen?“ Als sie die verdutzten Augen sah, die er machte, versetzte sie der Wahrheit und Logik einen gelinden Puff und sagte: „Wenn’s da herinn was zum Verheimlichen geben hätt’ … meinst, ich hätt’ den Herrn Martin weiterreden lasten, wenn ich doch weiß, wer draußen steht mit die g’spitzten Luser! Uebrigens … schenieren möcht’ ich mich! Mit die Ohrwascheln umeinander rutschen hinter der Mauer! Aber …

Der Lauscher an der Wand
Hört seine eig’ne Schand’!

Kennst es ja, das Sprüchl, gelt?“

„Ja!“ Pepperl biß in die Pfeifenspitze, daß es knirschte. „Schand’ hab’ ich g’nug g’hört … aber net die meinig’!“

„Du!“

Das Wort war ihr wie ein Dolch von den Lippen geflogen. Und das brennende Scheit, das sie gerade tiefer ins Feuer schieben wollte, hatte sie in der Hand behalten. Der Rauch quoll an ihr hinauf, und die Flamme züngelte nach ihrer Schürze.

Da war es um Pepperls Ruhe geschehen. Ein Sprung, und er stand an ihrer Seite, riß ihr das Scheit aus der Hand, um es ins Feuer zu werfen, und schrie ihr mit aller Ueberzeugung eines ehrlichen Menschen ins Gesicht: „Madl! Ich sag’ dir’s, und mir kannst es glauben: er lügt dich an! Der!“

Sie wurde bleich und trat einen Schritt zurück. „Gelt, du! Nimm dich fein in acht! So was laß ich mir net sagen! Von dir schon gar net! Und zum Anlügen g’hören allweil zwei … da müßt’ ich auch noch dabei sein! Aber weil du vom Herrn Martin bloß allweil ’s Schlechte glaubst, deswegen mußt noch lang’net recht haben!“

„Ja, Madl! Ja, Madl!“ Pepperl fuhr ihr mit den fuchtelnden Händen fast ins Gesicht. „Wie kannst denn nur so was glauben! Der? Und Jagdverwalter? Da macht man doch ehnder noch ein’ Pudel zum Pfarrer! Und wieviel hat er g’sagt … viertausend Gulden? Ja! Viertausend Pfifferling’ mit Schneckensoß’, und eine Tracht Prügel dazu … das verdient er! Der!“

Der Brustton, mit welchem Pepperl gepredigt hatte, schien den zornigen Trotz des Mädchens schon ins Wanken zu bringen. Aber was der Jäger in immer heißerem Eifer noch weiter vorbrachte, verdarb wieder alles.

„Ich sag’ dir’s, Madl, ich sag’ dir’s: er führt dich an! Meinst denn, ich hab’s net g’merkt, gleich am ersten Abend, wie er dich ang’schaut hat? Kümmern thut’s mich freilich nix. Denn ich will nix von dir! Na! Fallt mir net ein! Da wüßt’ ich mir noch lang’ ein’ andere als dich. Aber als guter Freund, hab’ ich mir denkt, muß ich das dumme Madl doch ein bißl verwarnigen. Drum hab’ ich in der Nacht an dein Kammerl ’klopft! Ja! Sonst wegen nix! Aber hast dir ja nix sagen lassen! Natürlich, und jetzt is der Teufel los! Jetzt hat er dich an’plauscht! Und glauben, natürlich, glauben thust ihm auch schon lang’ und möchtest am liebsten gleich mit alle zwei Füß’ ins Unglück ’neinspringen, gelt? Aber da is noch was gut dafür! Verstehst mich? Da bin ich noch da! Verstehst mich? Du gehst mich net so viel an, weißt! Aber die gute Repadazion von unserer Gegend liegt mir am G’wissen! Und daß ’s bei die Leut’ umeinander heißen soll: aus der Tillfußer Alm, wo d’ Jaager hausen, geht’s zu wie auf der ung’raden Hochzeit, die der Pfarrer verschlafen hat … das laß ich net zu! Verstehst mich?“

„Du, mir scheint, dir hat d’ Sonn’ heut’ ein bißl z’heiß aufs Dachl ’brennt!“ fiel Burgi mit zornbebender Stimme ein. „Komm her, du, ich kühl’ dich ab!“ Und ehe sich Pepperl den Sinn dieser Worte noch deuten konnte, hatte sie den Tränkzuber gepackt und schüttete dem Jäger einen Guß ins Gesicht, daß ihm das Wasser in plätschernden Bächlein von den Armen und über die Knie niedertroff.

„So? No, wart’ nur, du!“ Pepperl schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Seiten flogen. „Wir zwei sind fertig miteinander! Du und ich! Für ewige Zeiten! Jetzt soll dir ein anderer ins G’wissen reden! Jetzt muß dein Vatter her! Dein Vatter soll’s wissen, wie’s steht um dich! Ja, schau mich nur an, du! Heut’ noch laß ich ihm Botschaft sagen. Dein Vatter muß her! Und jetzt bin ich fertig, so!“ Er streifte das Wasser aus den Aermeln und schleuderte die Tropfen von den Händen. „Mich siehst nimmer in deiner Hütten!“

Wie er zur Thüre hinauskam, das schien er selbst nicht recht zu wissen. Er merkte nur plötzlich, daß er draußen in der hellen Sonne stand, und da schob er den Hut zurück und griff sich an die Stirne, als müßte er sich erst besinnen, was denn eigentlich geschehen wäre. Der Anblick seiner nassen Kleider schien ihm alles wieder in Erinnerung zu bringen.

„Soll’s jetzt geh’n, wie’s mag … ich hab’ mein’ Schuldigkeit ’than! Aber ein’ saubern Dank hab’ ich davon!“

Er zog die Joppe herunter und schüttelte sie aus, trocknete sich mit dem Sacktuch das Gesicht und drückte das Wasser aus der Lederhose, die sich anfühlte wie ein vollgesogener Schwamm.

Das half nicht viel, und da er in dem Zustand, in dem er sich befand, das Försterhäuschen nicht betreten wollte, sprang er gegen den Wald hinunter und legte sich auf einer kleinen, versteckten Lichtung in die Sonne, um trocken zu werden.

„Grad zerreißen könnt’ ich das Weiberleut!“ murrte er mit geballten Fäusten vor sich hin, als er zwischen den Stauden hockte und sich von der Sonne braten ließ.

Es dauerte eine gute Stunde, bis Pepperl in der bratenden Sonne trocken wurde – wenn auch nicht trocken bis auf die Haut. „Unterschichtig“ klebte ihm noch das Gewand am Körper, aber auswendig, so meinte er, „thut’s es schon!“

Um nur ja nicht an der Sennhütte vorüber zu müssen, machte er statt des geraden Weges zum Försterhäuschen einen weiten Umweg durch den Wald, bis hinunter zum Bach. Da begegnete ihm der Bote, der für den Fürsten die Post aus Leutasch gebracht hatte und jetzt wieder heimwanderte.

Pepperls Augen funkelten vor Freude. „So! Du kommst mir aber g’rad’ recht. Kannst mir Botschaft tragen!“

„Was denn?“

„Triffst den alten Brentlinger heut’ noch?“

„Der Burgi ihren Vatter?“

„Ja.“

„Heut’ nimmer, na! Aber morgen, wenn ich am Wirtshaus vorbeikomm’, da hockt er schon drin.“

„Richt’ ihm aus, daß ich ihm ganz ebbes Wichtigs z’sagen hätt’. Er soll mich aufsuchen … je bälder, je lieber!“

„Sagen thu’ ich’s ihm schon.“ Der Mann lachte. „Ob ihm der Schnaps aber Urlaub giebt, das weiß ich net.“

„Versprich ihm halt, daß er bei mir heraußen auch sein Stamperl kriegt.“

„No, nachher kann’s sein, daß er kommt. Jch sag’s ihm, ja!“

Pepperl lüftete die Joppe, lachte spöttisch vor sich hin und spähte mit blitzenden Augen durch den Wald hinauf.

„Gelt, sag’s ihm fein g’wiß! Ich thu’ dir ein andersmal auch wieder ein’ G’fallen dafür!“

„Da wär’ ich schier neugierig, was d’ ihm z’sagen hast … weil’s dir gar so pressiert.“

„Na, na! Schau lieber, daß d’ heimkommst und den Postwagen net versaumst. Hast viel mit’kriegt vom Herrn Fürsten?“

„Schier gar nix, na … bloß ein Telegramm, das er g’schwind noch g’schrieben hat, g’rad’jetzt, wie er heim’kommen is.“

„No also, da mußt doppelt flinke Füß’ machen! B’hüt’ dich Gott!“

„B’hüt’ dich Gott auch!“

Während Pepperl seine Lederhose auf ihre „unterschichtige“ Trockenheit prüfte, wanderte der Bote davon.

Die Depesche, die er mit fort trug, war an den Grafen Sternfeldt adressiert und lautete:

„Erkundige dich, bitte, nach einem Maler Emmerich Petri, der vor zehn oder fünfzehn Jahren in München lebte. Jedes Wort, das du über ihn erfahren kannst, hat Interesse für mich.

Dank und herzlichen Gruß. Ich bin gesund und guter Dinge, wie ein Fisch in klarem Wasser. – Heinz.“

8.

Ein stiller Tag verging, an dem das Blau des Himmels gegen die Nebel kämpfte, welche überall aus der Luft herauswuchsen und sich wie graue Kappen über alle Zinnen der Berge stülpten.

Gegen Abend begann es zu regnen.

Förster Kluibenschädl war droben im Fürstenhaus zu Tisch geladen. Als er sich nach heiter verplaudertem Mahl von seinem Jagdherrn verabschiedete, erbat er sich Urlaub für den nächsten Tag. Neue Jagdsteige wären zu bauen, und da müßte die Zustimmung der weideberechtigten Gemeinde eingeholt werden.

„Sie gehen nach Leutasch?“ fragte der Fürst. „Wollen Sie mich nicht mitnehmen?“

„Wollen? Aber ich bitt’, Duhrlaucht … es wär’ mir ja die größte Ehr’ … eine solchene Begleitung. Aber ’s Wetter, mein’ ich, wird Mannderln machen. Und gar viel is in der Leutasch draußt’n net zum sehen …“

Ettingen lächelte.

„Na, na, es wär’ net der Müh’ wert drum, daß Duhrlaucht naß werden.“

„Ich hoffe, das Wetter bessert sich wieder bis morgen, und dann gehen wir.“ –

Der Wunsch des Fürsten erfüllte sich. Die halbe Nacht hindurch währte zwar das Strömen und Gießen, aber der Morgen brachte wieder klares Wetter, sonnig und dennoch kühl.

Auf zehn Uhr morgens war der Abmarsch nach Leutasch festgesetzt – für Pepperl ein triftiger Grund, schon um neun Uhr von der Frühbirsche heimzukehren. Denn wenn der Fürst das Jagdhaus verließ, hatte der Kammerdiener einen freien Tag vor sich – und da mußte ein Riegel vor die Thür der Sennhütte geschoben werden. Freilich war Pepperl mit „der da drunten“ für alle Ewigkeit „fertig“ – aber er hatte nun einmal die „Verantwortigung“ auf sich genommen, und solch eine Gewissenspflicht wirft ein ehrlicher Christenmensch nicht von sich ab, bevor er nicht sicher ist, daß ein anderer sie auf seine Schultern nimmt! Für diesen andern war ja bereits gesorgt!

„’Leicht kommt er schon heut’, der Brentlinger! Nachher bin ich’s endlich einmal los die verwünschte Sorg’, die! Bei so was hat man ja Tag und Nacht kein’ Ruh’ nimmer!“

Als Pepperl in die Hüttenstube trat, machte sich der Förster gerade wegfertig. Zuerst erstattete der Jäger seine Meldung über den Verlauf der Frühbirsche. Dann nahm er sein Hütlein ab und fragte demütig: „Gelten S’, Herr Förstner, heut’ därf ich mich schon ausschnaufen und daheimbleiben!“

„Ja, Bub, heut’ ruh’ dich aus. Hast ein Paar harte Tag’ hintereinander g’habt! No also, b’hüt’ dich Gott! Und laß dir d’ Ruh’ heut’ schmecken!“

„Ruh’? Ja! Da wird’s spuken!“ brummte Pepperl vor sich hin, während der Förster zum Fürstenhaus hinaufstieg. „Aber ich weiß schon, was ich thu’! Wenn ich mein’ Schmarren drunten hab’, hock’ ich mich mit’m G’heimnis vom Wohdekastl vors Hüttenthürl her! Den ganzen Tag! Da kommt mir nix aus!“

Eine Viertelstunde später wanderte Ettingen mit dem Förster über das Almfeld hinunter. Als sie an der Sennhütte vorübergingen, kam Burgi mit einem Schaff Wasser vom Brunnen und grüßte stumm, bevor sie in den Stall trat. „Ist das die Sennerin?“ fragte Ettingen. „Ein hübsches Mädchen!“

„Ja, gar net so übel! Aber was in das Madl ’neing’fahren is, das weiß der Kuckuck! Sonst hat’s den ganzen Tag allweil g’sungen und g’juchezt wie ein Staarl im Frühjahr. Und jetzt macht’s ein G’sicht her wie neun Tag’ Regenwetter. Sie muß rein krank sein!“

„Oder verliebt! Das gäbe eine schmucke Jägersfrau!“

„Die?“ Kluibenschädl machte große Augen. „Ach, Gott bewahr’! Die hat ja nix!“

Ettingen lachte. „Was haben … gehört das zum Glück? Auch hier im Dorf? Ich dachte mir immer, daß diese schlichten, guten Leute hier in den Bergen das Leben viel einfacher und natürlicher nehmen als wir verbildeten Kulturkinder der Stadt, und daß sie bei der gesunden Anspruchslosigkeit ihres Lebens das irdische Glück als das betrachten, was es für alle Menschen sein sollte: eine reine Herzensfrage.“

„Die Bauern? O du mein! Wenn ein Bauer heirat’t, da wird um ein’ Kuhschwanz g’handelt! Und d’ Leut’ haben recht! Von der Lieb’ hat noch keiner ’zehrt … oder doch net lang’. Und steigen d’ Sorgen einmal zum Fenster ’rein, so fahrt alle Lieb’sfreud’ g’schwind zur Hausthür’ ’naus! Und nachher wird g’rauft und g’scholten!“

Ettingen sah den Förster von der Seite an. „Sie waren wohl noch nie verliebt?“

„Ich?“ Kluibenschädel seufzte und schlug ein Kreuz. „Gott soll mich wieder bewahren!“ Dem Ton dieser Worte war es anzumerken, daß der Förster in Gedanken über eine böse Erinnerung seines Lebens hinwegsprang. „Na, na! Mein’ Dienst und meine Berg’ und mein’ Wald … mehr verlang’ ich mir nimmer im Leben!“

Ettingen atmete tief und nickte.

„Schauen S’ ihn nur an, unsern Wald! Kann’s denn was Schöners geben! Wenn d’ Sonn’ so ’reinspitzelt durch alle Luckerln! Und wenn die Bäum’ umeinanderstehn so mäuserlstad … und bloß die Girbel droben plauschen so ein bißl heimlich … g’rad’ als ob der Wald ei’m ins Herz ’nein wispern möcht’: Geh her, du, ich sag’ dir was Lieb’s! … Meiner Seel’, da steht schon gar nix drüber auf! Und g’wiß is’ wahr … oft, wenn mich ’s Leben völlig verdrossen hat … da hab’ ich mir g’sagt: Marsch, Brüderl, ’naus in dein’ Wald, da verleidst es schon wieder!’“ Er lachte. „Und wahr is’ g’wesen. Wieder lustig bin ich worden! Noch jedesmal!“

Sie waren aus dem Schatten des Waldes in die helle Sonne getreten und hatten die Straße erreicht, die am Ufer des rauschenden Wildbaches hinlief.

Plaudernd – von der herrlichen Landschaft, die sie umgab, von der Jagd und dem Dienst der Jäger, vom Leben der Sennleute – folgten sie in gemächlicher Wanderung der Straße, und die beiden Wegstunden bis zum Dorfe vergingen dem Fürsten so rasch, daß er, als sich das weite Wiesenthal der Leutasch vor ihnen öffnete, verwundert fragte: „Wir sind schon da?“

Sie konnten das schöne sonnige Thal bis zu den Bergen, die es in der Ferne begrenzten, frei überblicken. Gleich blinkenden Silberwürfeln lagen zur Rechten und Linken der stundenweit hingedehnten Straße die weißgetünchten Häuser zwischen dem wechselnden Grün der Obstgärten und Wiesen, zwischen dem gelben Geröll des Bachlaufes und den Goldgevierten der reifenden Haferfelder. Auf zahlreichen Wiesen waren die Leute mit dem Heu beschäftigt, und die kleinen Figürchen in Hemdärmeln, die Wagen, welche beladen wurden, die Zugtiere, alles flimmerte und funkelte im Sonnenglanz und im Blau der vor Wärme vibrierenden Luft. Eine Kette sanft gerundeter Waldberge schloß das Wiesenthal, und hinter ihren zierlichen Wipfelkämmen hoben sich mit wundersamen Formen die Felsenpaläste des Karwendelgebirges empor, die einsame Seefeldspitze und am Horizont die langgestreckten Innthaler Berge, deren fernste Zinnen nur noch wie bläulicher Hauch in die schimmernde Luft gezeichnet waren.

Als sie die ersten Häuser erreichten, sagte der Förster: „Duhrlaucht! Vor wir ins Dorf ’neinmarschieren, müssen S’ mir was versprechen!“

„Und was?“

„Daß ich wegen die Steigbauten allein mit’m Bürgermeister reden därf. Zu dem laß ich Ihnen net in d’ Stuben ’nein.“

„Weshalb? Halten Sie es nicht für gut, daß ich als Jagdherr selbst mit den Leuten spreche?“

„Gott bewahr’! Wenn die Bauern ein’ Jagdherrn sehen, da wissen S’ gleich gar nimmer, was s’ verlangen müssen. Schaut wo ein Zehner ’raus, so reißt der Bauer d’ Augen gleich auf für ein’ Tausender. Deswegen is er net schlechter und net besser wie andere Leut’. Aber einbilden thut er sich viel und denkt sich: er is der G’scheite und der Stadtherr is allweil der Dumme. Und hat er ihn übers Ohr g’haut, so lacht er ihn hint’nach noch aus! Und jetzt gar noch ein Jagdpächter! Der is eh’ schon der Kiniglhaas! Von dem wird ’runterg’rissen, was ’runtergeht an Woll’! Na, na! Bleiben S’ nur davon, Duhrlaucht! Sie mit Ihrer Güt’, Sie möchten schön g’rupft ins Jagdhaus z’ruckkommen! Aber … ein Stündl wird’s allweil dauern, bis ich die Erlaubnis für unsere Steigbauten ohne Blutgeld ’raus’druckt hab’. Wie wollen S’ Ihnen denn derweil’ unterhalten, Duhrlaucht?“

„Ich mache einen Spaziergang durch das Dorf, oder … sagen Sie mir, lieber Förster …“

„Was, Duhrlaucht?“

„Ich habe neulich am Sebensee ein … eine junge Dame kennengelernt, ein Fräulein Petri …“

„Ah so? Die Fräul’n Lo’?“ Der Förster blieb stehen, und es leuchtete warm in seinen Augen. „Net, Duhrlaucht, die muß Ihnen doch g’fallen haben? Meiner Seel’ … das is ein Frauenzimmer!, das sogar ich gelten laß … und das will viel sagen! Ah ja! D’ Fräul’n Lo’! Aber … mit der wird’s schlecht ausschaun heut’ … die is an so ei’m Tag allweil z’höchst in die Berg’ droben! Die treffen S’ heut’ net daheim, Duhrlaucht!“

„Daran hab’ ich auch nicht gedacht,“ erwiderte Ettingen etwas rascher, als es sonst seine Art zu sprechen war, „aber … die junge Dame hat mir manches von ihrem Vater erzählt, und … das merkwürdige Schicksal dieses Mannes interessiert mich lebhaft. Es wäre mir eine Freude, die Bilder zu sehen, die von ihm noch vorhanden sind.“

„Nix leichter wie das! Da gehen wir halt hin! Die Frau Petri hat die größte Freud’, wenn einer kommt und die Sachen anschaut.“

„Sind die Bilder verkäuflich?“

„Na, Duhrlaucht, da wird sich nix machen lassen. Es hätt’ schon Heuer einmal ein Sommerfrischler so ein Taferl aus Kuriosi gern mitg’nommen. Aber was vom Herrn Petri noch da is, das halten die zwei Frauenleutln fest wie mit eiserne Händ’.“

„Also ist die Familie in guten Verhältnissen und hat ohne Sorge zu leben?“

„Aber g’wiß. Erstens einmal sind s’ z’frieden mit allem und verstehen sich drauf, wie man’s Leben schön sparsam einrichten muß … und nachher, sie haben doch auch ein bißl was! Der Herr Petri is ein fleißiger Mann g’wesen. Ah ja! Der hat sich in die fufzehn Jahr’ bei uns da schön was verdient. So gut wie der hat’s net leicht einer verstanden, wie man die Marterln macht, die Votivitaferln und die Heiligen an die Häuser hin! Von der ganzen Gegend hat er die Kundschaft kriegt, ja, und is gut ’zahlt worden … vier Gulden für ein Marterl und sechse für ein’ ganzen Heiligen! Freilich … diemal hat er nachher wieder seine narrischen Zeiten g’habt und hat ganze Wochen lang bloß für ihm selber g’malen … und da hat er Sachen g’macht, auf die der Herr Pfarrer gar net gut zum reden war. Und ich muß selber sagen … der Herr Petri wär’ schon g’scheiter bei seine Heiligen ’blieben! Auf die hat er sich verstanden! Schauen S’, Duhrlaucht … da kommt g’rad’ so ein Haus, das er g’malen hat! Das müssen S’ Ihnen betrachten.“

Ein großer zweistöckiger Bauernhof trat mit der fensterreichen Giebelfront an die Straße vor. Bis unter das Dach hinauf war die Wand mit Darstellungen aus dem Leben der heiligen Maria geschmückt.

Ettingen mußte wohl Besseres erwartet haben, als es hier zu sehen gab; der erste Blick, mit dem er die bunten Bildereien musterte, enttäuschte ihn so sehr, daß er schweigend den Kopf schüttelte. Diese „Heiligen“ mit ihren blauen und grünen Mänteln, mit ihren roten Gesichtern und schwefelgelben Strahlenkronen, mit ihren eckigen Bewegungen und grellen Farben unterschieden sich in nichts von jenen handwerksmäßigen Malereien, wie sie in

[109] den Gebirgsdörfern so zahlreich auf den Wänden der Häuser zu finden sind. Hatte der Künstler seine Sache nicht besser verstanden? Hatte er anderes nicht zu schaffen vermocht als diese wertlosen Klexereien, deren schreiende Farben dem bäuerlichen Geschmack entsprachen, aber jedes geschulte Auge verletzen mußten? War er von jenen Unglücklichen einer, die zum Schaffen wohl allen Willen haben und denen nur eines fehlt: die Kraft? Hatte er sich, ein schwärmerischer Stümper, in die Rolle des verkannten Genies hineingeredet – in eine Rolle, in der ihn alle verlachten, zwei Menschen ausgenommen: die Frau, die in ihm den Gatten liebte, und das Kind, das in ihm den Vater vergötterte?

Während Ettingen sich in Gedanken diese Fragen stellte, fiel seinem Blick, der schon zerstreut über all diese grellen Farben hinglitt, ein nebensächliches Detail auf, das ihn fesselte: ein kleines, stilisiert geflecktes, drolliges Hündchen, das die flüchtende Maria am Mantel zurückhalten will – ein Hündchen von einer Rasse, die der Natur nicht eingefallen war, nur der spielenden Laune einer krausen Künstlerphantasie. Und doch ... wie dieses Tierchen lebte! Wie es die Füße zornig in den Sand stemmte! Wie es an dem Mantel zerrte, als ob es sagen wollte: Du heilige Frau, wenn auch die Menschen dich verkannten, ich, das Tier, ich fühle, wer du bist, und möchte dich bitten, dich zwingen: bleib!

Und dort – dieses kosende Taubenpaar! Oder waren es andere Vögel? Weiße Raben vielleicht? Aber wie körperlich ihre Schwingen sich bewegten?! Mit wie zärtlichem Leben sie sich aneinander schmiegten! – Und jener Star! Oder war’s ein Spatz, der in die Tinte gefallen? Wie er wütend eine Blumenknospe der Guirlande zerzauste, die sich in sonderbaren Schlangenwindungen um alle figuralen Scenen ringelte! Das waren Blätter von seltsamer Form, Blumen von merkwürdiger Farbe und wunderlicher Gestalt – Blumen, die sich ansahen wie werdende Vögel und Schmetterlinge – und dennoch waren es Blumen, die auf gesunder Erde gewachsen und nicht nur zu blühen, auch zu duften schienen.

Wer all dieses naiv gedankenvolle, so unwirkliche und doch so lebendig berührende Beiwerk schaffen konnte, mußte auch die künstlerische Kraft besessen haben, um die Gestalten dieser Heiligen leben und sprechen zu machen. Und wenn er dennoch sich selbst verleugnet und diesen schreienden Unwert gepinselt hatte – weshalb that er es? Weil er sich nach dem Geschmack der Besteller richten mußte, um zu verdienen? Oder weil er in bitterer Selbstironie sich gesagt hatte: Jene anderen, die mich verstießen, mußten nehmen, was ich zu geben hatte – euch aber, ihr Einfältigen des Geistes, euch geb’ ich, was ihr verlangt von mir! Ob nun das [110] eine oder das andere der Fall war – die Arbeit, die der weltflüchtige Künstler auf der Wand dieses Bauernhauses geleistet hatte, mußte ein Martyrium gewesen sein.

Je länger Ettingen die grellen Schildereien und ihr schönes Beiwerk betrachtete, desto deutlicher erwachte in seiner Erinnerung jedes Wort, das draußen am Sebensee jenes seltsame Mädchen zu ihm gesprochen hatte – und aus dem Anblick dieser Farben floß etwas auf ihn über, das er empfand wie einen Schmerz.

Er wandte sich ab und schritt schweigend dahin. Der Förster musterte in Zweifel das nachdenkliche Gesicht seines Herrn. „Mir scheint, Duhrlaucht,“ fragte er kleinlaut, „die Heiligen haben Ihnen gar net g’fallen?“

Da lächelte Ettingen wieder. „O, sie gefallen doch dem Pfarrer und gewiß auch dem Bauer, der sie bezahlte … da sind sie wohl auch so gemalt, wie sie sein müssen.“

Nun schwiegen sie wieder und folgten langsamen Schrittes der Dorfstraße. Suchend gingen die Augen des Fürsten immer voraus. Plötzlich verhielt er den Schritt und sagte erregt: „Das hier … das muß das Haus sein! Nicht wahr?“

[133] Ettingen und der Förster hatten einen grünen Staketenzaun erreicht, welcher, gleichlaufend mit einer gestutzten Holunderhecke, einen kleinen Besitz umschloß, der sich zwischen den anderen Häusern und Gehöften ausnahm wie ein schöngefaßter Schmuckstein neben den grauen Kieseln der Straße. Das einstöckige Haus, welches tief im Garten stand, war früher wohl ein bescheidener Bauernhof gewesen – das verriet noch die an den Wohntrakt angebaute Tenne; aber es hatte größere Fenster und ein grünliches Schieferdach bekommen, dessen Kanten und Firste geschmückt waren mit wunderlichen Tierzieraten. Das Unterdach und die vorspringenden Balken, das Tennenthor, die Kreuzstöcke und Fensterläden waren blaugrün bemalt und mit weißen und blaßroten Linienornamenten ausgezeichnet.

Vor allen Fenstern, durch deren spiegelnde Scheiben die schneeweißen Vorhänge herausleuchteten, waren zierlich gegitterte Blumenbretter mit blühenden Stöcken angebracht, und daneben verschwanden die weißen Mauern völlig unter dem Grün der sorgsam gezogenen Obstspaliere, deren Zweige von der Erde bis zum Schatten des Daches mit reifenden Früchten behangen waren. Heiter und farbig, schmuck und freundlich, erhob sich das kleine Haus wie auf einem breiten Sockel blühender Blumen.

Geranienbüsche zogen sich am Fuß der Mauer hin, und der Vorgarten war in vier große Beete geteilt, mit Rosen, Levkojen und Nelken in allen Farben. Zwei schmälere Blumenbeete zogen sich zu beiden Seiten des Hauses gegen den weiten Hintergarten, zwischen dessen Obstbäumen und langgestreckten Gemüsebeeten eine große schattige Laube und ein luftiges Sommerhäuschen stand, welches ganz aus wunderlich gewachsenen Aesten geschränkt und geflochten war. Silberweiße Kieswege schieden die Beete voneinander und umzogen in der Mitte des Vorgartens ein mit bizarr geformten Tropfsteinen ausgelegtes Wasserbassin, in welchem zwei murmelnde Brünnlein über eine moosige Felsgruppe niederrannen. Aus diesen Felsen erhob sich ein hoher, buntbemalter Balken und trug das Taubenhaus, das mit seinen Türmchen und Erkern sich ansah wie das Modell einer gotischen Burg. Ueberall in den Kronen der Bäume und auf schlanken Stangen waren Starenhäuschen und Meisenkästen angebracht.

Wie einen Gedanken schließend, der ihn auf dem Wege begleitet hatte, schüttelte Ettingen den Kopf und murmelte: „Nein! So wohnt kein Verzweifelter! So wohnen nur zufriedene Menschen, die ihr Glück gefunden, die über die stille Schönheit ihres Lebens hinaus keinen Wunsch mehr haben.“

Der Förster wollte in den Garten treten. Aber da blieb er noch einmal stehen und sagte: „Ich bitt’ schön, Duhrlaucht … wenn die Frau Petri daheim is … thun S’ das Frauerl net viel um ihren Seligen fragen. Da kommt ihr ’s Reden ein bißl hart an, ja, da laufen ihr gleich die Bacherln über.“ Er ging auf das Haus zu und sprach eine Magd an, die mit eisernem Rechen die Wege ebnete. Dann kam er wieder. „Es is kein Mensch net daheim … die Dirn bloß. Aber Sie können schon ’rein!“ Er öffnete seinem Herrn das grüne Gitter, „’s Fräul’n is in der Früh vom Sebensee heim’kommen, aber sie is schon wieder fort, in d’ Fischzucht ’nüber. Und d’ Frau is heut’ auf Innsbruck ’nunter, ihr Studenterl heimholen in d’ Vakanzi.“

„Fräulein Petri hat einen Bruder?“

„Ja! Ein dreizehnjähriges Bürscherl. Gustl heißt er. Der is schon den dritten Winter auf ’m Gymnasi drunt. Ein liebs Mannderl und dem Herrn Petri wie aus ’m G’sicht g’schnitten. Und g’sund, sag’ ich Ihnen! ’s richtige Gebirgsblut, ja! Is ein Leutascher! Gleich nach ’m ersten Jahr is er ’kommen, wie s’ heraußen waren. Wie das Büberl den Wald schon gern hat! Allweil draußen mit der Schwester! Und kaum sieht er ein’ von uns Jager, da hängt er ei’m schon am Kittel: ‚Ich bitte schön, Herr Förster, darf ich mit?‘ Und anschauen thut er ein’ dabei mit seine Guckerln … da kannst net Na sagen, das bringst net fertig.“ Sie hatten das Haus erreicht, und der Förster sprach die Magd an: „So, Nanni, gelt, jetzt thust mir den Herrn recht schön herumführen im ganzen Haus und zeigst ihm jedes Taferl!“

„Wohl, wohl!“ sagte das Mädchen und lehnte den Rechen an das Spalier. Es war eine derbe Bauerndirne mit unschönem, grobknochigem Gesicht, aber mit hellblauen Augen, welche gutmütig und zufrieden blickten.

Der Förster verabschiedete sich mit dem Versprechen, seinen Herrn in einer Stunde abzuholen, und eilte davon.

Neben der Schwelle streifte die Magd ihre Schuhe ab, klopfte den Sand von den blauen Strümpfen, schlüpfte in ein Paar Strohpantoffel, und die Hausthür öffnend, sagte sie: „So, Herr, kommen S’!“

Als ihr Ettingen in den Hausflur folgen wollte, gewahrte er über der Thür, schon halb von den Zweigen des Spaliers überwachsen, eine lateinische Inschrift – drei Worte: Hic rideo ego! – „Hier lache ich!“ Welch eine Stunde reiner und tröstender Freude mußte es für jenen Weltflüchtigen gewesen sein, als er auf der Schwelle dieser schönen Heimstatt sich sagen konnte: „Das Lachen der anderen, das mich marterte, ist fern und ich hör’ es nicht mehr! Hier lacht nur einer. Ein Glücklicher, der die Ruhe fand! Und der bin ich!“

Ettingen nahm den Hut ab und trat ins Haus.

Schon im Flur hing bis an die Decke hinauf eine Leinwand neben der anderen, jede von einer schmalen, braungebeizten Holzleiste umzogen. Aber das waren zumeist nur planlose Skizzen, unvollendete Studien und leicht untermalte Entwürfe, die oft kaum das Motiv des Bildes erkennen ließen, das hier entstehen hätte sollen. Blumenstudien wechselten mit Luftstimmungen, Felspartien mit Waldscenen, naturtreue Tierskizzen mit mythologischen Träumereien. Manche Leinwand zeigte deutlich, wie geduldig und liebevoll sich der Künstler in das kleinste Detail eines Modells vertieft hatte – oft war die gleiche Blume ein dutzendmal nebeneinander gemalt, in verschiedenem Licht, frisch erblühend mit Knospen, dann mit entblättertem Kelch, im Beginn des Welkens, mit gebrochenem Stengel. Man sah, wie genau der Künstler die Natur beobachtet hatte, um sie seinen Phantasiegebilden dienstbar zu machen. So war auf einer Leinwand ein schwarz und rot gefleckter Bergsalamander abgebildet, wie er mühsam aus dem Gras auf eine Steinscholle klettert – und daneben, größer, doch ganz mit der gleichen Körperbewegung, suchte ein fetter Triton, welcher triefend dem Meer entstiegen, ein Riff zu erklimmen. Eine andere Skizze zeigte eine graue Hauskatze, welche mit gekreuzten Pfoten liegt und funkelnden Blickes eine grüne Mücke verfolgt, die ihr um die Nase summst – daneben der Entwurf einer Sphinx, die aus der Waldschlucht einen Wanderer kommen sieht, den es nach Rätseln gelüstet. Dieser tragische Vorwurf war in einer Ecke der Leinwand lustig parodiert: die Sphinx, und vor ihr, klein wie die Mücke, ein grüner Polizist mit der Pickelhaube, der auf eine Tanne kletterte, um dem lächelnden Ungeheuer einen Polizeibefehl vor die Nase zu halten.

Langsam ging Ettingen von einer Leinwand zur anderen, und inzwischen stand die Magd geduldig und still in einer Ecke und zog immer wieder den Saum der Schürze durch die Finger. Als Ettingen das letzte Bild betrachtet hatte, öffnete sie vor ihm die Thür eines Zimmers. „Der Frau Petri ihr Stüberl.“

Ein bescheidener Raum mit schlichtem Gerät. Durch eine offene Thüre sah man in das Nachbarstübchen, das den jungen Feriengast, das „Studenterl“, zu erwarten schien, denn auf weiß gedecktem Tischlein stand ein herrlicher Rosenstrauß und ein mandelgespickter Kuchen, von einem Kranz frischer Bergblumen umschlungen. Auch hier, in beiden Räumen, waren alle Wände mit Bildern bedeckt: tanzende Nymphen, spielende Najaden; ein Faun, der die Zotten seiner Bocksfüße kämmt und dazu ein Liedchen pfeift; ein Tritonweibchen, das in eine Fischreuse geraten ist und den Ausweg nicht mehr findet; auf weißer Marmorsäule ein Hermeskopf, dem eine Natter auf die Schulter kriecht – aber der von Ekel geschüttelte Gott ist festgewachsen auf dem Stein und kann nicht fliehen, er hat keine Arme, um die giftige Häßlichkeit von sich abzuwehren. Ein gewaltiger Centaur, der von einem schroffen Fels mit ernstem Sinnen ins Thal hinunterschaut, fesselte lange den Blick des Fürsten. „Solchene Roßmanner giebt’s fein,“ sagte die neben ihm stehende Magd, „ja … im Griechenland drunten! Das hat mir der Herr Petri selm verzählt. Aber gelten S’, da sind S’ noch nie net hinkommen?“

„Doch!“

Die blauen Augen der Magd erweiterten sich. „Und haben S’ solchene Roßmanner g’sehen?“

„Nein. Aber dein Herr hat sie gesehen. Und ihm glaub’ ich auch, daß sie leben.“

„Gelten S’, ja? Der hat net lügen können!“

„Der? Und lügen? Nein! Hätte er lügen können … er wäre in der Stadt geblieben und hätte gute Geschäfte gemacht.“

„So? Meinen S’?“ Die Magd überlegte – aber sie gab die Mühe, das Rätsel dieses Wortes zu lösen, gleich wieder auf. „Jetzt geben S’ acht, jetzt kommt erst ’s Allerschönste, ja!“ Sie ging in den Flur voran und öffnete die Thür des Wohnzimmers. „Da herin, da haben wir die heiligen Sachen … wissen S’, weil der Herr Pfarrer diemal zuspricht in der Stuben.“

Ettingen trat in einen hellen freundlichen Wohnraum, dessen trauliches Gerät dem Gaste zu sagen schien: Hier fühle dich wohl, und ruhe! In der Herrgottsecke hing statt des Kreuzes ein Bild: auf weißem Grund der Kopf des Erlösers, ohne Dornenkrone und Heiligenschein, ein schmales, bleiches, kummervolles Gesicht, die Wangen halb bedeckt von den schlicht fallenden Haarsträhnen, mit großen und tiefen Augen, die mit Schmerz in weite Ferne zu blicken schienen. Sonst hingen im Zimmer nur noch drei Bilder. Zwei kleinere, die nicht vollendet schienen, waren an den Pfeilern zwischen den Fenstern angebracht: eine „Flucht nach Egypten“, von stiller und rührender Stimmung – Maria sitzt erschöpft an einen Baum gelehnt, und während Josef mit Anstrengung das harte Brot zerbricht, zieht das mit Schaum bedeckte Maultier grasend in den Wald, und eine „Heilige Nacht“ – Maria mit dem Kindlein im Stall bei Kuh und Esel, denen ein alter Hirte gedankenlos das Futter vorschüttet, während die Tiere doch nicht an Fraß denken, sondern die Köpfe vom Barren abkehren und ihre staunenden Glotzaugen auf das von Schimmer umflossene Kindlein richten.

Ein drittes, größeres Gemälde füllte die ganze Wand zwischen dem Ofen und der Thür einer Nebenstube. Beim Anblick dieses Bildes glitt ein leiser Ausruf der Bewunderung über Ettingens Lippen – so jäh und tief ergriff ihn der Gedanke, der aus dieser Leinwand redete und mit naiver Allegorie zu ihm sagte: Wahrhafte Liebe kann nicht verdammen und fühlt Erbarmen auch für die häßlichste Mißform des Lebens – mildes Denken und reine Güte versöhnen sich auch mit aller Roheit der ungezügelten Natur!

Das Bild stellte eine von wüstem Dorngestrüpp umzogene Wiese dar, in der Blüte des Frühlings. Mitten in leuchtenden Blumen sitzt ein Knabe, das nackte zarte Körperchen wie Silber schimmernd; aus einer Wolkenlücke des Himmels fällt ein breiter Strahl der Sonne auf ihn nieder; zwei verflochtene Dornzweige des nächsten Busches ragen in diesen Glanz und schweben wie ein schimmerndes Kränzlein über dem Scheitel des Knaben; kein anderes Zeichen sonst – nur diese krönenden Dornen sagen: das ist Jesus, welcher leiden wird um seiner Liebe willen. Und diese Liebe redet schon aus dem Blick und Lächeln des Kindes, welches seltsame Gesellschaft fand. Aus den Dornbüschen, aus Erdlöchern und Sumpftümpeln ist eine Schar von Faunkindern hervorgekrochen, kleine häßliche Bürschlein mit plumpen, unentwickelten Bocksfüßen und schmutzig wie Ferkel, die sich im Schlamm gewälzt. In Schreck oder Neugier starren die einen auf das holde Wunder des göttlichen Knaben, andere greifen nach Steinen und heben sie zum Wurf – nur einer sitzt von den erregten Brüdern entfernt, sucht eine Dornranke von sich abzulösen, die ihm ihre Stacheln in die Hüfte bohrte, und der Schmerz, der aus seinem verzerrten Gesichte redet, macht ihn gleichgültig gegen alles andere. Diesem Leidenden gilt der gute Blick des Knaben, während er den anderen, die ihn fürchten oder bedrohen, herzlich die Arme öffnet: „Kommet zu mir, ich will euch lieben!“

Keines von all den anderen Bildern, welche Ettingen gesehen, hatte so klar wie dieses in ihm die Frage geweckt: „Wie war es möglich, diesen Künstler zu verkennen?“ Oder hatte sich der Genius dieses Künstlers erst nach seiner Weltflucht so reich entwickelt, aus der Bitterkeit seines Schicksals heraus, in der stillen sonnigen Ruhe, die er in diesem Winkel der Berge gefunden, im Schweigen des Waldes? Hatte er in früheren Jahren denen, die ihn verlachten, nichts anderes zu bieten vermocht als die Form ohne den Kern, ohne die Gedankenfülle, die alle Wunderlichkeiten seiner Technik übersehen ließ? Denn freilich bei all der tiefen Wirkung, welche Ettingen fühlte, mußte er zugestehen, daß die Mehrzahl dieser Bilder für den ersten Blick etwas Befremdendes hatte, eine naive Ausdrucksweise, die mit dem dargestellten großen Gedanken sich oft in einem Widerspruch befand, über den man wohl den Kopf schütteln oder lächeln konnte. Auch lag ein bläulich grüner Hauch wie zarter Schleier über allen Farben, auch über dem hellsten Licht – wie über einem Spiegelbild in grünem Wasser – und das gab den Bildern etwas Fremdartiges und Altertümliches. Wollte das der Künstler so, gerade so – oder konnte er nicht anders? Hatte er Augen, welche anders organisiert waren, als es sonst die Augen der Menschen sind? Oder sah er richtig – er kannte und verstand doch die Natur wie keiner – und ging mit dem Geschauten, bevor es durch seine Seele den Weg auf die Leinwand fand, diese seltsame Wandlung vor sich, bei der alles Häßliche sich verschönte und alles Wirkliche die Form des Niegewesenen und des Erträumten gewann.

Aber wie man über all diese äußerliche Seltsamkeit auch denken mochte – der gute, reine, tief empfindende Mensch, den man aus der wunderlichen Sprache dieser Linien und Farben reden hörte, war denn nicht der die Hauptsache? Die klare Schönheit seiner Gedanken, die Wärme seines Herzens, dieses Träumen und Lächeln, dieses Stille und Schlichte, dieses rührend Kindliche – mußte das nicht jeden überzeugen, gewinnen und bezwingen? Oder gehörte die rechte, stille Stunde dazu, um solche Sprache zu hören, sie zu verstehen? –

War der Magd die schweigende Zeit, welche Ettingen vor diesem letzten Bilde stand, zu lang geworden? Oder hatte sie es ihm vom Gesichte abgelesen, was er von den „Taferln“ ihres Herrn dachte? „Gelten S’,“ sagte sie plötzlich, „unser Herr hat’s können! Ja! Und kommen S’ … da därf’ ich sonst kein’ net ’reinführen … aber Ihnen muß ich schon zeigen, wie er ausg’schaut hat!“ Sie öffnete die Thür der Nebenstube. „Da hängt er, schauen S’, wie er sich selm verkonterfeit hat … das is’ der Fräul’n Lo’ ihr Stüberl … vor drei Jahr auf Weihnächten hat sie’s ’kriegt von ihm, die Tafel da.“

Ettingen zögerte, einzutreten, und lächelnd blickte er von der Schwelle in den Raum. Es war von allen Zimmern, die er gesehen hatte, das bescheidenste – ein schmales Stübchen, mit einem einzigen Fenster nur. Weiße Wände, das eiserne Bett mit weißem Tuch überhangen, ein kleiner Tisch mit einfachem Holzstuhl vor dem Fenster, durch das die Blumen hereinleuchteten, der Thür gegenüber ein Pianino und ein Holzgestell mit Notenheften, neben der Thür ein hohes Bücherregal und an der Rückwand des Stübchens eine große schwere Kommode, über welcher, als einziger Schmuck des Raumes, das Selbstporträt des Künstlers hing, umgeben von einem Kranze frischer Alpenrosen.

Dieses Bild war für Ettingen ein neues Rätsel. Er hatte ein schmales, feingeschnittenes Gesicht zu sehen erwartet, mit irgend etwas Auffälligem in den Zügen – vielleicht einen Kopf, der auf einen Musiker raten ließ, mit bleichen Wangen, tiefliegenden Augen und langem Haar. Und da sah er einen derben, grobknochigen Kopf mit dichtem, kurzgeschnittenem Braunhaar und starkem Bart, mit hoher, kräftig gewölbter Stirn und gesundem, sonnverbranntem Gesicht, dem das schöne Antlitz der Tochter in keinem Zuge glich. Nur die Augen, wenn sie auch von anderer Farbe waren, hatten den gleichen träumerischen und warmen Blick, und um diese streng geschnittenen Lippen spielte das gleiche sinnende und milde Lächeln. Das Bild war nur wenige Jahre alt; aber nach Zeichnung und Farbe hätte man auf ein Werk aus der Zeit des jüngeren Holbein raten können. In einer Ecke des graugrünen Hintergrundes sah man ein verschnörkeltes weißes Schildchen, das eine rote Inschrift in lateinischer Sprache trug: „Emmericus Petri, in seinem fünfzigsten Lebensjahre. Eines Menschen Gesicht ist seine Seele nicht. Willst du das Wesen seines Geistes erkennen, so betrachte seine Thaten und seine Kinder.“

Wie stolz mußte dieser Mann auf seine Tochter gewesen sein!–

Während Ettingen noch vor dem Bilde stand, kam der Förster zurück, und zwar in übelster Laune. Er hatte die Erlaubnis für die Steigbauten mit schwerem „Blutgeld“ vom Bürgermeister erkaufen müssen, der allen Überredungskünsten des Försters nur immer die eine Weisheit entgegengehalten hatte: „Der Herr Fürst kann zahlen! Der hat’s!“ Bei dem Aerger, den Kluibenschädl von diesem „Scharfrichtergang“ mitbrachte, hatte er weder Sinn für die „Taferln“ des „Maler-Emmerle“, noch für die Stimmung seines Herrn und schwatzte wortreich seinen Zorn heraus. Ettingen schwieg zu allem und warf, bevor er das Stübchen verließ, noch einen letzten Blick über die Wände und alles Gerät.

Als Ettingen ins Freie trat, blickte er wieder zu der Inschrift über der Hausthür und nickte vor sich hin, als wollte er sagen: Ich sah, was du schufst, und kenn’ deine Tochter … nun weiß ich, wer du warst, und weiß: du hattest ein Recht zur Freude!

Da bot ihm die Magd eine herrliche dunkle Rose und sagte verlegen: „Da, Herr! Unser Fräul’n Lo’, wenn s’ daheim is und einer kommt, schenkt s’ allweil ein Blüml her!“

Lächelnd nahm er die Rose. „Ich danke Ihnen!“

Er wollte der Magd eine Banknote reichen. Aber sie schüttelte den Kopf, holte den Rechen von der Wand und begann auf dem Kiesweg die Trittspuren zu ebnen, die der Förster mit seinen schweren Schuhen zurückgelassen hatte.

Ettingen, dem das Blut ins Gesicht gestiegen war, zerknüllte den Schein in der Hand – und als sich draußen auf der Straße ein alter, weißbärtiger Bauer, der im Schatten der Holunderhecke saß, etwas schwerfällig erhob und den mürben Deckel zog, warf ihm der Fürst die Banknote zu. Der Alte riß die rotgeränderten Augen auf, und dann versuchte er mit seiner

heiseren, zitterigen Stimme einen Jauchzer. Das machte den Förster aufmerksam, so daß er die wenig schmeichelhafte Charakteristik, die er just vom Bürgermeister entwarf, mit den Worten unterbrach: „Ui jögerl, Duhrlaucht! Haben S’ dem was ’geben? No, ich dank’ schön … der kauft sich wieder ein’ saubern Dampus dafür! Da haben S’ was Schön’s ang’richt’t!“

Nach wenigen Schritten kamen sie zu einer Stelle, an der sich von der Straße ein Fußweg gegen die Felder abzweigte.

„Gehen wir lieber über d’ Wiesen ’naus!“ meinte der Förster, „’s Dorf haben S’ ja g’sehen. Und drüben im Weiherwald, bei der Fischzucht, kriegen wir den schönsten Schatten.“

Sie wanderten über die vom frischen Heugeruch umdufteten Wiesen hin. Immer wieder blickte Ettingen über die Schulter nach den im Sonnenglanz verschwimmenden Baumkronen zurück, über deren leuchtendes Gezweig sich blinkend das grüne Schieferdach erhob. Dann plötzlich unterbrach er das Schweigen:

„Sagen Sie mir, wie starb dieser Mann?“

„Der Herr Petri? … Ja, Duhrlaucht, das is ein recht’s Unglück g’wesen! Der Mann is dag’standen wie ein Baum im besten Saft. Und den hat’ d’ Nächstenlieb’ am G’wissen! Im letzten Herbst war’s … da is in der Leutasch und im Gaisthal ein Wolkenbruch nieder’gangen, daß ich meiner Lebtag so was noch net mitg’macht hab’. Wie S’ da die Wiesen sehen, vom Wald bis ’nüber ins Dorf, is alles ein einziger Bach g’wesen, mit G’röll und Baumstämm’, die ’s daher trieben hat. Und droben, wo sich ’s Thal ein bißl zuspitzt, da war’s am ärgsten! Zwei Häuser und ein’ Stadel hat’s mitg’nommen, gleich am ersten Abend. Und gar am andern Tag, wie’s Wasser von die Gaisthaler Berg’ her’kommen is … da hat ein’ ’s Grausen ’packt. Wie die Verruckten sind d’ Leut’ in ihrem Jammer umeinander g’rennt. Bloß ein einziger hat ’s Köpfl in der Höh’ b’halten …“

„Herr Petri!“

„Ja! G’schafft und g’arbeit’t hat er wie ein Holzknecht, und Ratschläg’ hat er g’funden, wie man’s dem stillen, traumhappeten Mannderl gar net zu’traut hätt’! Sell droben, wo ’s Gaisthal anfangt und von links und rechts zwei Waldhügel ’reinsteigen gegen ’s Wasserbett … da, hat er g’sagt, da müssen wir ein’ Riegel legen und ’s Wasser brechen, damit’s den G’walt verliert. Mit die ersten Leut’, die bei ’nander waren, hat er d’ Arbeit gleich ang’fangt … und derweil is d’ Fräul’n Lo’ im Galopp auf ihrem Muli von ei’m Haus zum andern g’ritten und hat aus ’m ganzen Thal alle Mannsleut’ z’sammg’rufen, daß in der ersten Nacht noch über zweihundert Menschen bei der Arbeit waren! Am linken Ufer vom Wildbach is der Herr Petri g’standen mit seine hundert Leut’ … und mit ei’m Sprachrohr, das er aus einer Baumrinden g’macht hat, hat er’s Kommando allweil ’nüberg’schrieen über ’s Wasser, wo die andern hundert g’schafft haben. Die Weibsleut’ haben ’s Pech und ’s Staudenwerk z’samm’tragen müssen und ’s Feuer unterhalten, daß man zur Arbeit g’sehen hat in der Nacht … und d’ Männer und die Buben haben die Bäum’ g’schlagen zum Wehr. In der Fruh um Zehne, am zweiten Tag’, da haben die ersten Bäum’ im Wasser schon g’halten, und wie’s auf ’n Abend ’gangen is, da hat man schon hoffen können: ’s Wehr verhebt den ärgsten Schub. Aber d’ Leut’ sind fertig g’wesen mit ihrer Kraft, und schier mit G’walt hat der Herr Petri die letzten noch bei der Arbeit halten müssen. Wo ’s am schiechsten ausg’schaut hat, da is er allweil der erste vorndran g’wesen, damit er die andern ’s Beispiel giebt. ‚Mut, Leute, nur Mut,‘ hat er allweil g’schrieen und hat schon kaum nimmer reden können, ‚nur diese letzte Nacht noch, dann ist geholfen!‘ Und Recht hat er b’halten! Am dritten Tag in der Fruh hat sich ’s Wasser gegen ’s Gaisthal ’nauf zum Stauen ang’fangt und is mit aller Ruh’ über die Wehrbäum’ abg’laufen, und die ganzen Häuser sind aus der G’fahr g’wesen!“

Sie hatten den Wald erreicht und traten in den Schatten.

„G’wiß is ’s wahr … wär’ der Herr Petri net g’weseu, so hätt’ unser Leutascher Dörfl heut um ein Dutzend Häuser weniger. Aber teuer hat er’s zahlen müssen, sein christlichs Werk … der gute Mann! Ausg’halten hat er am gleichen Fleck’ zwei Nächt’ und anderthalb Tag’, tropfnaß bis auf d’ Haut und völlig mürb von der Arbeit. Nach der zweiten Nacht in der Fruh, wie er noch d’ Schildwachen aufg’stellt hat am Wehr, hat er sich gahlings verfärbt, und seine Knie’ haben aus’lassen. Und da hat er net einmal g’litten, daß man ihn heimtragt … es wird gleich wieder besser, hat er g’meint und hat sich ein Trunk Wein von der Fräul’n geben lassen, die so verschrocken war, daß ihr ’s G’sichtl ganz weiß worden is. Ein halbs Stündl hat er noch ausg’halten … nachher hat ihn ’s Fräul’n heimg’führt auf ’m Muli … und da hat’s kein Helfen nimmer ’geben. Lungenentzündung, hat der Doktor g’sagt … und da geht’s halt g’schwind! Die ganze Nacht sind d’ Leut’ ums Haus ’rum g’standen und haben g’meint, es müßt’ und müßt’ ihm wieder besser gehn. Aber auf Mittag um Elfe hat er sein’ letzten Schnaufer ’than … und der Doktor hat mir g’sagt: So hätt’ er noch nie ein’ Menschen net sterben, sehen! Im ärgsten Fieber hat er die B’sinnung net verloren, hat bloß allweil das arme Frauerl ’tröst’t, hat ’plauscht mit ’m Büberl, als ob gar nix wär’, und ’s Fräul’n hat er allweil bei der Hand g’halten und hat’s ang’lacht ein’ ums andermal. Z’letzt hat er noch von sei’m Gartl draußen am Sebensee g’redt … und das sind seine letzten Wörtln g’wesen: ‚Meine Blumen!‘ Nachher hat er aufg’schnauft und d’ Augen zug’macht wie einer, der weiß: jetzt fahr’ ich g’rad’ auf in Himmel, jetzt geht’s mir gut!“

Ettingen blieb stehen und blickte zu den sonnigen Wipfeln der stillen Fichten hinauf. Dann schritt er weiter und sagte leise vor sich hin: „Wer so zu leben wüßte, um sterben zu können wie dieser Mann!“

„Ja, Duhrlaucht, recht haben S’! So sollt’ sich der Mensch sein Leben einrichten, daß er d’ Augen zumachen könnt’ in jeder Stund’ und lachen dabei! Aber mein Gott, der Mensch is halt so viel dumm … und leben heißt narrisch sein. Was den richtigen Wert hat, schlagt man um kein’ Kreuzer net an, und für ein jeden nixigen Pfifferling legt man sei’m Leben ein Centnerg’wicht auf ’n Buckel! Bagaschi übereinander! Und ich g’hör’ selber dazu!“

Der Pfad hatte sie im Wald auf eine Höhe geführt. Man sah in ein schmales Thal hinunter, aus welchem drei große Weiher mit sonnglänzendem Spiegel durch die Bäume heraufleuchteten. Ein sanftes Murmeln klang von den Weihern her wie das Geplätscher vieler Quellen.

Der Förster blieb stehen und spähte durch den Wald hinunter. „Da, Duhrlaucht … da schauen S’ ’nunter … bei die Ursprüng’ drunten sitzt d’ Fräul’n Petri mit ihrem Taferl!“

Ettingens Augen leuchteten auf, und ohne ein Wort zu sagen, stieg er mit raschen Schritten durch den Wald hinunter gegen die Weiher.


9.

Als der Wald ein wenig lichter wurde, konnte Ettingen zwischen den Weihern ein großes Blockhaus sehen, eine Schiffhütte, und am Ausgang des schmalen Thals ein villenartiges Gebäude. Das wäre die Fischzuchtanstalt, erklärte der Förster und meinte: „Weil wir schon g’rad’ da sind … das müssen S’ Ihnen anschauen, Duhrlaucht. Wie die jungen Fischerln g’füttert und ’zogen werden, das is fein lieb zum betrachten! Wenn S’ Lust haben, lauf’ ich g’schwind vor zum Haus und schau, daß ich ein’ Fischknecht find’, der Ihnen ’rumführt!“ Er wartete eine Antwort gar nicht ab und eilte schräg durch den Wald davon.

Ettingen blieb unter den letzten Bäumen stehen. Doch er schien kein Auge für das lieblich schöne Bild des kleinen Thals zu haben – und das hätte doch einen Blick verdient. Von stillem Fichtenwald begrenzt und von blumigen Grasborten umzogen, lagen drei Weiher mit glitzernden Spiegeln stufenförmig übereinander, so daß sich aus dem einen das Wasser mit blitzendem Gefäll in den anderen ergoß. Weiße Seerosen und grüne Blätter schwammen mit sachter Bewegung im Wasser, und bald hier, bald dort sprang eine silberne Forelle auf. Vom obersten Weiher zog sich gegen den Wald eine schräge Felswand hin, die in allen Farben schimmerte und gleich einem Sieb von hundert Löchern durchbrochen war, aus deren jedem ein weißes Brünnlein sprudelte. Dieses sonnige Waldidyll mit all dem Gefunkel und Lichtgezitter des rauschenden Wassers gab ein Bild, das wohl einen Künstler zur Nachgestaltung reizen konnte. Und Lolo Petri saß auch vor der Staffelei so ganz in ihre Arbeit vertieft, daß sie die Schritte nicht hörte, die sich ihr näherten. Ettingen war dicht zu ihr herangetreten und sah ihr über die Schulter auf die kleine Leinwand, die einen Teil der Felsplatte mit den sprudelnden Quellen in fast vollendeter Arbeit zeigte; doch es war kein Bild, das hier entstehen sollte – es schien nur ein Versuch, das Lichtgefunkel des über die rauhen Felsformen rinnenden Wassers festzuhalten. Und dieser Versuch war ihr gelungen. Wie diese Farben leuchteten! Wie sie zu zittern und zu rinnen schienen! Ettingen staunte über die Kraft des Lichtes und über die Wahrheit in dieser verblüffenden Wiedergabe der Natur. Wie hatte dieses Mädchen ihm sagen dürfen, daß sie keine Künstlerin wäre? Hatte sie das aus übertriebener Bescheidenheit gethan? Nein, das sah ihr nicht ähnlich. Also legte sie einen überstrengen Maßstab an sich selbst, während sie von anderen Menschen so nachsichtig dachte? Oder kannte sie ihr eigenes Talent nicht? Sollte ihr Vater dafür kein Auge gehabt, ihr das nie mit einem Worte gesagt haben – denn sie war doch seine Schülerin? Bei diesem Gedanken fiel ihm auf, daß ihre Art zu malen auch nicht die leiseste Aehnlichkeit mit der Art des Vaters hatte. Da war nichts Absonderliches und Befremdendes, keine erträumte Farbe, keine fabulierende Linie – was diese kleine Leinwand zeigte, war nichts anderes als die treue Wiederholung der Natur, wie Gott sie erschaffen hatte.

Plötzlich, als hätte sie seinen Atem gehört oder seine Nähe empfunden, blickte sie auf. Leichte Röte huschte ihr über die Wangen, und sie erhob sich.

„Herr Fürst …“

Er grüßte und sah ihr in die Augen, noch ganz unter dem Eindruck, den er aus ihrem Hause mit fort getragen hatte und der ihm von der Erzählung des Försters zurückgeblieben war. „Sehen Sie, Fräulein, damals am Sebensee, das war nicht umsonst gesagt: auf Wiedersehen!“

Sie hatte nach der ersten leichten Verwirrung ihre ruhige Sicherheit wieder gefunden und reichte ihm lächelnd die Hand. „Ja! Und heute weiß ich auch, wer Sie sind. Ich hab’ es noch an jenem Morgen erfahren, von einem Ihrer Jäger. Und dann war’s mir leid, daß ich Ihren Namen überhörte … denn hätt’ ich damals am Sebensee gewußt, wer Sie sind, dann hätt’ ich die gute Gelegenheit gleich benutzt und hätte eine Bitte ausgesprochen, mit der ich ohnehin zu Ihnen kommen mußte.“

„Zu mir? Mit einer Bitte? Die ist bewilligt, liebes Fräulein, noch eh’ ich sie kenne.“

„Sie ist auch wirklich nicht unbescheiden. Es handelt sich um unser Häuschen draußen am See. Papa hätte, bevor er damals vor acht Jahren baute, den Grund so gern gekauft. Aber das ging nicht … der Grund ist ärarischer Boden … und Papa mußte zufrieden sein, daß er wenigstens die Erlaubnis bekam, zu bauen … auf Widerruf und unter der Bedingung, daß der Jagdpächter seine Erlaubnis gäbe.“

„Und diese Erlaubnis soll ich nun bestätigen?“

„Ja, ich bitte darum!“

Ettingen lachte, und noch immer hielt er ihre Hand in der seinen. „Schade, daß ich mein Placet nicht mit irgend einer besonderen Feierlichkeit erteilen kann! Aber solange ich Pächter der Jagd bin, und ich hoffe das noch lange zu bleiben, sollen Sie ungestört bei Ihren Blumen wohnen, und …“ seine Stimme und seine Augen wurden ernst, „und bei Ihren Erinnerungen!“

„Ich danke Ihnen!“

„Aber … eine Bedingung muß auch ich stellen!“

Ihre Hand befreiend, blickte sie zu ihm auf.

„Die Bedingung, daß Sie gute Nachbarschaft mit mir halten wollen … und daß es mir vergönnt ist, ab und zu ein Stündchen bei Ihnen zu rasten und bei Ihren Blumen.“

„Daß ich Ihnen das verwehren könnte,“ sagte sie lächelnd, „das haben Sie doch nicht im Ernst gemeint?“

„Nein! … Aber Sie stehen, Fräulein … und ich bitte sehr, daß Sie sich durch mich nicht in Ihrer Arbeit stören lassen. Darf ich Ihnen ein wenig zusehen?“

„Gern! Ich fürchte nur, Sie werden dabei nicht viel zu sehen haben.“ Sie nahm die Palette und ließ sich vor der Staffelei auf den kleinen Feldstuhl nieder.

Als er sie eine Weile schweigend beobachtet hatte, wie sie aufmerksam die Felswand mit den Quellen betrachtete und dann die kleinen weißen Lichter in den Goldglanz des fließenden Wassers setzte, sagte er: „Wissen Sie auch, Fräulein, daß Sie sich neulich vor mir verleugnet haben?“

„Ich? Verleugnet? Nein!“

„Doch! Denn Sie sind eine Künstlerin!“

Sie schien sich nicht gleich an jenes Wort zu erinnern. Dann schüttelte sie wieder den Kopf, ganz so entschieden wie damals. „Nein! Nur weil ich ein wenig Malen gelernt habe? Das macht mich noch lange nicht zur Künstlerin. Dazu fehlt mir alles … Talent, Gedanke und Phantasie! Ich, eine Künstlerin? Nein! Und eine Handwerkerin will ich nicht sein. Ich zeichne und male auch gar nicht aus Beruf. Ich thu’ es nur, um besser sehen zu lernen, … um mir das Schöne, das ich lieb habe, so recht tief einzuprägen, damit es Dauer hat in mir. Wenn ich ein paar Stunden geduldig vor solch einem Bilde saß, wenn ich jede Linie nachzuzeichnen, jeden Reiz des Lichtes und jeden Ton des Schattens nachzuahmen versuchte … gleichviel, ob mir das gelingt oder nicht … dann hab’ ich das Große und das Kleinste so genau gesehen, daß ich das Bild habe, in mir, fest und für immer! Und das Schöne so zu besitzen, das ist eine Freude, die das bißchen Mühe wohl wert ist! Zeichnen Sie nicht auch?“

„Ich? Nein!“

„Warum versuchen Sie es nicht einmal?“

Ettingen lachte. „Da möchte was Hübsches herauskommen.“

„Gewiß nichts Schlimmeres als bei meinem ersten Versuch.“

„Zu dem hat wohl Ihr Vater Sie veranlaßt?“

„Ja! Und das werde ich nie vergessen. Ich war damals noch ein Kind … sieben Jahre … und Papa hatte damals eine Ulmer Dogge gekauft, die er zu einem Bild brauchte. Das Tier war so entsetzlich groß, daß ich Angst vor ihm hatte. Ein paar Tage überwand ich’s … aber als der Hund einmal auf mich zukam, fing ich zu schreien an: ‚Papa, Papa, ich fürchte mich vor dem Hund!‘ Da lachte er, gab mir ein Blatt Papier und einen Rotstift und sagte: ‚Versuch’ es, Lo’, und zeichne den Hund, aber recht, recht genau mußt du ihn ansehen!‘“

„Und das haben Sie gethan?“

„Ja!“ Lächelnd blickte sie zu ihm auf. „Als das Kunstwerk fertig war, meinte Mama, das wäre ein Lehnstuhl. Aber Papa sagte ganz ernst: ‚Nein, Mutter, das ist ein guter, braver Hund, der keinem Kinde was zuleide thut!’ Und Papa hatte recht … ich habe den Hund nicht mehr gefürchtet, denn jetzt wußte ich, daß er schöne, braune Augen hatte und daß er die Lippe verziehen konnte, als ob er lachen möchte. Wir haben den Hund viele Jahre gehabt, auch hier in Leutasch noch, und als er im Alter so leidend wurde, daß man ihn aus Erbarmen erschießen mußte … das ist für uns alle ein trauriger Tag gewesen, besonders für Papa … er hatte das gute, treue Tier so lieb!“

Ettingen nickte. „Ihr Vater muß ein großer Tierfreund gewesen sein und muß für das Seelenleben der Tiere ein seltenes Verständnis besessen haben.“ Er sah den fragenden Blick ihrer Augen und fügte mit rascheren Worten bei: „Aber daß ich diese Beobachtung machen konnte, das ist doch wohl nur der bescheidenste Teil des reichen Gewinnes, den dieser heutige Tag mir brachte. Soll ich Ihnen sagen, woher ich komme? Wo ich zwei Stunden verbrachte, die ich nie vergessen werde? In Ihrem Haus! Im Hause Ihres Vaters!“

Da zuckte es durch ihren jungen schönen Körper, als ob sie aufspringen möchte in jäher Erregung. Doch sie atmete nur tief und blickte mit schimmernden Augen über den Weiher hin. Aber heiße Röte flammte auf ihrem Gesicht, und es zitterte ihr die Hand, mit der sie die Palette hielt.

„Sie schweigen … und fragen nicht, welchen Eindruck ich von der Kunst Ihres Vaters empfing?“

„Nein!“ erwiderte sie leis und beugte sich über die Leinwand, als wollte sie die Arbeit wieder beginnen.

„Nein?“ Fast schien es, als hätte ihn dieses Wort verletzt. Doch er lächelte schon wieder. „Halten Sie denn mein Kunstverständnis für so sehr zweifelhaft, daß es bei einem Urteil über die Bedeutung Ihres Vaters gar nicht in Frage kommen kann?“

Da blickte sie zu ihm auf, fast erschrocken. Dieser Blick aber gab ihr die Ruhe wieder, und es lag nur noch ein wenig Beklommenheit in ihrer Stimme, als sie sagte: „Daß Sie mich so sehr mißverstehen könnten, das glaub’ ich gar nicht! Wer die Natur liebt wie Sie, muß doch auch Verständnis und Liebe für die Kunst, haben. Und daß ich ein wirklich hartes Wort über meinen Vater nicht hören würde, das wußt’ ich doch. Hätten Sie nicht Anteil an seinem Schicksal und an seiner Arbeit genommen, so hätten Sie doch unser Haus gar nicht besucht. Und würden Sie nicht gut von seinen Bildern denken, so hätten Sie zu mir von diesem Besuche nicht gesprochen. Auch seh’ ich es Ihren Augen an, daß Sie ein herzliches Wort auf den Lippen haben. Aber seien Sie mir nicht böse, daß ich das so heraussage … wie gut Sie auch von meinem Vater denken mögen, ich selbst denke doch wohl noch besser von ihm! Für Sie kann er doch immer nur der Künstler sein, von dem Sie das eine oder das andere halten … für mich aber ist er doch auch der Vater, das Liebste, das ich auf der Welt besaß. Und hätten Sie über ihn … nicht einmal einen Tadel, nur ein Befremden geäußert … nicht über sein Denken und Fühlen, denn da müssen Sie ihn verstanden haben, ich weiß es … aber vielleicht nur über seine Art zu sehen, über die Eigenart seines Schaffens … ich hätt’ es doch wie einen Tadel empfunden, und mir, seinem Kinde, hätte das weh gethan … gerade von Ihnen! Und weil ich das fürchtete, deshalb schwieg ich.“ Sie legte die Palette nieder und erhob sich. „Aber ich sehe ein, daß ich unrecht that … verzeihen Sie mir!“

Ettingen nahm ihre beiden Hände und sah ihr so herzlich warm in die Augen, daß sie vor diesem Blick in Verwirrung geriet.

„Also darf ich sprechen? Wollen Sie hören, was ich über Ihren Vater zu sagen habe? Aber nein, ich frage gar nicht mehr … denn soll in Ihrem Herzen nicht ein leiser Zweifel zurückbleiben, dann muß ich sprechen!“ Er hörte Stimmen, und als er aufblickte, sah er am Ufer des großen Weihers den Förster mit dem Fischer um die Waldecke biegen. „Schade… da kommen Leute, die mich holen. Aber ich hoffe, noch die Stunde zu finden, die mich ungestört mit Ihnen plaudern läßt. Denn ich habe Ihnen viel mehr zu sagen, als ich jetzt in ein paar Worte fassen kann … und habe manche Frage zu stellen, die Sie mir beantworten müssen … über das Leben Ihres Vaters, über den Entwicklungsgang seines Schaffens, über die Zeit, in der diese Bilder entstanden. Gewiß, ich denke nicht sonderlich gut von der Urteilsfähigkeit der Welt, die so mit dem Tage lebt und schreit … aber sie hat trotz allem Augen und hat doch auch ein Herz … und wäre Ihr Vater damals vor seiner Flucht in die Berge als Künstler schon der gleiche gewesen, der er war, als er den Hermeskopf mit der Viper und den Jesusknaben mit den Faunkindern schuf … die Welt hätte ihn anerkennen müssen, mehr noch, ihn bewundern und lieben!“

Fester umspannte er ihre zitternden Hände.

„Ihr Vater war ein großer Künstler … und ich schränke dieses Wort durchaus nicht ein, wenn ich sage, daß in ihm der Mensch und Dichter vielleicht noch größer war als der Maler. Ich kann Ihnen gar nicht schildern, welch einen tiefen Eindruck ich heute aus Ihrem Hause mit forttrug … einen Eindruck, der den Wunsch in mir weckte: Hätt’ ich diesen seltenen Menschen doch gekannt, hätt’ ich doch mit ihm leben dürfen! Aber ich glaube doch, daß ich ihn kenne, gut und ganz … ich habe ja schon so viel von seinem Leben erfahren, durch Sie und durch andere … seit heute weiß ich auch, wie er starb … wie nur ein großer und guter und starker Mensch zu sterben vermag, der seinem Leben keinen Vorwurf zu machen hat… Ich habe in seinem Hause die Luft des reinen Glückes geatmet, das er sich und den Seinen erkämpfte, ich habe gesehen, was er schuf … und ich kenne sein Kind! Nun weiß ich, wer Ihr Vater war, und kann Ihnen nachfühlen, was Sie bei jedem Gedanken an ihn empfinden müssen! Sie sind ein glückliches Kind!“

Er küßte ihre Hand, und hastig, als möchte er jede störende Begegnung von ihr fern halten, ging er auf die beiden Männer zu, die schon über das Wehr des letzten Weihers kamen.

Regungslos, die Arme halb gestreckt, als hielten sie noch immer seine Hände fest, und die großen schönen Augen feucht verschleiert, stand Lolo Petri am Ufer und blickte über das Wasser zum Wehr hinüber. Doch sie sah nur den einen, der von ihr gegangen war, sah nicht, daß der Förster ihr zuwinkte mit dem Hut, und hörte den Gruß nicht, den er laut, um das Wasser zu übertönen, zu ihr herüberschrie. So stand sie, bis die drei Männer im Thor des Blockhauses verschwanden. Dann atmete sie auf, und wie in einem jähen Sturm von Empfinden preßte sie die Hand, die er geküßt hatte, an ihre Lippen – als möchte und müßte sie ihm danken für seine Worte und wüßte keinen anderen Dank als diesen.

Und nun kam es plötzlich über sie wie treibende Ungeduld. Eilfertig klappte sie den Feldstuhl zusammen, brachte den Malkasten in Ordnung und schabte hastig mit einem Messer das ganze fertige, noch nasse Bildchen von der Leinwand fort, daß auf dem Tuche nur noch ein trüber Schimmer der entfernten Farben zurückblieb. Während sie die zerlegte Staffelei mit dem Sessel zusammenschnallte, blickte sie nach dem Stand der Sonne: „In einer Stunde müssen sie kommen!“

Das Malgerät an einem Riemen tragend, folgte sie einem Fußpfad, bis sie die von Leutasch nach Seefeld führende Landstraße erreichte. Einen Fuhrmann, der ihr mit leerem Wagen entgegenkam, bat sie, ihr Malgerät mit ins Dorf zu nehmen – und sie brauchte den Mann nicht viel zu bitten, man sah es ihm an, daß es ihm Freude machte, ihr eine Gefälligkeit erweisen zu können.

In sachter Steigung klomm die Straße durch den Wald hinauf, und Lolo folgte ihr mit so erregter Eile, daß ihr Atem in heißen Flug geriet und daß ihr die Wangen wie Feuer zu brennen begannen. Hastig schritt sie weiter. Nach kurzem Weg öffnete sich vor ihr eine Waldwiese. An einem Quellbach, der sich bis dicht an die Straße heranschlängelte, waren die Ufer reich mit Blumen bewachsen. Sie sprang über die Straße hinunter, begann zu pflücken, und während sie langsam am Saum der Wiese hinging, sammelte sie zu ihrem Strauß noch immer neue Blumen. Nun erreichte sie wieder den Wald und ließ sich im Schatten der Bäume nieder, um die Blüten zu ordnen. Doch nur ihre Hände waren bei dieser Arbeit, nicht die Gedanken. Bald spielte ein träumendes Lächeln um ihren Mund, bald wieder blickte sie ernst und sinnend vor sich nieder oder in den blauen Schatten des Waldes hinein. – Dann jählings ließ sie den Strauß, den sie gebunden hatte, in den Schoß fallen. „Vater! Vater!“ stammelte sie, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Schluchzen aus. Aber das war kein Weinen in Schmerz – es war ein Weinen in heißer Freude.

Jetzt fuhr sie lauschend auf, sprang zurück auf die Straße und jauchzte. Aus dem Thal, in das sich der Wald hinuntersenkte, antwortete der Jauchzer einer Knabenstimme, hoch und schrillend wie der Ton einer Weidenpfeife.

„Ja! Ja! Sie sind es!“ stammelte Lo’ in einem Sturm von Freude und begann zu laufen. Nun konnte sie die Straße bis ins Thal hinunter überschauen und sah eine kleine, mit einem Pferd bespannte Kutsche kommen. Der Knecht ging neben dem Wagen her, um dem Rößlein die Last über den Berg hinauf zu erleichtern. In der Kutsche saßen eine Frau und ein Knabe, der mit beiden Armen winkte.

Mit klingender Stimme rief Lo’ den Namen des Bruders.

Da ließ sich der kleine Bursch nicht länger im Wagen halten, sondern sprang auf die Straße, noch ehe der Knecht das Pferd zum Stehen brachte, warf das Hütlein in die Kutsche zurück und begann mit solcher Hast den Berg hinauf zu rennen, daß ihm die Mutter in Sorge nachrief: „Gusti! Gusti! Nur langsam! Ich bitte dich … sie wartet ja, bis du kommst!“

Aber der Junge hörte nicht mehr, er rannte und rannte, und schon auf hundert Schritte vor der Schwester breitete er die Arme aus und jubelte mit erstickter Stimme: „Lo’! Lo’! Meine liebe, gute, gute Lo’!“ Und mit so wilder Freude flog er ihr an die Brust, daß sie beinahe wankte unter dem Ansturm dieses schmächtigen Knabenkörpers. Wortlos hielt sie ihn umschlungen und erstickte ihn fast mit ihren Küssen. Als sie sich aufrichtete, hing er mit erloschenem Atem an ihrem Hals, hielt die Wange an ihre Brust gedrückt und brachte nur mühsam die Worte heraus: „Ach, Lo’ … ach, ich kann’s dir gar nicht sagen … wie ich mich freue … weil ich nur dich wieder habe! Dich, Lo’! Dich! Weißt du, es ist doch wirklich nett vom lieben Gott, daß er die Ferien erschaffen hat!“

Lächelnd kühlte sie ihm mit ihrem Tuch die Wange und hielt ihn umschlungen, bis er ruhiger wurde. Dann gab sie ihm die Blumen.

„Lo’? Für mich?“

„Für dich und für die Mutter.“

„Ich danke, danke dir, Lo’!“

Da nahm sie sein Gesicht in beide Hände und sah ihm lange in die Augen – wie zwei klare Sterne blickten diese leuchtenden

[141] Knabenaugen zu ihr empor. Sie atmete auf und sagte leis: „Ja! Du bist es! Du kommst wieder heim zu uns, wie du gegangen bist!“ Lächelnd schob sie ihn ein wenig von sich und betrachtete sein hager aufgeschossenes Figürchen in dem sauber gehaltenen schwarzen Anzug und in den engen Höschen, die ihm zu kurz geworden. „Und wie du gewachsen bist!“

„Ja! Sieh nur … sagte er stolz und reckte sich, „jetzt reich’ ich dir schon fast an die Schulter!“

Die Kutsche kam, und jubelnd schwenkte der Junge seine Blumen. „Mama! Mama! Sieh doch! Sieh! Die hat uns Lo’ gebracht!“ Das Mädchen eilte dem Wagen entgegen und faßte die Hand der Mutter.

Frau Petri hatte schon graue Haare, welche glatt gescheitelt unter dem schwarzen, altmodischen Kapothut hervorsahen. In weißem Oval, wie aus Wachs gebildet, hob sich aus den schwarzen Bändern das schmale Faltengesicht, das von Kummer und Schmerzen erzählte, die nur zur Ruhe kamen, doch nicht überwunden sind. Aber so welk und müde dieses Gesicht auch war, es zeigte doch noch die Spuren einstiger Schönheit und glich mit seinen feinen, vornehmen Zügen dem Antlitz der Tochter. Nur andere Augen hatte die Mutter, von mattem Blau – Augen, die nicht anders blicken konnten als in Sorge. Und sie hatte ihrer Tochter auch kaum ins Gesicht gesehen, als sie schon beklommen fragte: „Kind? Was ist dir? Du glühst ja ganz! Du bist anders als sonst! Ich bitte dich, sag’ mir … ist etwas geschehen? Was hast du?“

„Mutter …“ Lo’ umklammerte die Hand der alten Frau, während sie neben der Kutsche herging; sie war so erregt, daß sie kaum zu sprechen vermochte.

„Aber Hans!“ schmollte Frau Petri mit dem Kutscher. „So halten Sie doch den Wagen an. Lo’ kann doch nicht immer so nebenherlaufen!“

Der Knecht hielt das Pferd an und suchte auf der kahlen Straße nach einem Stein, den er unter das Rad legen könnte.

„Was hast du, Kind? Aber so sprich doch!“

„Mutter! Denke nur, wer heute bei uns war! In unserem Hause! Er, Mutter! Er!“

„Er? Wie soll ich denn wissen, wer das ist!“

„Aber Mutter! Ich habe dir doch heute früh erzählt von ihm … daß ich ihn draußen am Sebensee kennenlernte … und daß ich so viel von Papa mit ihm gesprochen habe …“

„Der Fürst?“ fragte Frau Petri betroffen.

„Ja! Und heute kam er, um Papas Bilder zu sehen!“

„Und du warst daheim?“

„Nein! Aber ich traf ihn … bei den Weihern! Ach, Mutter! Hättest du nur gehört, wie er von Papa gesprochen hat! Das wäre für dich eine Freude gewesen … eine Freude! Weißt du, was er sagte? Ein großer, großer Künstler, den die Welt hätte bewundern und lieben müssen … und vielleicht war der Mensch und Dichter in ihm noch größer als der Maler! Das sagte er … Wort für Wort. Wir, Mutter, wir wissen es ja! Aber daß es nun auch die anderen erkennen und sagen! Ach, du, Mutter … dieses Wort war ein Geschenk für mich, so schön … ich kann es dir gar nicht sagen, wie mir war!“

Frau Petri schwieg, und während sie zitternd die Hand ihres Kindes umklammert hielt, fielen ihr die glitzernden Zähren auf das schwarze Hutband nieder.

Da sagte der Kutscher: „Mein’ liebe Frau, jetzt muß ich aber weiterfahren. Ein’ Stein find ich net, ein Radschuh’ hab’ ich net, und ’s Rößl derhalt’t mir den Wagen nimmer auf der steilen Straßen da!“

Frau Petri seufzte. „Ach, Lo’! Warum kommt das so spät? Zu spät für ihn!“ Sie trocknete die Augen und sagte [142] begütigend zum Kutscher: „Ja, Hans, ja, fahren Sie nur weiter! … Aber du, Lo’?“

„Fahre nur du voraus, Mutter! Ich gehe … mit Gustl.“

„Aber wo ist er denn?“

„Dort, im Wald. Einem Schmetterling läuft er nach, oder einem Eichhörnchen.“

„Ach, wie sich der Junge wieder erhitzen wird!“ Frau Petri reichte dem Mädchen den Hut des Knaben und ein seidenes Tuch. „Er soll nur den Hut gleich aufsetzen, wenn er auf die Straße kommt … hier zieht es! Und bind’ ihm das Tuch um! Thust du es aber auch wirklich?“

Lolo lächelte. „Ja, Mutter.“

Als der Wagen davonfuhr, kam der Knabe aus dem Wald gerannt, rief der Mutter einen jauchzenden Gruß nach und warf sich wieder mit stürmischer Zärtlichkeit in die Arme der Schwester. Sie drückte ihm das Hütlein aufs Haar und band ihm das Tuch lose um den Rockkragen, daß es den Hals nicht berührte. Dann wanderten sie Arm in Arm neben der Straße hin, und während der Knabe mit sprudelndem Eifer die lange Geschichte seiner kurzen Reise erzählte, schmiegte er sich eng an die Schwester an, als gäb’ es für ihn keine süßere Freude, als so mit ihr zu wandern, ihren Arm zu drücken, ihre Hand zu streicheln und mit leuchtenden Augen immer wieder zu ihr aufzublicken. Doch plötzlich, mitten in seiner plaudernden Freude, verstummte er.

Sie beugte sich zu ihm nieder, sah ihm ins Gesicht und sagte leise: „Ich weiß, an was du denkst!“

„Ach, Lo’!“ Seine Augen füllten sich mit Zähren. „Die ersten Sommerferien … ohne Papa!“ In Schluchzen ausbrechend, umklammerte er die Schwester.

Während auch ihr die stillen Thränen über die Wangen rollten, hielt sie den Knaben umschlungen und an sich gepreßt, bis er ruhiger wurde. Dann wanderten sie langsam und schweigend durch den Wald dahin. Sie kamen zur letzten Höhe, und aus dem Thal herauf grüßte das Dorf mit seinen Wiesen und Gärten.

„Lo’! Unser Haus! Ich seh’ unser Haus!“

Und mit gellendem Jubelschrei, in welchem noch die Erregung nachzitterte, schwang der Knabe sein Hütlein.

Lolo küßte ihn aufs Haar und sagte flüsternd: „Gelt, ja, so schön wie daheim ist’s nirgends in der Welt!“

„Daheim! Ach, Lo’ … wo sollt’ es denn schöner sein?“

„Aber eines mußt du mir versprechen! Wenn wir heim kommen … nicht wahr, Bubi? … dann wollen wir klug und stark sein … und lieb und gut mit der Mutter! Wir dürfen ihr nicht wehthun mit unserem Schmerz … und sie soll nichts anderes sehen als deine Freude, daß du wieder daheim bist und wieder bei ihr!“

„Ja, Lo’! Ich versteh’ schon, was du meinst! Und das versprech’ ich dir auch … lieber beiß’ ich mir die Zunge ab, eh’ ich weine, wenn es Mama sehen kann!“

Sie nickte ihm lächelnd zu. „Aber eines sag’ mir noch!“ Sie nahm das Gesicht des Knaben in beide Hände. „Wenn Papa dich jetzt erwarten könnte … dürfte er Freude an dir haben?“

Ruhig hielt er den Blick der Schwester aus und nickte. „Ja, Lo’, ich glaube schon! Mein Zeugnis … in allen Fächern hab’ ich Eins bekommen. Nur im Betragen … ich bitte dich, sei nicht böse, Lo’ … aber im Betragen hab’ ich Zwei auf Drei. Weißt du, ich passe in der Stunde immer so viel auf, aber ich kann nicht stillsitzen … ich will’s immer, aber ich kann nicht!“

Lächelnd streichelte ihm die Schwester das Haar. „Deshalb brauchst du dir keinen Kummer zu machen. Das wirst du schon noch lernen!“ Sie nahm seinen Arm, und nun schritten sie in das Thal hinunter. „Und da du so gute Zeugnisse heimbrachtest, sollst du auch schöne Ferien haben. Mama und ich, wir werden zusammen helfen, um dir recht, recht viel Freude zu machen! Aber weißt du, Bubi, ganz darfst du auch in den Ferien das Lernen nicht aussetzen. Ich hab’ auch mit Mama schon den Stundenplan eingeteilt. In der Früh’ wird Mama eine Stunde mit dir lernen, und nachmittags oder am Abend, da setzen wir beide uns ein paar Stündchen zusammen. Willst du?“

„Ja, Lo’, ja! Aber gelt … jetzt gleich, da hab’ ich doch ein paar Tage ganz frei. Denn weißt du, ein bißchen ausrennen muß ich mich!“

„Aber natürlich! Bist du zufrieden mit vierzehn Tagen?“

„Vierzehn …“ Das Wort ging unter in einem seligen Jauchzer. „Und darf ich auch wieder fischen? Schon morgen?“

„Ja! Wenn du willst, noch heute am Abend. Der Fischer hat die neue Angelgerte für dich schon fertig!“

„Ach, Lo’, das wird herrlich! herrlich!“

„Vier Tage bleiben wir jetzt zu Hause bei Mama, und dann … das hab’ ich uns von Mama schon ausgebeten … dann darfst du drei Tage mit mir … rate, wohin?“

„Lo’? … Zum Sebensee?“

„Erraten! Ja!“

Die erste Regung des Knaben war stürmischer Jubel. Dann aber wurde er wieder still, und die Wange an den Arm der Schwester schmiegend, flüsterte er: „Ach, Lo’! Da draußen sein … und an Papa denken, wenn ich seine Blumen sehe und seinen Baum singen höre … ich kann’s nicht erwarten, gar nicht erwarten! Wie schön das sein wird!“ Und hastig, als müßte er für solche Freude danken, sagte er: „Lo’! Da nehm’ ich meine Bücher mit! Da draußen, weißt du, da muß ich lernen!“

Zärtlich drückte ihn die Schwester an sich, und wieder gingen sie schweigend am blumigen Saum der Straße hin. Als sie zu den ersten Häusern kamen, wurde ihr Gang immer rascher. Wenige Schritte noch, und sie hatten ihr Heim erreicht.

Das stille Gold des Nachmittages lag über dem kleinen Haus, die weißen Tauben flogen ab und zu, die Stare zwitscherten, und die sonnigen Lüfte waren erfüllt vom Wohlgeruch der Blumen.

[166]
10.

Ueber den schattenschwarzen Bergwald sank schon die Sonne hinunter, als Ettingen mit dem Förster wieder im Jagdhaus eintraf.

Pepperl, der auf der Schwelle des Försterhäuschens gesessen, hatte sich, als er die beiden kommen sah, erhoben und die Füße geschüttelt, als wären sie ihm eingeschlafen. Das Viertelstündchen ausgenommen, das er um die Mittagszeit in der fürstlichen Küche verbrachte, hatte er vom Morgen bis zum Abend auf seinem Lauerposten ausgehalten, mit dem „Geheimnis von Woodcastle“ auf den Knien. In all diesen sieben Stunden war er bei der Lektüre nur um ein einziges Kapitel vorwärts gekommen aber der Miene, mit welcher er die Hefte jetzt in die Schublade warf, konnte man es ansehen, daß er mit dem Ergebnis des Tages nicht unzufrieden war. Nicht das Geringste war geschehen, was die „Verantwortigung“ seiner moralischen Seele nur im mindesten belastet hätte. Wohl hatte Martin ein paarmal recht verdächtige Spaziergänge im Umkreis der Sennhütte unternommen, aber ein freundlicher Zuruf des Praxmaler-Pepperl hatte den Kammerdiener immer wieder zur Umkehr nach dem Fürstenhaus veranlaßt.

So konnte Pepperl, als der Förster in die Hütte trat, seinen Vorgesetzten in bester Laune empfangen. „Grüß Gott, Herr Förstner! Schon wieder daheim? Das is recht! Jetzt kann ich g’rad’ noch ein bißl Dienst machen bis auf d’ Nacht … jetzt is ja der Fürst wieder da!“

Der Förster schien den Zusammenhang zwischen Pepperls Diensteifer und der Heimkehr des Fürsten nicht recht zu begreifen und blickte etwas verwundert dem Jäger nach, der, einen Ländler pfeifend, seine Büchse nahm und mit merkwürdig leichten Schritten hinauswanderte in den schattigen Wald. —

Der Abend war so lind, so still und schön mit seinem klaren Himmel und seinen funkelnden Sternen, daß Ettingen bis spät in die Nacht vor dem Jagdhaus saß, wobei er sich vom Förster und von Pepperl, der mit Einbruch der Dunkelheit von seinem Schutzgang wieder heimgekehrt war, fröhliche Gesellschaft leisten ließ. —

Zwei Tage vergingen. Ettingen hatte keine Lust, eine Birsche zu unternehmen. Er wollte ruhen, wie er sagte. Das hinderte nicht, daß er an jedem Morgen zeitig munter war und einsam einen mehrstündigen Schlendergang durch den Bergwald machte. Am Nachmittag saß er mit einem Buche im Wald, und die Abendstunden verplauderte er mit den Jägern.

Auch der Almhütte stattete er mit dem Förster einen Besuch ab und saß über eine Stunde lang bei der Sennerin, die ihm ihre Arbeit schildern mußte. Das scheu gedrückte Wesen des Mädchens fiel ihm auf, so daß er fragte: „Haben Sie eine Sorge, Burgi?“

„Ich? Und Sorgen? Gott bewahr’! ’s Vieh is g’sund … was will ich denn mehr?“

„Sie sind nicht heiter! Wenn ich Ihnen helfen kann, thu’ ich es gern. Haben Sie etwas auf dem Herzen?“

Sie wurde rot bis unter die Haare, aber gleichmütig sagte sie: „Ich? Auf’m Herzen? Den Janker! Sonst nix! Aber no, der Mensch kann net allweil lustige Fasnacht halten. Diemal muß er auch sein’ sinnierlichen Tag haben. Und so ein’ hab’ ich halt heut’ g’rad’ … weiß selber net, warum!“ –

Am dritten Morgen unternahm Ettingen mit dem Förster einen Birschgang auf Gemsen. Pepperl, der zwei Tage strengen Dienst gemacht hatte, blieb an diesem Morgen zu Hause … „man kann net wissen, ob net d’ Jungfer Köchin oder der Herr Martin wen braucht“ – und hielt auf der Hüttenschwelle in brennender Sonne mit dem „Geheimnis von Woodcastle“ bis Mittag aus. Da kam der Postbote, und den fragte er: „He! Du! Was is denn mit’m Brentlinger? Hast ihm die Botschaft ausg’richt’t?“

„Ja.“

„Warum kommt er denn net?“

„Ich hab’ dir’s ja g’sagt: der Schnaps laßt ihn net aus. Heut’ in der Fruh’ hab’ ich ihn wieder troffen im Wirtshaus … da hockt er schon den dritten Tag!“

Pepperl fuhr sich mit dem Aermel über die Stirne, denn die Sonne hatte ihm eingeheizt, und in schwüler Sorge brummte er vor sich hin: „Mar’ und Josef! Mar’ und mein! Is das ein Mensch! Ein Vatter! Und hat ein Deandl, das in der ärgsten G’fahr is!“ Dann sagte er laut: „Geh’, ich bitt dich, red’ ihm noch einmal zu, daß er kommt. Sag’ ihm: es pressiert!“

Während die beiden noch miteinander sprachen, kam der Fürst von der Birsche zurück. Der Förster trug einen schweren Gemsbock auf dem Rücken. Und „Ein zweiter liegt noch droben,“ sagte er, „tummel’ dich, Pepperl, daß du ihn ’runter bringst vor Abend!“

Aber ehe Pepperl sich „tummeln“ konnte, gab’s vor dem Försterhäuschen noch ein langes, fröhliches Erzählen und Schwatzen über den Verlauf des glücklichen Birschganges.

War es die seltene Jägerfreude, zwei gute Böcke mit einer Dublette erlegt zu haben, war es die ungetrübte Stimmung der vergangenen Tage oder die reine Luft der hohen Berge, die an dem ernsten, blassen Flüchtling der Großstadt diese freundliche Wandlung bewirkt hatte – Ettingen war in so prächtiger, von Heiterkeit übersprudelnder Laune, daß die beiden Jäger ihre Freude an ihm hatten. Seine Augen blickten so klar und leuchtend, sein sonnverbranntes Gesicht hatte so gesunde Farbe, als hätte er nie die Luft der Krankenstube geatmet und als wäre auch die letzte Erinnerung an allen Sturm und Schmerz, vor dem er in die Einsamkeit der Berge geflohen, in ihm versunken und erloschen. Und wie kräftig sein Schritt war, wie stramm und frei seine Haltung! Als hätte ihm in den Adern ein neuer und heißer Trieb des Lebens jeden Tropfen seines Blutes befeuert. Er selbst schien dieser Wandlung, die sich in ihm vollzogen hatte, mit keiner Frage nachzuspüren. Er fühlte sie nur, wie man mit geschlossenen Augen die wärmende Sonne fühlt, war heiter und zufrieden, dachte mit keinem Gedanken an das Gewesene, hatte keinen Wunsch an die Zukunft und freute sich in dieser stillen Ruhe einer jeden Stunde, wie sie kam und ging.

Der folgende Tag aber brachte ihm den Lebensgewinn, den er im Frieden des Waldes gefunden hatte, doch zum Bewußtsein. Da kam mit der Post ein Brief – und als Ettingen an der Schrift der Adresse die Hand des Freundes erkannte, an den er in der ersten Nacht hier oben jene lange Epistel gerichtet hatte, zögerte er doch einen Augenblick, den Brief zu erbrechen. Dann aber schüttelte er lächelnd den Kopf.

„Mein Wald hat mich gesund gemacht! Und frei!“

Was dieser Brief auch enthalten mochte – es konnte seine Ruhe nicht mehr stören, ihm keinen Schmerz bereiten, keine Bitterkeit in seiner Seele wecken. Er hatte überwunden und vergessen, er war geheilt und frei – und wie nun auch die häßliche Katastrophe jener Tollheit ausklingen mochte, er konnte das so ruhig und gleichgültig anhören wie das schale Ende einer Geschichte, die ein anderer erlebt hatte. Er öffnete den Brief und las:

„Wien, den 30. Juli. 

 Mein lieber Heinz!

Du weißt: so stark ich unter Umständen für andere sein kann, wenn es meine eigenen Wünsche gilt, dann bin ich ein Schwächling. Und mein Wunsch wär’ es nun, Dir für Deinen lieben langen Brief recht ausführlich zu danken, mit Dir zu plaudern, Dich zu warnen und Dir zu raten. Aber das muß ich mir für den Tag versparen, der mich wieder zu Dir führt – und ich hoffe, das wird bald geschehen. Für heute geht’s nicht, mit dem besten Willen nicht, man thut mir Gewalt an! Vor kaum einer Minute hab’ ich mich zum Schreiben gesetzt, und da trommeln sie schon wieder an meiner Thür und kichern und schreien: Onkel Goni, was machst Du? Onkel Goni, wo bleibst Du? Onkel Goni, so komm doch! – Du mußt wissen, seit drei Tagen hab’ ich ‚Familie‘. Meine Schwester – ihr Mann ist zu den Jagden nach Steiermark abgesaust – hat ihre vier Jungen in die Ferien geholt, und da ist mir nun die liebe Seele mit ihrem tollen Viergespann unvermutet ins Haus gefahren, und die Jungen stellen mir meine friedliche Hütte auf den Kopf. Aber, ich lasse mich geduldig martern. Jugend zu sehen, das ist für mich immer wie eine neue, große Entdeckung. Das stimmt mich milde, nimmt meiner Borstigkeit jeden scharfen Stachel – aber es [167] macht mich auch schwermütig. Nicht, weil ich die eigene Jugend zurücksehne – kein Kluger will ein zweites Mal leben – nur, weil ich fühle, wie wenig mir von der Jugend geblieben ist. Graue Haare, die ‚einstens‘ braun gewesen – sonst nichts. Warum ich nicht glücklich wurde? Das weiß ich. Aber warum ich nicht geheiratet habe? Das ist mir dunkel. Thu’ es, Heinz! Thu’ es! Und werde Vater! Denn mir scheint, als wäre in dieser Schmutztruhe, die man Leben nennt, die Freude am Kind das einzige Reelle, der einzig wirkliche Wert, auch wenn seine Süßigkeit sich ‚menget mit Bitterkeit‘! Oder glaub’ ich das nur, weil das am Leben das einzige ist, das mir fremd geblieben? Denn alles andere kenn’ ich – und weiß, daß es die Spesen der Erfahrung nicht aufwiegt. Aber nein! Dieser einzige Lebensglaube – der Glaube an einen Gott, zu dem ich niemals beten durfte – der soll mir bleiben für den Rest meiner Tage. Ich habe doch Deiner Mutter Freude an Dir gesehen. Und das überzeugt! Denn ich begriff, daß sie um dieser einzigen Freude willen alles andere verschmerzen konnte. Und im kleinen seh’ ich es auch an meiner Schwester. Wenn die vier wilden Fohlen sie gepeinigt haben, daß sie vor Schmerz und Verzweiflung heult – fünf Minuten später spielt sie ‚Mutter der Gracchen‘ und sagt mit Applomb und strahlenden Augen: ‚Meine Söhne!‘ Und da nasch’ ich nun ein bißchen an ihrer Freude mit, bin ‚Onkel Goni‘ und lasse mich schinden. Ich thu’ es, da ich Zeit habe, denn meiner Freundschaft für Dich sind die Hände gebunden, und ich bin in der Schlichtung Deiner ‚Affaire‘ zu einem Nichtsthun verurteilt, das mir durchaus nicht ‚süß‘ erscheint.

Ich habe wohl das Möglichste versucht, um eine Auseinandersetzung mit ihr herbeizuführen. Aber sie spielt die gekränkte Fee und macht sich unsichtbar. Ihre Villa in Hietzing hat scheinbar im Sommerschlaf die Augen geschlossen, und der Portier schwört falsche Eide, daß die gnädige Baronin ihm ‚unbekannten Aufenthaltes‘ sei. Ihr Anwalt erklärte, daß er ‚keinerlei Auftrag‘ hätte, und ‚vermutete‘, daß sie in Ostende wäre. Aber sie ist hier, in ihrer Villa. Gestern früh brachte mir mein Agent die Mitteilung, daß am 28. abends 9 Uhr ein Coupé vor der Villa angefahren wäre und eine Stunde gewartet hätte. Und weißt Du, wem das Coupé gehörte – am 28. Juli ein geschlossenes Coupé? – dem süßen kleinen Mucki! Dem Sensburg! Er brachte ihr wohl die Neuigkeit, daß er Dich in Innsbruck traf. Hoffentlich hast Du ihm nicht klipp und klar gesagt, wohin Du fährst! Na also – gestern mittag fuhr ich zu ihm, mit den vier Jungen im Wagen. Ausrede: ob er nicht einen netten Engländer wüßte, der meine Neffen im Tennis trainieren könnte. Den wußte er natürlich. Und dann fragte ich so nebenbei, ob er nicht gestern abend bei der Pranckha gewesen wäre. Er wurde rot und leugnete. Das wunderte mich – nicht, daß er leugnete – aber daß dieser Bursche noch erröten kann. Und das ist alles, was ich Dir zu berichten habe. Aber ich warne Dich, lieber Heinz! Was sie mit dieser monatelangen Zurückhaltung bezweckt, versteh’ ich nicht. Aber irgend etwas plant sie! Ich warne Dich, Heinz! Denn daß sie Dich ‚friedlich ziehen‘ läßt, das bilde Dir nur ja nicht ein. Fürst Ettingen zu Bernegg ist ein liebes Hühnchen, das allzuschöne Federn besitzt. Sie wartet nur den günstigen Augenblick ab, um Dich wieder einzufangen. Daß sie dabei mit Deinem Herzen rechnen kann, das brauch’ ich heute wohl nicht mehr zu fürchten. Aber sie wird ihren Kalkul auf Dein Blut setzen. Und ich warne Dich, Heinz! Wenn Dir die schöne Katze mit süßem Schnurren an den Hals springt – schüttle sie ab! Gleich! Denn nur in der ersten Sekunde wirst Du die Kraft dazu haben – nicht mehr in der zweiten Minute. Da hat sie Dich!

Hörst Du: sie trommeln schon wieder! ‚Onkel Goni, Du bist unausstehlich!‘ Diesen Vorwurf muß ich entkräften. Also Schluß!

Dein ‚Schweigen‘ sollst Du in wenigen Tagen bekommen. Ich habe eine herrliche Radierung aufgetrieben und einen tüchtigen Künstler beauftragt, dem Blatt einen Hauch Farbe nach dem Original zu geben. Morgen oder übermorgen wird das Bild an Dich abgehen. Am liebsten wär’s mir, ich könnt’ es Dir selber bringen. Aber sobald ich die vier Jungen wieder losbin und sehe, daß ich Deinem ‚Frieden‘ hier in Wien nicht weiter nützen kann – dann komm’ ich. Und dann wollen wir selbander schöne Klapphornverse erleben:

Zwei Knaben gingen durch den Wald,
Der eine jung, der andre alt …

die heitere Pointe wird sich finden lassen. Bis dahin mit Gruß, mit herzlicher Treu, aber auch in Sorge

Dein alter 
Goni Sternfeldt.“ 

Als Ettingen gelesen hatte, trat er, den Brief noch in der Hand, zum offenen Fenster und blickte lächelnd über den Bergwald hinaus. „Sorge? … Nein!“

Nur eine einzige Stelle des Briefes las er ein zweites Mal: „Dein ‚Schweigen‘ sollst Du in wenigen Tagen bekommen …“

Nun bemerkte er erst, daß die letzte Seite des Briefes noch eine Nachschrift hatte: „Soeben kommt Deine Depesche. Emmerich Petri? Wo hast Du nur diesen Namen so plötzlich aufgefischt? Auf der Gemsbirsche? Ist das einer, von dem die Steine reden, da die Menschen von ihm schweigen? Ich habe in einem Lexikon der ‚Kunstentwicklung des 19. Jahrhunderts‘ nachgeschlagen – der Name fehlt. Doch glaub’ ich mich dunkel zu erinnern, daß ich diesen Namen, oder einen ähnlichen, während des letzten Winters mehrmals in Künstlerkreisen nennen hörte. Aber dieser Winter! Da hatt’ ich doch meine liebe Sorge mit Dir und Deinem Wahnsinn! Wie wär’ ich da kapabel für Kunstgespräche gewesen. Emmerich Petri? Der Name klingt mir im Ohr, doch meine Erinnerung ist leer. Aber ich fahre noch heute ins Künstlerhaus, um einen Augur in moderner Kunstgeschichte zu erfragen, und dann will ich sehen, was sich erfahren läßt.“ –

Mit der gleichen Post, welche diesen Brief gebracht hatte, war auch ein anderer gekommen – an Martin. Und sein Inhalt versetzte den sonst so gemessenen Herrn in solche Erregung, daß er in der gleichen Stunde noch den Förster aus seinem Mittagsschläfchen aufrüttelte. „Herr Förster! Ich komme mit einer Bitte. Sie müssen mir helfen!“

„No also! Schießen S’ los! Was is denn?“

Es handle sich um eine „freudige Ueberraschung“ für Seine Durchlaucht, erklärte Martin. Eine hohe Dame, natürlich eine nahe Anverwandte des Herrn Fürsten, käme nächster Tage zu Besuch ins Jagdhaus – wann, das wäre noch nicht genau bestimmt – aber um Seiner Durchlaucht die „ungeahnte Freude“ nicht zu verderben, müsse die Sache so geheim wie möglich gehalten werden. Vor allem müsse für den hohen Besuch das Grafenstüberl „entsprechend“ eingerichtet werden, und da hätte er nun soeben von Innsbruck die Mitteilung erhalten, daß der Wagen mit dem Mobiliar und der Dekorateur mit seinen Gehilfen schon am nächsten Abend eintreffen würden. Jetzt müsse nun um jeden Preis ein Mittel gefunden werden, um die Durchlaucht für zwei Tage vom Jagdhaus zu entfernen – denn zwei Tage wären zur „Adaptierung“ des Zimmers unumgänglich notwendig.

Der Förster, der sich ehrlich freute, bei einer angenehmen Ueberraschung für seinen Herrn mithelfen zu dürfen, brauchte nicht lange zu überlegen. Die Sache wäre ganz leicht zu machen: man müsse eben dem Herrn Fürsten zureden, einen längeren Jagdausflug zu unternehmen, vielleicht zum Sebensee. „Denn wissen S’, der Sebensee, der g’fallt ihm arg gut … das hab’ ich schon g’merkt. Morgen um Mittag kann er mit’m Pepperl abmarschieren, in der Sebenwaldhütten bleibt er über Nacht … ’s Hütterl is sauber eing’richt’t … am ersten Tag macht er ein’ Birschgang über’n Sebensee ’nauf, und für den zweiten Tag verarranschier’ ich ein nett’s Treibjagderl! Das macht ihm schon Freud’, da geht er schon!“

Mit Eifer nahm der Förster auch gleich die „Verarranschierung“ in Angriff und schickte durch den Postboten die Nachricht an die Leutascher Jäger, binnen zwei Tagen mit sechs Treibern im Jagdhaus einzutreffen. Als er dabei hörte, daß Mazegger, den er all die Tage her nicht gesehen hatte, am Abend zuvor in Leutasch gewesen wäre, gab’s ein Gewitter mit „Blitz und Hagelschlag“. Und damit ihm Mazegger, wenn er spät am Abend in die Hütte zurückkehren würde, nicht wieder auskäme, legte er ihm einen Zettel auf den Tisch: „Morgen bleibst daheim. Ich muß was reden mit dir! … Förster Kluibenschädl.“

Beim Diner trug er dem Fürsten sein „Planerl“ vor und schilderte ihm die Weidmannsfreuden einer Gemsbirsche beim Sebensee und einer Treibjagd auf Hirsche im Gaisthal mit so

verlockenden Farben, daß Ettingen sofort einverstanden war. Martin, der beim Servieren dieses Gespräch hören konnte, atmete erleichtert auf.

Pepperl aber, als er von diesem „Planerl“ hörte, schien nicht sonderlich erbaut zu sein und machte ein langes, höchst bedenkliches Gesicht.

„Was hast denn?“ fragte der Förster. „Zwei Tag’ mit’m Herrn Fürsten jagen … das muß dir doch Freud’ machen?“

„No ja, schon! Aber …“

„Was, aber?“

„Ein bißl ung’legen kommt’s mir g’rad’. Die ganze Zeit her wart’ ich schon allweil auf den Brentlinger. Und morgen oder übermorgen, hätt’ ich g’meint, müßt’ er g’rad’ kommen.“

„Ja was willst denn von dem Schnapsbruder? Sag!“

„No ja … was z’reden hätt’ ich halt mit ihm … wegen meiner Mutter, ja, und … ein bißl arbeiten sollt’ er halt!“

„Der? Und arbeiten? Laß dich net auslachen! Und auf den kannst lang’ warten! Neulich, in Leutasch drin, is er an der Straß’ im Graben g’sessen, und da hat ihm der Herr Fürst ein’ Zehner g’schenkt!“

„So is schön!“ stotterte Pepperl erschrocken. Und im stillen kalkulierte er gleich: einen Gulden bringt der Brentlinger durch im Tag, da braucht er sich nicht zu plagen; fünf Tage sitzt er bereits – also hat er noch einen Fünfer, und bevor er mit dem nicht fertig ist, kommt er nicht. „Da kann ich freilich noch lang’ warten! Derweil bin ich ja wieder daheim!“ –

Am anderen Vormittag gab’s in der Jägerhütte zwischen Mazegger und Kluibenschädl eine erregte Scene – das heißt, erregt war nur der Förster, Mazegger lächelte und schwieg.

Und je länger der Jäger mit diesem stummen Lächeln vor ihm stand, in desto heißeren Zorn geriet der Förster. „Jetzt sag’ ich dir im guten ’s letzte Wörtl, dir! Wenn von morgen an dein’ Dienst net in der Ordnung machst, so wachsen wir z’samm’. Weil in drei Wochen dein’ Kufer packen mußt, deswegen därfst net glauben, daß d’ mit deiner Zeit jetzt machen kannst, was dir einfallt! Uebrigens … was hast denn vorgestern in Leutasch draußen zum suchen g’habt?“

„Nichts.“ Das war das erste Wort, welches Mazegger sprach.

„So? Nix? Warum bist denn nachher ’naus?“

Der Jäger hob schweigend die Schultern.

„Gelt, du, kegel’ dir nur dein Züngl net aus! Aber ich kann mir schon denken, was dich ’naus’trieben hat … ich weiß ja, wer draußen is. Du bist ja rein wie der hungrige Fuchs im Winter, wo er die Hasenfährt’ gleich gar nimmer auslaßt. Ja, schau mich nur an, mit deine wällischen Guckerln!“

Mazeggers Gesicht wurde fahl wie Kalk; doch er schwieg.

„So! Und morgen gehst ’nunter nach Ehrwald und bleibst beim Jager über Nacht. Und übermorgen in der Fruh um Drei, da seids alle zwei beim Sebener Almzaun … Da haben wir ’s Randewuh zum Treibjagen. Und das sag’ ich dir, Toni … wenn ich erfahren sollt’, daß d’ ein’ andern Schritt machst, als den ich dir vorschreib’, da brauchst deine drei Wochen nimmer abz’warten. Da kannst marschieren auf der Stell’, und kannst…“

Erschrocken verstummte der Förster. Unter der Thür der Jagdhütte stand der Fürst. Bei einem Spaziergang über das Almfeld hatte er die überlaute Stimme gehört, und nun sagte er lächelnd: „Nicht ärgern, lieber Förster!“

„Ich bitt’ um Entschuldigung, Duhrlaucht,“ stotterte Kluibenschädl, während Mazegger den Fürsten mit funkelnden Augen maß, „aber wenn ich mein Gallenbinkerl gleich zubinden möcht’ mit sieben aus’glühte Dräht’ … es hilft ja nix … d’ Leut’ reißen ’s ja wieder auf!“

„Sie haben Verdruß gehabt?“

„Ja! Wieder einmal! Und weil Duhrlaucht g’rad’ dazukommen … sagen hätt’ ich’s ja doch einmal müssen … der Mazegger-Toni hat die vorig’ Wochen sein’ Dienst aufg’sagt.“

„Weshalb?“ Ettingen wandte sich an den Jäger und sagte freundlich: „Fühlen Sie vielleicht, daß Ihnen der harte Gebirgsdienst zu beschwerlich ist? Sie sind nicht in den Bergen geboren, und da kann ich begreifen, daß Ihnen der Dienst nicht so leicht fällt wie den anderen Jägern. Aber deshalb brauchen Sie die Stelle nicht aufzugeben. Der Herr Förster wird Ihnen jede mögliche Rücksicht gewähren und nicht mehr von Ihnen verlangen, als Sie ohne Ueberanstrengung leisten können. Oder haben Sie eine andere Klage? Sie können sich vor mir ganz offen aussprechen, und wenn Ihre Wünsche nicht unbillig sind, wird sich über alles reden lassen, deshalb brauchen Sie nicht gleich zu gehen! Nun? … Aber so sprechen Sie doch! … Kommen Sie vielleicht mit Ihrem Gehalt nicht aus?“

Ein paarmal hatte Mazegger die Lippen geöffnet, ohne daß ihm ein Laut von der Zunge kam. Es schien, als ertrüge er den freundlichen Blick seines Herrn nicht, und die brennenden Augen senkend, preßte er mühsam die Worte heraus: „Ich hab’ keine Klage, Herr Fürst … und Gehalt bekomm’ ich so wie so schon mehr als ich verdien’. Aber der Förster hat nicht die Wahrheit gesagt … den Dienst hab’ nicht ich gekündigt … der Herr Förster hat mir aufgesagt.“

Ettingen sah mit verwundertem Blick auf den Förster.

Dem schoß das Blut ins Gesicht. „Ja, Duhrlaucht, so verhalt’ sich die Sach’. Aber wenn ich d’ Wahrheit ein bißl übers Knie ’bogen hab’ … es is bloß g’schehen, daß ich dem Burschen da sein’ Abmarsch leichter mach’ und daß ich ihm net schad’.“

„Was hat er verschuldet?“

„Er hat sich … er hat …“ nein, daß Mazegger ungebührlich über den Fürsten gesprochen hatte, das konnte der Förster seinem Herrn nicht ins Gesicht sagen – „er hat sich unanständig geäußert … über mich … ja, über mich.“

Aber Kluibenschädl verstand sich so schlecht aufs Lügen, daß Ettingen die Wahrheit leicht erriet. Er betrachtete den Jäger, und da begegnete ihm ein so glühender Blick des Hasses, daß Ettingen befremdet zurücktrat. Was hatte er diesem Menschen angethan, um solchen Haß in ihm zu erwecken? Nichts! War das der thörichte Zorn des widerwillig Dienenden gegen seinen Herrn? Die ziellose Eifersucht des Unbemittelten gegen den Besitzenden? Oder war es etwas anderes?

Ettingen hatte sich aufgerichtet, und auch ihm war das Blut in die Stirne gestiegen. Doch ruhig sagte er: „Wenn der Jäger sich unziemlich gegen Sie benommen hat, so bitt’ ich Sie, ihm das nachzusehen. Ich hätt’ es auch gethan, wenn er sich ungebührlich über mich geäußert hätte … und würde mir gedacht haben: er weiß nicht, was er redet. Will er bleiben, so erweisen Sie mir den Gefallen, Herr Förster, und seien Sie gut mit ihm – es sollte mich freuen, wenn er sein Unrecht einsähe und seine Stellung bei mir noch einmal lieb gewänne.“ Ettingen nickte einen stummen Gruß und verließ die Hütte.

Der Förster vermochte vor Erregung kaum zu sprechen. „Da schau her, du!“ sagte er, dicht vor Mazegger hintretend. „So ist der Herr Fürst! Und wie bist du? Aber jetzt thu’, was du magst … jetzt geh’ oder bleib … ich will’s halten, wie’s der Herr Fürst von mir verlangt hat. Und meinetwegen … der gachzornige Katzensprung von neulich, der soll dir vergessen sein … ein’ Ohrfeig’, wenn ’s auch verdient is, laßt sich schließlich keiner gern g’fallen! Aber wenn ich dir noch ein letztes Mal im guten raten därf … sei g’scheit, Toni, und schlag’ dir um Gottes willen die unsinnige Narretei aus’m Kopf! Nimm Vernunft an, Bub’, und verscherz’ dir wegen nix und wieder nix net ein’ Posten, wo dir ein’ ehrenhafte Stellung fürs ganze Leben machen kannst! Mehr hab’ ich dir nimmer z’sagen. B’hüt’ dich Gott!“ Er ging.

Als er draußen am Fenster vorüberschritt, sah er, daß der Jäger noch immer mitten in der Stube stand, wie er ihn verlassen hatte. Doch Mazegger lächelte. Er durfte bleiben, wo es ihn festhielt mit allen Klammern seiner Leidenschaft … alles andere war ihm gleichgültig.

Als er die Schritte des Försters verklingen hörte, hob er das Gesicht. „Nach Ehrwald?“

Wieder lächelte er. Nach Ehrwald gab es zwei Wege, von denen der eine nicht weit am Sebensee vorüberführte – und am verwichenen Abend, als Mazegger neben der Gaisthaler Almstraße im Wald gelegen, war Lolo Petri an ihm vorübergewandert, das Grautier führend, auf dem ihr Bruder ritt.

Mit langsamen Schritten trat Mazegger an das Fenster und blickte zum Fürstenhaus hinauf. Und wieder lächelte er. –

Nachmittags, gegen vier Uhr, wanderte Ettingen mit Pepperl, der im schwer angepackten Rucksack den Proviant für zwei Tage trug, zur Jagdhütte im Sebenwald. Die beiden hatten miteinander einen gar stillen Marsch. Ettingen war schweigsam – der Auftritt mit dem Jäger ging ihm nach, und immer wieder mußte er sich fragen: Was hab’ ich diesem Menschen gethan, warum haßt er mich?

Und Pepperl trug auf seinem Herzen einen Binkel Sorgen, nicht minder schwer als der Pack auf seinem Rücken. Ein Zufall hatte ihm wohl seine „Verantwortigung“ ein wenig erleichtert – von Innsbruck war am Nachmittag eine Touristengesellschaft, die zur Zugspitze wollte, auf der Tillfußer Alm eingetroffen und hatte sich für die Nacht in der Sennhütte einquartiert. Bis zum nächsten Morgen also war das „dumme Gansl“ außer Gefahr! Aber dann? Zwei unbehütete Tage! Bei dem Gedanken, was in solch einer „Ewigkeit“ alles geschehen konnte, lief es dem Praxmaler-Pepperl kalt über den Rücken und durchs Herz.

Während des stillen Marsches dieser beiden ging es im Jagdhaus laut und lebendig zu. Schon um fünf Uhr war ein mit vier Pferden bespannter Planwagen eingetroffen, der hoch mit großen Ballen und Kisten beladen war. Und während der Dekorateur und seine Gehilfen droben im Grafenstüberl schon zu hämmern und zu kleistern begannen, überwachte der Förster im Hof das Auspacken der Kisten und Ballen, aus denen so zierliche und kostbare Geräte, so zarte Seidenstoffe und so merkwürdige „Sacherln“ zum Vorschein kamen, daß Kluibenschädl und die Küchenmagd sich vor Staunen und Wundern kaum zu fassen wußten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit ging es im Jagdhaus zu wie in einem Bienenkorb – und an diesem Hasten, Schleppen und Rennen beteiligte sich nur eine einzige nicht: die Jungfer Köchin, die wohl von Wien her in der Lage war, sich über die Bedeutung des Vorgangs die richtigen Gedanken zu machen.

Sie erschien nur manchmal unter der Küchenthür, sah mit zornrotem Gesicht dem Lärmen und Treiben eine Weile zu und nickte verdrossen vor sich hin. Als ihr Martin zumutete, ein wenig mitzuhelfen, murrte sie mit bösem Blick: „Ich dank’ schön! Mit der Arbeit hab’ ich nichts zu schaffen!“ Sprach’s und warf hinter sich die Küchenthüre zu.

„Was hat denn die Jungfer?“ fragte der Förster. „Vergunnt s’ leicht unserm guten Herrn Fürsten die freudig’ Ueberraschung net?“ Martin zuckte die Schultern und schmunzelte.

[197]
11.

Ein Morgen sonnig und mit wolkenlosem Himmel. Aber der Wind zog unruhig durch das Bergthal empor, setzte zuweilen aus und wehte dann wieder mit wechselnden Stößen. Die höchsten Spitzen der Berge waren von milchigem Dunst umwoben, und der Sebensee leuchtete nicht wie sonst, sein matt gekräuselter Spiegel hatte dunkles schwermütiges Grün. Trotz aller Sonne redete etwas aus dem Bilde der Natur wie leise Angst.

Doch von der Unruhe des Windes merkte man nicht viel im Blumengarten des kleinen Seehauses – er lag im Schutze des nahen Waldes, und nur selten tönten in den Wipfeln des Harfenbaumes die Glocken.

Lolo kniete am Saum eines Beetes auf der Erde, um die verwelkten Dolden des Almrausch von den Stöcken abzulösen. Ihr Bruder, den die Joppe und das kurze Lederhöschen besser kleideten als das schwarze Studentenröcklein, saß im Schatten des Harfenbaumes am Tisch. Trotz der vierzehn „ganz freien“ Tage hatte er all seine Schulbücher mit zum Sebensee genommen – und da saß er nun über einem schriftlichen Pensum aus der römischen Geschichte.

Jetzt erhob sich Lo’ und schüttete die welken Blüten von ihrem Schoß in ein Körbchen, das auf dem Kiesweg stand. Dann setzte sie sich neben den fleißigen Bruder auf die Bank und blickte sinnend zu den leis tönenden Wipfeln des Harfenbaumes auf.

Doch jählings verwandelte sich dieses sanfte Klingen. Ein starker Windstoß kam über den Wald gebraust und schüttelte die Zirbe, daß die Glocken wirr durcheinander klirrten.

Mit ernsten Augen blickte Lo’ zum Himmel und zu den Bergen auf. „Sieh nur, der Wind hat gewechselt,“ sagte sie zögernd. „Ich fürchte, wir bekommen heute noch böses Wetter!“

„Aber Lo’!“ Gustl versuchte zu lachen. „Du? Und fürchten?“

„Du bist bei mir!“ sagte sie und strich dem Bruder das Haar aus der Stirne.

Da klang ein gellender Jauchzer aus dem Wald. „Das ist Loisli!“ rief der Knabe und ließ zur Antwort seine Stimme schrillen.

Der Hüterbub kam zum Gartenzaun gesprungen, so atemlos, daß er den Gruß kaum herausbrachte. Während er noch mit stotternden Worten nach Luft schnappte, tauschte er schon mit Gustl einen wichtigen Blick und blinzelte zum See hinunter.

„Aber Bub,“ sagte Lo’, „weswegen hast denn wieder so rennen müssen?“

„Daß ich … g’schwinder da bin und … und länger bleiben kann!“

„So? Na also, dann bleib’ halt!“ Sie nahm ihm den Proviant ab, den er gebracht hatte, und stellte das Geschirr in den Schatten der Hütte.

Diesen Augenblick benutzte der Bub, um Gustl zuzuflüstern: „Heut’ beißen s’, d’ Fisch’! Ein Wetter kommt!“

Gustl rannte in heißem Eifer hinter die Hütte und brachte die Angelrute.

„Ach so? Ihr wollt fischen?“

„Ja, Lo’! Und ich bitt’ schön … gelt, ich darf? Weißt du, der Loisli kann’s so gut!“

Wieder fuhr ein Windstoß über den Wald her, und wieder blickte das Mädchen in Unruhe zum Himmel auf.

„Kind! Ich glaube fast, es wäre klüger, wenn wir heim gingen.“

„Schon heute? Lo’?“ Dem Knaben schossen die Thränen in die Augen.

„Ein schweres Wetter wird kommen …“

„Aber Lo’, es ist doch der ganze Himmel blau!“

„Jetzt, ja! Aber in ein paar Stunden wird’s anders aussehen.“

„Ja, Fräul’n,“ fiel Loisli höchst undiplomatisch ein, während er an der sonnigen Hüttenwand eine Fliege nach der anderen fing, um Köder für die Angel zu sammeln, „heut’ wird’s grob auf d’ Nacht.“

„Hörst du? Und denk’ nur, wie sich Mama dann wieder sorgen wird.“

„Aber schau, Lo’, sie weiß doch: ich bin bei dir! Da bin ich doch gut aufgehoben … auf dich kann sie sich doch verlassen! Ich bitt’ dich, Lo’!“

Es wurde ihr schwer, dem Flehen dieser Stimme und dieser nassen Augen zu widerstehen.

„Und dann … wir haben doch fünf Stunden bis hinaus … da könnten wir doch erst recht ins Wetter kommen.“

Sie lächelte. „Du kleiner Schlaukopf, du! Na, meinetwegen … geh’ fischen! Ich will an Mama ein paar Zeilen schreiben. Der Sebener Senn trägt heute noch ab, und dem geb’ ich sie mit. Dann hat Mama den Brief vor Abend, und wenn es zu gießen anfängt, weiß sie: wir sind unter Dach.“

Ein stürmischer Kuß – und mit lachender Freude tollten die beiden Knaben zum See hinunter.

Lolo setzte sich an den Tisch, aber sie begann den Brief nicht gleich. Die Hände im Schoß und den Kopf an den Baum gelehnt, blickte sie in Gedanken zu den wehenden Zweigen auf. Aber sie schien das Schwanken und Neigen der vom Wind bewegten Aeste nicht zu sehen, die tönenden Stimmen der Wipfel nicht zu hören. Dann plötzlich, wie aus einem Traum erwachend, strich sie mit der Hand über die Stirn und begann mit raschen, kräftigen Zügen zu schreiben.

Sie hatte den Brief noch nicht vollendet, als über die Büsche vom See herauf ein jubelnder Schrei tönte. „Lo’! Lo’! Wir haben eine riesige Forelle gefangen!“ Und Gustl jauchzte, daß es weit hinaushallte über die steilen Berge.

Mit zerstreutem Lächeln blickte Lolo auf, und nach einer Weile, als sie den Brief an die Mutter geschlossen hatte, ging sie zum See hinunter. Gustl kam ihr entgegengesprungen, mit der Forelle in den erhobenen Händen. „Schau nur, Lo’! Und drei andere haben gebissen! Aber die ist schön, gelt? Die ist schön?“

Gar so „riesig“ war die Forelle nun freilich nicht, aber ein Pfund mochte sie immerhin wiegen.

„Ja, die ist schön! Ich nehme sie dann gleich mit hinauf. Die koch’ ich dir heute zu Mittag.“

„Aber Lo’! Ich hab’ die Forelle doch für dich gefangen!“

Lächelnd sah sie dem Knaben in das vor Eifer und Freude glühende Gesicht. „Ich danke dir! Wie gut du bist! Aber wir teilen, gelt?“

Sie wandte sich an den Hüterbuben. „Loisli! Du wirst heim müssen. Jetzt warst du schon über eine Stunde da, und der Vater wird dich bei der Arbeit brauchen. Aber magst mir noch einen Gefallen erweisen?“

Der Bub legte die Angelrute nieder.

„So trag’ mir diesen Brief zum Sebener Senn hinunter. Er soll ihn mit hinaus nehmen nach Leutasch – für meine Mutter!“ –

Zwei Stunden später wurde droben im Schatten des Harfenbaumes Tafel gehalten. Nach der blauen Forelle gab’s noch einen Pfannkuchen, von welchem Gustl meinte, daß er den Pfauenzungen des Lucullus unbedingt vorzuziehen wäre – und in den Gläsern funkelte „vinum sacrum Sebenianum“, heiliger Sebenwein, wie Gustl das klare Quellwasser getauft hatte. Fast aber hätte die ganze schöne Bescherung dieses Mahls auf der Erde gelegen, denn ein jäher Windstoß blähte das Tischtuch wie ein Segel auf. Das war für den Knaben eine lustige Würze des Schmauses, und lachend trocknete er den „Sebenwein“ von seiner Lederhose, auf die das umgeschleuderte Glas gefallen war.

Als er der Schwester beim Abdecken des Tisches half, rollte ein dumpfer Hall über die Berge hin.

„War das Donner, Lo’?“

„Nein.“

Hoch droben in einem der Felsenkare, in stundenweiter Ferne, war ein Schuß gefallen.

Mit spähenden Augen blickte Lo’ zu den Bergen auf, deren Konturen in weißlichem Dunst verschwammen, und während zarte Röte ihre Wangen färbte, sprach es wie Sorge aus ihren Zügen. Wenn Jäger dort oben waren, dann durften sie sich eilen mit der Heimkehr!

„Wenn nicht Donner, was war es denn?“

Lo’ überhörte die Frage des Bruders, und nach einer Weile sagte sie: „Das Wetter kommt! Sieh nur, hinter der Sonnenspitze ziehen schon die ersten Wolken herauf. Eine Stunde, und der ganze Himmel wird grau sein.“

Sie sollte recht behalten. Wohl schob sich die stahlblaue Wolkenmasse mit ihren zerrissenen Rändern nur langsam über die Berge vor, aber von allen Wänden begann es aufzudampfen, und überall in den Lüften wuchsen die Nebel aus dem Blau heraus und flossen mit dem heranziehenden Gewölk zu einer dichten, grauen Decke zusammen, die alle Höhen verhüllte. Dennoch schien es, als ob die Spannung der Atmosphäre sich friedlich wieder lösen wollte. Windstille trat ein, das Ziehen und Drängen der Wolken wurde ruhiger, und gegen fünf Uhr nachmittags begann ein leichter gleichmäßiger Regen zu fallen.

Auf der Schwelle der Hüttenthür saßen die Geschwister im Schutze des vorspringenden Daches. Gustl, der jeden Wechsel im Wolkenbilde des Himmels gespannt verfolgte, plauderte mit erregter Unermüdlichkeit. Doch die Schwester hörte nur halb. In Sorge blickte sie immer wieder zu den umschleierten Bergen auf und über den See hinüber zu den Latschenfeldern, zwischen deren Büschen man die im Nebel verschwindenden Windungen eines Steiges kaum noch gewahren konnte. Das beklommene Wesen der Schwester fiel dem Knaben auf, und er fragte: „Lo’? Was hast du denn?“

„Ich weiß nicht, aber … dieses Wetter heute …“

„So sieh nur, Lo’! Der Regen läßt ja schon nach! Wirst sehen, wir werden heute noch den schönsten Abend bekommen.“

„Meinst du?“ Ein seltsames Lächeln huschte um ihre Lippen.

Während der Knabe sein Geplauder wieder begann, wurde der Regen immer dünner. Aber es war etwas Schwüles und Unheimliches in dieser trüben Stille der Natur. Das Gewölk hing regungslos in der Luft und färbte sich immer dunkler. Zu einer Stunde, in der es bei klarem Himmel noch heller Tag hätte sein müssen, begann es schon zu dämmern. Und da hörte man fernen Donner. Der Sturm fiel ein und jagte mit brausenden Stößen den Nebel in dichten Schwaden über das Seethal herunter, so daß die kleine Hütte wie von wirbelnden Schleiern umhangen war. Immer näher tönte das Rollen des Donners, Schlag auf Schlag, und bald setzte dieses Grollen und Dröhnen nicht mehr aus; das Echo eines Schlages rollte solange, bis mit Geschmetter ein neuer Schlag wieder einfiel.

Als der Sturm gekommen war, hatte Lo’ in der Hütte die Lampe angezündet und an den zwei kleinen Fenstern die Läden geschlossen. Beim Einbruch der Dunkelheit aber öffnete sie plötzlich den Laden des Fensters wieder, das gegen die Berge blickte.

„Lo’? Warum thust du das?“

„Damit die Lampe hinausleuchtet.“

„Warum? Meinst du denn, es könnten noch Menschen draußen sein? Jetzt?“

„Ja, ich fürchte …“

Schweigend begann sie den Tisch zum Thee zu decken und schürte im Herd ein kleines Feuer an.

Gustl, der unter die Thür getreten war, fuhr plötzlich erschrocken zurück. Der erste Blitz war in das finstere Seethal niedergefahren. Man hatte keinen Strahl gesehen, aber der Nebel, den der Sturm an der Hütte vorüberjagte, war jählings wie in lohendes Feuer verwandelt, und dazu rasselte ein Donnerschlag, als wäre von den Bergen eine Felswand niedergebrochen.

Lo’ trat unter die Thür und faßte wortlos die Hand des Bruders.

Wieder flammte ein Blitz, und schwer begann der Regen zu fallen. Mit Geplätscher ging von allen Kanten des Daches die Traufe nieder, und mit dem Strömen und Rauschen des Regens mischte sich das Brausen des wachsenden Sturmes.

Da erwachte auch in dem Knaben eine Sorge. Er hatte an die Mutter gedacht und fragte scheu:

„Sag’, Lo’! Meinst du, daß es draußen bei uns in Leutasch auch so schlimm ist?“

„Nein.“

Der Sturmwind peitschte die Wasserfäden der Traufe bis auf die Schwelle der Hüttenthür.

„Komm, Lo’, wir müssen die Thüre schließen … dein Kleid wird naß.“

Sie schwieg und blieb auf der Schwelle stehen.

„Aber, Lo’, was hast du denn nur? Ach, du … wie deine Hand zittert! Lo’?“

Ohne zu antworten, drückte sie den Knaben enger an sich. Doch plötzlich fuhr sie lauschend auf, sprang in den Regen hinaus und stammelte:

„Ja, ja, sie kommen …“

Nun konnte auch Gustl das Klirren eines Bergstockes und eine vom Sturmwind halb verwehte Stimme hören.

Lo’ hatte einen klingenden Laut in die Nacht hinausgeschrieen, und als zwei Stimmen Antwort gaben, rief sie: „Herr Fürst? Sind Sie es?“

„Ja, Fräulein!“ Man hörte ein Lachen, das im Lärm des Regens unterging. „Und Ihre Hütte kommt uns gut in den Weg!“

Lo’ sprang in den Schutz des Daches zurück, schüttelte die Regentropfen aus dem Haar und lächelte, als wäre alle Unruhe und Sorge der letzten Stunden plötzlich von ihr abgefallen.

Man hörte die stolpernden Schritte der beiden Männer, welche den Zaun umgingen, das Klappern ihrer Bergstöcke und die Stimme des Jägers, der seinem Herren voraus war und ihm in der Finsternis den Weg erklärte: „Da bin ich, Duhrlaucht, da! Zehn Schritt g’rad’aus auf mich … und jetzt wieder links … soooo, jetzt haben wir’s gleich!“

Gustl erkannte die Stimme. „Lo’! Das ist ja der Pepperl! … Aber wer ist denn der andere?“

„Fürst Ettingen,“ sagte die Schwester und nahm den Knaben um den Hals.

„Der so lieb und gut von Papa gesprochen hat?“

„Ja!“

„Ach, Gott sei Dank, daß der jetzt unterstehen kann bei uns!“

Ein Blitz durchleuchtete grell den Nebel, als die beiden Männer in den Garten traten. Aber diese Helle blendete nur die Augen, und in der schwarzen Finsternis, die ihr folgte, verfehlte Ettingen den Weg zur Hütte und strauchelte über die Rabatte eines Beetes. Aber da hatte schon eine Hand die seine gefaßt und zog ihn unter das vorspringende Dach.

„Ihre Hand, Fräulein, führt gut und sicher. Ich danke Ihnen! Aber mein Sturz wäre nicht so schlimm geworden … ich wäre ja nur in Blumen gefallen.“

„Aber in nasse,“ meinte sie heiter, „und ich glaube, Sie könnten schon zufrieden sein mit dem Wasser, das von Ihnen herunterläuft!“

„Das ist nur der Mantel!“ Ettingen lachte und befühlte unter dem triefenden Loden seine Kleider. „Wirklich, unter dem Mantel bin ich leidlich trocken – aber lange hätt’ es nicht mehr dauern dürfen, dann wär’s durchgegangen.“

„Ja, heut’ hätt’s uns schiech derwischen können,“ sagte Pepperl, während er sich schüttelte, daß die Tropfen wie ein Sprühregen um ihn her flogen. Er war aber auch weit übler weggekommen als sein Herr, denn er trug um die Schultern nur ein dünnes Radmäntelchen, mit dem er viel mehr die Büchse seines Jagdherrn als sich selber vor dem gießenden Regen geschützt hatte. „Teufi, Teufi, Teufi! Das is aber schon ’s reine Glück heut’ …“ Ein krachender Donnerschlag erstickte, was Pepperl noch weiter sagte. Er stellte die Büchse an die Hüttenwand, half seinen Herrn aus dem klatschenden Loden wickeln und hängte die beiden Mantel an das Epheuspalier, damit von dem Zeug die ärgste Nässe abtropfen konnte.

Ein rauschender Windstoß fegte unter das Dach herein und machte in der Hütte die Lampe flackern.

„Aber so kommen Sie doch, ich bitte,“ mahnte Lo’, während sie die Thüre geöffnet hielt. „Im Mantel muß Ihnen warm geworden sein … und bei solchem Weg! Kommen Sie! Und nicht wahr, eine Tasse Thee darf ich Ihnen doch anbieten?“

„Ja, Fräulein! Die wird mit Dank in Empfang genommen. Und wenn Sie noch was dazu haben, das nehm’ ich auch! Ich habe heut’ eine leise Ahnung von dem, was man einen Wolfshunger nennt.“

Er reichte ihr über die Schwelle die Hand, blickte mit frohen, glänzenden Augen zu ihr auf und trat in die Stube.

Groß war sie freilich nicht, diese Stube im Sebenhäuschen. Aber wie gemütlich! In der einen Ecke stand das mit einer weißen Decke verhangene Bett, in der anderen ein alter Schlafdiwan, der schon zum Nachtlager für den Knaben hergerichtet war, darüber ein kleiner Wandschrank, und in der dritten Ecke der gemauerte Herd. Außer einer niedrigen Truhe und einem Rahmen für das Geschirr bestand das ganze übrige Mobiliar aus zwei Holzstühlen und einem Tisch, der in der Mitte des Stübchens unter der hellbrennenden Hängelampe stand und schon zum Thee gedeckt war. Neben dem singenden Theekessel schmückte eine Borkenvase mit Edelrosen den weißen Tisch. Ueberall an den hübsch getäfelten Wänden waren große Waldschwämme und Rindentrichter mit Blumen- und Gräsersträußen angebracht, und die Ecken waren ausgefüllt mit großen Bouquets aus Latschenzweigen, deren kräftiger Harzduft den ganzen Raum erfüllte.

Ettingens Augen blieben an dem Knaben haften, der sich bescheiden und ein wenig verlegen in die Ecke neben dem Herd zurückgezogen hatte.

„Das ist wohl Ihr Brüderchen, Fräulein … das Studenterl, das vorige Woche in Ihrem Haus erwartet wurde?“

„Ja, Herr Fürst.“

„Na, schön’ guten Abend, kleiner Mann! Und da du der

Herr im Hause bist … ich danke dir für die gastliche Aufnahme unter deinem Dach!“

Der Knabe wurde noch verlegener; aber das verriet nur die purpurne Röte seiner Wangen, denn strammen Schrittes kam er auf den Fürsten zu, reichte ihm die Hand und machte ein tiefes Kompliment.

„Und wie heißt du denn?“

„Gustl.“

„August? O! Das ist ein Name, der verpflichtet! Denn wer Augustus divinus war, das weißt du doch sicher schon?“

„Aber natürlich! Wir sind zwar heuer in der römischen Geschichte erst bis zur Verschwörung des Catilina gekommen. Aber wer die Kaiser waren, das weiß man doch!“

Mit wachsendem Wohlgefallen betrachtete Ettingen den Knaben. „Das ist eine Antwort, aus der ich errate, daß dir das Wissen Freude macht und daß du ein fleißiger Lateinschüler bist! Hab’ ich recht?“

„Ja, das darf ich bestätigen,“ sagte Lo’, deren Blick mit zärtlichem Stolz auf dem Bruder ruhte. „Er hat ein Zeugnis heimgebracht, das sich sehen lassen darf.“

Ettingen zog den errötenden Knaben in den helleren Schein der Lampe. „Nein, Fräulein, es ist wirklich überraschend, wie sich in diesem zarten schmalen Gesichtchen schon alle die kräftigen Züge Ihres Vaters erkennen lassen … die Form der Stirne, hier diese Linie von der Wange gegen das Kinn, der Schnitt der Augen und der Nase. Nur in der sanften Zeichnung des Mundes … da gleicht er Ihnen … und schlägt wohl der Mutter nach?“ Er strich mit der Hand über das Haar des Knaben. „Ja, kleiner Mann, du gleichst deinem Vater, und du solltest ihm auch in allem anderen ähnlich werden. Aus dir muß sich im Leben etwas Tüchtiges auswachsen! Denn du trägst einen Namen, dem du Ehre machen mußt … den Namen deines Vaters!“

Die Augen des Knaben blitzten.

Dann war’s eine Weile still in der kleinen Stube. Draußen aber trommelte der Regen wie mit hundert Fäusten auf das Schindeldach, und unaufhörlich rollte der Donner. Da der Sturm die Traufe gegen das Fenster peitschte, schloß Gustl auf einen Wink der Schwester die Läden. Sie selbst bestellte den Tisch, und mit stiller Freude, die aus ihrem ganzen Wesen sprach, bereitete sie alles für das bescheidene Mahl, das sie ihrem Gaste bieten konnte.

Ettingen hatte sich in wohliger Behaglichkeit auf einen Holzstuhl niedergelassen und folgte jedem Schritt und jeder Bewegung des Mädchens mit seinen Blicken. Dann plötzlich sagte er: „Wenn Sie wüßten, Fräulein, wie mir zu Mut ist und wie wohl ich mich fühle. Ich erinnere mich seit Jahren keiner Stunde, der ich so dankbar hätte sein können, wie ich es dieser jetzigen bin. Weiß Gott, ich habe den Wunsch, hier immer so zu sitzen und nicht wieder aufzustehen. Und das macht nicht die sichere, trockene Ruhe, die ich nach diesem recht unbehaglichen Marsch in der Finsternis und unter gießendem Regen hier bei Ihnen gefunden habe. Das macht Ihre Nähe … das geht von Ihnen aus. Ja, Fräulein, und das hab’ ich schon damals empfunden, an jenem ersten Morgen … da draußen bei Ihren Blumen. Diese zufriedene Lebensfreude, diese ruhige Heiterkeit, die in Ihnen liegt … das geht auch auf andere über. Das fühlt man, wie man Licht und Wärme fühlt.“

In Verwirrung suchte Lo’ nach Worten. Aber da kam Pepperl über die Schwelle gestolpert. „Teufi, Teufi, Teufi,“ lachte er und riegelte hurtig hinter sich die Thüre wieder zu, „da draußten is aber ungut! Jetzt bin ich schon selber froh, daß ich ins Trückene komm’. Jetzt hab’ ich ’s Büchs’l g’schwind’ noch ein bißl sauber g’macht, so gut wie’s ’gangen is und hab’ die Mäntel ausg’wunden.“ Er streckte die Arme vom Leib und schaute an sich hinunter. „Oben thut’s es noch … aber ’s Unterg’stell! Saxen noch einmal, mein’ Kurzlederne, die schaut gut aus! Aber no,“ fügte er mit resignierter Miene bei, „die is ’s Wasser schon g’wöhnt.“ Er dachte wohl an die Taufe, die seine „Kurzlederne“ in der Sennhütte empfangen hatte – denn er seufzte. Aber der Anblick seines Herrn, der so trocken und behaglich saß, brachte ihn wieder in gute Laune. „Gelten S’, Duhrlaucht, heut’ haben wir’s nobel ’troffen!“ Lachend stellte er sich an den Herd und ließ sich von der Wärme anstrahlen. „Und jetzt kann ich’s ehrlich sagen … wie wir da droben im Nebel umeinander ’krabbelt sind, und wie d’ Nacht und so ein Wetter eing’fallen is … g’wiß wahr, da hat mir ’graust! Mein G’nack, das kost’ ja net viel! Aber Sie dabei, Duhrlaucht! Mar’ und Josef!“

„Aber haben Sie denn das Wetter nicht kommen sehen?“ fragte Gustl.

„Ich? No, da wär’ ich ein sauberer Jager, wenn ich mich net einmal auf ’n Wind versteh’n möcht’! Ja, aber wissen S’,“ wandte sich Pepperl an Lo’, welche die kochenden Eier überwachte, „gegen Mittag, wie’s so wetterig worden is, waren wir droben auf der Schneid’, wo’s von die Sebenberg ’nuntergeht ins Prantlkar, und gleich hab’ ich g’sagt: ,Duhrlaucht, jetzt müssen wir heim!’ Und durchs Prantlkar wären wir leicht zur Schutzhütten ’nunter’kommen bis auf ’n Abend. Aber der Herr Fürst hat positivi übern Sebensee heim wollen … no ja, und wie so gahlings der Nebel eing’fallen is, da sind wir dag’standen wie der Schuster, wenn er ein’ Kittel machen soll.“

Ettingen lachte.

„Ja, gelten S’, jetzt können S’ lachen. Aber da droben hat’s schiech ausg’schaut! Ich sag’ Ihnen, Fräul’n: aufg’schnauft hab’ ich, wie ich das gott’sliebe Licht’l von Ihrem Hütt’l g’sehen hab’!“

„Siehst du, Lo’!“ fuhr Gustl in heißer Erregung auf. „Siehst du, es hat geholfen! Ja, denken Sie nur, Pepperl … Lo’ hatte die Läden schon geschlossen und hat sie wieder aufgemacht, damit das Licht hinausleuchtet!“

„Fräulein?“ Ettingen blickte zu dem Mädchen auf, das am Tische den Thee bereitete. „Sie haben vermutet, daß wir kommen würden?“

„Ja. Ich hatte Ihren Schuß gehört.“

„Da müssen wir Ihnen doppelt dankbar sein!“ Er nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen. „Wie wohlgeborgen müssen sich die Ihrigen fühlen in Ihrer Liebe, da Ihre Sorge schon so warm für fremde Menschen redet!“

Sie hielt seinen Blick aus und erwiderte lächelnd: „Fremde Menschen? Menschen, die man in Gefahr weiß? Die stehen uns doch immer nah’. Und Sie, Herr Fürst? Nach allem, was Sie mir von meinem Vater sagten? Nein! Sie sind kein Fremder für mich und die Meinen! Aber ...“ Aufatmend löste sie ihre Hand aus der seinen und ging zum Herd. „Haben Sie Erfolg auf der Jagd gehabt?“

Pepperl kicherte. „So, Duhrlaucht, jetzt können S’ Ihnen aber sauber schenieren vorm Fräul’n! Ja, was sagen S’, Fräul’n … auf fufz’g Schritt’ is ihm der Gamsbock dag’standen … und nobel hat er ihn g’fehlt! So ein Schütz wie der Herr Fürst! An was S’ da ’denkt haben, Duhrlaucht, das weiß der heilige Peterl droben … und der net g’wiß!“

„Ja, Pepperl,“ versicherte Ettingen mit herzlichem Lachen, „an Ihren Gemsbock hab’ ich nicht gedacht. Das stimmt!“

Der Thee duftete aus der Kanne, Lo’ brachte die in eine Serviette gehüllten Eier zum fertig gedeckten Tisch, und das Mahl konnte beginnen. Aber da ergab sich eine Schwierigkeit: vier Tischgäste und nur zwei Sessel! Pepperl zog für sich die Truhe zum Tisch, und auf ihr saß er so tief, daß er gerade noch mit dem Kinn über die Tischplatte reichte. Lolo wollte den Platz auf ihrem Sessel mit dem Bruder teilen, aber Gustl holte sich zwei große Holzscheite vom Herd, stellte das eine senkrecht, legte das andere quer darüber, und so hatte er den „schönsten Schaukelstuhl“, mit dem er freilich bei jeder leisen Bewegung umzukippen drohte. Diese glückliche Lösung der Platznot leitete den Schmaus mit Heiterkeit ein, und während draußen der Regen prasselte, der Donner krachte und der Sturmwind rüttelnd um die Holzwände fuhr, wurde im Schutze dieses traulichen Daches mit Lachen geplaudert und gespeist.


12.

Ein Glück war es, daß Loisli am Morgen frischen Vorrat an Butter und Ehrwalder Weizenbrot gebracht hatte, sonst würde sich wohl der Speiseschrank des kleinen Seehauses als zu arm erwiesen haben für den gesunden Appetit der beiden Jäger, die seit dem Frühstück um drei Uhr morgens keinen Bissen mehr genossen hatten. So aber wurden, wie Ettingen lachend versicherte, „die Wölfe allmählich zahm“; je toller es draußen zuging, desto fröhlicher steigerte sich die Laune am Tisch; der trauliche Reiz dieser Stunde und die wohlige Stimmung dieser sicheren Ruhe inmitten des rumorenden Ungewitters lachte und leuchtete von allen Gesichtern, am hellsten aus den Augen des Fürsten. Aus jedem seiner Blicke sprach das dankbare Wohlgefallen an der stillen, aufmerksamen Art, mit welcher Lo’ ihren Gast bediente und für ihn sorgte. „Wer das immer so haben könnte,“ sagte er, „nicht nur für eine Stunde, für immer: sich in allem Sturm, den das Leben bringt, so sicher und herzensfroh zu fühlen, wie wir da sitzen, während draußen alles drunter und drüber geht!“

„Das können S’ ja haben, Duhrlaucht!“ meinte Pepperl lachend, während er sich zum fünftenmal die Tasse füllte. „Bleiben S’ da bei uns und verangaschieren S’ d’ Fräul’n Petri als Wirtschafterin ins Jagdhaus! Da kriegen wir’s gut!“

Heiter ging Lo’ auf den Scherz des Jägers ein, aber Gustl schien die Sache ernst zu nehmen und betrachtete mit beklommener Aufmerksamkeit bald die Schwester und bald den Fürsten, der keinen Blick von Lo’ verwandte und jedes Wort von ihren Lippen wie eine neue Freude zu empfangen schien.

Auch Pepperl war plötzlich nachdenklich geworden. Das „Jagdhaus“ mochte ihn an ein anderes Gebäude erinnert haben, das nicht weit davon lag. Mit seufzendem „Vergelt’s Gott!“ zog er, als Ettingen die Serviette faltete und Lo’ den Tisch zu räumen begann, die Truhe an ihre Stelle zurück, setzte sich wieder und lehnte sich mit gekreuzten Armen an die Hüttenwand. Auch Gustl, den das Balancieren und Turnen auf seinem „Schaukelstuhl“ ermüdet hatte, schien das Verlangen nach bequemer Ruhe zu haben; er trug die beiden Scheite zum Herd und schmiegte sich in die Ecke des Diwans.

So blieben Ettingen und Lo’ allein am Tisch, überschimmert vom Lichtkreis der Lampe, während alle Ecken und Wände der Hüttenstube in tiefem Schatten lagen. Und sie allein nur sprachen. Wie einer, der am Weg eine seltene Blume findet, sie betrachtet mit Lust und Staunen, an ihrer Schönheit sich nicht satt zu schauen vermag und die drängende Sehnsucht empfindet, das liebliche Wunder dieser Farben ganz zu verstehen, die Quelle dieses köstlichen Duftes auszuspüren – so fühlte sich Ettingen diesem Mädchen gegenüber. Er fragte und fragte, als sollte für ihn auf dem Grund dieser tiefen und klaren Menschenseele kein Licht und keine Regung verborgen bleiben. Wie mußte er staunen über die seltene Bildung dieses „Dorfkindes“! Ihr Wissen konnte nicht reicher sein, wenn sie die gerühmteste Schule besucht, den Unterricht der besten Lehrer genossen hätte. Und daß sie das alles wußte – als wie selbstverständlich betrachtete sie das! „Kann man denn leben, ohne an Wissen zu erwerben, was für uns erreichbar ist?“ Und wie ruhig und einfach sie das Leben ansah! Wie alle schreienden Fragen der menschlichen Daseinsnot für sie gelöst waren durch ihre wunschlose Zufriedenheit, durch die Herzensgüte, mit der sie alles und alles umschloß, durch ihren Glauben an das Schöne und an die zweckvolle Notwendigkeit alles Bestehenden, auch des Schmerzes. „Leben und leiden, das klingt zusammen und läßt sich nicht trennen … und könnten wir uns denn eine Freude denken, wenn wir den Schmerz nicht kennen würden? Wir lieben doch die Sonne nur, weil sie wiederkommt, wenn sie gesunken ist.“

Wohl mußte Ettingen bei seiner größeren Lebenskenntnis den Kopf zu so manchem Gedanken schütteln, den sie aussprach. Aber aus allem, was sie sagte, hauchte ihn eine Wärme an, die sein ganzes Wesen durchdrang. „Wie Sie von Welt und Menschen denken, mein liebes Fräulein, das alles ist so gut, so schön! Aber die Wirklichkeit des Lebens, die ist rauh und zwecklos häßlich, so grundverschieden von dem abgeklärten Bild, mit dem Ihre Seele alles widerspiegelt. Doch ich bin der letzte, der Sie in Ihrem Glauben irremachen könnte! Und wer weiß … vielleicht haben Sie dennoch recht … und wir Allerweltsklugen, die es besser wissen wollen, sind die Thoren, die alle Weisheit für sich haben, aber auch allen Schaden. Schließlich ist Wahrheit doch wohl etwas anderes als Wirklichkeit. Wahrheit, die sich greifen läßt und für alle gilt? Nein! Die giebt’s nicht! Wenn Wahrheit nicht in uns ist, dann ist sie nirgends. Nicht die greifbare Form der Dinge macht ihr Bild, sondern der Blick, mit dem wir sie sehen. Das Leben ist gut für Sie, weil Sie es sind. Sie stehen hoch, und Ihr Blick ist hell! Wer so sehen könnte wie Sie!“

„Liegt das nicht im Willen eines jeden?“

„Meinen Sie?“ Er schwieg und lächelte, als hätte er in Gedanken zu sich gesagt: Ich will’s versuchen!

Da hörten sie einen tiefen, schweren Atemzug, und alle beide blickten sie auf. „Ach Gott! Der arme Junge!“

Gustl war eingeschlafen, und in unbequemer Lage hing ihm der Kopf über die Lehne des Diwans hinunter.

Während Lo’ hinüberging, um den Knaben aufzurichten, riß auch Pepperl die Augen auf, der ebenfalls ein Nickerchen gemacht hatte und nun erwachte, da die Stimmen so plötzlich schwiegen.

Die Ermüdung dieser beiden mahnte Ettingen an die Zeit, an die er seit dem Eintritt in die Hütte noch mit keinem Gedanken gedacht hatte. Er sah nach der Uhr und sprang erschrocken auf. „Ach, du lieber Himmel! Zwölf Uhr! … Fräulein! Ich habe Sie um die halbe Nacht gebracht! Wie soll ich meine Unbescheidenheit entschuldigen? Ich kann es nur, wenn ich Sie zur Mitschuldigen mache … der Gast ist geblieben, weil ihn die Wirtin hielt. Jetzt aber fort! Auf, Pepperl! Wir gehen! Wir müssen gehen!“

Gehorsam erhob sich der Jäger und streckte die Glieder. Aber Lo’ sagte: „Sie können und dürfen nicht gehen! Das Gewitter scheint ja vorüber zu sein … man hört keinen Donner mehr! Aber dieser Regen … wie das gießt! Und jetzt, in der Nacht? Dieser Weg! Nein! Sie müssen bleiben! Ich erlaube nicht, daß Sie gehen.“

„Ja, Duhrlaucht, ’s Fräul’n hat recht!“ fiel Pepperl ein und öffnete die Thüre. Ein sausender Luftstrom fuhr in die Hütte herein und peitschte den Regen über die Schwelle. „Da schauen S’ ’naus, wie’s thut! Und die Finsternis! Da könnten wir den Hals riskieren! Na na, die Verantwortigung übernimm ich net! Jetzt müssen wir schon bleiben! Und’s Fräul’n wird net harb sein drum … gelten S’, na?“

Lo’ reichte dem Fürsten die Hand. „Wenn Sie gingen, jetzt, Sie würden mir nur eine Sorge machen. Ich bitte Sie, zu bleiben!“

Die Hand des Mädchens festhaltend, ließ sich Ettingen heiter auf den Sessel nieder. „Gut! Ich weiche der Majorität … und thu’ es gerne. Aber Gewissensbisse mach’ ich mir doch … und eine Bedingung stell’ ich: der arme Junge ist müd’, er soll sich ruhig niederlegen. Nicht wahr, Gustl, vor mir genierst du dich nicht?“

„Nein!“ sagte der Knabe mit seiner schlaftrunkenen Stimme. Er wartete nur, bis die Schwester ihm zunickte, dann zog er das Jöpplein aus und legte es sorgsam gefaltet über die Diwanlehne. In den Strümpfen und mitsamt dem Lederhöschen schlüpfte er unter die Decke, in deren Schutz er sich vollends entkleidete. „Lo’, jetzt lieg’ ich!“ – Das sollte heißen: Komm’ und sag’ mir Gute Nacht! Als fünfjähriger Bub hatte er sich’s angewöhnt, vor dem Einschlafen die Schwester so zu rufen – und daran änderte die Thatsache nichts, daß er im letzten Semester schon angefangen hatte, den „Cäsar“ zu lesen.

Sie ging zu ihm, und als er sie mit beiden Armen um den Hals nahm, küßte sie ihn auf die Wange und sagte ihm leis ins Ohr: „Denk’ an Papa!“

Während Ettingen schweigend die Geschwister betrachtete, stieg ihm warme Röte ins Gesicht, und er atmete auf, als wäre ein Wunsch in ihm erwacht, den er fühlte, ohne ihn zu verstehen. Als Lo’ zum Tisch zurückkehrte und eine grüne Blende um den Lampenschirm hängte, blickte er lächelnd zu ihr auf und sagte: „Wie gut der kleine Mann da drüben jetzt schlafen wird!“

Nun saßen sie wieder am Tisch, und damit der Junge den Schlummer leichter finden möchte, plauderten sie mit gedämpften Stimmen. Das machte sich auch Pepperl zu nutze, und es dauerte gar nicht lange, da hatte er schon wieder die Augen geschlossen.

Nur die beiden am Tische dort, die schienen keine Müdigkeit zu fühlen, kein Verlangen nach Schlaf. Und dieses leise Sprechen beim eintönigen Rauschen des Regens gab jedem Wort, das sie sagten, einen heimlichen, tieferen Sinn und umwebte die Plaudernden mit einer Stimmung, die sie einander näher brachte, ohne daß sie es wußten, und deren traulichen Reiz sie genossen, ohne ihm nachzufragen. Manchmal, nach einem ernsten Wort, verstummte ihr Geplauder, und dann saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber, als hätten ihre nachklingenden Gedanken an diesem Worte noch zu raten. Nach solch einer Stille sagte Ettingen einmal, ganz unvermittelt: „Denken Sie, Fräulein … die ganze Zeit schon, während ich plaudere mit Ihnen, bei jedem Wort, das Sie sprechen, geht mir immer eine seltsame Empfindung nach …“

„Welche?“

„Daß wir nicht allein wären … hier am Tisch! Daß noch ein Dritter bei uns wäre … Ihr Vater!“

Wie es ihre Wangen überglühte, wie es aufleuchtete in ihren Augen, das verriet ihm, mit welcher Sehnsucht sie darauf gewartet hatte, daß er von ihrem Vater sprechen würde.

„Wirklich, Fräulein … bei so vielem, was ich von Ihnen hörte, hab’ ich mir immer denken müssen: er ist es, der zu mir redet! Und oft überkam mich völlig die Täuschung, als vernähme ich eine ganz andere Stimme, nicht die Ihrige, seine Stimme. Ich stelle mir vor, daß er ein tiefes, klangvolles Organ hatte – eine von jenen Stimmen, nach denen man sich unwillkürlich umsieht, wenn man sie hört?“

„Nein!“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte. „Papa hatte eine ganz unauffällige Stimme, nicht stark und beinahe herb, fast immer ein wenig erregt und etwas ungeduldig … wie das so ist, wenn die Zunge den Gedanken nicht nachkommt. Aber wie weich und zärtlich konnte diese Stimme klingen! Wie sie ins Herz ging, so warm …“ Träumend blickte Lo’ vor sich hin, als ob sie lauschen möchte. Ein Schatten tiefer Wehmut glitt über ihre Züge. Dann atmete sie auf und sagte leis: „Das kommt nicht wieder! Da hilft kein Erinnern.“

Um die schmerzliche Stimmung zu verscheuchen, die sie befallen hatte, begann er von seinem Besuch in ihrem Haus zu sprechen und schilderte ihr den Eindruck, den er von jedem einzelnen Bild empfangen hatte. Lange hörte sie ihm schweigend zu, keinen Blick von seinen Lippen verwendend. Dann sprach sie manchmal ein paar flüsternde Worte dazwischen, um seine nicht völlig zutreffende Auffassung des einen und anderen Bildes richtigzustellen, oder um ihm zu sagen, aus welchem zufälligen und scheinbar unbedeutenden Erlebnis gerade dieses oder jenes besonders wirksame Motiv hervorgewachsen war. So kam sie allmählich ins Erzählen und schilderte ihm das ganze seltsame Schicksal ihres Vaters, die Anfänge seiner Kunst, das stille Glück seiner Liebe, als er in der Erzieherin eines vornehmen Hauses, in dem er Zeichenstunde gab, seine Frau gefunden, – seinen häuslichen Sorgenkampf, seine Verzweiflung über das lachende Unverständnis, dem er mit seinem eigenartigen Schaffen und Sinnen begegnete, seine Verbitterung und die Flucht aus der Stadt, sein resigniertes Aufatmen im stillen Dorf und im Verkehr mit der Natur, die schönen Traumwochen am Sebensee, die Liebe zu den Seinen und die Freude an seinem Haus, den Anfang dieser handwerksmäßigen Schilderei, die er im Zorn der Verbitterung begann, um sie mit heiterer Ironie dann weiter zu treiben, fast mit einer Art von Freude an ihr, weil sie anderen Freude machte – die Rückkehr zu neuem, reiferem Schaffen, die Aengstlichkeit, mit der er die neu entstandenen Werke in seinem Haus verschloß, damit sie nur ja keinem „Kunstaugur“ vor Augen kämen, sein ganzes Leben bis zu jenem letzten Tag nach dem Wolkenbruch, bis zu seinem lächelnden Sterben und seinem letzten Wort: „Meine Blumen …“

Stunde um Stunde verging dabei – und sie merkten nicht, daß über dem kleinen Dach das Rauschen des Regens immer leiser wurde und daß durch die Ritzen der Fensterläden sich schon ein mattes Grau des erwachenden Morgens schlich.

„So starb er.“

Lange saßen sie sich schweigend gegenüber, bis Ettingen die Hand des Mädchens nahm und sagte: „Ich kann es Ihnen nachfühlen … wie müssen Sie ihn schwer verloren haben!“

„Ja!“ Sie sagte sonst kein anderes Wort. Doch ihre Augen verschleierten sich feucht. Und erst nach einer Weile konnte sie wieder sprechen: „Aber das Lächeln, mit dem er starb, der leichte Seufzer, mit dem er die Augen schloß … das war mein Trost, und das hat mir hinübergeholfen über das Schlimmste, so daß ich die Mutter und den Bruder stützen konnte in ihrem Schmerz. Und er hat mich ja doch gelehrt, das Leben lieb zu haben, aber auch den Tod nicht zu fürchten, nichts anderes in ihm zu sehen als einen Wandel der Form und eine schöne Ruhe, in die kein Schrei und Weh des Lebens mehr hineinklingt! Und weil er starb … deshalb hat er uns nicht verlassen! Immer seh’ ich ihn, immer ist er bei mir … und wenn schon Sie das empfinden mußten, der Sie ihn gar nicht kannten … wie muß ich das fühlen, ich, sein Kind! Als ob er noch lebte, wirklich und wahr, so seh’ ich ihn vor mir stehen … nur so still!“ Ihre Stimme schwankte. „So schweigsam! Und wie ich auch all mein Erinnern sammle … seine Stimme hör’ ich nicht mehr, auch nicht im Traum … und wenn ich sie zu hören meine, dann klingt sie anders … nicht mehr so, wie sie war. Und das ist eine Sehnsucht, die mich nie verläßt: seine Stimme noch einmal zu hören … nur jenes einzige Wort, das er immer zu mir sagte, wenn ich ihm eine Freude machte … mit der gleichen Zärtlichkeit, mit dem gleichen Ton: ‚Meine gute, liebe, kleine Lo’!‘ Das möcht’ ich noch einmal hören, nur ein einziges Mal! … Aber ich weiß, das kommt nicht wieder!“ Zwei schimmernde Thränen lösten sich von ihren dunklen Wimpern und sickerten langsam über die Wangen nieder.

„Fräulein …“ Das war ein Laut, so erregt und ungestüm, wie aus quälendem Schmerz heraus.

Und da erwachte der Jäger. Ein wenig mühsam erhob er sich, denn alle Glieder schienen ihn zu schmerzen, und öffnete die Thür. Weiße Helle und frische Morgenluft quoll in den Lampenschein der Stube. „Da schauen S’ her, Herr Fürst! Tag is worden! Und der schönste Morgen!“ Lachend rieb er sich die Augen und trat über die Schwelle hinaus.

Die beiden am Tisch erhoben sich. „Tag? Wirklich, es ist Tag geworden!“ Ettingen faßte die beiden Hände des Mädchens. „Und wenn ich jetzt gehe … ich danke Ihnen, Fräulein, für diese Nacht ... und ich nehme um Ihretwillen einen Wunsch mit fort …“

„Einen Wunsch?“

„Daß Sie das noch einmal hören möchten in Ihrem Leben … mit der gleichen Zärtlichkeit und mit dem gleichen Ton: Meine gute, liebe, kleine Lo’!“

Zögernd ließ er ihre Hände, ging zum Diwan hinüber und küßte den schlummernden Knaben auf die Stirn. Gustl erwachte, richtete sich in den Kissen auf, blinzelte mit den Augen und sagte: „Guten Morgen!“ Das wirkte so drollig, daß sie lachen mußten, alle beide. Zärtlich klopfte Lo’ den Knaben auf die Wange. „Guten Morgen, Bubi! Aber leg’ dich nur wieder hin und schlaf’ noch ein Weilchen. Es ist ja noch gar nicht Tag … erst vier Uhr früh!“

„So? Aber gelt, wenn die Sonne kommt, dann weckst mich, Lo’?“

„Ja, Bubi!“

Gustl gähnte mit singendem Ton und drehte sich auf die Seite. Nach einer Minute schlief er schon wieder.

Lo’ und Ettingen traten vor die Hütte.

Im weißen Frühlicht lebten schon alle Farben der Landschaft auf, und all diese Farben hatten etwas Neues, Ungewöhnliches und Kraftvolles. Doch nur in der Ferne erschienen sie klar. Ueber allen Farben der Nähe lag’s wie ein Hauch des Reifes, wie ein grauer Seidenschleier, und unter der Schwere zahlloser Wassertropfen waren alle Kelche der Blumen gebeugt, all ihre Blätter und Zweige zu Boden gedrückt. Doch während Tropfen um Tropfen von ihnen niederrollte, begannen sie schon langsam sich wieder aufzurichten, frischer und schöner, wie von neuem Leben erfüllt. Von den Büschen des Gartenzaunes, und reichlicher noch von den schweren Nadelzweigen des Harfenbaumes, ging ein unaufhörliches Geriesel nieder, und das war in der Stille des Morgens wie eine leise, heitere Murmelstimme, in die sich mit tiefem Orgelton das ferne Rauschen der wasserreichen Wildbäche mischte.

Ruhig dampfte der See, doch die Dünste, die von ihm aufstiegen, zerflossen wieder in den Lüften. Vereinzelte Nebelsäulen rauchten über die schwarzgrünen Kämme der Wälder empor und zogen sich langsam an den Gehängen der Berge hin. An den Wänden, die gegen Westen blickten, waren in nassem Blau alle Formen verwaschen, in hartem Bleigrau aber und scharf gezeichnet starrten alle Felsen, die gegen Osten sahen, von wo die Sonne kommen sollte. Sie kam noch nicht. In kalter Helle leuchtete das dünne Blau des Himmels, und mit erlöschendem Schimmer zitterte ein großer Stern noch zwischen dem letzten grauen Gewölk, welches langsam davonzog über den Grat der südlichen Berge. Aber hoch am Himmel, hoch, begann sich eine kleine Herde winziger Lämmerwolken schon mit zartem Rot zu überhauchen. Und als sie leuchteten, diese Wölklein, wie in die Lüfte gestreute Rosen, schwamm fern im Osten über einem langen dunklen Bergzug ein Glimmen und Glasten herauf, in dem alle Formen der Zinnen mit doppelter Linie gezeichnet waren: die eine blauschwarz und die andere gleißend wie ein goldener Faden.

Da zog von den Wänden ein frischer Windhauch über das stille Seethal nieder, bewegte sacht alle Zweige an Busch und Bäumen, machte die Tropfen in Menge fallen und strich über alle Bäume und Gräser hin wie mit Flüsterstimme: Sie kommt, sie kommt! Leise rauschten die Wälder im tieferen Thal – und jählings war es, als hätte strömend der Duft aller Blumen sich gelöst, als stiege würzig und stark aus dem Schoß der Erde herauf, was ihre getränkte Scholle nur immer besaß an Wohlgeruch.

In solcher Luft, wie war das ein leichtes und frohes Wandern!

Bald klangen die Schritte der beiden Jäger auf kahlem Gestein wie Hammerschlag, bald wieder erloschen sie, wenn der Weg über feuchten Rasen ging. Ettingen atmete tief und tief, als wäre in seiner Brust ein unersättlicher Durst nach allem Duft und aller Frische dieses Morgens. Und immer wieder blieb er stehen, winkte mit der Hand und grüßte mit dem Hut zurück nach dem kleinen Haus dort oben, auf dessen Schwelle noch immer das Mädchen stand, regungslos, die schlanke Gestalt wie von nebelhaftem Feuerglanz umwoben: vom rötlichen Lampenschein, der aus der Stube quoll.

[229] Alle Gipfel der Berge strahlten schon im Wiederschein der Sonne, als Ettingen und Praxmaler gegen fünf Uhr morgens die Jagdhütte im Sebenwald erreichten. Hier fanden sie einen aufgeregten Menschen: den Förster. Der war mit Anbruch des Tages gekommen, um die Treibjagd abzusagen, die erst am folgenden Tag gehalten werden sollte, weil – ja, weil nach der Wetternacht der Wind nicht günstig wäre – in Wahrheit aber, weil sie im Jagdhaus in zwei Tagen mit der Einrichtung des

Grafenstübchens soweit nicht fertig wurden, daß es tadellos und bereit wäre, die „freudige Ueberraschung“ aufzunehmen. Als Kluibenschädl in der Schutzhütte die Betten unberührt und den Herd ohne Glut gefunden, war ihm die Sorge mit „gacher Hitz“ vom Herzen in den Kopf geschossen. Schon begann er an die schlimmsten Dinge zu denken und wollte in seiner Angst bereits zur nächsten Almhütte rennen, um mit den Sennleuten die Suche nach seinem Herrn zu beginnen – da kamen die beiden, gesund und mit heiterem Geplauder. Es hätte nicht viel gefehlt, und Kluibenschädl wäre in der ersten angsterlösten Freude dem Fürsten um den Hals gefallen. Während Pepperl das ganze Abenteuer lustig erzählte, hielt der Förster die Hand seines Herren fest, und dann sah er ihm lachend ins Gesicht und sagte:

„Sakrawolt! Duhrlaucht! Die heutig’ Nacht auf ’m hülzernen Sessel, die muß Ihnen gut ang’schlagen haben! Ausschaun thun S’ … wie ’s Leben!“

Sie traten in die Hütte, und Pepperl schürte gleich Feuer zum Frühstück an.

„No, Gott sei Lob und Dank, Duhrlaucht, weil S’ nur wieder da sind! Und bei der Fräul’n Petri … das weiß ich schon, da is man nobel aufg’hoben … da hat Ihnen freilich nix g’schehen können!“

In fröhlicher Laune nahmen die drei das Frühstück ein. Dann machte sich der Förster auf den Heimweg zum Jagdhaus. Als er schon ein paar hundert Schritte davongewandert war, kam ihm Pepperl atemlos nachgerannt, mit irgend einem jagdlichen Zweifel, dessen Lösung so klar auf der Hand lag, daß der Förster seiner Antwort kopfschüttelnd die Worte beifügte: „Na, hörst, das hätt’st doch selber wissen können, da hätt’st doch net so rennen müssen!“

„Ja ja, is schon wahr … und … jetzt gehen S’ heim … gelten S’?“

„Natürlich! Wohin soll ich denn sonst?“

„Ja, freilich! Und … wie geht’s denn allweil daheim?“

„Wie soll’s denn geh’n? Gut halt!“

„Und … was macht denn … sag’ ich zum Beispiel … der Herr Kammerdiener?“

„Der? D’ Nasen streckt er in d’ Höh und faulenzen thut er, derweil die anderen schaffen! Und den halben Tag hockt er bei der Sennerin drunt’! Könnt’ auch ’was G’scheiders thun, als dem dalketen Madl den Kopf verdrahn! Aber no, was geht’s denn mich an! B’hüt dich Gott, Pepperl!“

Mit großen traurigen Augen starrte Pepperl dem Förster nach, und dabei zog er das blaue Sacktuch aus der Joppe und wischte die Lederhose ab, als hätte er das Gefühl, daß er mit Wasser begossen wurde. Freilich, feucht war das Leder noch vom Abend her.

Als er in die Hütte zurückkehrte, fand er den Fürsten auf seinem Lager schon eingeschlummert. Schwer atmend betrachtete der Jäger seinen Herrn. „Ah, der schlaft aber gut!“ Er seufzte. „Könnt’ ich nur auch so schlafen heut’!“

Und nicht nur gut schlief Ettingen, auch lange.

Um drei Uhr nachmittags, als Toni Mazegger draußen an der Hütte vorüberging, um den Ehrwalder Jäger für die Treibjagd zu bestellen, waren Thür und Läden des kleinen Balkenhauses noch geschlossen.

Mazegger verhielt den Schritt nicht, er streifte nur im Vorübergehen mit finsterem Blick die Thüre. Und Eile schien er zu haben. Sein Gang war von treibender Hast. In brütender Unruhe starrte er vor sich nieder, während er durch den Sebenwald hinaufeilte gegen das Seethal.

Das Almfeld öffnete sich vor ihm, und wieder begann der Wald. Mitten auf einer Lichtung wurde der Pfad gekreuzt vom Sebener Almzaun, der das Jungvieh, das für den ganzen Sommer ins höhere Seethal aufgetrieben war, verhindern sollte, durch den Wald herunterzusteigen und die reichere Weide der vom Milchvieh bezogenen Niederalmen aufzusuchen.

Dieser Zaun war ein mannshoch aufgetürmter Wall von dürren Bäumen, von denen die untersten wohl schon hundert Jahre oder noch länger lagen. Wo das dürre Zeug vermoderte und während des Winters unter dem Druck des Schnees zusammenbrach, da wurden im Frühjahr neue Reisighaufen und dürre Bäume auf den Wall geworfen, der die ganze Breite des Seethals quer durchzog und zur Linken und Rechten hinaufreichte bis zu den kahlen Wänden.

Bei diesem Almzaun war für drei Uhr morgens das Stelldichein der Treiber und Jäger angesagt, welche das Hochwild des Sebenwaldes hinunterdrücken sollten gegen den bei der Gaisthaler Ache liegenden Fürstenstand.

Wo der Pfad ging, hatte der Wall eine Lücke, die durch ein hohes Stangengatter geschlossen war.

Mazegger öffnete das Thor und schloß es wieder. Immer langsamer wurde sein Gang. Als er neben dem Pfad einen Baumstock sah, legte er Büchse und Bergstock nieder, trocknete die Stirn und rastete. Mit zitternden Fingern glättete er den feucht und mürbe gewordenen Hemdkragen, band die Krawatte frisch, säuberte mit einem Büschel Moos die Schuhe und wusch sich in einem Regentümpel die Hände. Sein schmuckes und tadellos sauberes Jägergewand mit ängstlichen Augen musternd, nahm er den Marsch wieder auf.

Nur wenige Minuten hatte er durch den Wald noch aufwärts zu steigen, bis er zwischen den lichter stehenden Bäumen den Seespiegel flimmern sah. Bevor er den Waldsaum erreichte, spähte er nach allen Seiten. Am Ufer sah er den Knaben mit der Angelrute stehen – und Gustl schien allein zu sein, denn all seine Achtsamkeit galt nur der Angelspule, die auf dem Wasser schwamm.

Mazegger wich lautlos in den Wald zurück, und auf einem Weg, auf dem ihn der Knabe nicht sehen konnte, stieg er über das Latschenfeld zu dem kleinen Haus hinauf.

Unter dem Harfenbaum, an dem sich in der goldenen Sonnenstille des Nachmittages keine Nadel rührte, saß Lo’ am Tisch. Sie hatte den Basthut abgelegt, und umzittert von den Sonnenlichtern, welche durch den Schatten des Baumes niederfielen, saß sie über ein Schulheft des Bruders gebeugt, der unter dem Eindruck des vergangenen Abends einen deutschen Aufsatz niedergeschrieben hatte: „Gewitter im Hochgebirg“. Der mit großen Worten spielende Schwung dieser kindlichen Schilderung wirkte erheiternd auf sie, doch ihr eigenes Erinnern plauderte so viel hinein zwischen diese harmlosen Zeilen, daß ihr die Wangen wie Feuer glühten.

Da trat Mazegger in den Garten. „Guten Abend, Fräulein …“ Die Erregung brach ihm die Stimme. Er stellte Gewehr und Bergstock an die Hüttenwand, nahm den Hut ab und ging langsam auf den Tisch zu. Mit scheuem Blick, zwischen Hoffnung und Zweifel, hingen seine heißen Augen an dem Gesicht des Mädchens.

Betroffen hatte Lo’ das Heft geschlossen und erhob sich.

„Mazegger? … Was suchen Sie bei mir?“

„Ein gutes Wort und … Hilf’!“

Sie sah ihn mit ihren großen Augen verwundert an und schwieg.

Den Hut zwischen den Fäusten zerknüllend, stieß er mühsam jedes Wort hervor: „Sie sind ja die Heilige fürs ganze Dorf und Thal. Jeder, der eine Hilf’ braucht, kommt zu Ihnen, und da kommt er nie umsonst. Allweil und überall muß ich’s hören, daß Ihr’ Herzensgüt’ wie ein Brünndl wär’… für jeden armen und durstigen Menschen. Und ich … ich bin doch auch ein Mensch, dazu noch einer von den ganz elenden! Was schauen Sie mich so an? Ob Sie’s glauben oder nicht … meiner Seel’! Das ist wahr … mir ist bei meinem Leben zu Mut’ wie einem, der sich in einer schiechen Wand verstiegen hat. Jeder Weg hat ein End’ für ihn, und tief geht’s hinunter! Da steht er halt und schreit … und wenn er gleich weiß, daß keiner kommen und helfen will, er schreit halt und schreit … und wenn er schon merkt: jetzt muß ich fallen … da hofft er noch allweil und denkt an die gute Hand, die ihm helfen könnt’!“

Er hob die Augen zu ihr und sprach nicht weiter.

„Kommen Sie, Mazegger,“ sagte Lo’, während tiefer Ernst aus all ihren Zügen redete. Sie rückte in die Bank und bot ihm den Platz an ihrer Seite an. „Und sagen Sie, was Sie mir sagen müssen. Hier sind wir allein … mein Bruder ist drunten am See, sonst ist niemand in der Nähe, niemand kann uns hören.“

Wie eine Flamme schlug es über das Gesicht des Jägers. Eine Hoffnung war erwacht in ihm, und er stammelte: „Fräulein! … Sie sind mir also nicht mehr bös?“

„Böse? Weshalb?“

„Wegen neulich?“

„Nein.“

„Ich hab’s auch bereut …“ Mazegger hielt ihren Blick nicht aus und senkte die Augen, „denn daß man von Ihnen ein gutes Wörtl nur in der Güt’ erwartet, das hätt’ ich wissen müssen, und … und wie ein jähzorniger Bub hab’ ich mich benommen. Verzeihen Sie mir’s, Fräulein?“

„Ja, Mazegger!“ sagte sie freundlich, als hätte dieses Wort sie selbst von einem Alp erlöst.

Zögernd schob er den Hut auf den Tisch und setzte sich auf die Ecke der Bank. Die Fäuste ließ er auf den Knieen liegen, und während er mit neuem Zweifel in das Gesicht des Mädchens blickte, rührte er stumm die Lippen und suchte nach Worten.

„Sprechen Sie, Mazegger! Sagen Sie mir offen … was macht Ihr Leben elend?“

„Daß Sie das verstehen … dazu müßt’ ich Ihnen viel erzählen! … Darf ich?“

„Ja!“

Jedes Wort mußte er sich abringen, als er von seiner Heimat sprach, von allem Leid und aller Bitterkeit seiner Jugend. Dann aber, als er sah, mit welcher Teilnahme das Mädchen auf ihn hörte, schien es plötzlich, als wäre eine Fessel in seiner Brust gesprungen, und in heißer Erregung floß ihm die Sprache von den Lippen.

Es war eine trübe Kinderzeit, von welcher Mazegger zu erzählen hatte. Und als er in das Alter kam, in der die Knaben zu denken und schon mit einer Zukunft zu rechnen beginnen, da war vor seinen Füßen die Brücke niedergebrochen, die ihn hätte hinübertragen können zu einem freundlichen Leben. Erst kam das Unglück mit dem Vater. Und dann verließ ihn auch die Mutter. Carmè Luzzotti hatte sie geheißen – die Tochter eines italienischen Bahnarbeiters in einem Dorfe bei Trient. Als junges Mädchen verlor sie die Eltern und wurde von einer Schwelle zur anderen so herumgestoßen, bis sie ein Winkelchen im Haus des deutschen Lehrers fand. Der erbarmte sich der Verwaisten – weil sie jung und hübsch war. Zuerst diente sie bei ihm als Magd, und dann nahm er sie zur Frau. Aber es war kein Glück in dieser Ehe; diese beiden Menschen waren so verschieden voneinander wie ihre Sprache – und die Sprache, das war es auch, was immer zwischen ihnen lag wie eine Kluft und eine Mauer. Damals begann, wie überall, auch dort unten in dem südtiroler Dorfe der nationale Hader. Von der Straße und aus der Gemeindestube schlich er sich in die Familien ein, auch in das Haus des Lehrers. Auch als Frau eines Deutschen blieb Carmè Mazegger die Italienerin – und da hieß sie bei ihrem Mann die „Fremde“, die „Zigeunerin“, mit ihrem „Wällisch“, das ihr eigener Sohn nicht reden sollte. Der sollte sprechen wie sein Vater, der ihn verzog, ihm alles erlaubte, nur um ihn vom Herzen der Mutter wegzureißen. Dieser Zank und Hader ging immer über den Kopf des Knaben hin und her, und als er in die Jahre kam, um all diese häßlichen Worte zu verstehen, war es ihm selber lieb, daß man ihn fortschickte von daheim, nach Innsbruck auf die Gewerbeschule, mit vierzehn Jahren. In Innsbruck da gefiel es ihm, da konnte er was sehen vom Leben und lernte Menschen kennen, die es gut haben in der Welt und die etwas sind. Das weckte den Ehrgeiz in ihm. „Auch aus mir soll etwas werden, etwas Rechtes und Tüchtiges!“ Das war der Gedanke seiner Tage und Nächte.

Aber vor lauter Denken und Wünschen kam er nicht recht zum Lernen. Am liebsten wär’ er schon mit sechzehn Jahren gewesen, was andere, wenn sie Glück haben, mit dreißig werden. Und dann kam dieses Unglück zu Hause. Die italienische Schule wurde eröffnet und bald darauf die deutsche geschlossen. Das überlebte sein Vater nicht – er ging ins Wasser. Und die Mutter? Die wartete knapp ein halbes Jahr, und dann nahm sie einen anderen, einen, der ihre Sprache redete, und mit dem sie sich verstand.

„Mit dem ist sie fortgezogen. Ob sie noch lebt, oder ob sie schon gestorben ist … das weiß ich nicht! Und mich … mich hat eine Schwester meines Vaters ins Haus genommen, deren Mann in Leutasch draußen ein kleines Gütl hat. Die Schul’ hab’ ich aufgeben müssen … und alles dazu, von dem ich allweil gehofft hab’: es muß und muß mir kommen im Leben! … Mein Glück!“

Mazegger schwieg und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirne.

„Das Brot der Verwandten essen zu müssen … Schlechteres kann über einen nicht kommen in der Welt. Jeden Bissen haben sie mir in den Mund gezählt, und jeden hätt’ ich mir erst verdienen sollen … als billiger Knecht! Da hab’ ich zuletzt noch froh sein müssen, daß ich den Posten als Jäger gefunden hab’. Jetzt hab’ ich mein Auskommen … aber keine Ruh’ in mir! Allweil muß ich mir denken, wie ich dastehen könnt’ im Leben und was aus mir hätt’ werden können, wenn ich eine andere Kinderzeit gehabt hätt’, eine richtige Heimat, einen rechten Vater zu meiner Hilf’ und eine gute Mutter zu meinem Trost! Aber ich mein’ schier, es wär’ noch allweil nicht zu spät für mich! Ich glaub’, ich könnt’ noch in die Höh’ kommen im Leben … so hoch hinauf, daß eins, das mich lieb hätt’, auf mich noch einmal stolz sein könnt’. Das hab’ ich nie so fest geglaubt wie jetzt … wie jetzt …“

Seine Augen brannten und seine Stimme wurde heiser.

„Aber ich müßt’ wen haben, für den ich’s thu’ … wen haben, wo ich mir sagen müßt’: alles, was du in der Welt verdienen und erreichen kannst, das alles ist noch zu wenig für so viel Lieb’ und Glück! Das thät’ mich hetzen und treiben, allweil höher hinauf, von einer Staffel zur anderen … bis ich droben steh’, wo ich sagen könnt’: Jetzt verdien’ ich mein Glück und kann’s vergelten! … Daß ich das fertig brächt’ … ich glaub’s von mir! Ich glaub’s! … Und Sie? … Sagen Sie mir: Sie glauben’s auch … sagen Sie mir das einzig’ Wörtl … und alles bring’ ich fertig!“

Sie vermochte nicht gleich zu sprechen. Es schien ihr weh zu thun, daß sie ihm als Antwort auf seine Frage ein Ja nicht sagen konnte, nicht sagen durfte. Sie sah in ihm nicht den Menschen mit seinem ziellosen und ungeduldigen Lebenswunsch, mit seiner thörichten Hoffnung auf Gewinn und Besitz, mit dem leeren Wort von der eigenen Kraft, die nur einer Stütze und eines winkenden Lohnes bedarf, um ein Wunder zu vollbringen. Was sie sah in ihm, das war nur sein in die Irre geratenes Leben, nur das Kind, das niemals in der rechten Liebe eines Vaters ruhig geatmet und niemals warm an der Brust einer Mutter sein Haupt geborgen hatte. Und wie hätte sie, der die Erinnerung an die Kinderzeit und an die Liebe des Vaters ein so schöner, leuchtender Besitz ihres Lebens war, nicht Mitleid fühlen müssen mit solch einem armen, freudlosen Kinderschicksal! Dieses Erbarmen redete aus ihrem Blick und aus dem Klang ihrer Stimme, als sie endlich Worte fand. Doch während sie sprach, zuerst beklommen, dann immer freier und wärmer – während sie Trost für ihn suchte, ihm Mut einredete, ihn mahnte, sein Leben ruhiger zu betrachten, nur das Erreichbare zu wollen und dankbar auch den bescheidenen Gewinn zu genießen, statt sich die Freude an ihm durch den Vergleich mit dem glücklicheren Los der anderen zu vergällen – während all dieser Worte schien Mazegger nur zu sehen, nicht zu hören. Sein Atem ging schwer, rote Flecken brannten auf seinen Wangen, und seine Augen erweiterten sich mit fieberhaftem Glanz, aus dem der Durst seiner Leidenschaft und zugleich ein Staunen sprach, als hätte er das Mädchen, nach dem seine Sinne zitterten und schrieen, noch nie so schön gesehen wie in dieser Stunde.

Solch einem Blick begegneten ihre Augen – und da erhob sie sich erschrocken, so bleich, als hätte sie einen Schimpf erlitten, gegen den sie wehrlos war – als Weib.

Mit verstörtem Lächeln sah Mazegger zu ihr auf und erhob sich. „Viel haben Sie geredet, Fräulein … viel! Schier weiß ich selber nimmer, was es war! Aber ich hab’ doch genug verstanden!“ Er nickte, und seine Lippen verzerrten sich. „Was einer nicht hat, das kann er nicht geben … den guten Glauben nicht … und die Lieb’ noch weniger.“ Mit heiserem Lachen ging er halb um den Tisch herum. „Und wenn das Brünndl Ihrer Güt’ auch laufen thät’ wie ein Wetterbach … aber Lieb’ hergeben, wo man Lieb’ nicht hat …“ Langsam trat er auf sie zu. „Kann man das? … Oder kann’s so kommen, daß man muß?“

Sie wich nicht zurück vor ihm. Aber als sie seine Augen sah, diesen Blick, der wie mit Fäusten nach ihr griff, da rann es ihr doch mit kalter Angst durch die Glieder, daß sie zitterte. Und

in dieser lähmenden Furcht, als wüßte sie keine andere Hilfe mehr, schrie sie den Namen ihres Bruders. Es war ein erstickter Laut, der kaum hinausklang über den Zaun des Gartens.

Mazegger lachte; ihre Furcht war eine Freude für ihn, die er genoß wie der Dürstende einen Trunk.

„Warum schreien Sie denn auf einmal dem Buben?“

„Weil ich Ihnen nichts mehr zu sagen habe,“ erwiderte sie, als hätte sie mit jenem Laut, den die Furcht ihr ausgepreßt, die verlorene Ruhe wiedergefunden. Sie wollte gehen. „Aber nein … ich habe noch eine Bitte an Sie … eine letzte. Wollen Sie noch ein paar Minuten bleiben?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie zur Hütte, brachte einen Sessel und ein graues Buch.

Er stand noch immer auf dem gleichen Fleck und sah ihr mit verblüfften Augen zu, wie sie sich auf dem Sessel niederließ, das Buch öffnete – ein Skizzenbuch – und den Bleistift nahm.

„Was heißt denn das? Was wollen Sie denn?“

„Ich will Sie zeichnen,“ sagte sie ernst. „Dabei lernt man sehen … und das hilft. Ich habe das schon als Kind erfahren.“ Sie legte das Buch auf dem Tisch zurecht, und die Brauen furchend, blickte sie mit forschenden Augen zu dem Jäger auf.

Er schien nicht zu wissen, wie er das verstehen und was er thun sollte. Ratlos an seinem Barte zausend, ließ er sich auf die Bank nieder – und dann hielt er sich ruhig. Aber seine Augen brannten.

„So, ja, sehen Sie mich nur immer an!“

Das brauchte sie ihm nicht zu sagen, denn er ließ keinen Blick von ihr – aber wenn sie ihn ansah, so lange, so ruhig prüfend, dann ging aus ihren Augen etwas über auf ihn, das ihm das Blut in die Stirne trieb, und daß er aufatmete, wenn sie das Gesicht wieder senkte, um ein paar rasche, kräftige Striche in das Buch zu zeichnen. Ein paarmal zuckte es durch seine Glieder, als wollte er aufspringen – doch er blieb. Und ein andermal bewegte er wieder die Lippen, wie um zu sprechen – doch er schwieg. Die Sonne war lange schon hinuntergegangen, das ganze Seethal lag bereits von tiefem Abendschatten überwoben, und die Dämmerung begann.

Mit der langen schwankenden Angelgerte über der Schulter kam Gustl vom See herauf.

„Hast du was gefangen, Bubi?“

„Nein, Lo’, heut’ bin ich Schneider geworden. Aber weißt du, morgen giebt’s wieder das wunderbarste Wetter, denn heut’ beißen sie schon gar nicht!“

Freundlich nickte Gustl dem Jäger, den er nicht kannte, einen „Guten Abend“ zu, stellte die Gerte an die Hüttenwand, kam zum Tisch und wollte neugierig über die Schulter der Schwester in das Buch blicken.

Aber sie schob ihn fort, als wäre das ein Bild, das er nicht sehen sollte, und sagte: „Geh, Bubi, räum’ deine Bücher zusammen und trag’ sie in die Hütte. Wir bekommen Tau. Dann kannst du auch drin in der Stube gleich die Lampe anzünden und Feuer machen zum Thee.“

Sie sah dem Knaben nach, bis er in der Hütte verschwunden war. Dann verglich sie noch mit einem letzten prüfenden Blick ihre Zeichnung und das Modell, nickte ruhig vor sich hin und erhob sich. „So, ich danke Ihnen!“ Sie löste das Blatt aus dem Buch.

Mazegger stand auf und fragte unsicher: „Darf ich das Bildl sehen?“

„Gewiß!“ Sie legte das Blatt auf den Tisch. „Und ich schenk es Ihnen … für den Fall, daß Sie keinen Spiegel haben, Welcher richtig zeigt.“

Zögernd, als wäre ihm die Sache nicht ganz geheuer, griff Mazegger nach dem Blatt. Kaum hatte er einen Blick auf das Bild geworfen, da schoß ihm das Blut mit dunkler Röte ins Gesicht, als hätte er einen Schlag empfangen. Und erschrocken stotterte er:

Das bin ich? Und solche Augen hab’ ich?“

„Ja, Mazegger! Jetzt kenn’ ich Sie … ganz! Und fürchte mich nicht mehr!“

Sie wandte dem Jäger den Rücken und ging zur Hütte.

Er starrte ihr nach, und als sie verschwunden war, sah er mit glasigen Augen auf das zerknüllte Blatt in seiner Faust und schleuderte den Knäuel mit einem Fluch unter die Büsche des Gartenzaunes.

Was da geschehen war, und wie sie nach dieser hilflosen Angst vor ihm diese stolze sichere Ruhe gefunden hatte – das verstand er nicht. Aber er fühlte, daß alles für ihn verloren war – fühlte, daß sie ihn fortschickte wie einen geprügelten Hund.

Verstört, mit dem unsicheren Schritt eines Betrunkenen, ging er zur Hütte und nahm seine Büchse. Als er den Garten verlassen hatte und über das Latschenfeld hinunterstieg, erkannte er auf der feuchten Erde des Pfades die Trittspuren zweier Männer. Diese plumpe breite Sohle mit dem schweren Eisenbeschläg und dem Nagelkreuz in der Mitte – das war die Fährte Praxmalers! Und die andere Spur, dieser schlanke, schmale Fuß –

„Ah, so?“ Mit galligem Lachen nickte Mazegger vor sich hin, als verstünde er nun alles. Und während sein Gesicht sich entfärbte und der Zorn in seinen Augen funkelte, zerstörte er mit einem Fußtritt die Fährte. Dann sah er zur Hütte hinauf und nickte wieder – es war ein Blick, aus dem ein Schwur und eine Drohung sprach.

Hastigen Ganges schritt er über das Latschenfeld hinweg und trat in den Wald. Im dunklen Schatten der Bäume blieb er stehen, nahm die Büchse ab, lehnte sich an einen Stamm und starrte zur Hütte hinauf, um deren Dach sich langsam schon die dünnen Nebel woben, die in der Kühle des Abends aufdampften aus dem See.

Als Mazegger das Mädchen aus der Hütte treten sah, lachte er, hob die Büchse, spannte den Hahn und legte zielend das Gewehr an die Wange.

Man konnte hören, wie Lo’ mit dem Bruder plauderte, während sie um die Ecke der Hütte ging und an einem Fenster die Läden schloß.

Zielend und den Finger am Drücker, folgte Mazegger mit dem Lauf der Büchse jedem Schritt des Mädchens, in seiner Eifersucht mit grausamer Freude den Gedanken genießend: Ein leiser Druck nur an dieses Zünglein … und auch der andere wird sie nicht haben! Keiner!

Gustl war in der Thür erschienen, hemdärmelig, mit den Händen in den Taschen des Lederhöschens. „Und wann, Lo’ … wann gehen wir morgen?“

„Um sechs Uhr früh.“

„Ach, Gott!“

„Ja, Bubi, wir müssen bis Mittag zu Hause sein!“

„Freilich, ja, und ich freu’ mich doch selber heim! Aber weißt du, in der Früh’, da beißen sie so gern … vielleicht hätt’ ich noch eine bekommen, recht eine schöne, oder zwei … und die hätten wir der Mama bringen können!“

„Gut, ja, dann steh’ nur um vier Uhr auf. Da hast du zwei Stunden Zeit, bis ich gepackt und die Hütte geräumt habe.“ Lo’ war zur Thüre zurückgekommen, und den Arm um die Schulter, des Bruders legend, wollte sie in die Hütte treten.

In dem bleichen Gesicht des Jägers spannte sich jeder Zug, und die Frage, die in ihm wühlte, redete aus seinem brennenden Blick: „Thu ich es? … Nein? … Oder ja?“ Fester, als wäre der Entschluß zur That in ihm aufgestiegen, preßte er das Gewehr an die Wange.

Da hörte er hinter sich das Brechen eines dürren Reises und ein Geräusch wie von einem leichten Schritt. Erschrocken ließ er die Büchse sinken und blickte scheu um sich her. Der Wald war öde – aber da fiel ein Tannenzapfen aus einem Wipfel herunter, und schnalzend, mit weitem Sprung, schwang sich ein Eichhörnchen von dem Baum hinüber zum nächsten.

Einen Fluch murmelnd, hob Mazegger die Büchse wieder.

Aber an der Hütte droben hatte sich schon die Thür geschlossen, der Garten war leer, und im erwachenden Abendwinde tönten leis die Glocken des Harfenbaumes.

Heiser lachte Mazegger vor sich hin und stand noch eine Weile. Dann warf er die Büchse hinter die Schulter und schritt durch den Wald hinunter.

Es wurde finstere Nacht, bis er zu den ersten Häusern von Ehrwald kam. Lange mußte er am Haus des Jägers an die Thüre trommeln, bis ihm geöffnet wurde.

„Was is denn?“ fragte Beinößl aus dem schwarzen Hausflur. „Wer is denn da?“

„Ich bin’s!“

„Der Toni! Ja was willst denn du?“

„Treibjagd ist morgen. Um Drei müssen wir droben sein beim Sebener Almzaun.“

„So? No ja, is recht. Da können wir allweil noch schlafen ein paar Stündln. Aber Bett hab’ ich keins für dich … mußt dich halt aufs Ofenbankl legen.“

Sie traten in die finstere, von schwülem Dunst erfüllte Stube. Beinößl schob seinen Gast im Dunkel zur Ofenbank und nahm ihm die Büchse ab, um sie an den Rechen zu hängen.

„Na hörst’, Toni … du hast ja den Hahn g’spannt! So was! Du mit dei’m Leichtsinn, du richtest heilig noch einmal ein Unglück an!“

Mazegger schwieg.

Drei Stunden vergingen.

Als um ein Uhr der Wecker rasselte, hatte Mazegger noch kein Auge geschlossen.

Eine Viertelstunde später traten die beiden Jäger in die Nacht hinaus.

„Gut wird’s heut’,“ sagte Beinößl, „droben liegt der Seenebel!“

Sie stiegen bergwärts in der Nacht, und Beinößl kürzte den mühsamen und nicht ungefährlichen Weg mit drolligem Geschwätz – er war einer von jenen „G’scheiden“, die den Zwirnsfaden des Lebens lustig um die Finger wickeln, so kurz und dünn er auch geraten ist.

Als sie die Ehrwalder Alm überstiegen hatten und die Höhe des Sebenwaldes erreichten, sahen sie im dünnen Morgennebel den Schein des Feuers, das die beim Almzaun wartenden Treiber auf der Lichtung angezündet hatten, um sich die Langweil’ zu vertreiben und um „Glut für die Pfeifen“ zu haben.

In dem Augenblick, als die beiden Jäger zum Feuer kamen, gab’s einen Schreck. Einer der Treiber hatte an einem brennenden Reis seinen Stummel angepafft, das Flämmchen ausgeblasen und das glühende Holz über die Schulter geworfen. In der Luft flammte das Reis wieder auf und fiel in einen Haufen dürren Zeuges. Das brannte wie Zunder, nach allen Seiten lief und züngelte die Flamme und erreichte den Almzaun, aus dem eine knisternde Lohe aufschlug, die den ziehenden Morgennebel fahl durchleuchtete.

Zu Tod erschrocken sprangen die Leute auf und arbeiteten aus Leibeskräften, um das Feuer zu ersticken. Ein Glück war es, daß trotz des sonnigen Tages die unteren Reisigschichten des Walles noch feucht waren – sonst hätte wohl keine Arbeit mehr geholfen, auch nicht die flinkste, und der ganze Almzaun wäre in Flammen aufgegangen.

Als das Feuer glücklich erstickt war, halfen sie alle zusammen, um den Zaun wiederherzustellen und das ausgebrannte Loch mit zusammengeschlepptem Reisig zu füllen. Aber jetzt war die Arbeit lustiger, und sie schwatzten und lachten schon wieder, während sie noch schafften, daß ihnen der Schweiß über die Gesichter rann. Auch Mazegger arbeitete wie die anderen.

Halb im Ernst und halb im Scherz, in jener wohligen Erregung, die jedem schadlos überstandenen Schreck zu folgen pflegt, wurde des langen und breiten erörtert, welch ein „schönes“ Unglück da hätte entstehen können. Denn brennt der Zaun einmal, von einer Felswand über das schmale Thal hinüber bis zur anderen, dann brennt auch der ganze Sebenwald bis über den See hinauf, und alles Jungvieh, das droben im Seethal auf der Weide steht, ist verloren. Wenn auch der Brand nicht höher gehen kann als bis zu den letzten Latschenfeldern, und wenn auch das Vieh hinaufflüchtet in die Felsenkare – droben erstickt es im Rauch.

„Kreuzsakra!“ meinte Beinößl. „Da möcht’ ich net droben sein im Seethal! Oder ich möcht’ ein’ letzten Juchezer machen und ’s Leben so billig verkaufen wie ein’ alten Strumpf!“

Draußen im Karwendelgebirg, erzählte ein anderer, wäre ein großer Waldbrand auch durch einen Almzaun entstanden, in den der Blitz geschlagen hätte. Aehnliche Fälle erzählten zwei andere – und moralisierend kam man zu dem Schluß, daß es auch im Gaisthal an der Zeit wäre, diese „Zunderhecken“ durch Legmauern aus Steinen zu ersetzen, wie es längst schon überall geschehen wäre, wo die Leute Verstand und kein Sägmehl im „Hirnkastl“ hätten. „Daß man an die alten Bräuch’ hängt, das is ja gut und schön, aber ein bißl ein Furtschritt, das is auch net ohne!“

Plötzlich verstummte diese Weisheit – der Förster kam mit den zwei Leutascher Jägern. Wohl begann es schon Tag zu werden, aber der Nebel verschleierte den Aschenhaufen, und so merkte der Förster nicht, was geschehen war. Er ließ die Jäger und Treiber im Halbkreis Aufstellung nehmen: „Also, Leut’! Daß wir unserer lieben Duhrlaucht heut’ ein saubers Jagderl machen! Am Almzaun ’nauf wird die Treiberketten ang’stellt. Den Losschuß, den mach’ ich! Punkt halb Sechse! Da is die Duhrlaucht auf ’m Stand, und da wird sich auch der Nebel schon verzogen haben! Und wie der Losschuß fallt, fangen wir ’s Drucken an! Und langsam, Leut’, langsam, nur langsam … daß die Hirsch’ net nausfahren zum Loch wie die närrischen Mäus! Und machts mir kein’ Spektakel, sag’ ich! Ein bißl Pfeifen, ein bißl klopfen, ein bißl anrufen, daß d’ Lini schön bei’nander bleibt … sonst nix! Verstanden? Also, in Gottes Namen, packen wir’s an!“

Neben dem Almzaun stiegen sie empor, während das Frühlicht zu wachsen und der Nebel sich schon zu verziehen begann.

Hinter dem halblaut schwatzenden Trupp blieb ein Einzelner langsamen Schrittes zurück – Mazegger.

Sein Gesicht war übernächtig, und seine Augen lagen tief, von dunklen Ringen umzogen. Wie befallen von schwerer Müdigkeit, blieb er stehen und legte das Kinn auf den vorgestützten Bergstock. Seine unstet flackernden Augen hingen an dem kalt gewordenen Aschenhaufen dort unten, glitten hinüber zum Almzaun und folgten dem braunen Reisigwall bergauf und wieder bergab, über das ganze schmale Thal, von einer Felswand bis zur anderen.

Dann nickte er vor sich hin, und langsam stieg er hinter den anderen her.


13.

Zögernd schwammen die Schleier des Morgennebels durch das Gaisthal hinaus, immer höher stiegen sie, enthüllten hier eine sonnbeglänzte Bergzinne, dort ein Almfeld in blauem Schatten, und selbst schon angestrahlt und durchwärmt von der steigenden Sonne, verwandelte sich ihr trübes Grau in zarten Schimmerduft, welcher spurlos in den Lüften zerfloß.

Fast war das ganze Thal schon nebelfrei, und mit leuchtender Klarheit spannte sich der schöne Morgenhimmel über Thal und Berge, als Ettingen und Praxmaler gegen sechs Uhr morgens in der Thalsohle das breite Kiesbett der Ache überschritten, um durch einen steilen Waldstreif emporzusteigen zum Fürstenstand. Der lag am Waldsaum auf einem Latschenrücken und gewährte freien Ausblick über eine von Erlengestrüpp erfüllte Mulde und eine spärlich bewachsene Lawinengasse, die sich vom Fuß der steilen Felswand hinunterzog bis ins Thal. Drunten sah man das weiße Kiesfeld und eine lange Strecke des Pfades, der zum Sebensee führte. Ueber dunkle Fichtenhügel konnte man hinausblicken bis zum Sebenwald und zu der vom Seeufer aufsteigenden Sonnenspitze, die ihren goldumstrahlten Felskegel schlank in den blauen Himmel hob. Den Stand, auf welchem zwischen den Wurzeln einer Fichte ein bequemer Erdsitz ausgeschaufelt war, umzog eine kleine Legmauer, als Deckung für die Jäger.

Während Pepperl den Wettermantel über den Sitz breitete und den Feldstecher aus dem Futteral nahm, stand Ettingen an der Mauer und blickte mit Lächeln und Sinnen nur immer dort hinaus, wo jener schlanke sonnige Fels in die Lüfte stieg.

„So, Duhrlaucht, jetzt haben S’ ein nobels Platzl!“

Ettingen ließ sich nieder, und Pepperl, der sich seinem Herrn zu Füßen setzte, zeigte ihm die beiden Wildwechsel, von denen der eine unter der Felswand hinlief, während der andere schräg über die Lawinengasse hinunterging ins Thal und gegen das Kiesbett des Baches.

„Auf dem, mein’ ich, auf dem sollt’ was anlaufen!“

Ettingen nickte, als hätte er nur halb gehört. Und wieder blickte er in jene Ferne hinaus.

Pepperl schwieg. Doch während aus den Augen seines Herrn ein frohes, glückliches Träumen redete, sprachen unruhvolle Sorge und grämliche Verdrossenheit aus dem Gesicht des Jägers. Für ihn lag der Fürstenstand auf einem recht unbequemen Platz. Denn wenn er mit langgestrecktem Hals sich vorneigte, konnte er draußen im Gaisthal den Tillfußer Almwald sehen, und ein Stücklein vom Dach der Sennhütte.

Immer und immer wieder beugte sich Pepperl vor, von der unbequemen Stellung begann ihn das Genick zu schmerzen, und immer schwerer seufzte er. Dann plötzlich sagte er, mit einem Ton, als ob es um Wohl und Weh eines Menschen ginge:

„Ja, Duhrlaucht, passen S’ auf, heut schießen S’ ein’ guten Hirsch!“

Ettingen hörte nicht.

Ein schweigsames Viertelstündlein verging. Da drückte Pepperl die Hand in den Nacken und stotterte:

„Ja, ja! Heut kommt schon was! … Ja, unser Jagdl is gut!“ Er seufzte, als wäre das eine sehr, sehr traurige Sache. „Aber kosten thut’s halt auch was! Das is ein sauberer Haufen Geld, der da … wie sag’ ich nur gleich … verwalt’t werden muß! Verwalt’t!“ Das Wort war dreimal unterstrichen – und immer weiter öffneten sich Pepperls Augen, während er mit heißer Spannung zu seinem Herrn hinauflugte. „Und Arbeit macht’s … Arbeit! So eine Jagd verwalten! Teufi, Teufi, Teufi … das macht g’hörig Arbeit! Und verstehn muß man’s! Das is d’Hauptsach! Aber der Förstner! Gelten S’… der versteht’s! Der macht alles allein! Der braucht kein’ andern! Ja, der versteht’s halt… gelten S’?“

„Ja, das ist ein tüchtiger Jäger,“ sagte Ettingen, als wäre er nur mit halben Gedanken bei dieser wichtigen Angelegenheit, „und ein Mann, auf den man sich verlassen kann… in allen Dingen!“

Aus Pepperls Augen blitzte die Freude, und in allen Tonarten begann er das Lob des Försters zu singen, um mit der diplomatischen Wendung zu schließen:

„Aber no, freilich … vom Land einer is er halt doch … und da kennt er sich halt diemal net so aus … mit die fürnehmen Sacherln, wissen S’… ja, und da hab’ ich mir schon diemal ’denkt: es kunnt’ schon sein, daß der Herr Fürst noch einmal ein’ anstellt, so ein’ Herrischen … ein’ Jagdverwalter, oder wie man’s heißt … so ein’, wie ’leicht der Herr Martin einer is?“

„Martin? Und Jagdverwalter?“ Das war eine Vorstellung, die den Fürsten lachen machte. „Nein! Wenn ein Jagdverwalter nötig wäre, wüßt’ ich mir einen anderen zu finden. Aber der Förster macht ja seine Sache so gut, daß ich mir das besser gar nicht wünschen kann!“

Pepperl grinste im Triumph seiner Schadenfreude wie ein Indianer, der den Skalp des Todfeindes eroberte. „Wart’, Frau Verwalterin, heut auf’m Abend kriegst was z’ hören!“ dachte er sich und streckte den Hals vor, daß ihm die Schultern fast aus der Joppe sprangen. Dann plötzlich, als hätte sich sein Herr durch höchst unweidmännische Schwatzhaftigkeit ausgezeichnet, flüsterte er mahnend: „Aber jetzt, Duhrlaucht, jetzt müssen S’ Ihnen fein stad halten! Die Zeit wird kritisch … allbot kann was daherspringen.“

Lautlos, ohne sich zu rühren, saßen sie eine halbe Stunde.

Da ließ sich aus dem Waldstreif hinter der Lawinengasse das leise Rollen von Steinen hören. Pepperl, der jetzt ganz bei der Sache war, spitzte die Ohren. Im gleichen Augenblick faßte Ettingen mit hastigem Griff den Feldstecher. Doch während der Jäger hinüberspähte zum Wald, hielt Ettingen das Glas nach dem Thal gerichtet.

Dort unten auf dem Pfad war Lolo Petri erschienen, den Basthut mit einem Kranz von Blumen geschmückt. Ihr folgte der Bruder, dessen Hütlein unter Almrosen ganz verschwand, und führte an losem Zügel den Esel, der mit dem Gepäck und einem riesigen Busch von Rosen und anderen Blumen beladen war.

„Obacht!“ flüsterte Pepperl, welcher drüben aus dem Waldsaum ein Alttier sichernd auf die Lichtung treten sah. Als aber Ettingen das Glas nicht sinken ließ und die Büchse nicht faßte, blickte der Jäger verwundert auf. Da sah er das Gesicht seines Herrn von heißer Röte übergossen, und sah, wie ihm das Glas in den Händen zitterte. „Mar’ und Josef,“ dachte sich Pepperl, „der kriegt mir ’s Hirschfieber!“ Den Atem verhaltend, zischelte er: „Net aufregen, Duhrlaucht! Nur net aufregen! Heut haben S’ Glück, passen S’ auf! Lassen S’ das Frauenzimmer nur schön vorbei …“ er meinte das Alttier, „und Obacht geben, da kommt schon was nach!“

Es wurde lebendig drüben im Wald, und dem Alttier folgte ein Rudel, bei dem ein paar schwache Hirsche waren.

„Es is nix G’scheids dabei! Nur warten!“ flüsterte Pepperl.

Doch Ettingen sah und hörte nicht, was um ihn vorging, sondern folgte mit dem Glas jedem Schritt des Mädchens dort unten.

Ruhig und sorglos trat das Rudel auf die Lichtung; nur das Alttier windete vorsichtig nach allen Seiten. Plötzlich wandten alle Tiere die Köpfe gegen den Wald zurück, und flüchtig in der Mulde und zwischen den hohen Erlenbüschen verschwindend, nahmen sie den Wechsel gegen das Thal.

„Der Hirsch kommt! Der Hirsch! Richten S’ Ihnen!“ zischelte Pepperl. „Der Hirsch! Mar’ und Josef, und was für einer!“

Deutlich konnte Ettingen durch das Glas das Gesicht des Mädchens sehen, ihr Lächeln, die Bewegung ihrer Lippen, wenn sie mit dem Bruder plauderte. Nun hatten die Geschwister den steilen Rain erreicht, über den sie niedersteigen mußten, um das Kiesbett zu überschreiten, und mit dem Bergstock zeigte Lo’ dem Bruder eine Stelle, über die er den Grauen leichter hinunter brächte.

Da plötzlich sah Ettingen im Glas ein flüchtendes Rudel Hochwild auftauchen. Links und rechts von den beiden Geschwistern jagten die Tiere vorüber, erschrocken wollte Lo’ nach dem Zügel des Esels greifen, aber da scheute der Graue schon und rannte mit bockenden Sprüngen über den Rain in das Kiesbett hinunter, den Knaben am Riemen mit sich schleifend.

Erblassend sprang Ettingen auf, und den Feldstecher wegschleudernd, stammelte er: „Ums Himmelswillen! Das giebt ein Unglück! Praxmaler! Kommen Sie! Schnell! Ich fürchte ...“

Er hatte den Bergstock gefaßt, schwang sich über die Mauer – und während er hinuntereilte über den steilen Hang, stand drüben auf der Lichtung ein Hirsch mit herrlichem Geweih, äugte dem springenden Menschen dort unten nach, trollte ein paar Schritte, äugte wieder und verschwand in den Latschen.

Jetzt ermunterte sich Pepperl aus seiner sprachlosen Verblüffung, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: „Mar’ und Josef! Rennt mir der Fürst davon und fürcht’t sich vor ei’m Hirschen!“

Da klang aus dem Wald herauf die schreiende Stimme seines Herrn: „Praxmaler! Kommen Sie! Schnell!“ Es war in dieser Stimme ein Ton, der den Jäger ahnen ließ, daß hier doch wohl etwas anderes geschehen wäre als nur ein drolliges Jägerstücklein.

In Sorge begann er zu rennen und erreichte das Kiesbett in dem Augenblick, als Ettingen und Lolo Petri den Knaben fanden. Lo’ war bleich vor Schreck und Sorge, als sie den Kopf des Knaben aufhob an ihre Brust. Aber die Sache schien übler auszusehen, als sie war. Gustl zitterte wohl, doch er lächelte, um die Schwester zu trösten, und sagte: „Aber schau, Lo’, sorg’ dich doch wirklich nicht! Mir ist nichts geschehen! Gewiß nicht! Und Schmerzen hab’ ich gar keine!“ Im Gesicht und an den Händen hatte er ein paar leichte Schürfwunden, sonst schien er unverletzt. Doch als sie ihn aufrichteten, konnte er nicht stehen und wäre wieder zu Boden gesunken, hätte ihn Ettingen nicht in seinen Armen aufgefangen.

„Kind! Kind!“ stammelte Lo’, während ihr die Thränen aus den Augen brachen.

„Beruhigen Sie sich, Fräulein,“ sagte Ettingen, obwohl ihm selbst vor Erregung die Stimme kaum gehorchte, „es kann ja doch nicht so schlimm sein! Der Fuß ist nicht gebrochen … sehen Sie nur … und hier eine Untersuchung vorzunehmen und den armen Jungen zu quälen, das ist ja nutzlos. Kommen Sie … wir tragen ihn bis zum Jagdhaus ... da kann alles leichter und besser für ihn geschehen! Kommen Sie!“ Bei diesen Worten hatte er Gustl schon auf seine Arme gehoben und eilte mit ihm über das Kiesbett hinüber gegen den Weg.

Pepperl erbot sich, den Knaben zu tragen – denn auch bei raschem Gang war’s immerhin eine halbe Stunde bis zum Jagdhaus. Auch Lo’ mahnte mit scheuer Bitte, daß Ettingen den

Dienst des Jägers annehmen und seine Kräfte schonen möchte. Doch er sah ihr in die Augen, schüttelte den Kopf und flüsterte dem Knaben zu: „Leg nur die Arme um meinen Hals, Bubi … so … nicht wahr, so ist’s bequemer?“

„Ja!“

Während sie auf ebenem Pfad durch den Wald hinauseilten, klang hinter ihnen auf dem Latschengehäng das Klopfen und halblaute Rufen der anmarschierenden Treiber: „Hup hup hup! Brrrrr! Hup hup!“ Pepperl guckte sich einmal um, und da wollte es ein böser Zufall gerade, daß er zwei gute Hirsche gemütlich über die Lawinengasse spazieren sah. „Teufi, Teufi, Teufi, drei Hirschen hätten wir haben können!“ träumte seine Jägerseele mit Jammer und Kummer.

Ettingen plauderte während des ganzen Weges mit dem Knaben. Gustl hielt sich wie ein kleiner Held, verbiß den Schmerz und schwatzte unverdrossen, um der Schwester alle Sorge auszureden. Viel mehr als sein verletzter Fuß beschäftigte ihn die Frage, was wohl aus „Hansi“, dem Grauen, geworden wäre.

„Der kommt schon wieder!“ tröstete Lo’.

„Ja, schon, aber die Forellen, Lo’! Die Forellen! Wenn er mit dem Netz einen halben Tag in der Sonne herumläuft – dann hab’ ich sie umsonst für Mama gefangen!“ In Schmerz verzog sich der Mund des Knaben, und das Wasser schoß ihm in die Augen; doch er seufzte nur: „Ach Gott, ach Gott, die schönen Forellen!“

Sie hatten schon fast das Jagdhaus erreicht, als „Hansi“ nachgetrottet kam, in höchst nervöser Stimmung. An den locker gewordenen Gurten war ihm die Packtasche mit dem Almrosenbusch unter den Bauch gerutscht, und da ihn die Zweige kitzelten, schlug er fortwährend mit den Hinterfüßen aus, schüttelte die Ohren und machte drollige Sprünge.

Als Pepperl den Esel in den Stall führte, rief ihm Ettingen nach: „Tragen Sie das Fischnetz nur gleich in die Küche hinauf. Man soll die Forellen auf Eis legen, damit sie nicht verderben!“

Seine Stimme klang schwer und gepreßt, so daß Lo’ ihm besorgt in das erhitzte Gesicht blickte. Er hatte doch wohl seiner Kraft zu viel zugemutet. Als er den Knaben über den letzten Hang zum Jagdhaus hinauftrug, ging sein Atem müd und seine Arme zitterten.

Martin kam aus der Sennhütte gelaufen, mit dunkelrotem Gesicht, als hätt’ es dort unten soeben eine Scene gegeben, die nicht ganz nach seinen Wünschen ausgefallen war. Verdutzten Blickes musterte er seinen Herrn und das schöne Mädchen.

„Schnell, Martin! Hinauf! Und richte das Bett im Grafenzimmer!“

Erschrocken verfärbte sich der Lakai; doch wortlos eilte er ins Haus.

Als Ettingen in den Flur trat, kam Martin seinem Herrn über die halbe Treppe entgegen und stotterte: „Ich bitte um Vergebung, Durchlaucht … aber das Zimmer ist abgesperrt, und …“ er schluckte, „und im Augenblick weiß ich nicht, wo die Leute den Schlüssel haben.“

„Aber Mensch! So mache doch mein Zimmer auf!“

Martin rannte, und als sein Herr mit dem Knaben in das sonnige, weiße Zimmer trat, war das Bett schon abgedeckt. Während Lo’ dem Bruder half, sich zu entkleiden, brachte Ettingen das ganze Haus in Aufruhr – der Lakai, die Köchin und die Küchenmagd, alles mußte laufen und bringen: Wasser, Eis, Verbandzeug, Cognac, den ganzen Inhalt der Hausapotheke.

Als Lo’ den verletzten Fuß des Knaben untersucht hatte, atmete sie auf. Der Knöchel war hoch geschwollen und glühte – aber die Sache war unbedenklich: eine Bänderzerrung, die, obwohl sie schmerzhaft war, in wenigen Tagen wieder gut sein konnte. Ein paar Stunden Ruhe, meinte Lo’, und „Hansi“ könnte den Knaben nach Hause bringen, ohne daß sich das Uebel verschlimmern würde.

„Jetzt muß ich dir aber ein wenig weh thun, Bubi … doch du wirst sehen, das hilft!“

„Ja, Lo’, mach nur, was du meinst!“

Sie begann die Geschwulst zu massieren – und so schmerzhaft das auch war, der Junge überwand es ohne einen Laut und ärgerte sich, weil ihm wider Willen die Thränen in die Augen kamen. Dann wurde der Knöchel bandagiert, und drüber kam der Eisumschlag. Die Schürfwunden im Gesicht und an den Händen wurden mit Karbollösung gereinigt und mit Pflästerchen verklebt.

Lächelnd sah Ettingen dem Mädchen zu. „Sie machen ja das alles wie ein gelernter Arzt!“

„Hier in den Bergen, wo man eine Tagreise bis zum Doktor hat, da lernt sich das halb von selbst. Und ich hatte doch auch einen guten Lehrer, der sich auf alle Hilfe verstand.“

„Ihren Vater?“

„Ja!“ Sie küßte den Knaben auf die Stirne. „Brav hast du dich gehalten, Bubi!“ Die seidene Steppdecke glättend, richtete sie sich auf. Tief atmend, als wäre jetzt erst alle Sorge von ihr gewichen, streifte sie mit ihren schlanken schönen Händen die Zaushärchen von den Schläfen zurück. Sie blickte im Zimmer umher, und eine leise Verwirrung schien sie zu überkommen. In jäher Bewegung streckte sie Ettingen die Hände hin, blickte mit glänzenden Augen zu ihm auf und sagte leis: „Wie gut Sie mit ihm waren! Ich danke Ihnen!“

Er nahm ihre Hände. „Dank? Nein! Der Schuldige bin doch ich … mit dieser dummen Jagd. Aber weil nur alles noch so leidlich gut vorüber ging! Wirklich, jetzt atme ich auf … wie Sie! Und freue mich, daß ich Sie hier habe … unter meinem Dach! So hübsch und traulich ist es freilich nicht bei mir, wie ich es bei Ihnen fand … da draußen, in der schönen Sturmnacht!“ Noch immer hielt er ihre Hände fest, und lächelnd sahen sie sich in die Augen.

Gustl, der mit der Wange auf den Händen lag, lind in die Kissen geschmiegt, schaute mit staunendem Blick an den beiden hinauf, und das verpflasterte Gesichtchen des Knaben färbte sich dunkelrot.

Lautlos trat Martin in das Zimmer, um Ordnung zu machen. Er schien keine Augen zu haben, nur Hände, die geräuschlos hantierten. Doch als er mit dem Wasserbecken und mit den Tüchern über dem Arm das Zimmer verlassen hatte, sah er mit dünnem Lächeln die geschlossene Thüre an und wiegte den Kopf. Studierend stieg er über die Treppe hinunter. In der Küche legte die Jungfer Köchin gerade die drei Forellen, welche Pepperl gebracht hatte, in den Eiskasten, als Martin eintrat. Beim Anblick des Kammerdieners gab es dem Jäger einen „Riß“, halb vor Wut und halb vor Schadenfreude; aber er mußte der Köchin Antwort geben, als sie fragte:

„Ja hat denn unser’ Durchlaucht das Fräul’n schon gekannt?“

„Aber g’wiß! Und gut auch noch! Z’erst hat er’s droben am Sebensee ’troffen, neulich is er draußen g’wesen bei ihr in der Luitasch, und gestern nacht, wie das Wetter g’wesen is, da haben wir unterstehn müssen bei ihr, vom Abend bis auf d’ Fruh. Ja, Sie, unser Duhrlaucht und d’ Fräul’n Petri, die zwei, die verstehn einander! Was die für g’studierte und aus’tipfelte Sachen reden … da reißt unsereiner die Luser aus, sperrangelweit, und es geht doch nix ’nein!“

Martin schien diesem Gespräch keine Achtsamkeit zu schenken. Kaum aber hatte er die Küche verlassen, als er in seine Stube eilte und hinter sich die Thüre verschloß.

Nachdem er an den Fenstern die Vorhänge zugezogen hatte, schrieb er eine Depesche in englischer Sprache, nur die Adresse deutsch:

„Baronin Pranckha, Hietzing, Wien. – Soeben flog der edle Falke mit weißer Taube in den Waldhorst. Erkenne Gefahr und warne.“

„The faithful“, unterschrieb er – „der Getreue!“ – und schob die Depesche in die Tasche, um sie bei der Hand zu haben, wenn der Postbote käme. –

Draußen vor dem Fenster ging Pepperl vorüber. Er machte langsame Schritte, und immer wieder schielte er zur Sennhütte hinunter, aus deren Schindeldach in dicken Wolken der Herdrauch quoll. Am liebsten wäre Pepperl in seiner Schadenfreude schnurstracks hinuntergelaufen, um dem „verloffenen Lampl“ mit allem Hochgenusse menschlicher Bosheit ins Gesicht zu schreien: „Jagdverwalterin? Ja! Ein’ Schmarren!“ Aber da lagen ihm zwei verwünschte Worte wie eiserne Riegel im Weg: „Wir zwei sind fertig miteinander!“ und „Mich siehst nimmer!“ Daß er nach solchen Worten noch einmal die Schwelle dort unten überschreiten sollte – das war denn doch eine etwas heikle Sache für einen, der in sich die Ueberzeugung trägt: „Ein bißl was muß der Mensch schon halten auf das, was er sagt!“ Und was ging ihn denn eigentlich die ganze Geschichte weiter noch an? „Nix! Aber rein gar nix!“ Für ihn hatte die Sache eigentlich nur noch ein theoretisches Interesse, zu dem sich das angenehm prickelnde Bewußtsein gesellte: „Ich hab’ recht g’habt!“

Mit dem Gefühl der Befriedigung, das den Praxmaler-Pepperl bei diesem Gedanken überkommen hatte, und mit dem heiligen Schwur: „Mich geht’s nix an, und ich scher’ mich da drum kein’ Teufi nimmer!“ wollte er schon ins Försterhäuschen treten. Da hörte er über das Almfeld herauf das Klirren eines Bergstockes.

Am Waldsaum drunten erschien ein alter, weißbärtiger Bauer, gebeugt und etwas unsicheren Ganges.

„Jesses! da kommt er!“ stotterte Pepperl, als er Burgis Vater erkannte, und wie ein Verrückter, mit drei Meter langen Sprüngen, rannte er über das Almfeld hinunter und schrie: „Brentlinger! He! Brentlinger! Da komm’ her! Da bin ich! Da!“

Der Alte blieb stehen und guckte mit seinen stumpfen, rotgeränderten Augen nach der Stimme aus, die er hörte. Der gebrochene, von einem sechzigjärigen Leben in Armut mürbgeklopfte Körper steckte in einer verwitterten und übel zugerichteten Hülle – es schien, als hätte der „gute alte Brentlinger“ eine der letzten Nächte im Straßengraben zugebracht und die Zeit noch nicht gefunden, die grauen Federn dieses harten Bettes von sich abzuklopfen.

Im Heuschuppen auf der Alm geboren, hatte er die Carriere seines Lebens als Hüterbub begonnen, war Galtviehsenn geworden, und mit vierzig Jahren, als Milchviehsenn und mit einem Jahreslohn von 137 Gulden 45 Kreuzern, hatte er geheiratet. Fünfzehn Jährlein später, als Burgi aus der Feiertagsschule kam, starb die Brentlingerin an einem Leiden, das kein Doktor kurieren konnte – weil man keinen holte. Und während sich nun das junge Mädel langsam hineinwuchs in die Almenarbeit, wurden dem Brentlinger von Jahr zu Jahr die Knochen immer müder, so daß man den Alten im Dorfe nur noch zu leichtem Tagwerk brauchen konnte, und bald zu gar keiner Arbeit mehr. Nun hatte er seinen Strohsack im Gemeindehaus liegen, und seinem Leben blühte nur noch jene einzige Blume, die nicht nach Honig, sondern nach Trebern duftet. Am liebsten hätte Burgi den Vater jeden Sommer zu sich in die Sennhütte genommen – aber dagegen wehrten sich die Almbauern, die den unnützen Kostgänger nicht auf ihrer Milchschüssel haben wollten. Also gab sie ihn, für 9 Gulden im Monat, beim Flurjäger in die Kost – denn in die Hand durfte sie dem Alten kein Geld geben, keinen Kreuzer – sonst hätte er nie an seinen Hunger, nur immer an seinen Durst gedacht. Aber die Sommerfrischler und Touristen, das sind mitleidige Seelen – die gingen nicht leicht mit geschlossener Hand vorüber, wenn der arme, durstige Brentlinger seinen Kummerblick zu ihnen aufhob. Freilich, da tröpfelten nur die roten Kreuzer – kein Wunder also. daß der durstige Brentlinger mit einem Juchezer das große Los begrüßte, das er neulich beim Haus des Maler-Emmerle gezogen hatte.

Zehn Gulden! Das hatte einen achttägigen Rausch gegeben! Keinen zehntägigen, nein – da hatte sich Pepperl gründlich verrechnet. Denn der gute alte Brentlinger liebte nicht nur seinen Namensvetter, den Gebrannten, er liebte als braver Vater auch sein Kind – und bevor er vom Haus des Maler-Emmerle den Weg zum Buschenwirt genommen hatte, war er beim Kramer eingetreten und hatte um zwei Gulden für sein Mädel ein seidenes „Tüchl“ gekauft. Das brachte er nun mit, an seiner Vaterbrust verwahrt und sorgfältig in eine alte Zeitung gewickelt. Aber auch noch etwas anderes brachte er mit auf die Alm: einen halb ausgeschlafenen Katzenjammer, einen „dürmeligen“ Kopf und einen so unsicheren Schritt, daß man Zweifel hegen konnte, ob sich der „gute alte Vatter“ für das Wohl und Weh seines Kindes so energisch auf die Füße stellen würde, wie es der Praxmaler-Pepperl von ihm erwartete.

„Brentlinger! He! Brentlinger! Da komm’ her! Da bin ich! Da!“

Diese aufgeregte Stimme drang nicht nur in die halbtauben Ohren des Alten, sie drang auch durch die Mauern der Sennhütte. Und mit einem Sprung war Burgi bei der Thür.

„Vater! Jesus Maria! Vaterl! Ja, grüß’ dich Gott! Ja, wo kommst denn du her?“

Da sah sie den Jäger wie einen Narren über das Almfeld herunterspringen – und erschrak. Nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, nein! Denn wenn ihr der Herr Jagdverwalter in spe beim Herd und am Kammerfenster auch schon ein Dutzend Küsse und drüber abgeschwatzt und gestohlen hatte – ein Kuß in Ehren, das ist doch keine Sünd’, am allerwenigsten ein Kuß von einem, der Jagdverwalter wird und „positivi“ heiraten will. Und doch erschrak sie, und als sie den Pepperl so rennen sah, hatte sie im Augenblick nur den einen Gedanken: die erste beim Vater zu sein! Sie machte einen Sprung wie ein Heuschreck, der die Sense blitzen sieht, und rannte was sie nur konnte. Da machte aber auch Pepperl noch längere Beine – und so liefen die beiden miteinander um die Wette. Gleichzeitig erreichten sie den Alten, und keuchend packte ihn Burgi am linken, Pepperl am rechten Arm.

„Vater! Zu mir kommst!“

„Na! Zu mir! Denn ich hab’ ihn b’stellt!“

„Zu mir kommst, Vater! Zu mir in d’ Hütten!“

„Z’erst kommst zu mir! Ich muß dir was sagen!“

Der Alte wußte nicht, wie ihm geschah, und stotterte immer: „Thuts mich nur net derreißen, Kinder! Net derreißen! Thuts mich nur net derreißen! Ja seids denn närrisch! Alle zwei!“

Mit Zerren und Streiten hatten sie den Alten bis zur Sennhütte gebracht – und Burgi blieb Siegerin. Sie schob den Vater über die Schwelle, schlug die Thüre zu und stieß den hölzernen Riegel vor. Aber für diesen Riegel – für den hatte Pepperl nur einen „Lacher“. Wie da zu helfen war, das wußte er. Erst verschnaufte er ein wenig, dann zog er das Messer aus der Tasche, schob die Klinge in den Thürspalt und begann zu schieben. Aber merkwürdig – der Riegel wollte nicht weichen, wie sonst.

Verwundert guckte Pepperl etwas näher zu, und da sah er statt des alten, morschen Holzstückes, das die Thür seit einem halben Jahrhundert gehalten hatte, eine blinkneue Latte durch die Spalte schimmern. Wann war dieser neue Riegel an die Thür gekommen? Und warum? Diese beiden Fragen gaben dem Praxmaler-Pepperl heiß zu denken. – –

Drin in der Stube hatte Burgi den Vater zum Herd geführt – und da sah sie den Zustand seiner Kleider.

„Ja, Vaterl! Um Gott’swillen!“ stotterte sie erschrocken. „Ja wie schaust denn aus! O du heilige Mutter!“

„Ausschauen? Ich? Warum? Wie schau ich denn aus?“

„Vater!“ Wie ernst das klang! Und tiefe Kümmernis sprach aus dem Blick des Mädchens. „Hast mir’s im Fruhjahr so versprochen, daß dich halten willst! Und heut’ kommst mir daher, daß ich mich dein’twegen schämen muß!“ Sie fuhr sich mit der Faust über die Augen. „Wann ich nur schon wieder draußten wär’ bei dir! Es taugt mir eh’ schon nimmer da heroben!“ Müden Ganges holte sie die Holzbürste, die zum Scheuern der Milchgeschirre diente. „Geh, laß dich wenigstens ein bißl abputzen!“ Seufzend zog sie den Vater in die Fensterhelle, kniete vor ihm nieder und begann von unten herauf die Arbeit.

Das ließ er sich eine Weile geduldig gefallen, aber als es gar zu lange dauerte, meinte er vorwurfsvoll: „Ein bißl g’nau machst es, g’nau … ein bißl g’nau, ja … so viel g’nau …“

„Heut’ braucht’s es aber auch! Und gelt, Vaterl …“ mit ihren nassen Augen schaute sie zu ihm auf, „so, wie heut’, so kommst mir nimmer?“

„Na na na na …“

„Thust mir’s versprechen? Auf der Mutter ihr Andenken.“

„Ja, Burgele … ja ja ja … ja, das thu’ ich dir, ja! Und und … und weil dein’ Vatern so viel gern hast, ja …“ er wühlte an der Brust herum und brachte das Päcklein zum Vorschein, „ja, jetzt hab’ ich dir was mit’bracht, schau!“ Langsam löste er mit seinen zitterigen Händen den Papierumschlag und entfaltete das seidene Tüchl.

„Jesses! Vater!“ Das Mädchen wurde rot vor Freude. Aber erschrocken fragte sie gleich: „Um Gott’swillen, Vaterl, was hat denn das Tüchl ’kost’t?“

„Zwei, ja … zwei Gugulden, ja!“

„Zwei Gulden! Vater! Mar’ und Josef! Wo hast denn so viel Geld herg’habt? Du wirst mir doch um Gott’swillen net ’bettelt haben, oder …“

„Na na na na! G’arbeit’, weißt … ja, g’arbeit’, g’arbeit hab’ ich!“

„G’arbeit’t? Du? Für wen denn?“

„Bei’m bei’m … weißt, für den, ja, für’n Müllertoni … ja, für’n Toni bin ich auf Seefeld … weißt, ein Botengang … auf Seefeld ummi!“

„Und da hat dir der Toni zwei Gulden ’geben?“ forschte sie mißtrauisch. „Zwei Gulden?“

„Ein’, ein’, der Toni, weißt … und und der Posthalter ein’ … den andern, ja, der Posthalter!“

Sie war nur halb beschwichtigt. Aber möglich schien ihr die Sache doch, und sie wollte glauben, um an dem schönen Tüchl ihre Freude haben zu können. „Geh? G’wiß? Is wahr! Und da hast die zwei sauer verdienten Gulden für mich verspart!“

„Ja ja ja … und ’s Tüchl, gelt, das g’fallt dir?“ kicherte der Alte, froh, dem Verhör so glücklich entronnen zu sein.

„Ja, du, das is fein nobel!“ Sie prüfte die Seide, hielt das Tuch ans Licht und versuchte, wie es sich falten ließe. „Aber geh, jetzt setz’ dich her, jetzt koch’ ich dir aber gleich was auf! Magst saure Nocken? Thut dich hungern? Gelt?“

„Ja, hungern, ja … und saure Nocken, ja, die kunnt’ ich brauchen … und weißt, ein bißl dürsten, ja … ein bißl dürsten thut mich!“

„Da hol’ ich dir gleich ein Schüsserl Milli!“

„Milli?“ der Alte bewegte den Mund, als hätte er eine bittere Zunge. „So so … Milli krieg’ ich … Milli?“

Burgi war in die Kammer getreten, doch ehe sie die Schüssel holte, legte sie vor dem Spiegelscherben, der neben dem Fenster an die Wand gepickt war, das seidene Tuch zur Probe um den Hals.

„Milli krieg’ ich … Milli?“ Als hätte dieser Gedanke einen Zusammenhang mit dem Praxmaler-Pepperl, so guckte sich der Alte plötzlich um, wo denn der Jäger geblieben wäre. Und als er sah, daß an der Thüre gedrückt und gewackelt wurde, ging er hin und schob den Riegel zurück. Ehe die Thüre noch richtig offen war, drängte sich Pepperl schon mit beiden Ellbogen herein.

„Du, Jager, du … zu dir bin ich ’kommen, weißt … du hast mir was versprechen lassen, ja …“

„Was ich dir versprochen hab’, das kriegst! Z’erst aber muß ich reden mit dir! Da setz’ dich her an’ Tisch!“

Als sich die beiden auf die Holzbank niederließen, trat Burgi mit der Milchschüssel in die Stube. Wohl brannte ihr das Gesicht wie Feuer, doch mit spöttischer Ruhe sagte sie: „Jesses na! Der Pepperl! Ah, da schau her!“ Sie stellte dem Vater die Schüssel hin und legte den Brodlaib mit Messer und Löffel daneben. Dann stemmte sie die Fäuste in die Hüften und lachte dem Jäger höhnisch ins Gesicht. „Jetzt weiß ich net, wer mir’s g’sagt hat … aber einer hat mir g’sagt: du gingst mir nimmer ’rein in d’ Hütten!“

Pepperl verfärbte sich und schrie: „Zu dir? Bis ich zu dir komm’ … da kannst lang warten! Du! Bild’ dir nur ja nix ein! Bloß zu dei’m Vatern bin ich ’kommen! Weil ich z’reden hab’ mit ihm … verstehst mich … und ein ernsthaft’s Wörtl!“

„No also! Zu! So red’ halt! Und leg’ dir kein’ Maulkorb an! Kannst alles sagen! Alles! Ob’s wahr is oder verlogen … das is mir ein Ding! Net einmal auflusen thu ich! Na! Net einmal auflusen!“ Mit spöttischem Lachen ging sie zum Herd und nahm eine Holzschüssel von der Wand, um den Nockenteig anzurühren.

Die Neugier schien keine von den schlechten Eigenschaften des Brentlinger zu sein. Denn während die zwei jungen Leute so heiß miteinander „hachelten“, gähnte er ein um das andere Mal und schnitt das Schwarzbrot mit großen Brocken in die Milch. Eben wollte er den ersten Schub verladen, als ihn Pepperl so energisch am Arm packte, daß der Brocken vom Löffel wieder in die Schüssel fiel.

„Jetzt, Brentlinger, jetzt paß auf! Jetzt muß ich dir was sagen! Dir!“

„Ja ja! Red’ nur zu!“ Der Alte holte mit dem Löffel aus. „Aber, ja, aber essen mußt mich lassen! Essen, weißt!“

„Meintwegen, iß halt zu! Aber der Appetit, mein’ ich, der wird dir schon vergehn! Dir! Wenn d’ solchene Sachen hörst! Denn du … du bist der Vater! Dich geht’s am ärgsten an! Und dir z’lieb hab’ ich mich dreing’mischt! Daß ich dir ein’ Kummer verspar’! Denn dir … verstehst mich … dir geht’s an d’ Ehr’! Ja, du … da schau dir’s an, dein Töchterl! Die führt sich nobel auf!“

Vom Herd herüber ließ sich ein verbissenes Lachen hören.

„Lachen kann s’ auch noch! Lachen! Die! Und der arme Vater, der kann sich d’ Augen ausweinen! Drum laß dich verwarnigen, du guter Mann, du braver … und red’ ein Wörtl, so lang’s noch Zeit is … denn daß ich dir’s ehrlich sag: in deiner Burgl ihrer Hütte, da geht’s ja zu, als ob die Gomorringer ausg’ruckt wären!“

„Wer is …“ der gute, brave „Vatter“ schluckte einen Brocken, „wer is ausg’ruckt?“

„Die Gomorringer! Die von der selbigen Stadt, wo’s Pech und Schwefel hat regnen müssen. Und warum? Das weiß man schon!“

Der Kochlöffel in der Hand der Sennerin machte einen verdächtigen Zuck – aber das war nur ein Augenblick – dann tauchte er wieder in den Nockenteig.

Studierend schüttelte der Alte den weißen Kopf. „Na, du … das mußt mir, ja, mußt schon besser verexplizieren, ja!“

Pepperl schnaufte in schwüler Hitze. „Teufi Teufi Teufi, hat man mit dir ein G’frett! Paß auf, sag’ ich dir!“ Mit beiden Händen fuchtelte er dem Alten vor der Nase herum. „Das weißt ja doch, daß unser Herr Fürst jetzt da is?“

„Ja freilich, ja, der Herr Fürst! So so? Was für, ja, was für ein Fürst is denn der?“

„Der unser Jagd in Pacht hat!“

„Ein Jager? So so? Ein Jagerfürst! Und, ja …“ Der Alte legte den Löffel nieder, und seine Augen erweiterten sich. „Du, Pepperl, sag … is enker Fürst net mit’n, ja, mit’n Förstner in der Luitasch g’wesen … vor ein acht Täg’?“

„Freilich is er draußen g’wesen! Aber das geht dich nix an!“

„Geht mich, ja, gegeht mich schon wawas an,“ versicherte Brentlinger mit solchem Eifer, daß er zu stottern begann. „Wenn das der Füfürst g’wesen is … zu dem geh’ ich ’nauf. Mit dem muß ich was reden … dem muß ich, ja, muß ich was verexpipilixieren …“

Pepperl verlor die Geduld. „Kreuz Teufi, laß den Herrn Fürsten in Ruh! Der geht dich nix an! Wenn d’ auffi gehst, wirst aussi g’schmissen … vom Herrn Kammerdiener … verstehst mich!“

„Kammerdiener? So so? Ein Kammerdiener hat er? Geh? Und is der auch so, ja, so nobel, der?“

„Der wird wohl nobel sein!“ Pepperl lachte mit zornrotem Gesicht. „Hat seidene Hösln an! Und Schnallenschuh … wie der Mesner bei der Leich’.“

„Schnallenschuh? Und seidene Hösln?“ staunte der Alte. „Ach, der muß aber nobel sein!“

„Und g’striegelte Haar hat er! Und deiner Burgl steigt er nach! Verstehst mich! Deiner Burgl steigt er nach!“

Langsam drehte sich Brentlinger auf der Bank herum und fragte mit aufgeregtem Stottern:

„Bu … Buburgi? Js das wahr?“

„Ja, das ist wahr!“ erklärte Burgi und warf eine Handvoll Salz in den Nockenteig.

„Hörst es? Hörst es jetzt?“ schrie Pepperl wie ein Verrückter. „Wahr is, was ich g’sagt hab’! Und anschmalgen thut er’s! Anschmalgen, daß er’s heiraten thät!“

Die Aufregung des Alten wuchs. „Bu … Buburgi? Das sag mir, ja, gleich sag mir’s … is das wahr?“

„Wahr is ’s! Ja!“ fuhr die Sennerin mit gereizter Stimme auf. „Den ganzen Tag allweil hockt er da in der Hütten und pumpert die halben Nächt’ lang am Kammerfenster … so verliebt is er! So verliebt! Ja! Wahr is’, wahr is’, wahr is’!“

Ueber den Tisch hinüber packte Pepperl die Hand des Alten und schüttelte sie. „Hast es g’hört jetzt, Brentlinger? Jetzt denk, daß du der Vater bist, und daß dich rühren mußt … in deiner Verantwortigung … verstehst mich! So! Und jetzt red’ du!“

Stolpernd schob sich Brentlinger hinter dem Tisch hervor, und warnend hob er den Finger. „Bu … Buburgi! Das muß ich dir sagen, hörst! Da sei fein g’scheid! Den laß nur nimmer aus!

[241] Da kannst dein Glück machen, ja, dein Glück! Den laß nur nimmer aus! Das is ein Nobliger! Wenn g’scheid bist, machst dein Glück!“

In sprachloser Verblüffung starrte Pepperl den Alten an und fuhr sich mit beiden Händen in die Kreuzerschneckerln. Dann sprang er auf und rüttelte den Brentlinger, als müßte er mit Gewalt in ihm das schlummernde Gefühl der väterlichen Verantwortung auferwecken. „Ja Mensch! Was red’st denn da! Er lügt ja dein Madl an! Jagdverwalterin thät’s werden! Ja! Heut erst hat er mir’s g’sagt, der Herr Fürst: der Kammerdiener, und Jagdverwalter? Ja! Ein Schmarren mit Lakrizensoß! Alles is verlogen! Und das dumme Gansl, das glaubt ihm ... hörst! Verstehst mich jetzt bald? Und du bist der Vater! Du!“ Pepperl rüttelte, daß dem Alten die Zähne klapperten. „Rühr’ dich, Vater! Rühr’ dich, sag’ ich dir!“

„Da rühr’ ich mich, ja! Wann er mein Madl anlügt, rühr’ ich mich! Da nimm ich, ja, nimm ich ein’ Avakat’n! Da muß er zahlen, der! Das is ein Nobliger! Der hat Geld! [242] Und wann er net zahlt, so muß der Herr Fürst, ja, der Herr Fürst muß zahlen … der hat Geld!“

Pepperl ließ die Arme fallen, und in der Hütte war lautlose Stille, nur das Feuer knisterte. Der Jäger sah aus, als hätte man ihm Asche ins Gesicht geworfen. Mit zitternden Händen knöpfte er die Joppe zu und sagte: „Mir scheint, jetzt kenn’ ich mich aus! Jetzt … jetzt …“ Seine Stimme riß, und das helle Wasser schoß ihm vor Zorn in die Augen. „Des seids mir zwei saubere Leut’! Pfui Teufi miteinander!“ Er spuckte aus. „Da wär’ ich in eine schöne Verwandtschaft eini’kommen!“

Er wußte wohl nicht, was er redete. Denn der Zusammenhang dieses empörten Wortes mit der selbstlosen „Verantwortigung“, die der Praxmaler-Pepperl auf seine moralischen Schultern genommen hatte, war dunkel und völlig unbegreiflich.

Wütend packte er seinen Hut und verließ die Sennstube.

Mit verdutzten Augen sah ihm Brentlinger nach. „Wawas … was hat er denn? Sag’? Was hat er denn?“

Burgi vermochte nicht gleich zu sprechen. Ihr Gesicht war kreidebleich, als sie auf den Alten zu ging und ihn am Arm faßte.

„Vater! … Jetzt geh ins Kammerl ’nein! Und thu dich schlafen legen! Aber gleich! Denn daß d’ mir nüchtern solchene Sachen sagen könntst, das trau ich mir doch net z’glauben! Und wann dich ausg’schlafen hast … nachher reden wir weiter! Vorher kein Wörtl nimmer! Jetzt thu dich schlafen legen!“

„Schlafen? Ja warum denn schlafen? Wawas hast denn? Ich versteh schon, ja, versteh schon gar nix nimmer! Schlafen? Wo ich so viel munter bin, und … und thu mich so viel freuen mit, ja, mit dein Glück, ja …!“

„Vater! … Thu mir den G’fallen, Vater, und leg dich schlafen! Oder ich müßt’ dir harb sein! Leg dich schlafen, Vater!“

Er blickte zu ihr auf, und als er ihr Gesicht und ihre Augen sah, stotterte er erschrocken und begütigend: „Ja ja ja ja … sei sei nur z’frieden, Burgerl! Muß ich halt schlafen, ja! Ein Stünderl schlafen!“ Seufzend stolperte er über die Kammerschwelle.

Burgi wartete, bis sie hören konnte, wie er ins Heu fiel. Dann ging sie zum Herd, und auf die Steine niedersinkend, brach sie in bitterliches Schluchzen aus. –

Droben, im Försterhäuschen, saß der Praxmaler-Pepperl hinter dem Ofen, bürstete mit den Fäusten die Augen und würgte nach Luft. Die Selbsterkenntnis war erschreckend in ihm aufgegangen. „So ein Esel, wie ich einer bin! So ein’ giebt’s doch auf der ganzen Welt nimmer! Auf so ein Weibsleut ’reinfallen! Auf so ein Weibsleut! Mar’ und Josef! Mar’ un Josef!“

Lärm, Schritte und Stimmen weckten ihn aus diesem Jammer seiner Liebe – aus einem Katzenjammer, der das Merkwürdige hatte, daß ihm kein Rausch vorangegangen war.

Mit den Jägern und Treibern war der Förster gekommen, aufgeregt, fassungslos über den sonderbaren Ausfall der Jagd, die doch „wie am Schnürl“ gegangen war. Drei Hirsche waren sicher angesprungen, kein Schuß war gefallen, und auf dem Fürstenstand hatte man keinen Jäger gefunden, nur einen Wettermantel, den Feldstecher und die Büchse.

„Ja um Gotteswillen, was is denn da passiert?“

Als Pepperl mit zerknirschter Miene berichtete, was sich „da draußen“ ereignet hatte, und daß „die Fräul’n Lo’ mit ihrem Brüderl“ droben im Jagdhaus beim Herrn Fürsten wäre, klang in die Stille, mit der alle lauschten, ein schallendes Gelächter.

„Toni?“ fuhr der Förster auf. „Ja bist denn überg’schnappt?“

Mazegger gab keine Antwort – er lüftete nur den Hut. Und während er hinunterschritt zu seiner Hütte, sahen ihm all die anderen verwundert nach.

[280]
14.

Warm und goldig leuchtete die Mittagssonne in das weiße Zimmer. Mit glühendem Gesichtchen lag der kleine Patient in den Kissen, nachdenklich und verträumt. So viel auch die beiden anderen plauderten, die an seinem Bette saßen – der Knabe sprach kein Wort, er lauschte nur. Und wenn ihn die Schwester fragte: „Warum bist du so still, Bubi? Hast du Schmerzen?“ … dann schüttelte er den Kopf und sah sie mit glänzenden Augen an.

„Nein, Lo’! Mir ist so gut … ich kann dir gar nicht sagen, wie gut mir ist!“

Nebenan, im Wohnzimmer des Fürsten, deckte Martin den Tisch für das Dejeuner – das hatte Ettingen so angeordnet, damit Lo’ in der Nähe des Bruders bleiben konnte. Lautlos verrichtete der Lakai seine Arbeit und lauschte dabei mit seinen geübten Fuchsohren auf jedes Wort, das im anstoßenden Zimmer gesprochen wurde. Doch er hörte nichts, was er sich für seine [281] „getreuen“ Zwecke hätte ad notam nehmen können. Da wurde, bald mit ruhigem Ernst, bald wieder mit heiterem Geplauder, in das sich oft ein helles, klingendes Lachen mischte, von Natur und Kunst gesprochen, von Leben und Menschen, von Dorf und Stadt, vom Sebensee und dem schönen Leutascher Thal, von einem sonnigen Morgen und einer stürmischen Nacht. Aber so unverfänglich auch für Martins Ohren all diese Gespräche waren – er zog doch immer wieder die Brauen hoch und lächelte so sonderbar, so wissend. Der Ton machte für ihn die Musik. Denn wovon diese beiden Stimmen auch immer sprechen mochten, immer hatten sie einen so seltsam innerlichen Klang, als läge in jedem gesprochenen Wort noch etwas Unausgesprochenes und heimlich Verborgenes. Und solch eine trauliche Wärme konnte nur in den Stimmen zweier Menschen atmen, von denen der eine die Nähe des anderen wie blühendes Glück empfindet und wie reine Freude genießt. –

Als der Tisch bereit stand, wartete Martin mit der Uhr in der Hand. Punkt ein Uhr trat er mit Würde einen Schritt über die Schwelle des anstoßenden Zimmers und meldete, daß angerichtet wäre.

Ohne das Geplauder zu unterbrechen, erhob sich Ettingen

und reichte Lo’ den Arm. Bei der Thür nickte er dem Knaben lächelnd zu. „Adieu, Bubi, für ein halbes Stündchen! Laß dir die Zeit nicht lang werden … ich sorge schon für dich!“

Als sie ins Wohnzimmer traten, sah Ettingen den Tisch an und fragte erstaunt: „Aber Martin? Da sind ja nur drei Gedecke? Und wo ist der Förster?“

Keine Miene zuckte in dem ernsten Gesicht des Lakaien. „Ich dachte … doch wenn Durchlaucht befehlen …“

„Natürlich! Lege noch ein Gedeck auf und dann rufe den Förster!“ Ettingen ging mit Lo’ zum Tisch. Da sah er auf dem Gesims des Waffenschrankes ein Bild stehen, in olivgrünem, von matten Goldfäden durchzogenem Rahmen – die mit zarten Farben überhauchte Radierung nach dem Böcklinschen Gemälde.

„Ach, mein ‚Schweigen‘! Wahrhaftig! Da hab’ ich es!“ rief er mit erregter Freude. „Martin? Wann ist das Bild gekommen?“

„Gestern, Durchlaucht. Ich hab’ es ausgepackt … aber da ich nicht wußte, welchen Platz Durchlaucht für das Bild befehlen, hab’ ich es einstweilen hierher gestellt.“

„Gut! Ja! Ich danke dir, Martin!“

Der Lakai verließ das Zimmer.

Ettingen rückte das Bild ein wenig gegen das Fenster, damit es in besserem Lichte stünde. Dabei sah er nicht, daß es über Lolos Züge wie ein Schatten von Wehmut ging, als hätte der Anblick dieses Bildes eine schmerzliche Erinnerung in ihr geweckt.

„Sehen Sie, Fräulein … ein Bild, das ich liebe! Das Schweigen im Walde, von Meister Böcklin.“

Lo’ nickte.

Eine Weile standen sie beide wortlos in die Betrachtung des Bildes versunken. Dann sagte Ettingen: „Nicht wahr, ein herrliches Bild? Wie das redet in seiner Ruhe, in der Fülle seiner stummen Gedanken!“

„Ja! Das Kunstwerk eines Meisters, der nicht nur zeigen will, der auch viel zu sagen hat!“

„Und wie wenig er braucht, um viel zu sagen! Dieses karge Waldfragment – man sieht nur einige Baumstämme, fast ohne Aeste, und dennoch glaubt man den ganzen, tiefen, vielhundertjährigen Wald zu sehen. Und dieser Gegensatz der Beleuchtung: hier im Walde das Dunkel des Abends, fast schon die Nacht, und draußen in der Ferne noch der leuchtende Himmel – und sehen Sie nur, hier, diese paar kleinen und scheuen Lichter, die von draußen hereinschleichen durch die dichten Zweige … sind die nicht wie sehnsüchtige Gedanken? Wie die heißen Wünsche eines Menschen, der das grelle Licht und den wirren, schmerzenden Lärm des Tages satt bekam und nach Frieden verlangt, nach Ruhe, nach stiller Schönheit! Und wie reich der Wald das alles giebt! Ich hab’ es ja doch erlebt, an mir selbst! Dieses Schweigen im Walde, wenn draußen der schwüle Tag versinkt … wie das heilt! Wie das beruhigt! Wie schön das ist! Man hört keinen Laut, man sieht nur … und dennoch fühlt man, als hätte dieses Schweigen hundert Stimmen – jede redet zu uns und sagt uns ein neues Wort! Wie muß der Künstler allen Zauber der Waldesstille empfunden haben, um ihn so überzeugend zu verkörpern: in der ernsten Schönheit dieser Waldfee, die auf dem Einhorn reitet … gerade auf dem Einhorn! Hat dieses Tier nicht etwas Urweltliches an sich … gerade so, wie der Wald, wie alles Werden und Wandern in der Natur? Und sehen Sie nur: wie dieses Horchen auf das Ewige, das aus dem Schweigen des Waldes flüstert, wie dieses träumende Märchenlauschen aus den schönen Augen der Waldfrau redet …“

„Das? Eine Waldfrau? Eine Verkörperung aller Schönheit des von Ruhe erfüllten Waldes? Meinen Sie?“ fragte Lo’ mit beklommener Stimme. „Das kann ich nicht glauben! Nein! Ich habe das Gefühl, daß Sie in dieses Bild etwas hineinlegen, das aus Ihnen kommt … und das ist milder und freundlicher als der Gedanke dieser Gestalt. Der ist viel strenger. Ich meine, daß sich der Künstler dachte: das ist die Natur, die Natur selbst! Jetzt ruht sie und hat die Hände im Schoß … und betrachtet, was sie in den hundert Jahren, die bei ihr eine Minute heißen, geschaffen hat. In solcher Ruhe kann ihr Auge so schön blicken, so träumerisch und sinnend. Aber …“

„Ein Aber?“ fiel ihr Ettingen mit lächelndem Schreck ins Wort. „Fräulein Lo’ … ich warne Sie! Ueber diese Augen dürfen Sie mir nichts Böses sagen. Ich habe dieses Bild da immer bewundert … aber um dieser Augen willen hab’ ich es liebgewonnen. Den Blick solcher Augen … den hab’ ich gesehen, in Wirklichkeit! Den hab’ ich erlebt! Ich selbst! An diese Augen glaub’ ich ... sie sind so schön! … Aber nein! Schweigen sollen Sie deshalb nicht! Sprechen Sie, ich bitte … was wollten Sie sagen?“

Sie war befangen und vermochte nicht gleich zu sprechen. „Ich meine … gewiß, diese Augen sind schön, jetzt in der Ruhe, in dem Wohlgefallen, das die Natur an ihrer eigenen Schöpfung empfinden muß! Aber sehen Sie den Körper dieses Weibes an! Dieses Uebermenschliche an ihm! Diese ruhende Kraft! Und dieses Gesicht – es hat fast männliche Züge. Und um diesen herrischen Mund liegt etwas Gewaltthätiges und unerbittlich Grausames … es ist nur jetzt in der Ruhe gemildert … aber man fühlt es doch! Und das mußte der Künstler so zeigen … denn die Natur ist grausam, wenigstens im Sinne von uns Menschen, die wir den Schmerz so schwer ertragen, die wir leiden, wenn wir ein Herz brechen und ein Leben erlöschen sehen. Aber an der Natur ist das eine Eigenschaft wie die Schönheit, wie die Kraft, wie jede andere. Die Natur muß grausam sein, wenn sie das Verbrauchte beseitigen und das Neue schaffen, wenn sie bestehen und nicht altern will. So schön die Natur auch in der Ruhe sein kann … es redet doch immer etwas aus ihrem Gesichte zu uns wie eine unheimliche Drohung! Und so wirkt auch dieses Bild auf mich … es erweckt ein Gefühl in mir, wie Angst … wie das Bangen vor einer Gefahr, an die ich nicht glauben kann, weil ich so viel Schönheit sehe, und die mir doch schon nah’ ist!“

Sinnend betrachtete Ettingen das Bild. „Ja, Sie haben recht … jetzt, da Sie es gesagt haben, fühl’ ich es auch … Ihre Auffassung ist die richtige! Dieser harte, herb geschlossene Mund … wie der redet! Als ob er sagen möchte: sieh her, wie viel Schönheit dich umgiebt, in der Ruhe des Waldes, aber dieses lächelnde Träumen, das wird nicht mehr lange dauern … Komme nur morgen wieder, und was du heute noch siehst, das alles wird morgen verschwunden sein, gefallen im Sturm, versunken in Asche … Ja, sehen Sie nur, dieser Baum hier … der hat schon eine Wunde wie von einem Steinschlag … der Baum muß sterben! Und das Eichhörnchen, das über den Stamm hinaufklettert, wie in Schreck und Angst … ich habe nie recht begriffen, was der Künstler mit diesem Tierchen eigentlich wollte … aber jetzt versteh’ ich es! Das kleine Ding empfindet die Gefahr, die aus dem schweigenden Gesicht der Natur zu ihm redet, und weiß in seiner dunklen Angst nicht, wohin es sein winziges Leben flüchten soll! … Armes Geschöpf!“ Er schwieg eine Weile, dann sagte er plötzlich: „Schade! Da Sie den Gedanken dieses Bildes so tief erfassen … wie müßte erst das Original auf Sie wirken, mit der Kraft seiner Farbe …“

„Das hab’ ich gesehen!“

„Fräulein! Wirklich? Wo haben Sie das Bild gesehen? Und wann?“

„Vor vier Jahren, im Sommer, als Papa mich mit nach München nahm, um die Ausstellung im Glaspalast zu sehen. Da war auch dieses Bild dort … und noch drei andere Werke Böcklins, das ‚Schloß am Meer‘, die ‚Toteninsel‘ und das ‚Spiel der Wellen‘.“

„Welchen Eindruck müssen diese Bilder auf Sie gemacht haben!“

„Ja! Ich habe jenen Tag noch heute so in Erinnerung, als hätt’ ich ihn erst gestern erlebt.“ Lo’ strich mit der Hand über die Augen, und ihre Stimme wurde leiser. „Und … ich denke nicht gerne an jenen Tag … es knüpft sich an ihn eine Erinnerung, die mir wehthut.“

„Fräulein?“

„Als Papa diese Bilder sah, wurde er so seltsam still … und dann nahm er meine Hand, drückte sie, daß es mich schmerzte, und sagte: ‚Sieh her, Lo’ … was ich immer willder da, der kann es! Das ist ein Großer! Das ist Kunst!‘ Dabei hatte er Thränen in den Augen, und sein Gesicht war so vergrämt, so trostlos … er hat lang’ gebraucht, um das zu überwinden.“ Erregt und mit feuchtem Blick sah Lo’ zu Ettingen auf. „Aber nicht wahr … daß er so gering von seiner eigenen Kraft und so groß von dem Können des anderen denken konnte … das spricht doch für ihn selbst? Hochmütig ist nur der Stümper, und nur der Unfähige kann Neid empfinden. Nur wer selbst in sich das rechte, heilige Feuer brennen fühlt … nur der kann mit neidloser Bewunderung zu der reicheren Kraft eines Größeren aufblicken!“

Ettingen hörte nur halb, was sie sagte. Er sah nur ihre Augen, und dieser feuchte Blick, dieses Erregte und Beklommene ihres ganzen Wesens, das machte ihn verwirrt und schmerzte ihn, so daß er nach einem Worte suchte, das sie beruhigen könnte: „Ihr Vater hatte unrecht, sich so klein zu fühlen! Und ich bin überzeugt … ein Bild wie dieses hier, das hätte auch Ihr Vater schaffen können, der die Natur so sehr verstand … gerade Ihr Vater … wenn auch in anderer Form, aber doch mit dem gleichen, künstlerischen Wert, mit der gleichen Fülle der Gedanken!“

„Mit dem gleichen Gedanken?“ Sie schüttelte den Kopf und sagte nachdenklich: „Mein Vater! Nein! Er war doch in all seinem Wesen ein so ganz anderer! In allen Bildern Böcklins liegt etwas Herbes und Unerbittliches – bei aller Schönheit, die er schuf. In ihm ist ein Stück Natur, die das Schöne nur erschafft mit dem Gedanken an die Zerstörung, der es verfallen muß. Sehen Sie nur dieses Bild an … kommt es Ihnen nicht vor, als ob dieses Weib uns sagen möchte: ‚Sieh her, kleiner Mensch, wie groß und stark ich bin! Ich zwinge das wilde Tier, das mich tragen soll, wohin es mir beliebt. Willst du herrschen und ein König deines Lebens werden, dann mußt du sein wie die Natur ist, stark und rücksichtslos!‘ … Nein! Das ist ein Gedanke, den mein Vater als Künstler nicht aussprechen konnte.“

„Auch nicht als Mensch!“ fiel Ettingen ein, mit einer Wärme, die nicht nur aus seiner Stimme, auch aus seinen Angen redete. „Sie haben recht! Was ich vorhin sagte, das war ein thörichtes Wort … und vielleicht auch ein wenig unehrlich! Ich wollte Ihnen über eine schmerzliche Stimmung hinweghelfen und sehe nun ein, daß Sie so überflüssiger Hilfe nicht bedürfen. Ihr Vater, ja … der war ein so ganz anderer als der Große, der dieses Bild da schuf. Aber deshalb ist er nicht der Kleinere und Schwächere gewesen. Und dieses Wort, liebes Fräulein, das ist ehrlich! Das ist mein Glaube, den ich von Ihrem Vater habe. Ich unterschätze den Wert der Kraft nicht, weder im Leben noch in der Kunst … es ist etwas Schönes um die Kraft, die sich den Sieg erzwingt, und die Herrschaft über die kleinen Geister! Aber Sieg, das ist auch Glück … und Glück hat nicht jeder, der es verdient. Und solche Mißgunst der launischen Göttin mit einem stolzen Lächeln zu verwinden, wie das Ihr Vater konnte … alle Enttäuschung des Lebens zu erfahren und doch dem Leben so gut zu sein, für allen Schmerz die Versöhnung zu finden ... als Künstler die Anerkennung der Welt entbehren zu müssen und doch sich selbst getreu zu bleiben … wer das vermochte, in dem war Kraft, die noch höher wiegt als aller Erfolg einer starken, rücksichtslosen Faust, aller Ruhm eines Sieges!“

Wie freudig und dankbar sie zu ihm aufblickte! „Ja! Getreu! Sich und denen, die er liebte … das ist er geblieben! Immer!“

„Jetzt lächeln Sie wieder!“ Er atmete auf und nahm ihre beiden Hände. „Aber das Bild dort ... das wollen wir gegen die Wand drehen …“

„Weshalb?“

„Es hat in Ihnen die Erinnerung an einen Kummer Ihres Vaters geweckt … und ich weiß nicht, was ich dafür gäbe, wenn Sie das Bild nicht bei mir gesehen hätten! Aber … wissen Sie, weshalb ich es kommen ließ?“

„Weil es schön ist! Weil Sie es lieben!“

„Falsch geraten! Nein! Weil meine erste Begegnung mit Ihnen mich an dieses Bild erinnerte … Da draußen, im Tillfußer Forst! Wissen Sie noch? Jener stille, wundervolle Abend im Schweigen des Waldes ... wie Sie damals so geritten kamen ... und ihre Augen, die so tief und ruhig blickten … wie schön das war! Und weil ich das wiedersehen wollte, nur deshalb hab’ ich das Bild da kommen lassen, an das mich unsere Begegnung erinnerte. Aber dieses Bild? Nein, das ist etwas anderes, als was ich gesehen habe! Sie hatten recht … ich habe in die Auffassung dieses Bildes etwas hineingetragen, das in mir ist … das ist freundlicher und milder, ja … das ist so, wie Sie sind … und diese Erinnerung, die in mir ist, die tausch’ ich nicht um alle Schönheit und künstlerische Größe dieses Bildes da!“

Wortlos stand sie vor ihm, von dunkler Glut übergossen.

Da tappte der Förster ins Zimmer mit seinen schwer genagelten Schuhen, und als er sah, daß Ettingen die Hände des Mädchens in der seinen hielt, sagte er lachend: „No also, da kann ich ja gleich auch gratalieren, daß die G’schicht da draußen im Griesfeld heut’ so glimpflich ab’gangen is!“ Während die beiden anderen schwiegen, schwatzte er unverdrossen weiter, pries den „guten Schutzengel“, den der „kleine Herr Petri“ haben müsse, und rief dem Knaben von der Schwelle des Schlafzimmers ein paar lustige Worte zu. Aber bei all seiner Freude, die er über den glücklichen Ausfall der „G’schicht“ zum besten gab, fuhr ihm doch immer wieder der Gedanke an die „ausg’rutschte“ Treibjagd durch den Kopf, die ein Ende genommen hatte „wie das Hornberger Schießen“. Als man sich zu Tisch setzte, sang er noch immer dieses lange Lied seines Jägerschmerzes: „Drei Hirsch’! Sakra, sakra! Drei Hirsch’ hätten wir heut haben können! Und was für Hirsch’! Drunt’ in der Hütten hockt der Pepperl … der arme Kerl macht ein’ Kopf hin … so hab’ ich ihn meiner Lebtag’ noch net g’sehen! Wie der sich kränken muß um die drei Hirschen … das muß schon schauderhaft sein! Aber Ihnen, Duhrlaucht, Ihnen merkt man gar nix an! Sie müssen die drei Hirschen leicht verschmerzt haben!“ Er fuhr sich mit der Serviette über den Schnauzbart und lachte. „G’wiß wahr, Duhrlaucht, wenn man Ihnen so anschaut … gleich juchezen möcht’ man! Ausschaun thun S’ wie’s Leben auf der Kirchweih, und die helllichte g’sunde Freud’ lacht Ihnen aus’m G’sicht und aus die Augen ’raus! Gelten S’, Duhrlaucht, das müssen S’ einb’stehn: unser Lüftl daheraußen, das schlagt Ihnen an!“

„Ja, lieber Förster! Hier bin ich gesund geworden an Leib und Seele! Glücklich und froh! Ich habe keinen Wunsch mehr, als nur den einen, daß dieser Sommer kein Ende nehmen möchte! Erinnern Sie sich noch … neulich, als wir zusammen nach Leutasch gingen … wie Sie mir da die Heilkraft des Bergwaldes gepriesen haben? Das hat sich erfüllt an mir! Der Wald hat mich geheilt!“

„Gelten S’! Gelten S’! Hab’ ich’s net g’sagt! Unser Wald! Ui jögerl, unser Wald! Was der alles kann! Duhrlaucht … den müssen wir leben lassen! Unser Wald soll leben! Unser Wald!“ Lachend hob Kluibenschädl das Glas und stieß mit dem Fürsten an. „Aber was is denn, Fräul’n Lo’? Haben S’ denn net g’hört? Der Wald soll leben! Der is ja doch eh’ Ihr ganze Freud’! Wär net ohne, wenn Sie da net mitthäten! Was is denn? Was haben S’ denn? Warum sind S’ denn so mäuserlstad? Und heiß muß Ihnen sein! Sakra, sakra! Sie brennen ja wie’s Kerzl vor der Muttergottes! Soooo! Schön ’s Glaserl nehmen! Schön anstößen! Derrrr Wald soll leben!“ Die Gläser klangen hell zusammen, und das heitere Lachen wandelte sich zu einem froh belebten Geplauder, das die ganze Mahlzeit begleitete. Der Förster, in seiner vergnügten Laune, die der Wein noch steigerte, begann allerlei drollige Schnurren auszukramen, und dazu schmauste er mit so gesundem Appetit, daß die Platten leer wurden, obwohl ihn seine beiden Tafelgenossen bei diesem „Schönwettermachen“ recht mangelhaft unterstützten. Sie tranken auch kaum einen Tropfen, diese beiden, und dennoch waren sie in einer Stimmung, als wäre ihnen das Feuer eines köstlichen Trankes ins Blut gedrungen.

Immer wieder erhob sich Ettingen, um nach dem kleinen Patienten zu sehen und jeden Teller zu begleiten, den Martin ins weiße Zimmer trug. Kam Ettingen von solch einem Besuch zurück, so gab er lachend das Bulletin aus: „Fortschreitende Besserung; der hohe Kranke erfreut sich eines gesegneten Appetits.“

Als das Dessert genommen war, verabschiedete sich der Förster mit einem großen Kompliment und einem kleinen Schwips. Martin brachte die Post, aber Ettingen sagte: „Das hat Zeit, lege nur alles auf den Schreibtisch hinüber!“

„Es ist eine Depesche dabei, Durchlaucht!“

„So gieb sie her!“ Ettingen nam das Couvert und fragte Lo’: „Wenn Sie erlauben?“

„Aber ich bitte!“

Als er die Depesche öffnete und die vier eng beschriebenen Blätter sah, meinte er lachend: „Das? Eine Depesche? Nein, das ist ja ein Brief!“ Kaum hatte er zu lesen begonnen, als er in freudiger Erregung zu dem Mädchen aufblickte: „Und das muß heute kommen! Gerade heute!“

„Sie haben eine gute Nachricht erhalten?“

„Eine gute nur? Mehr als das! Eine Nachricht, die mir Freude macht … doppelte Freude, weil sie gerade heute kam! Jetzt, während Sie bei mir sind! Denn diese Nachricht, Fräulein …“ er war so bewegt, daß er kaum zu sprechen vermochte, „das ist eine Freude für Sie! Eine große, große Freude! Hören Sie!“ In heißem Eifer schob er alles beiseite, was vor ihm auf dem Tische war, und faßte Lolos Hand. „Hören Sie nur! Eine Nachricht über Ihren Vater! Aber bevor ich lese … ich muß Ihnen doch sagen, wie ich zu dieser Nachricht komme! Damals, als ich Sie kennenlernte … an jenem Morgen, draußen beim Sebensee, unter seinem klingenden Baum und bei seinen Blumen … damals sprachen wir doch so viel von Ihrem Vater. Das alles weckte in mir solche Teilnahme für sein Schicksal und seine Kunst, daß ich noch mehr von ihm hören wollte … und als ich heimkam, depeschierte ich an einen Freund in Wien, mir alles mitzuteilen, was er über Emmerich Petri erfahren könnte. Und das ist die Antwort!“

Zitternd saß sie vor ihm, mit den Augen in banger Spannung an seinen Lippen hängend.

Ohne ihre Hand zu lassen, begann er zu lesen: „‚Mein lieber Heinz ...‘“

„Heinz? Das ist Ihr Name?“

„Ja! … ‚Mein lieber Heinz! Der Kunstaugur, dem ich die Nachforschungen nach Deinem Emmerich Petri übertrug, war soeben bei mir. Da Deine Anfrage etwas so merkwürdig Dringendes hatte, nehme ich in meiner Freundschaft für Dich einen Anlauf zur Verschwendung und depeschiere Dir ein ganzes Kapitel moderner Kunstgeschichte. Dein Petri stammt aus einer Algäuer Bauernfamilie, verlor als Knabe die Eltern und bekam zum Vormund einen Pfarrer, der den Erlös des kleinen Bauerngutes auf den Acker der Kirche säen wollte und den begabten Jungen in eine geistliche Präparandenschule steckte. Mit 19 Jahren, kurz vor der Ausweihung, lief Petri der frommen Gesellschaft davon. Er wollte Künstler werden und besuchte zwei Jahre die Münchener Akademie. Seine Professoren sprachen ihm alles Talent ab und meinten, er hätte klüger gethan, Kaplan zu werden. Mit zähem Ehrgeiz stellte er sich auf freie Füße, ging seine eigenen Wege, arbeitete mit eisernem Fleiß und begann ein paar Jahre später im Münchener Kunstverein auszustellen, ganz merkwürdige Bilder, seltsam in Technik und Farbe, befremdend durch ihre Gedanken, kindlich und kühn zugleich, mit einer Vorliebe für fabulöse und didaktische Stoffe, in denen sich Hellenismus und freidenkendes Christentum eigenartig verschmolzen. Man verstand ihn nicht, schüttelte den Kopf und lachte. Ueber ein Jahrzehnt lang kämpfte der Mann erbittert um Anerkennung, ohne sie zu finden. Schließlich scheint ihn die Geduld verlassen zu haben. Vor etwa vierzehn Jahren wanderte er mit seiner Familie aus München davon, niemand weiß wohin. An seiner Kunst verzweifelnd, scheint er sie aufgegeben zu haben, denn man hat seit jener Zeit kein Bild mehr von ihm gesehen. Und das ist schade, denn seine Zeit wäre jetzt gekommen!‘“

Ettingen unterbrach sich, drückte Lolos Hand und stammelte in Erregung: „Seine Zeit! Hören Sie, Lo’ … hören Sie!“

Ein Lächeln irrte um ihren Mund; sie konnte nicht sprechen und nickte nur.

Mit fliegender Stimme las er weiter: „‚Seine Zeit wäre jetzt gekommen! Das ganze Unglück dieses Mannes war, daß er um zwanzig Jahre zu früh geboren wurde, und daß er mit den Anfängen seiner eigenartigen Kunst in eine Zeit der ausgetretenen Geleise kam. Aber diese Zeit hat sich geändert, gründlich, und heute verlangt man von der Kunst vor allem Persönlichkeit. Da kommt nun gerade jener zur stärksten Geltung, der mit ernstem Schaffen seine eigenen Wege geht und sich vom Gesicht der Durchschnittsmacher unterscheidet. So hat sich das Verständnis der ganzen Welt für Böcklin erschlossen, und der Meistertitel wird vor Namen gesetzt, zu denen vor einem Jahrzehnt noch alle Welt den Kopf schüttelte. Einer von diesen spät Erkannten ist Hans Thoma, der auch die Spießrutengasse des Münchener Kunstvereins kennenlernte, und den sie heute mit Ehrsucht den ‚tiefen Träumer‘ nennen. Vor zwei Jahren, in einer kritischen Beleuchtung Thomas, erinnerte sich zum erstenmal ein Münchener Kritikus an einen ‚Vorläufer des Meisters‘ – an Emmerich Petri. Immer häufiger wurde in der letzten Zeit dieser Name genannt. Von Kunsthändlern wurde das eine und andere seiner Werke ausgegraben und wanderte von Stadt zu Stadt. Im vorigen Sommer erfuhr man, daß ein Frankfurter Mäcen, dessen Spezialität das Sammeln künstlerischer Originalitäten ist, im Besitze einer aus 27 Bildern bestehenden Kollektion des neuerkannten Meisters wäre, und im Herbst, Ende September, wurden diese Bilder zu einer ‚Separatausstellung von Werken Emmerich Petris‘ nach Berlin gebracht, um die ganze Berliner Kunstwelt in Aufruhr und Begeisterung zu versetzen.‘“ Ettingen vermochte nicht weiter zu lesen.

Regungslos, wie versteinert saß das Mädchen. Nur in ihren Augen war Leben, und mit tonloser Stimme flüsterte sie vor sich hin: „Im Herbst … Ende September …“

Um diese gleiche Zeit war jener Wolkenbruch in der Leutasch niedergegangen, zwei Tage und Nächte hatte Emmerich Petri gearbeitet „wie ein Holzknecht“ und hatte die Rettung von ein paar armseligen Hütten mit seinem Leben bezahlt.

„Im Herbst! Ende September!“

Ettingen empfand die Tragik dieses Wortes, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt, so daß er mit Gewalt seine Stimme zwingen mußte, um lesen zu können.

„‚Diese Ausstellung war ein Erfolg, so einstimmig, wie er noch selten einem Künstler zu teil wurde. Dem Frankfurter Sammler, der diese Bilder vor fünfzehn und zwanzig Jahren um eine Bagatelle erworben hatte, wurden hohe Summen geboten, aber der Mann war stolz auf seinen Besitz und verkaufte nicht ein einziges Bild. Alle Journale brachten ausführliche Besprechungen des Meisters, man bezeichnete ihn als eine an Gedankentiefe mit Böcklin verwandte Natur, als dessen milderen Bruder – Böcklin wäre die strenge Kraft, Petri die träumende Liebe. Und überall die Frage: Wo ist dieser Mann? Wer weiß von ihm? Wo lebt er?‘“ – Erschrocken legte Ettingen die Blätter nieder. „Fräulein!“

Blaß und an allen Gliedern zitternd hatte sich Lo’ erhoben, als wär’ es über ihre Kraft gegangen, dieses letzte Wort zu hören. Ein Sturz von Thränen brach ihr aus den Augen, mit einem Schluchzen, das ihren Körper schüttelte wie Frost.

„Fräulein! Ach du allmächtiger Gott! Ich bitte Sie, liebes Fräulein …“ Ettingen trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern wie ein Bruder, der die Schwester beruhigen will. Sie schien in diesem Sturm von Erregung nichts anderes zu denken als nur das eine: er fühlt mit mir, er will mich trösten – und da überließ sie sich willenlos seinem Arm, und weinend barg sie das Gesicht an seiner Brust.

Aus dem anstoßenden Zimmer klang mit erschrockenem Ton die Stimme des Knaben: „Lo’! Ach Gott, Lo’! Was hast du? Warum weinst du denn? … Aber ich bitt’ dich, so sag mir doch ... Lo’! Was hast du denn?“

„Sorg’ dich nicht, Bubi!“ rief Ettingen. „Was deine Schwester weinen macht … das ist Freude!“ Er streichelte mit scheuer Hand ihr schimmerndes Haar, richtete sie auf und sagte leis: „Ja, Lo’ … das muß Freude sein! Freude über die Anerkennung, die Ihr Vater gefunden. Aber ich verstehe Ihr schönes, kindliches Gefühl so gut … Ihre Freude mischt sich in dieser Stunde mit dem schmerzvollen Gedanken, daß Ihr Vater den Lohn seines Schaffens nicht mehr erleben konnte, daß er sterben mußte, bevor ihm die Welt den verdienten Lorbeer reichte. Aber denken Sie doch, wie er starb! Das muß Ihrem Herzen sagen, daß er die Augen nicht geschlossen hat, ohne tief in seinem Innersten zu glauben: ich habe nicht umsonst gewirkt, ich kann nicht sterben, ich werde weiterleben! Sonst hätte er die Welt nicht so verlassen können, mit dieser Ruhe, mit diesem Lächeln, mit diesem letzten Wort: ‚Meine Blumen!‘ Das galt nicht nur den Blumen da draußen am See … dieses Wort hat allem gegolten, was aus der Tiefe seiner Seele heraufblühte und reines, köstliches Leben wurde. Das wird seinen Namen tragen, das wird dauern als eine Freude für die Menschen! Ihr Vater ist nicht gestorben: er lebt! … Nein, Lo’, Sie dürfen nicht weinen! Sie müssen sich aufrichten und stolz sein auf Ihren Vater, stolz auf den Namen, den er Ihnen gab und dessen Sie würdig sind … dieser Name ist Adel, wie ich besseren nicht kenne!“

Aus Thränen blickte sie zu ihm auf. Wie schön sie war – mit diesen flammenden Wangen, im Schmuck dieser leuchtenden Perlen, in diesem Lächeln, mit dem sie den ersten erschütternden Schmerz überwand und schon die Versöhnung fühlte, den Stolz

und die Freude! Lange sah sie ihn schweigend an, als müßte sie erst ihre Gedanken sammeln, bevor sie sprechen konnte.

„Wie gut Sie mit mir sind! … Und ich stehe so arm vor Ihnen, so schwach … in meinem Schmerz zuerst … und jetzt in meiner Freude! Fast versteh ich das nicht! Diese Nachricht hätte mich ruhiger finden sollen … stark und stolz! Was mein Vater war, das hab’ ich doch immer schon gewußt! Das hat mir doch nicht die Welt erst sagen müssen! Liegt denn der Wert eines Menschen im Erfolg bei der Welt? Und ich glaube, zu jeder anderen Zeit, wann und wie diese Nachricht auch gekommen wäre … ich hätte nur lächeln können und sagen: ‚Wißt ihr es nun auch – ich hab’s schon immer gewußt!‘ Und nun hat es mich doch so überwältigt … als wär’ ich eine ganz andere geworden, ich weiß nicht, seit wann … als wäre etwas in mir, über das ich keinen Willen und keine Macht mehr habe … und das versteh’ ich nicht … das macht mich so schwach …“

Ihre Hände zitterten, sie hielt seinen Blick nicht aus, und verwirrte Unruh’ stammelte aus ihren Worten.

„Sehen Sie nur … ich weiß ja kaum, was ich rede … weiß nicht einmal, wie ich dafür danken soll, daß Sie es waren, gerade Sie, von dem ich diese Nachricht hören durfte. Und wenn ich Ihnen sagen könnte …“ ihre Stimme erlosch.

„Mir sagen, was Sie fühlen? Die Freude, die Sie empfinden, könnten Sie mir mit hundert Worten nicht besser sagen als mit diesem Schweigen jetzt!“

„Freude! Ja! Das ist Freude … die sich nicht sagen läßt! Und …“ tief atmend hob sie die Augen zu ihm, „darf ich noch eine Bitte haben?“

„Ob Sie dürfen?“ Er lächelte und drückte ihre Hände.

„Schenken Sie mir diese Blätter!“ Nun kamen ihr die Worte, immer hastiger, in glühender Erregung. „Ich möchte sie meiner Mutter bringen … und möchte heim … zu meiner Mutter! Jede Stunde, um die ich ihr diese Nachricht später bringe, ist eine Sünde an ihr! Ich darf nicht bleiben … schenken Sie mir diese Blätter und lassen Sie mich gehen! Ich bitte …“

„Ja, Fräulein, ja! Nehmen Sie …“ Er reichte ihr die Blätter. „Ich seh’ es doch ein, daß Sie nicht bleiben dürfen … jetzt nicht! Und Ihr Bruder … ich will selbst hinunter und werde sorgen dafür, daß Sie ihn gut und sicher nach Hause bringen … und daß Sie auf dem Heimweg alle Hilfe haben! Bleiben Sie nur bei ihm … ich komme dann schon und hol’ ihn!“ Er drückte noch einmal ihre Hand und eilte davon.

Sie stand und lauschte auf seinen Schritt – und lächelte und preßte die Blätter an ihre Brust.

„Lo’? Soll ich aufstehen? Ich kann schon!“ klang aus dem anderen Zimmer die erregte Stimme des Knaben.

Da flog sie zu ihm, umschlang ihn mit beiden Armen, und wieder kamen ihr die Thränen.

„Ach, Lo’! Um Gotteswillen! Ich bitt’ dich … was hast du denn?“

„Freude hab’ ich! Freude! Nur Freude … daß jetzt die Menschen wissen, was unser Vater war!“

Gustl sah die Schwester mit großen Augen an. „Haben denn das die Menschen nicht schon immer gewußt? Er hat doch die schönen Bilder gemalt! Und ein Bild, das sieht man ja doch! Da muß man doch wissen, daß ein Künstler das gemacht hat!“

„Ja, Kind, wer die rechten Augen hat, der sieht es! Aber weißt du, es giebt auch Menschen, die sehen können und dennoch blind sind! Aber komm, wir müssen heim … zur Mutter heim!“ – –

Als Gustl angekleidet war – am verbundenen Fuß nur den Strumpf, ohne Schuh – versuchte er ein paar Schritte zu gehen. Aber das gelang nicht recht. Da kam auch Ettingen schon zurück, hob den Knaben auf und trug ihn hinunter.

Vor der Thüre, im Hof, stand „Hansi“ schon bereit, gesattelt und mit hochgeschnallten Bügeln. Die Treiber hatten das Gepäck der Geschwister in ihre Rucksäcke genommen und die Almrosen darüber gebunden. Einer trug das Fischnetz mit den sorgfältig in grünes Reis gehüllten Forellen. Auch die zwei Leutascher Jäger waren zum Abmarsch bereit, Kluibenschädl schwatzte und kommandierte mit weinrotem Gesicht, und seitwärts an der Mauer stand Pepperl, schweigsam, die Hände hinter dem Rücken, die gerunzelte Stirn umhangen von aufgedröselten „Kreuzerschneckerln“.

Nur Mazegger fehlte. Drunten in seiner Hütte stand er am Fenster, das aschfahle Gesicht an die Scheibe gedrückt. Als er seinen Herrn, der den Knaben trug, und das Mädchen aus der Thüre kommen sah, trat er mit geballten Fäusten tiefer in die Stube zurück.

Ettingen hob den Knaben in den Sattel und schob ihm die Bügel an die Füße. „Na also, Bubi, jetzt mach’ uns keine Sorgen mehr, und schau, daß du gut heimkommst!“ Er reichte ihm die Hand.

„Ich dank’ schön, Herr Fürst! Sie waren so lieb zu mir! Ich dank’ schön!“

Lachend streichelte ihm Ettingen die Hand. „Dank? Was dir einfällt! Sieh nur, daß du bald wieder springen kannst – das ist mir der liebste Dank! Und wenn es deine Mutter dann erlaubt, dann komm ein paar Tage zu mir auf Besuch ins Jagdhaus! Willst du?“

Gustl wurde rot übers ganze Gesicht. „Wenn Sie erlauben, bin ich schon so frei!“

„Also, auf Wiedersehen!“

Ettingen wandte sich zu Lo’. Inmitten der vielen Leute, die um sie herstanden, schieden die beiden mit einem Händedruck, mit einem stummen Blick.

Ein Jäger sollte den Grauen führen. Aber Lo’ überließ diese Sorge keinem anderen, sie nahm die Zügel selbst.

Während „Hansi“ den Knaben über das Almfeld hinuntertrug, umringt von den schwatzenden Treibern und Jägern, stand Ettingen mit den Armen über den Zaun gelehnt und blickte lächelnd dem kleinen Reiter und seiner Schwester nach.

Den beiden folgten noch zwei andere Augen – aus Mazeggers Hütte – mit einem Blick, in dem die Eifersucht mit drohendem Feuer brannte.

Wo der Pfad vom Almfeld einbog in den Wald, bat Lo’ die Männer, vorauszugehen, damit der Graue in ruhigen Schritt käme. Sie verhielt das Tier eine Weile und blickte mit leuchtenden Augen zum Fürstenhaus hinauf. Da hörte sie den Bruder flüstern: „Du, Lo’? Weißt du, warum er so lieb war zu mir?“

„Weil er gut ist!“

„Ja, schon … aber noch wegen was! Weißt du warum?“

Sie sah zu ihm auf.

„Weil er dich lieb hat!“

Wie eine Flamme schlug es über ihre Wangen, doch heftig schüttelte sie den Kopf.

„Aber ja!“ behauptete Gustl in heißem Eifer. „Hast du denn das nicht gemerkt?“

„Nein, nein, nein …“ stammelte sie erschrocken und zog den Grauen in den Wald.

„Nicht? Das hast du nicht gemerkt? Hör’, Lo’, dann bist du aber auch eine von denen, die sehen können und doch blind sind! Ja! … Sieh nur, Lo’, er schaut dir noch immer nach!“

Längst schon waren sie im dunklen Schatten des Waldes verschwunden – und immer noch stand Ettingen über den Zaun gelehnt. Eine Weile hörte er noch die Stimmen der Männer aus dem Thal herauf. Dann verstummten auch die. Nur der Wildbach rauschte dort unten, sanft und heimlich, durch den Wald gedämpft. Helle, stille Sonne über dem Almfeld, über den Hüttendächern und allen Bäumen. Ein paar silberne Fäden flogen, und schwärmende Insekten huschten gleich winzigen Funken durch die blaue Luft.

Plötzlich ging ein Dröhnen durch das stille Thal hin, wie von einem mächtigen Donnerschlag mit rollendem Echo.

Erstaunt sah Ettingen zum wolkenlosen, sonnigen Himmel auf und über das leuchtende Thal hinaus. Da gewahrte er, daß über dem Wildbach drüben, am Fuß der steilen Hochwand, brauner Staub in dichten Wolken aufwirbelte. Ein Stück der Felswand hatte sich gelöst und hatte eine Zunge des sonnigen Waldes unter Schutt begraben.

„Wie das so kommen kann? Die Zerstörung … so mitten in der Stille, in friedlicher Sonne?“ Mit ernstem Sinnen nickte er vor sich hin, während da drüben der Staub verdampfte. „Das Schweigen im Walde! … Ja! So redet dieses Bild! Sie hat recht gesehen!“

Die Küchenmagd, der Lakai und die Köchin kamen aus dem Haus gerannt, um zu sehen, was es gegeben hätte.

Aber drunten bei der Sennhütte und bei dem Jägerhäuschen, da rührte sich niemand, da trieb die Neugier oder die Sorge keinen vor die Thür – die waren es gewöhnt, daß das so kommt, so plötzlich. Drum hörten sie es kaum.

Kluibenschädl, der sich auf die Matratze gestreckt hatte, um den Wein zu verschlafen, fragte gähnend: „So? Hat’s schon wieder ’kracht?“

„’s wird halt wieder ein Trümml abig’rissen haben!“ meinte Pepperl in seinem Trauerwinkel und fügte mit philosophischem Seufzer bei: „No ja … auf d’ Letzt’ muß alles ’runter!“




15.

Praxmaler machte sich, als der Abend kam, zu einem Birschgang fertig. Dabei erwachte der Förster, gut ausgeschlafen, und er selbst hatte das Gefühl, daß seine zufriedene Laune recht auffällig abstach gegen die trübe Kummermiene des Jägers. Wer frohen Herzens ist, möchte auch gern die anderen vergnügt und munter sehen, deshalb sagte er: „Machst noch allweil ein G’sicht wie die Katz’, wenn’s dunnert? Geh, Pepperl, sei doch g’scheid und thu dich wegen die drei Hirschen net gar so abikränken! Es is ja schön, wenn sich ein Jager über ’s Jagdpech von sei’m Herrn betrübt. Aber Maß und Ziel muß der Mensch in allem halten! Sei g’scheid, Pepperl! Der Herr Fürst schießt schon wieder ein’ guten Hirsch!“

„Ja, wollen wir’s hoffen,“ seufzte Pepperl und trollte sich zur Thür hinaus. Mit abgewandtem Gesicht, die Augen steif ins Blau des Himmels bohrend, ging er an der Sennhütte vorüber.

Drinnen in der Almstube nahm Burgi gerade Abschied von ihrem Vater. Sie hatte die Kleider des Alten leidlich wieder in stand gesetzt, in dem mürben Zeug alle Löcher geflickt und gab nun dem Vater ein „Binkerl“ guter Lehren mit auf den Weg, wie die Mutter einem Kind, das zum erstenmal wallfahrten geht.

„Sei mir z’frieden, Vaterl! Dein Essen und alles hast ja, schau! Und thu mir d’ Fremdenleut’ net anbetteln auf der Straß’ … da hat ja kein Mensch mehr ein’ Rischpeckt vor deiner! Und schenkt dir wer ein’ Kreuzer aus Gutigkeit, den muß man doch net stantipeh in d’ Wirtsstuben einitragen! Schau, halt’ dir die paar Nedscherln lieber z’samm’ aufs G’wand! Ja? Thust mir’s versprechen, Vater?“

„Ja, ja, ja … versprich, ja, versprich schon ... ja, ja, ja!“

Der Alte schnaufte, als er die Predigt überstanden hatte und sich endlich trollen konnte. Doch während er über das Almfeld hinunterwackelte, schielte er zu den Fenstern des Jagdhauses hinauf und murmelte kauend vor sich hin: „Mit ’n, ja, mit ’n Herrn Fürsten … so ein Nobliger, der … dem hätt’ ich, ja, hätt’ ich gern was verexpliziert … dem!“

Burgi blieb auf der Schwelle stehen, bis sie den Vater im Wald verschwinden sah. Dann kehrte sie müden Schrittes in die Stube zurück und machte sich an die Arbeit, still und verdrossen. Es schien ihr wie ein Stein auf der Brust zu liegen, so mühsam atmete sie manchmal – und immer wieder drückte sie den Arm über die Augen.

Als es Abend wurde und die Kühe gemolken waren, mußte Burgi von der frischen Milch eine Kanne voll hinauftragen in die Küche des Fürstenhauses. Droben war sie kaum um die Ecke verschwunden, als Martin mit dem Förster kam, den er zum Abendtisch gerufen hatte. Kluibenschädl trat ins Haus, Martin aber blieb vor der Thüre stehen und lauschte gegen den Hof. Sein Blick huschte über alle Fenster, und schmunzelnd schlich er auf den Zehen an der Mauer hin.

Da kam die Sennerin mit der leeren Kanne zurück.

„Mein schönes Kind …“

Das war so leis geflüstert, daß sie es fast überhörte. Aber da hatte er sie schon um die Hüfte genommen und wollte sie küssen. Erschrocken gab sie ihm einen Stoß vor die Brust, und dann kam noch was anderes nach – das klatschte, daß es an der Mauer ein Echo gab, wie von einem Peitschenknall.

Sie lassen mich in Ruh’! Gelten S’! Und wenn S’ Jagdverwalter werden, können S’ Ihnere Küh’ selber melchen! Sie!“

Ruhig wischte sich Burgi am Rock die Hand ab und ging ihrer Wege. – Martin kühlte sich in seiner Stube das Gesicht mit kaltem Wasser; aber die Wange brannte ihm noch feuerrot, als er droben bei der Tafel die Bouillon servierte.

„Martin?“ fragte der Fürst. „Was hast du im Gesicht?“

„Ich … es scheint, Durchlaucht, daß ich mir eine Verkühlung zuzog. Ich habe Zahnweh.“

„Sie, gegen Zähntweh weiß ich ein Mittel, das hilft! Und sicher!“ fiel der Förster ein. „Da machen S’ aus Baumwoll ein Kügerl, das spießen S’ an ein’ Hölzl auf und nachher zünden Sie ’s an. Wenn’s halb verbrennt is, löschen Sie ’s aus, und den Rauchen, der aufgeht, den schnupfen S’ ins rechte Nasenloch auffi … weil Ihnen der Zahn auf der linken Seit’ wehthut, wissen S’! Ja, das hilft!“

Ettingen lachte. „Versuchen kannst du es ja! Aber ich meine, es wird besser sein, du gehst an die Hausapotheke und legst dir etwas Chloroform auf den kranken Zahn.“ –

Ob Martin nun das eine oder das andere Mittel versuchte – geholfen hat keines. Denn bis spät in die Nacht ging er noch immer mit der geschwollenen Backe herum. –

Funkelnd standen am tiefblauen Himmel schon die Sterne, als Pepperl nach Hause kam. Die Glieder waren ihm wie zerschlagen, und ohne ans Nachtmahl zu denken, streckte er sich auf die Matratze nieder, auf welcher Kluibenschädl in seinem sorglosen Bärenschlummer schon fleißig die Säge zog. Rücken an Rücken lagen die beiden – und schlaflos seufzte der Jäger nach links herum in die finstere Stube, während der Förster nach rechts herum gegen die Holzwand schnarchte, daß die Bretter tönten wie ein Geigenboden, wenn die tiefste Saite gestrichen wird.

Am anderen Morgen brachen sie zusammen auf, um bei den Steigarbeiten Nachschau zu halten. As sie gegen Mittag heimkehrten, hörte der Förster von Martin, daß die Durchlaucht ganz allein einen Ausflug zum Sebenwald unternommen hätte und vor Abend nicht heimkommen würde. Zu dieser Nachricht schüttelte der Förster verwundert den Kopf. „Ja, sagen S’ mir nur … auf was will er denn da birschen? Jetzt in der Sonn’? Er wird doch net denken, daß ihm einer von die drei Hirschen ums Mittagläuten übern Weg lauft?“ Sein Staunen wuchs aber noch, als er horte, daß der Fürst die Büchse gar nicht mitgenommen hätte. „Ja was thut er denn nachher draußen?“

Martin lächelte. „Träumen … denk ich mir!“ Aber das Lächeln gelang ihm nicht so leicht – seine Wange war noch immer ein wenig gespannt, vom Zahnweh.

Träumen? Dazu hätte man doch Zeit genug in der Nacht, meinte der Förster, und einen schönen Traum könnte man doch leichter auf dem „Kanapee“ finden als bei einem dreistündigen Marsche bis nach Seben hinaus.

Um sich den schönen Hunger, den er heimgebracht hatte, für den guten Abendtisch im Fürstenhaus zu sparen, ging er in die Sennhütte hinunter und ließ sich, nur für den Durst, eine Schüssel Milch reichen. Er that ein paar lange Züge, wobei er an Burgi die Mahnung richtete: „Jetzt könntst aber schon endlich einmal ein anders G’sicht auch wieder dahermachen! Oder hast leicht so ein mitleidigs Herzl? Thut’s dich kränken, daß der Herr Kammerdiener Zähntweh hat? Da plauscht er halt net gern? Oder?“

Burgi runzelte die Stirn und machte finstere Augen. „Was hat er?“

„Zähntweh.“

„’leicht auf der linken Seit’?“

„Ja, ich glaub!“

„So? … No ja, das is ihm g’sund! So ein Zähntweh, das treibt die ung’sunden Hitzen aus!“ Und mit trockenem Lachen trat sie in die Kammer, während der Förster die Büchse nahm und davonwanderte.

Schwüle Mittagsstille lag über dem Almfeld. Kein Laut – nur das Gemurmel der Brunnen; keine Bewegung – nur über den Dächern das blaue Gekräusel des Rauches.

Auch Pepperl hatte in seinem Herd schon Feuer gemacht, hatte aber dann aufs Kochen vergessen. Mit aufgezogenen Knien saß er neben dem Schürloch auf den Dielen. Und so „sinnierte“ er eine Stunde lang vor sich hin. Da hörte er Peitschenknall, das Rollen eines Wagens und Pferdegewieher.

Mißmutig erhob er sich und trat unter die Thüre.

Eine vierspännige Equipage fuhr an ihm vorüber, und im Wagen saß eine junge Dame – „Herrgott, das muß was Fürnehms sein!“ dachte sich Pepperl, denn sie hatte auf dem Hut einen Vogel, wie er seiner Lebtag’ noch keinen gesehen hatte – einen Vogel, der in allen Farben schillerte. Neben der Dame saß ein Herr mit einem Jägerhut, wie Pepperl auch noch keinen gesehen hatte – es war ein Spitzhut mit handbreitem, grasgrünem Seidenband und mit einem wahren Ungetüm von Gemsbart. Aber dieser Gemsbart war echt, ohne Zweifel – darauf verstand sich Pepperl … „ja, der hat seine hundert Gulden ’kost’t, ehnder noch mehr!“

Jetzt kam ein Zweispänner. Drin saß ein Diener in Jägerlivree, deren reiche Verschnürung in Pepperl die Vermutung weckte: „Das muß der Oberlandesschützenmeister von Tirol sein!“ An der Seite dieses hohen Würdenträgers saß ein zierliches, bildhübsches Persönchen mit verschmitztem Gesicht und koketten Feueraugen – der Mustertypus einer französischen Kammerjungfer aus einem Hause von Welt. Beim Anblick des Jägers mit seiner offenen Brust und seinen nackten Knien geriet das kleine Dämchen in einen Aufruhr von Entzücken, kniff ihren Reisegefährten in den Arm und zwitscherte in perlendem Französisch: Ah, Jean! Sehen Sie nur, das muß einer von den Jägern des Fürsten sein! Ah! Un superbe colosse! Ah! Ah! Nicht wahr, das ist ein wirklicher Tiroler! Ein echter! Welch ein famoser Typus der Rasse! Und wie hübsch! Die richtige Staffage für diese Landschaft! Wie reizend das alles ist, wie drollig! Ah! Ah! C’est drôle, tout ça!“ Sie guckte nach allen Seiten, klatschte wie ein Kind in die Hände, blitzte mit ihren Schwarzaugen wieder den Jäger an und versetzte ihrem Reisegefährten unter hellem Gekicher einen scherzenden Puff. „Ah! Ah! Wie mir das alles gefällt! Das ist Land! Das richtige Land! Jean! Das soll lustig werden … ich freue mich närrisch!“ Und während der Wagen am Försterhäuschen vorüberfuhr, grüßte sie den Jäger lachend mit dem Handschuh. „Bon jour, monsieur! Bon jour!“ Pepperl riß die Augen auf und wurde rot. Französisch hatte er freilich in der Leutascher Dorfschule nicht gelernt, nicht einmal ordentlich Deutsch – aber so viel hatte er doch verstanden, um zu wissen, was von dieser „Ausländischen“ zu denken war.

„Das is aber eine! Teufi, Teufi, Teufi! Die geht scharf ins Zeug!“ Mit dieser Erkenntnis war die Sache für ihn erledigt. Er sah noch den dritten, mit großen Koffern beladenen Wagen an sich vorüberfahren, dann kehrte er seufzend in die Stube zurück, um wieder Feuer zu machen und die Pfanne auf den Herd zu stellen. Aber er brachte es mit seiner Kocherei nicht weit, denn die Wagen kamen vom Jagdhaus zurück, die Kutscher fragten nach der Stallung, und Pepperl mußte sie führen, mußte ihnen helfen, die Pferde ausspannen und Wasser vom Brunnen holen. Während er wortkarg das Geschwätz der Kutscher anhörte, kam Mazegger über die Lichtung herauf, mit raschem Gang alle Windungen des Weges abkürzend. Vor der Remise blieb er stehen, erregt, und musterte die Wagen.

Pepperl, der gerade mit dem Eimer zum Brunnen wollte, sah ihn an und fragte: „Toni! Was hast denn? Bist denn krank? Du schaust ja aus wie ein G’spenst!“

„So? … Ja, ein bißl ungut ist mir!“ Mazegger atmete schwer. „Und … und die Wagen da? Sind die Damen, die ich gesehen hab’, zum Fürsten gekommen?“

„Natürlich, zu wem denn sonst?“

„Und die schöne Frau, die im Vierspänner war … wer ist denn die?“

„Was weiß denn ich?“ brummte Pepperl und wanderte zum Brunnen. „Wenn dich d’ Neugier plagt, geh ’nauf und frag’!“

Mazegger stand noch eine Weile und lauschte auf das Gespräch, das die Kutscher im Stall miteinander führten. Sie sprachen von einer „lustigen Französin“, von einem „Kasperl mit Haxen“ und von einer „Frau Baronin“, über die der Postillon des Vierspänners das Urteil fällte: „Ein säuberers Frauenzimmer hab’ ich meiner Lebtag’ noch net g’sehen … und ich hab’ schon viel noble Leut’ in mei’m Wagen g’habt! Was die für Augen hat! Kruzitürken! Und … du! Die is dir barfamiert ... da mußt einmal ’nausgehn und hinschmecken an’ Wagen … was das für ein nobligs Düftl is! Den ganzen Weg her hab’ ich allweil g’meint, ich fahr’ durch ein’ Apotheken durch!“

„Aber hörst,“ meinte der andere Kutscher, „daß so ein bildschönes Frauenzimmer kein’ andern Mann net g’funden hat als wie den narrischen Gischpel mit sein’ unsinnigen Gamsbart!“

„Der is ja gar net der ihrig’! Hat ja allweil g’sagt zu ihr: Baronin! Und g’redt haben s’ miteinander … ah na! So reden d’ Eh’leut’ net! Weißt, Eh’leut’ hab’ ich auch schon viel g’fahren … die reden anders.“

Mazegger lächelte und spähte mit funkelnden Augen durch den Wald gegen das Fürstenhaus hinauf. Wortlos ging er an Praxmaler vorüber, der mit dem triefenden Eimer vom Brunnen kam, und immer rascher wurde sein Schritt. Als er in die Stube seiner Hütte trat, warf er die Büchse und den Hut auf das Bett, verriegelte die Thür und riß mit zitternden Händen das kleine Fenster auf. In der dunklen Stubenecke setzte er sich rittlings auf einen Sessel und legte neben sich das Fernrohr auf den Herd. Durch das offene Fenster konnte er das Fürstenhaus und den ganzen Weg überblicken, der von droben herunterführte zum Fremdenhaus.

Er sah, wie Martin in erregter Eile gelaufen kam und mit Praxmaler und einem Kutscher zurückkehrte. Die beiden mußten drei große rotlederne Koffer, die droben im Hof standen, ins Fremdenhaus hinuntertragen. Martin, der ins Jagdhaus getreten war, erschien nach einer Weile mit jenem Herrn, dem der „unsinnige Gamsbart“ wie ein Generalsbusch auf dem Spitzhut schwankte. Um die Schultern hatte er einen leichten Staubmantel hängen, offen, so daß man den eleganten, grün- und rehbraunkarrierten Jagdanzug sehen konnte, dessen Kniehosen sich mit handbreiten Hirschlederborten um die moosgrünen Strümpfe schlossen. In der Hand trug er ein Lederetui, das sich ansah wie eine plattgedrückte Pfanne. Er war von mittelgroßer Gestalt, rund genährt und dennoch von unruhiger Beweglichkeit, mit eigentümlich wiegendem Gang, bei dem er manchmal ein Bein schlenkerte, als läge ihm noch prickelnd die Ermüdung der langen Wagenfahrt in den Knien.

Mazegger richtete das Fernrohr und sah durch das Glas ein nicht mehr junges, aber rosiges, vergnügt zufriedenes Gesicht mit großen wasserblauen Augen. Das aschblonde Haar war wellig in die Schläfen gekämmt, eine dicke Locke stahl sich an der Stirne etwas absichtlich unter dem Hutrand hervor, und auf den vollen roten Lippen saß ein kunstvoll dressiertes Schnurrbärtchen, das sich schlang und kräuselte wie eine zierliche Arabeske.

Die beiden standen eine Weile im Hof, Martin schien die Gegend zu erklären, und über alles, was er sagte, mußte der Fremde ein ganz besonderes Vergnügen empfinden, denn deutlich konnte Mazegger sein Lachen hören. Es war ein merkwürdiges Lachen, hoch und kichernd, wie das Hämmern eines Spechtes.

Nun kamen sie über den Weg herunter.

„Ah ja, die Gegend, ja, die ist wirklich großoatig! So was von Berg’! Was? Und schaugn S’ den Wald an, Moatin … so was von Grrrünitätt! Hehehehe!“ sagte der Fremde zwischen Lachen und Getänzel in einer Sprache, die an den Jargon der Wiener Fiaker anklang und manchmal auch an den Ton der Börse erinnerte. „Aber Aufenthalt und Verpflegsqualitätt? Schlechte Censur? Was? Ainigermaaasen prrrimitifff, scheint mir? Nuuuhr für Natuuuhr … fescher Walzer mit Variationen in Moll für Gaisthaler Jagdhausgebrauch. Nna, die Jagd, hoff’ ich, rrreißt alles heraus! Prima? Was?“

„Ja, Herr von Sensburg, die Jagd soll ganz vorzüglich sein. Durchlaucht haben zwar die Birsche noch wenig frequentiert, aber es ist Durchlaucht doch gelungen, gleich auf dem ersten Birschgang einen schönen Hirsch ...“

Guten Hirsch!“

„… einen guten Hirsch und bei der nächsten Birsche zwei kapitale Gemsböcke zur Strecke zu bringen.“

„Aber! Moatin! Sie sind ja ein schröcklicher Keal! Gamsböck haaßt’s! Schenieren Sie sich! Ainigermaasen mangelhafte Weidmannsbüldung? Was? Hehehehe!“

„Verzeihen Sie, Herr von Sensburg, aber … ich bitte, wollen Sie mir nicht das Racket zu tragen geben?“

„Sssss! Zucker! Nicht anrühren! So was will getragen sein! Hehehehe! Nna alsdann … zwaa Gamsböck’? A la bonheur! Da sind ja die Aussichten großoatig! Sie, Moatin, da mach’ ich gleich muagen in der Früh die easte Biasch! Aber einen feschen Jaager bitt’ ich mir aus. Bei mir wird scharf gestiegen! Schoarrfff! Und bis ich am Abend den Gams hambring’ … Sie, Moatin, da bitt’ ich mir aus, daß ein bißl aufg’mischt wird in diesem sterilen k. k. Landeswinkel! Hehehehe! Wissen S’, was ich haben möcht’ … so eine zwanglose fête champêtre! Stilvoll mit Erdgeruch! Jaager, Holzknecht’, Sennerinnen, stramm g’waxene Diandln, Ziederng’spüll und Natuajodler … kuaz, was man sagt: eine Hetz’! Aber ächt, das bitt’

[289] ich mir aus! Aecht! Kan’ Salontiroler! Den Wein zahl’ ich! Wenn’s nur eine Hetz’ wird! Die Baronin soll sich amüsieren! Hehehehe! Und ich hab’ eine volkstümliche Ader, ich mische mich gean unter die haiteren Oellemente derer, die dort unten wohnen! … Aber Sie, Moatin, sagen S’ mir … ich hab’ schon immer da beim Herauffahren diese bucklige Gegend beaugenwinkelt … wo wird sich denn da für ein civilisiertes Menschenkind ein nur ainigermaßen brauchbarer lawn fürs Tennis finden?“

„Ich glaube, dort unten auf der Lichtung, Herr von Sensburg, da ist eine ziemlich ebene Stelle …“

„Anschauen!“

Die beiden Stimmen verhallten hinter der Jägerhütte.

Mazegger legte das Fernrohr auf den Herd, und ein verächtliches Lächeln glitt über seine schmalen Lippen. Eine Weile saß er regungslos und starrte zum Jagdhaus hinauf. Dann lehnte er sich müd atmend an die Wand zurück und preßte die Handballen in die Augenhöhlen – wie einer, der seit Nächten keinen Schlaf gefunden und den die Augen schmerzen.

Eine Stunde verging. Martin, die Kutscher, der grün verschnürte Leibjäger und Praxmaler – das eilte nur immer so hin und her zwischen der Fürstenvilla und dem Fremdenhaus. Droben in der Hausthür erschien ein paarmal die kleine Französin, guckte neugierig nach den Jägerhütten oder schwatzte eine Minute mit den beiden Dienern.

Eben standen die Drei wieder beisammen, als der Förster über das Almfeld heraufgestiegen kam. Er gewahrte die fremden Leute, schlug ein flinkeres Tempo an und trat an das offene Fenster der Jägerhütte. „He! Toni!“

Mazegger, der den Schritt des Försters gehört hatte, stand am Tisch und polierte mit einem Lappen den Lauf seiner Büchse.

„Was is denn, Toni? Was sind denn das für Leut’ da droben? Is ’leicht wer ’kommen? Ein B’such zum Herrn Fürsten?“

„Ja, mir scheint.“

„Wer denn?“

„Ein Herr, Sensburg heißt er. Und eine Baronin …“ Mazegger wandte langsam das Gesicht und lächelte.

Der Förster blickte zum Jagdhaus hinauf, kraute sich hinter den Ohren und stotterte vor sich hin: „So is’ schön! Jetzt is d’ Ueberraschung da … und der Herr Fürst is net daheim!“

Er ging zu seiner Hütte und traf mit Pepperl zusammen, der vom Stall heraufkam, in gereizter Stimmung.

„Grüß Gott, Herr Förstner! Und gut, daß S’ da sind! Ich bitt’ Ihnen, schauen S’ ’nunter in’ Stall … die Kutscher streiten und spettakalieren, daß ’s nimmer schön is! Ein G’schäftl ums ander’ hätten s’ für mich …“ Pepperl trat in die Hütte und griff nach der Büchse, „und ich bin doch kein Wasserer für d’ Ross’! Ich bin ein fürstlicher Jager … und überhaupts, jetzt muß ich ’naus auf d’ Abendbirsch’!“

„No, no, no! Ja, Pepperl! Was hast denn?“

„Nix … als schwarze Mucken im Schädel, die muß ich ausfliegen lassen draußten. Mich leidt’s net daheim! B’hüt’ Ihnen Gott!“

Kopfschüttelnd sah ihm der Förster nach, dann ging er zum Stall hinunter. Noch hatte er den Platz nicht erreicht, wo die Wagen standen, als er auf dem Weg, der von der Ache über die Lichtung heraufführte, zwei Reiter auf abgehetzten Pferden kommen sah.

Den einen der beiden Reiter, den kannte Kluibenschädl auf den ersten Blick, das war Graf Goni Sternfeldt. Den Hut schwingend, in Heller Freude, lief ihm der Förster entgegen.

„Herr Graf! Herr Graf! Ja, grüß Ihnen Gott, Herr Graf! Ja, wie kommen denn Sie daher?“

Sternfeldt winkte mit der Reitpeitsche und versetzte dem Pferd einen Hieb. Aber das Tier war ausgepumpt und konnte nicht mehr – es machte nur ein paar kurze Galoppsprünge und fiel wieder in müden Schritt. Doch der Reiter saß fest und ohne Spur von Ermüdung im Sattel, trotz des schweren siebenstündigen Rittes und trotz seiner fünfzig Jahre. Er trug einen flachen Strohhut, einen lichtbraunen Sommeranzug von modischem Schnitt und Lackschuhe, alles grau verstaubt – ein Anzug, der eher für einen behaglichen Bummel auf dem Trottoir der Großstadt passen mochte als für einen Ritt, welcher dem Pferde den weißen Schaum aus Hals und Flanken getrieben hatte.

Der agilen und kräftigen Gestalt nach hätte man den Grafen für einen Dreißiger nehmen können. Aber Haar und Bart – ein glattgeschnittener Spitzbart, der das schmale Gesicht verlängerte – waren schon völlig ergraut, beinahe weiß. Die klugen grauen Augen waren von wulstigen Brauen überschattet – [290] das einzig Derbe in diesem vornehm gezeichneten Rassegesicht. Die Anstrengung des Rittes hatte das Gesicht gerötet, doch all die ernste Erregung, die aus seinen Zügen sprach, konnte die sarkastischen Linien nicht verwischen, welche tief um den feingeschnittenen Spöttermund und um die Augenwinkel gezogen waren.

Ehe das Pferd noch anhielt, sprang er aus dem Sattel und warf die Zügel dem Reitknecht zu, der ihm folgte.

„Grüß Sie Gott, lieber Förster!“

„Grüß Gott, Herr Graf!“

Kluibenschädl quetschte die Hand, die ihm Sternfeldt gereicht hatte. „Grüß Gott gleich tausendmal! Weil S’ nur wieder da sind, Herr Graf! Und die Freud’, die der Herr Fürst haben wird! Und Sie … wann S’ sehen, wie er ausschaut! Ein’ Zwölfender hat er auch schon! Und zwei sakrische Gamsböck!“

Aber dieser weidmännische Erfolg schien den Grafen nicht sonderlich zu interessieren, denn er fragte hastig und erregt: „Der Fürst hat heute Besuch bekommen? Natürlich, da stehen ja die Wagen. Aber sagen Sie mir …“ Sternfeldt zog den Förster aus der Hörweite des Reitknechtes. „Wie hat der Fürst diesen Besuch empfangen?“

„Der Herr Fürst? Der weiß ja noch gar nix von der Ueberraschung, die heut’ eintroffen is! Der is ja seit in der Fruh net daheim!“

„Nicht daheim? Und daß sie heute kommt – das wußte er gar nicht?“

„Net mit ein’ Wörtl! Na!“

„Gott sei Dank! Und wo ist er?“

„Draußen im Sebenwald. Aber jeden Augenblick kann er heimkommen … weil er hinterlassen hat, daß er z’ruck sein will bis zum Dineh.“

„Kommen Sie! Wir gehen ihm entgegen. Ich muß ihn sprechen, bevor er nach Hause kommt. Welchen Weg müssen wir nehmen?“

„Da über d’ Lichtung ’naus, durch’n Tillfußer Wald.“

„Und er hat keinen anderen Heimweg? Wir müssen ihn treffen? Sicher?“

„Aber g’wiß! Vom Sebenwald ’rein, da giebt’s kein’ andern Weg.“

„So kommen Sie!“ Der Graf wandte sich an den Reitknecht. „Führen Sie die Pferde in den Stall! Und hier …“ Er reichte ihm eine Banknote, „das gehört Ihnen, für die halbe Stunde, die wir gewonnen haben. Aber jetzt sorgen Sie für die Tiere so gut wie möglich … Sie sollen frottiert werden, bis sie völlig trocken sind, und sollen kein Futter und keinen Trunk bekommen, bevor sie nicht ruhige Lungen haben! – Kommen Sie, Herr Förster!“

Während Graf Sternfeldt über die Lichtung hinausschritt gegen den Wald, klopfte er sich mit der Reitpeitsche den Staub von den Beinkleidern.

Kluibenschädl folgte ihm, und seinem Gesicht mit den studierenden Augen war es anzusehen, daß er sich dachte: „Sakra! Da muß was los sein! Mir scheint, die G’schicht’ mit der Ueberraschung … die stimmt net ganz!“

[306]
16.

In lautloser Stille lag der Tillfußer Wald. Schon zog der laue Abendwind von den Bergen abwärts durch das Thal, aber so lind und leise, daß er die Zweige der Bäume nicht bewegte. Nur die schlanken Gräser, die am Saum des Pfades wuchsen, rührten sich ein wenig. Der ganze Waldgrund lag schon in tiefem Schatten, doch die Wipfel waren noch vom Glanz der Sonne umglüht, welche sinken wollte, und wie goldfunkelnde Riesenmauern, von purpurnen Schattenlinien durchzogen, sahen durch die Lücken des Waldes die grellbeleuchteten Berge nieder.

Auf einem Baum, den der Sturm geworfen hatte, saßen Graf Sternfeldt und der Förster. Nicht weit von ihnen zweigte sich der Pfad – der eine Weg führte zur Jagdhütte im Sebenwald, der andere zur Sebenalpe und zum See. Diesen letzteren Pfad konnte man, da er durch schütteren Wald in gerader Linie hügelan stieg, auf eine weite Strecke übersehen.

Je länger die beiden warten mußten, desto ungeduldiger wurde Sternfeldt.

„Endlich! Da kommt er!“ Der Graf erhob sich. „Bleiben Sie nur, Herr Förster … ich geh’ ihm entgegen!“

In Gedanken versunken und behaglich schlendernden Ganges kam Ettingen über den Pfad heruntergeschritten. Er trug den leichten Bergstock quer über den Rücken und hatte die Arme darübergelegt. Träumend und lächelnd blickte er vor sich nieder. Sein Hut war rings um die Krempe mit Blüten besteckt – es waren Edelrosen vom Sebensee.

„Heinz!“

Ettingen blickte auf, verwundert, als könnte er dem Klang dieser Stimme nicht glauben. Aber da leuchtete ihm die Freude aus den Augen. „Goni! Du?“ Ettingen stieß den Bergstock in die Erde und streckte dem Freunde die beiden Hände entgegen. „Du? Du? Wahrhaftig? Du? Ja sag’ mir nur … Nein, Goni, die Freude, die ich habe! Sagen kann ich dir das nicht … aber sieh mich an, und du mußt es fühlen!“

„Ja, Heinz!“ Tiefe Bewegung klang aus der Stimme des Grafen. „So deutlich wie in diesem Augenblick hab’ ich es noch nie empfunden, daß du mir gut bist!“

„Aber Goni! Hast du denn je daran gezweifelt?“

„Nein. Aber wer Gold besitzt, will auch gerne wissen, wie viel es ist, und freut sich der Stunde, die ihn zählen läßt. Und solch eine Zählstunde für deine Freundschaft … das war dieser Blick jetzt in deine Augen! Aber weißt du … dich jetzt so ansehen dürfen, das hat noch eine andere Freude für mich. Heinz! Heinz! Was ist aus dir geworden, seit ich dich nicht mehr gesehen habe!“

„Ein gesunder, froher Mensch! Ja, Goni, das hab’ ich dem Wald zu danken – und seinem schönen Schweigen! Und dir! Denn du warst es, der diesen herrlichen Fleck Erde für mich aussuchte … und du weißt ja gar nicht, was du da alles für mich gefunden hast! Ich danke dir, Goni! Ich danke dir! Aber …“ Ettingen lachte und schüttelte dem Freund die Hände. „So sprich doch endlich auch wieder ein Wort! Sieh mich nicht immer nur an! Ich will dich nicht nur sehen, ich will dich auch hören! … Aber Goni! Was machst du denn da für Augen?“ Lachend beugte er das Gesicht bis nah’ vor die Augen des Freundes. „Ich bin es schon! Wirklich! Ja, ja, ja!“

„Höre, Heinz! Wahrhaftig, jetzt hätt’ ich dich beinah’ gefragt: Bist du es? Denn daß du so gesund vor mir stehst, so sonnverbrannt, so lachend … das allein ist es nicht! Noch etwas anderes! An dir ist was Neues, weißt du! Und wär’ ich dir so in der Stadt begegnet, ohne zu ahnen, daß du da bist … ich glaube, ich hätte dich auf den ersten Blick gar nicht erkannt. Wie ein ganz anderer stehst du vor mir! Und wie mir dieser neue Heinz gefällt! Aus deinen Augen redet eine Lebenskraft, ein Wille zur Freude … Nein, jetzt hab’ ich keine Sorge mehr um dich! Jetzt kann ich es dir sagen, warum ich kam … heute! Ich bringe dir eine Nachricht, Heinz! Denk’ dir … sie ist da!“

„Wer?“

„Aber Heinz! Errätst du denn nicht?“

„Nein! Wer ist da?“

„Das ist eine Frage, die ich fast nicht begreife. Aber du hättest mir kein Wort sagen können, das ich lieber gehört hätte, als dieses ahnungslose: ‚Wer?‘ … Die Pranckha ist da. Draußen im Jagdhaus.“

Der Fürst erblaßte. So standen sie eine Weile schweigend voreinander. Dann stammelte Ettingen: „Sie? Bei mir? … Das ist stark!“

Sternfeldt lachte trocken. „Das weißt du doch aus Erfahrung: in Dingen, die stark sind, ist sie groß!“

„Und … sie kam allein?“

„Gott bewahre! Wenn ihr auch wenig daran liegt, dich zu kompromittieren – das dürfte sogar in ihrer Rechnung eine sehr notwendige Ziffer sein … aber für sich selbst muß sie den Schein wahren, um so mehr, da sie … wie ich fürchte … ‚ehrbare‘ Absichten hat.“

„Sie ist mit dir gekommen?“

„Aber, Heinz! Das ist eine Frage, die mich wirklich verdrießen könnte!“

„Ich bitte dich, Goni, sei mir nicht böse … aber ich weiß in meiner Empörung wahrhaftig nicht mehr, was ich rede.“

„Empörung? Wirklich? Was dich blaß macht und dir das Blut wieder ins Gesicht treibt … das ist nur Empörung?“

„Was sonst? … Aber ja, Goni, ich will ehrlich sein, es ist noch etwas anderes,“ sagte Ettingen mit bebender Stimme. „Was ich jetzt empfinde … es ist wie Schmerz! All dieses Vergangene, dieses Häßliche … vor einer Stunde noch war es so ganz vergessen, für mich so versunken, als wär’ es nie gewesen … und nun steht es plötzlich da vor mir! Ich hab’ ein Gefühl, als hätte man mir ein Stück Sonne ausgelöscht, das mich wärmte … als hätte man eine Blume zertreten, deren Anblick mir Freude war! Ich hatte das Gefühl wie nach einem Bad, als wär’ ich reingewaschen an Leib und Seele! Und jetzt! … Mir ekelt!“

„Sag’ ihr das … und du bist sie los! Aber das mit der Sonne und der Blume … wie meinst du das?“

„Nein! Diese Nachricht hören … und im gleichen Augenblick alles andere sagen? Nein! Das kann ich nicht! … Aber wenn sie nicht allein kam? Mit wem kam sie?“

„Rate!“

„Eine ihrer zweifelhaften Freundinnen?“

„Du mußt tiefer greifen! Aber du kommst nicht drauf! Denk dir, wen sie mitbrachte … den kleinen süßen Mucki!“

„Den soll ich auch noch ertragen? Ich danke!“ Ettingen lachte in Zorn vor sich hin. „Die Geschichte fängt an, mich zu erheitern. Und daß der mit ihr ist … das macht mir die Sache leichter. Aber du? Daß du mit ihnen kamst?“

Mit ihnen? Nein! Nach ihnen! Aber gerade noch zur rechten Zeit, um dir die erste gefährliche Verblüffung zu ersparen. Gestern mittag brachte mir der biedere Mann, von dem ich in meiner ahnungsvollen Vorsicht ihre Villa überwachen ließ, die Nachricht: mit dem Frühzug sind sie abgereist, Salonwagen nach Innsbruck. Am Abend saß ich im Coupé, kam heute um 10 Uhr in Innsbruck an … drei Stunden früher waren sie vom ‚Hotel Europe‘ abgefahren … ich erinnerte mich an Shakespeare: ein Königreich für ein Pferd … und da bin ich! Und bin neugierig, was du thun wirst. … Nun?“

„… Ich bin ratlos, Goni!“

„Ich wüßte dir einen Rat! Aber ich weiß, du befolgst ihn nicht.“

„Ja, Goni! Ja! Ja! Jeden, den du mir giebst!“

„Machen wir die Probe! Dort steht der Förster. Laß dich von ihm nach Ehrwald führen, jetzt gleich … drunten nimm dir einen Wagen, fahre nach Garmisch, nach München … oder nach Imst, nach Trafoi, wohin du willst … oder bleibe in Ehrwald, bis ich dich wieder rufe. Was du brauchst, schick’ ich dir noch heute hinunter … durch einen Jäger, nicht durch Martin!“ Sternfeldt lachte. „So schmerzlich es für dich sein wird, aber von diesem Ehrenmann wirst du dich trennen müssen; denn er ist ihr Helfer gewesen …“

„Martin?“

„Ja! Er hat dich neulich auf die Jagd geschickt – und

während du fort warst, wurde meine Stube in ein Boudoir für die Pranckha verwandelt! … Also? Soll ich den Förster rufen? Und willst du noch ein Uebriges thun, so schreib’ mir auf eine Visitenkarte: ‚Mache mein Haus rein, Goni, und ich werde dir dankbar sein!‘ … Willst du?“

„Nein!“

„Siehst du, wie ich dich kenne!“

„Sie ist unter meinem Dach, sie ist mein Gast! Und was du mir auch sagen magst … eines wirst du nicht aus der Welt schaffen: ich habe diese Frau geliebt!“ erwiderte Ettingen in Erregung. „Und eine Roheit an ihr begehen, um sie abzuschütteln? Nein! Das kann ich nicht!“

„Roheit? Ich danke für das Kompliment. Aber ich bin nicht gekränkt. Ganz im Gegenteil … ich vermute sogar, daß du schon morgen für meinen Rat empfänglicher sein wirst. Du hast sie geliebt … ja! Und daß du von deiner Liebe geheilt bist, das glaub’ ich auch! Nur die Blindheit ist dir geblieben. Ich aber habe diese Person gehaßt … um deinetwillen! Und der Haß hat Augen. Ich kenne sie. Besser als du. Ohne Gewaltstreich, lieber Heinz, wirst du mit der nicht fertig! Sei vornehm, wohlerzogen und höflich … und in drei Tagen hat sie dich wieder eingefangen.“

„Da irrst du dich!“

„Beweis’ es mir, und ich leiste dir Abbitte. Aber jetzt komm! Nun weißt du, daß die beiden unter deinem Dach sind … und deiner vornehmen Seele muß es doch als eine Unhöflichkeit erscheinen: liebe Gäste so lange warten zu lassen. Komm!“ Lachend gab Sternfeldt dem Freunde einen leichten Schlag auf die Schulter und ging auf Kluibenschädl zu. „Na also, lieber Förster … fertig zum Heimweg! Unsere gute Durchlaucht hat über ernste Dinge reiflich nachzudenken … aber wir beide, wir plaudern? Ja? Was macht die Jagd? Und wo ist der Zwölfender gefallen?“

„Droben beim Sebensee, Herr Graf! Und wenn S’ das G’weih sehen … da passen S’ auf!“ –

Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie laute Stimmen im Wald vernahmen. Ueber den Weg, der zur bayrischen Grenze, zur Knorrhütte und zur Zugspitze führte, kam mit Lachen, Schwatzen und Singen eine lustige Touristengesellschaft herunter, vier junge Leute mit dick angepackten Rucksäcken, und zwei hübsche Mädchen, zu deren runden, vergnügten Grübchengesichtern die Maskerade des ländlichen Kostüms nicht übel paßte. Pfundweis trugen sie die Blumen auf Hüten und Bergstöcken. Ob das der richtige Weg nach der Tillfußer Alpe wäre, fragten sie den Förster.

Freilich; nur immer gradaus, und sie könnten nicht fehlen.

Und ob in der Sennhütte für sechs Leute Platz zum Uebernachten wäre?

„Natürlich! Auf’m Heuboden halt! ’s Heu is frisch … da liegen S’ gut!“

Diese Aufklärung wirkte auf die heitere Gesellschaft, als hätte man ihr ein köstliches Amüsement in Aussicht gestellt. Lachend und singend wanderten die jungen Leute davon, so eilig, als hätten sie was zu versäumen, und von ihren fröhlichen Stimmen wiederhallte der ganze Bergwald. Als sie die Lichtung erreichten und über den Baumwipfeln die Fahnen des Flaggenmastes wehen sahen, begrüßten sie das Ziel ihres Marsches mit Jauchzern und mit Jodelrufen, von denen der eine und andere freilich etwas zweifelhaft ausfiel. Aber das gab nur Anlaß zu neuer Heiterkeit. Lachend und schwatzend musterten sie die Wagen, guckten in den Stall und grüßten einen Kutscher: „Guten Abend, Herr Vetter!“ Als sie an Mazeggers Hütte vorüberkamen, blickte eines der Mädchen neugierig durch das offene Fenster in die Stube. Kichernd fuhr die Kleine zurück, winkte ihrer Freundin und flüsterte ihr zu: „Du, da mußt hineinschauen: da sitzt einer drin, der macht ein Gesicht wie der Hamlet nach dem Monolog: Sein oder Nichtsein!“ Natürlich, das mußte die andere auch sehen. Aber als sie mit ihren lachenden Augen in die Stube spähte, fuhr Mazegger mit groben Worten auf:

„Was wollen Sie denn? Machen Sie, daß Sie weiterkommen!“

Die Folge war, daß von den jungen Touristen einer nach dem anderen ans Fenster trat und sich höflich verbeugte: „Habe die Ehre!“ Und dann ging’s mit Gelächter hinunter zur Sennhütte.

Mazegger hatte im ersten Zorn das Fenster zugeschlagen. Doch als die lustigen Stimmen verklangen, öffnete er die Scheiben wieder und kehrte zu seinem Lauerposten neben dem Herd zurück.

Rittlings saß er auf dem Holzstuhl, mit den Ellbogen auf die Lehne gestützt, das Gesicht zwischen den Händen. Seine Augen schienen nichts anderes zu sehen als Thür und Fenster des Fürstenhauses. Da schoß ihm das Blut ins Gesicht, und hastig griff er nach dem Fernrohr.

In der Thür des Jagdhauses war Baronin Pranckha erschienen. Während sie über die Stufen langsam niederstieg in den Hof, stützte sie sich auf die Goldkrücke ihres Spitzenschirmes. Sie trug eine Sportmütze aus schottischer Seide und ein weißes Lodenkleid von glatter Elegance, mit breitem Ledergürtel von schillerndem Kupferglanz. Faltenlos, wie angegossen, umschmiegte der linde Stoff die schöne Büste dieses Frauenkörpers, der bei all seiner schlanken Grazie leicht zur Fülle neigte. Weich flossen die Falten des Rockes von den Hüften nieder, jeder Bewegung sich anschmeichelnd, als ob sie nicht verhüllen, sondern zeigen wollten. Dieser langsam ruhige Gang war von seltsam weichlicher Geschmeidigkeit – bei jedem Schritt, bei jeder leisen Bewegung der Arme, bei jedem Wenden und Neigen des Kopfes schien der ganze Körper mitbewegt. Und wie dieses Haar in der Sonne schimmerte! Es war nicht blond, nicht rot – es hatte jenen dunklen Farbenglanz, wie ihn die sterbenden Blätter an einem schönen Herbsttag haben. In seiner kapriziösen Modefrisur, in dem lockeren Gewell, das sich reich über die Schläfe herauslegte, umschloß dieses Haar gleich einer leuchtenden Goldhaube ein rundes Gesichtchen, wie von Watteau gemalt, weiß und rot, mit zarten Grübchen und bläulichen Schatten, mit den klar gezeichneten Sicheln der dunklen Brauen und mit heißen Lippen, leicht geöffnet, wie ein Mund, welcher dürstet. Und diese reinen, frischen Farben wirkten wie Natur. Waren sie Kunst – dann verstand sich diese Frau wie eine Meisterin auf das corriger la beauté.

Bei der rosigen Frische dieser Farben hatte das linde Gesichtchen etwas jugendlich Unreifes, fast rührend Kindliches. Dem widersprachen aber die feinen, wie mit der Nadelspitze gezogenen Linien an den Mundwinkeln – und die Augen! Das waren Augen, die zu einem anderen Gesichte zu gehören schienen. Wohl gaben die schweren Wimpern diesen Augen etwas müd’ Verschleiertes, und ihre Farbe war ein erloschenes Blau, doch in der matten Iris brannten die großen Pupillen, schwarz und feurig wie die Beeren der Tollkirsche.

Und wie diese Augen in nervöser Ungeduld und Erregung flackerten, während sie beim Hofthor stand, mit der Schirmspitze im Sand wühlte und immer hinunterspähte über den Weg!

Dann plötzlich lachte sie, mit perlender Stimme, hell und vergnügt wie ein Kind, das in gereizter Laune mit einem Spielzeug überrascht wird.

Sensburg kam über den Weg herauf – „jaagerisch“ maskiert, mit Joppe, grüner Weste, kurzen Lederhosen, genagelten Schuhen und Wadenstrümpfen, die wohl mit fünffacher Wolle unternäht waren, um hinter den Knien den „echten“ Buckel zu machen. An der Joppe trug er Hirschhornknöpfe, die ein spannenlanges Knopfloch brauchten, und an der Uhrkette baumelte eine faustgroße Berlocke von silbergefaßten Adlerklauen, Hirschgranen und Murmeltierzähnen. Die Knie mußte er mit irgend einer Tinktur gefärbt haben, denn sie waren wie Kastanien so braun. Er ging wie ein Holzknecht, breitspurig und die Arme schlenkernd.

Das war ein Anblick, daß auch Mazegger lächeln mußte, als dieser „jaagerische Bua“ im Gesichtsfeld des Fernrohrs erschien. Bis in seine Stube konnte Mazegger das heitere Lachen der schönen Frau und ihre Stimme hören, als sie in einer fremden Sprache – es war englisch – dem anderen etwas sagte. Das mußte ein Kompliment gewesen sein, denn der „Jaagerische“ verbeugte sich geschmeichelt, und um seiner Rolle recht getreu zu werden, versuchte er das Lallen und Wortkauen eines steirischen Kretins nachzuahmen. Dann fiel er, nach ein paar englischen Floskeln, wieder in den Wiener Fiakerton und lachte:

„So ein G’stell? Was? Is ein G’stell! Eisssen! Und ächter man kann nicht! Aber Sie, Baronin … ausschauen thun S’ heint wieder … ich sag’ Ihnen, Baroninderl, großoatig! Zucker!“ Galant umtänzelte Sensburg die schöne Frau und begann mit gustiöser Ausführlichkeit ihre Reize zu preisen. „Und denken, daß all diese heazige Schennheit für einen anderen blüttt … das ist schmeazhaft, Baronin, wiaklich schmeazhaft!“ Er verdrehte die Augen und seufzte. Um die schöne Frau wieder lachen zu machen, spielte er eine drollige Pantomime als hoffnungslos

[308] schmachtender Seladon – aber es schien in dieser Posse auch ein Funke von Ernst zu glimmen: die ohnmächtige Sehnsucht eines verliebten Narren, der begehrt, was hoch über ihm steht, unerreichbar.

Sah sie dieses kleine Lichtlein brennen und hatte sie Ursache, zu wünschen, daß es nicht erlosch?Lächelnd reichte sie ihm die Hand, an der in der Sonne die Ringe blitzten, und ließ sie küssen. Plaudernd und lachend wanderten sie im Hof des Jagdhauses auf und nieder, und so oft sie Kehrt machten, tänzelte Sensburg auf die linke Seite der Baronin.

Da sah Mazegger durch das Fernrohr, daß die schöne Frau jählings verstummte. Alle Züge ihres Gesichtes veränderten und spannten sich, ihre Augen wurden größer. Aber diese Erregung löste sich in ein bezauberndes Lächeln, als sie mit Sensburg zum Hofthor ging. Im gleichen Augenblick hörte Mazegger die Stimme des Fürsten, der mit Sternfeldt an der Hütte vorüberging. Was Ettingen sagte, konnte der Jäger nicht verstehen, auch nicht, was der Graf erwiderte. Aber wie gepreßt diese Stimmen klangen, wie erregt!

Als die beiden an der Hütte vorüber waren, huschte Mazegger gebückt zum Fenster, kniete auf die Dielen nieder und stützte das Fernrohr, damit es in seinen unruhigen Händen nicht zittern konnte, auf das Gesimse. Schwer atmend richtete er das Glas auf das Gesicht der schönen Frau und belauerte jeden Blick ihrer Augen, jede leise Sprache ihrer Mienen.

Den Grafen, der sie zuerst begrüßte, schien sie nicht gern zu sehen; als er sich lächelnd vor ihr verbeugte, nagte sie mit den kleinen blinkenden Zähnen an der Lippe, und ein Zornblitz flammte aus ihren Augen. Aber ganz verwandelt schien sie, als sie auf den Fürsten zutrat, dem Sensburg lachend und schwatzend entgegengegangen war. Da hatten ihre Augen einen anderen Blick! Und wie sie lächelte, wie sie plauderte, wie alles lebte und sprühte in diesem Gesicht! Und dieser Blick nun wieder! Wie eine Bitte, welche schenkt, demütig und sieghaft – ein Blick, der zu sagen schien: „Ich will dich … darum bist du mein!“

Da verfinsterte sich das Glas, Mazegger sah nichts mehr – und als er aufblickte, stand der Förster vor dem Fenster.

Kluibenschädl machte verblüffte Augen, als er den Jäger mit dem Fernrohr so auf den Dielen knien sah.

„Was treibst denn da? Unsere Herrenleut’ ausspionieren? So was laß fein bleiben, gelt? Und Uhr [309] hast wohl auch keine? Sechse is’s! Schau, daß in’ Dienst kommst!“

Wortlos erhob sich Mazegger und schob das Glas zusammen. Hastig richtete er sich für den Birschgang und schritt über das Almfeld hinunter. Als er den Wald erreichte, blieb er stehen und blickte nach dem Jagdhaus hinauf, der Hof war leer – der Fürst und seine Gäste waren ins Haus getreten.

Mazegger nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es schien, als wäre er ein anderer geworden. Sein Gesicht brannte, und er atmete wie einer, dem eine Kette von den Gliedern fiel. Lachend streifte er mit den Augen alle Fenster des Jagdhauses, und während er hineinschritt in den Schatten des Waldes, raunte er vor sich hin: „Die erlöst mich von ihm! Wenn die ihm ihre Augen hinmacht, muß er vergessen …… alles!“ – –

Der Förster war in seine Hütte gegangen und schürte im Herd ein Feuer an. Er schien zu denken, daß man ihn heute nicht zur Tafel rufen würde. „Schad’ um mein’ g’sparten Hunger!“ Aber just, als er die Pfanne von der Wand herunternahm, erschien Martin in seiner schwarzen Gala.

„Durchlaucht lassen den Herrn Förster zur Tafel bitten!“

Während die beiden dann hinaufgingen zum Jagdhaus, sagte der Förster plötzlich: „Sie, Herr Kammerdiener … Ihnen hab’ ich einen ernstlichen Vorhalt zu machen! Wie mich einige Andeutigungen des Herrn Grafen Sternfeldt vermuten lassen, haben Sie mich, wie man zu sagen pflegt, über den Löffel balbiert … mit derselbigen ,Ueberraschung‘! Sie verstehen mich schon! Und ich muß mir so was für die Zukunft ganz entschieden verbitten! Solchene Sachen mag ich net!“

Martin biß sich wütend auf die Lippe, doch er erwiderte kein Wort. Er warf nur einen scheuen Blick zu den offenen Fenstern des Speisezimmers hinauf, als hätte er Sorge, daß irgend jemand die geharnischte Erklärung des Försters gehört haben könnte. Es war überhaupt in seinem ganzen Wesen etwas unruhig Aengstliches, als hätte er die Ahnung, daß ihm heute noch irgend eine Unbehaglichkeit bevorstünde.

Sie traten ins Haus.

Nach einer Weile wurden droben im Speisezimmer die Fenster geschlossen. Von den Stimmen bei der Tafel drang nur ein leiser, verschwommener Hall in den Hof herunter. Am deutlichsten unterschied man die Stimme des Edlen von Sensburg, der während des ganzen Diners das große Wort zu führen

schien. Häufig hörte man auch ein helles, perlendes Lachen. Die Fiakerspäße des „kleinen süßen Mucki“ schienen die schöne Frau in die heiterste Laune zu versetzen.

Je ruhiger der schöne Abend um die Mauern des Jagdhauses und um die stillen Jägerhütten dämmerte, desto lauter ging es drunten in der Sennhütte zu, in der sich die junge Touristengesellschaft gemütlich eingerichtet hatte. Vergnügtes Schwatzen wechselte mit Gesang, lustiges Kreischen mit lautem Gelächter, und dazu klimperte und klang eine Zither.

Als es dunkel wurde, kehrte Pepperl von der Birsche zurück. Lange stand er vor der Thür des Försterhäuschens und lauschte zur Sennhütte hinunter, bis er wütend vor sich hin brummte: „So ein Madl! Da hört sich doch alles auf! Daß die doch allweil ihr Gaudi haben muß … mit andere Leut’!“ Schwer seufzend trat er in die Hütte, legte sein Jagdzeug ab und setzte sich vor die Thüre.

Wenn drunten in der Sennhütte ein Lied verklang und die jungen Stimmen so recht in übermütigem Jubel durcheinander schrieen, drückte Pepperl die Hände über die Ohren, als ginge ihm diese laute Freude wie ein unerträglicher Schmerz in den Kopf.

Es war finstere Nacht geworden, als Martin mit einer Laterne über den Weg herunterkam, um Herrn von Sensburg zum Fremdenhaus zu führen.

Ein paar Minuten später erschien der Förster, und gerade, als er seine Hütte erreichte, fingen sie drunten in der Sennhütte wieder zu singen und zu jodeln an. Fast wäre er in der Finsternis über Pepperls Beine gestolpert. „Geh, du Leimsieder! Was hockst denn da in der Nacht umeinander! Hörst denn net, wie lustig als ’s zugeht bei der Burgi drunten! Mach’ weiter … geh halt auch ein wengerl ’nunter und thu dich ein bißl veramasieren. Brauchen kannst es … du mit deiner maulhenkolischen Traurigkeit allweil! Geh zu, geh ’nunter ein bißl!“

Pepperl erhob sich – er war ein allzugehorsamer Jäger, als daß er einem so klaren Befehl seines Vorgesetzten hätte widersprechen können. „No ja, wenn S’ meinen, es muß sein … in Gott’snamen … geh ich halt ’nunter!“

„Aber bleib net z’lang, gelt? Morgen in der Fruh um Fünfe mußt mit’m Herrn von Sensburg zur Gamsbirsch ’naus!“

„Mit dem? Da dank’ ich schön! Vor dem laufen ja die Gamsböck davon auf tausend Schritt’! Wo soll ich denn hin mit ihm? Zum Sebensee ’naus?“

„Na, na! G’rad’ hat’s der Herr Fürst g’sagt: überall kann er hingehn, bloß net zum Sebensee … den b’halt’ sich der Herr Fürst für ihm selber vor! Gehst halt hin, wo d’ meinst, er verdirbt nix! Und schießen kannst ihn lassen, auf was er mag … treffen thut er eh nix, der! Aber jetzt geh zu, Pepperl, und sei vergnügt!“

„No ja, mein’twegen, muß ich halt ’nunter!“ Pepperl seufzte, als wäre für ihn der Weg zur lustigen Sennhütte noch eine „viel härtere Sach’“ als die Gamsbirsche, die ihm für den kommenden Morgen drohte. Und stolpernd verschwand er in der Nacht.

Der Förster zündete in der Hütte die Lampe an. Da hörte er einen Wagen kommen. Es war ein Einspänner aus Innsbruck, der das Gepäck des Grafen brachte. Kluibenschädl hieß den Kutscher warten und eilte ins Jagdhaus hinauf. Am Wohnzimmer des Fürsten mußte er ein paarmal pochen, bis man ihn hörte – so erregt, wenn auch mit gedämpften Stimmen, wurde da drin gesprochen.

Als Kluibenschädl in das von einer großen Lampe hell erleuchtete Zimmer trat, saß Graf Sternfeldt mit erloschener Cigarre in einem Fauteuil, und Ettingen stand mitten im Zimmer. So hatte der Förster seinen Herrn noch nie gesehen: mit dieser Zornader auf der Stirn, mit diesen blitzenden Augen.

„Ich bitt’ um Vergebung, Duhrlaucht, wenn ich gestört hab’,“ stotterte Kluibenschädl, „aber ich hab’ nur dem Herrn Grafen melden wollen, daß seine Sachen ein’troffen sind.“

Ettingen nickte, als hätte er nicht recht gehört. Und zum Fenster tretend, preßte er die Hand an seine glühende Stirne.

„Ja, lieber Förster, ich danke Ihnen,“ sagte Sternfeldt, „und bitte, lassen Sie drunten im Fremdenhaus die Sachen einstweilen in mein Zimmer schaffen … ich komme gleich hinunter. Es ist Zeit für mich, daß ich mich aufs Ohr lege … ich bin müde.“ Er erhob sich und streckte die Beine. „Jetzt merk’ ich doch, daß ich meinen alten Knochen mit diesem Ritt mehr zugemutet habe, als ihnen lieb ist. Nna, hoffentlich werde ich heute in meinem delogierten Bett ebensogut schlafen, als ob es noch an seinem alten Platz stünde.“ Lachend trat er zum Schreibtisch und brannte die erloschene Cigarre wieder an. „Also, lieber Förster, ich komme gleich!“

Kluibenschädl machte ein Buckerl und drückte sich, wobei er noch einmal mit scheu besorgtem Blick seinen Herrn streifte.

Eine Weile war’s still im Zimmer. Ettingen blickte durch das Fenster in die sternhelle Nacht hinaus, und obwohl die Scheiben geschlossen waren, konnte er den heiteren Spektakel hören, den die junge Gesellschaft drunten in der Sennhütte trieb.

Sternfeldt blies den Rauch seiner Cigarre vor sich hin und betrachtete das erlöschende Zündholz, als wäre er neugierig, wie lang’ der kleine Funke, der von der Flamme zurückgeblieben, noch glimmen würde.

Plötzlich kehrte sich Ettingen vom Fenster ab, und wie an eine Auseinandersetzung anknüpfend, in der sie durch den Eintritt des Försters unterbrochen wurden, sagte er: „Von allem, was du mir vorgehalten, kann ich nicht ein einziges Wort widerlegen. Und ich will es auch gar nicht. Aber versetze dich nur in meine Lage, Goni! Sie sind meine Gäste … das bindet mir die Hände … auch wenn ich mir hundertmal sage: ich habe sie nicht gerufen. Ich selbst empfinde doch das Zusammenleben mit diesen beiden wie etwas Unerträgliches! Und ja, du hast recht … dem wäre am leichtesten mit einem rücksichtslosen Wort ein Ende gemacht. Aber das kann ich nicht, das bring’ ich nicht fertig. Ich kann doch meine Natur nicht auf den Kopf stellen. Ich bin nun einmal so … und damit mußt du rechnen.“

„Ja, ich habe in meiner Rechnung einen Fehler gemacht. Während ich da heraufritt, daß mir und dem Pferd der Atem ausging, hab’ ich mit all deinen Eigenschaften gerechnet, nur nicht mit deiner Höflichkeit. Die ist in dir zu klassischer Vollendung ausgebildet. Wär’ ich ein Dieb, ich würde bei dir einbrechen … da wär’ ich eines liebenswürdigen Empfanges sicher! Sollte dir der unhöfliche Gedanke kommen, mich aus dem Haus werfen zu lassen, dann dürfte ich nur sagen: Mein Herr, ich bin unter Ihrem Dach und fühle mich als Ihr Gast! Tableau! Und ich würde an deiner Tafel sitzen und bekäme von dir die Schüssel gereicht … wie heute die Pranckha.“

„Ich bitte dich, Goni .. du marterst mich .. laß diese Scherze!“

„Ich? Und scherzen? Gott bewahre! Mir ist so ernst, wie einem Menschen nur sein kann, der einen Freund in Gefahr weiß.“

„Gefahr? Ach, geh doch!“ erwiderte Ettingen fast unwillig. „Glaube mir, ich fühle mich an Leib und Seele so frei, als hätte mich nie ein Wunsch meiner Sinne an diese Frau gefesselt. Sie ist mir so fremd geworden, so völlig fremd, daß ich sie ansehen und mich erschrocken fragen kann: Wie war’s nur möglich, daß ich sie geliebt habe? … Das ist Wahrheit, Goni! Was fürchtest du also?“

„Ihre Schönheit! Denn schön ist sie … das muß ich ihr lassen. Ich habe sie heute bei Tisch allen Teufeln an den Hals gewunschen … aber bewundert hab’ ich sie doch! Und noch etwas anderes macht mich unruhig: deine Erregung. Könntest du nur sehen, wie deine Augen brennen, und hören, wie deine Stimme klingt. Wenn du deiner so sicher bist … weshalb diese Erregung? Das versteh’ ich nicht.“

Ettingen antwortete nicht gleich. „Ja, du hast recht! Ich begreife mich selbst nicht. Ich könnte doch wirklich die deplacierte Posse, die mir diese beiden Menschen ins Haus brachten, mit kalter Ruhe an mir vorüberspielen lassen! Und doch ist ein Aufruhr in mir …“

„Ja, Heinz, in dir ist etwas, das sich meinem Blick verschließt. Und das eben beunruhigt mich. Das ist noch etwas anderes als nur der Widerwille, von dem du sprichst. Diesen Widerwillen … den hast du übrigens bei Tisch zur Genüge merken lassen, trotz all deiner Höflichkeit als Wirt. Der süße Mucki, freilich, der war blind dafür … dem geht nicht so leicht was durch die dicke Haut. Aber sie hat gemerkt, wie sie dran ist. Und es war für mich ein wahrer Hochgenuß, ihre wachsende Wut zu beobachten und das fabelhafte Geschick, mit dem sie ihren nervösen Zorn durch forcierte Heiterkeit maskierte. Der erste, lächelnde Empfang, den sie dir bereitete, ließ mich vermuten, daß sie dich in aller Liebenswürdigkeit ein paar Wochen blockieren will, um dich im Anblick ihrer Reize dürsten zu lassen. Aber sie wird ihre Taktik ändern. Nun weiß sie, daß deine Höflichkeit mit dem Ekel kämpft – und sie ist klug genug, um diese Stimmung in dir nicht wachsen zu lassen. Sie selbst wird die gründliche Aussprache, die du in deiner übel angebrachten Höflichkeit gerne vermeiden möchtest, so rasch wie möglich herbeiführen …“ ein sarkastisches Lächeln glitt über die Lippen des Grafen, „vielleicht schneller, als du denkst ...“

„Was meinst du damit?“

„Das soll ich dir noch erklären?“ Sternfeldt lachte. „Nein, guter Heinz! Da wart’ es nur lieber geduldig ab, bis du verstehst, was ich meine. Und jetzt Gute Nacht!“ Er zerdrückte die Cigarre in der Aschenschale und trat vor Ettingen hin. Jeder spottende Zug war ausgelöscht in seinem Gesicht, und tiefer Ernst blickte aus seinen Augen. „Heinz, du bist erregt … das gestehst du ja selber zu! Und Blut, das siedet, ist immer zu unberechenbaren Dingen geneigt. Laß dir wenigstens den einen Rat noch geben … leg’ dich mit diesem heißen Kopf nicht schlafen! Mach’ draußen in der kühlen Nacht noch einen Bummel, oder … auf deinem Schreibtisch liegt der Quartalsbericht und die Abrechnung deines Verwalters … setz’ dich heute noch drüber, Heinz! Da hast du drei oder vier Stunden nüchterne Arbeit. Das wird dich beruhigen, und …“ wieder lächelte er, „dann geht’s ja auch auf den Morgen zu. Ja, Heinz? Willst du das?“

Zögernd reichte Ettingen dem Freunde die Hand, ohne ein Wort zu sagen.

„Na also, ruhige Nacht!“

Ettingen sah dem Grafen nach, der zur Thüre ging. Dunkle Röte war ihm ins Gesicht gestiegen. „Goni? … Du denkst nicht gut von mir!“

„Von dir? Doch, Heinz!“ Sternfeldt lächelte. „Aber von ihr nicht.“ Er wollte schon die Thür öffnen, aber da blieb er wieder stehen. Der Ausdruck seiner Züge verriet, daß er mit einem Entschluß kämpfte, der ihm nicht leicht wurde. Und dann erwachte in seinen ernsten Augen ein Blick, so träumend weich und von so mildem Feuer, daß Ettingen seltsam betroffen zu ihm aufsah.

„Goni?“

Sternfeldt hob den rechten Arm und streifte die Manschette zurück. „Sieh her, Heinz, was ich da habe!“ Er trug am Handgelenk eine Goldkette mit kleinem Medaillon. „Ein Talisman, den ich seit fünfzehn Jahren trage! Es hat eine Zeit gegeben, Heinz, in der ich, aller Tollheit des Lebens fähig, ein Spielzeug jeder Stunde war, die mir das Blut heiß machte. Aber dann kam eine Wandlung über mich, es ist rein in mir geworden, klar und still. Seit damals trag’ ich diese Kette. Und der Talisman, den diese Kapsel enthält, hat mich seit fünfzehn Jahren vor aller Thorheit und Häßlichkeit des Lebens bewahrt. Und dieser Talisman, Heinz … ich glaube, der hätte auch Macht über dich … und ich möcht’ ihn dir geben. Aber ich kann die Kette nicht abnehmen … sie hat kein Schloß und ist angeschmiedet an meinen Arm … denn weißt du, ich will sie mitnehmen auf meinen letzten Weg. Aber willst du nicht sehen, was diese Kapsel enthält?“ Er trat zum Schreibtisch und hielt den Arm in das helle Licht der Lampe. „Komm her, Heinz!“ Schweigend öffnete Ettingen die goldene Kapsel und sah in ihr das Miniaturbild einer Frau, noch schön, obwohl sich schon graue Fäden in das Braun ihrer welligen Haare mischten, mit ernsten ruhigen Augen und einem leisen Schmerzenszug um den lächelnden Mund.

„Das Bild meiner Mutter? … Goni!“

„Das sagst du ja wie in Schreck? Daß ich deine Mutter liebte … hast du es nie geahnt?“

„Und … und meine Mutter?“ stammelte Heinz.

„Sie war mir gut … und ich glaube, sie wäre glücklich geworden an meiner Seite. Aber sie war es … auch ohne mich! In ihrer Liebe zu dir! Und sie wies mich ab, weil sie ganz ihrem Sohn gehören wollte. Aus dir einen Mann zu machen, frei, glücklich und stolz … mehr wollte sie nicht von ihrem Leben. Dafür konnte sie jedes Opfer bringen, auch das Opfer ihres Frauenherzens. Und sag’, Heinz … verpflichtet solche Liebe nicht? Und begreifst du nun meine Sorge um dich? Soll deine Mutter umsonst gelebt haben?“

„Goni …“

„Nein! Jetzt wollen wir nicht weiter reden. Nachdem ich dir das gesagt habe, giebt es kein Wort mehr!“ Sternfeldt legte die Hände auf Ettingens Schultern und sah ihm in die Augen. „Gute Nacht, Heinz!“ Dann ging er.

Ettingen blieb in einer Erregung zurück, die ihn erschütterte bis ins Innerste. Als wäre in ihm ein Wirbel von Gefühlen und Bildern, die in stürmendem Wechsel auf und nieder tauchten, ohne vor seiner Seele zu rechter Klarheit zu kommen, so stand er regungslos inmitten des Zimmers und preßte die zitternden Hände an seine Schläfen.

Da weckte ihn ein Geräusch im anstoßenden Raum. Er richtete sich auf, und eine Furche grub sich in seine brennende Stirne. Als er die Thüre des Schlafzimmers aufstieß, gewahrte er den Lakai, der das Lager für die Nachtruhe seines Herrn bereit gemacht hatte und mit einem Sprühflacon durch das Zimmer ging, um ein schwül duftendes Parfum in die Luft zu stäuben.

„Was machen Sie da?“ fragte Ettingen mit erzwungener Ruhe. „Ich habe Sie nicht gerufen.“

„Aber ich bitte, Durchlaucht,“ stotterte Martin, „mein Dienst ..“

„Dienst? Bei mir? Sie irren sich! Ich habe Grund zu vermuten, daß Sie im Dienst der Baronin Pranckha stehen. Und fremde Dienerschaft will ich für meine Person nicht belästigen. Sie können gehen … und von morgen an wird Praxmaler den Dienst bei mir übernehmen. Adieu!“

Mit aschfahlem Gesicht verbeugte sich Martin, und während er das Zimmer verließ, konnte er noch hören, wie Ettingen das klirrende Fenster aufriß. Die frische Nachtluft rauschte in den schwülen Raum und trieb, als die Thür geöffnet wurde, den schweren süßen Wohlgeruch in den Flur hinaus und hinter dem Lakaien her, dessen Frackschöße in der Zugluft wehten.

Eine Weile stand er ratlos, mit geballten Fäusten. Da sah er die kleine Französin aus dem Zimmer der Baronin treten.

Lautlos huschte er auf das Mädchen zu. „Mam’zelle Fifi?“

„Monsieur?“

Ob die Baronin noch zu sprechen wäre? Nur eine Minute.

Für den guten getreuen Martin? Gewiß.

Er pochte an die Thüre.

„Entrez!“

Martin trat ein. Als er einige Minuten später das Zimmer wieder verließ, schien seine Erregung und Sorge beschwichtigt, denn er trug die Nase hoch in der Luft und lächelte.

Während er über die Treppe hinunterstieg, hörte er das kichernde Gezwitscher der Französin. Sie stand mit Sensburgs Leibjäger im Hof, und der heitere Lärm, der von der Sennhütte heraufklang, reizte ihre Neugier.

Das wollte, das mußte sie sehen.

Zu diesem Wunsche zuckte Martin hoheitsvoll die Schultern. Der „Stall“ dort unten, das wäre doch kein Aufenthalt für „feine Leute“ – in „solche“ Gesellschaft könnte man unmöglich gehen, ganz unmöglich.

Fifi verzog das hübsche Mäulchen und lachte. Ob man in solche Gesellschaft gehen könne oder nicht, das wäre ihr ganz egal, erklärte sie. Um sich zu langweilen wie in der Stadt, dazu wäre sie doch nicht aufs Land gekommen. Und wenn es der „feine“ Herr Martin vorzöge, schläfrig unter die Decke zu kriechen, statt sich eine Stunde nach Herzenslust zu amüsieren, so wäre doch zum Glück noch ein anderer da, um den Wunsch einer Dame zu erfüllen und sie als Kavalier in die Sennhütte zu begleiten.

Geschmeichelt verneigte sich der Grünverschnürte und bot ihr galant den Arm.

Während Martin geärgert seine Stube aufsuchte, wanderten die beiden schwatzend und kichernd über das finstere Almfeld hinunter.


17.

Einige Stunden früher.

Es dämmerte über dem Thal der Leutasch, und vom Kirchturm tönte der Abendsegen über die stillen Häuser hin und hinaus über die von zartem Nebel behauchten Wiesen. Auf den Straßen lag schon die Ruhe des schläfrig gewordenen Tages, nur einige junge Burschen stapften paarweis mit ihren qualmenden Pfeifen an den Zäunen hin, manchmal nach einem Fenster spähend, hinter dem ein Licht brannte.

Da kam ein Jäger hastigen Ganges durch das Dorf herunter. Es war Mazegger. Keuchend ging sein Atem, und in Unruh’ blickte er nach allen Seiten und über die Straße aus. Sein Schritt verzögerte sich, je näher er dem Petrischen Hause kam. Um das Klappen seiner Schuhe verstummen zu machen, trat er in den mit Gras bewachsenen Straßengraben hinunter. Als er den Zaun des Hauses erreichte, das vom Duft seiner tausend Blumen still umflossen war, duckte er sich und schlich an der Holunderhecke hin, um eine Lücke zu finden, durch die er in den Garten blicken könnte. Am Hause waren die Fenster der Wohnstube schon erleuchtet, und da die Vorhänge offen standen, sah man durch die hellen Scheiben in den traulichen Raum mit seinen Bildern und Geräten, und sah, wie Frau Petri ruhig ab und zu ging, um den Tisch zu decken und die Tassen zu stellen.

Dunkler und dunkler sank die Dämmerung über Haus und Garten nieder. Da hörte man zwischen den Beeten die Stimme Lo’s: „Zwei Kannen noch, und dann wird’s genug sein.“

Am Brunnen klapperte der Schwengel, das Wasser plätscherte, im Kiese knirschten die schweren Schritte der Magd, und nun ließ sich das leise Brausen des über die Blumen fallenden Sprühregens vernehmen. Dann war’s still im Garten; nur noch das Gemurmel der Quelle im Wasserbecken.

Während die Magd das Gartengerät und die Kannen in der Tenne verwahrte, machte Lo’ noch einen Rundgang um alle Beete und durch den Obstgarten. Einen grünen Zweig in der Hand, den sie unter stillem Sinnen spielend durch die Finger streifte, wandelte sie ruhigen Ganges auf den weißen Wegen dahin. In einem Sommerhäuschen, welches dicht am Zaun auf einem kleinen Hügel stand, ließ sie sich nieder. Da konnte sie über die dunklen Gärten und Wiesen weit hinausblicken gegen Westen, bis zur Waldscharte des Gaisthals, über dem der Himmel mit seinem letzten Gold noch zwischen den schattenblauen Bergen leuchtete.

Lind umwebte sie der schöne Frieden des Abends und trug ihre lächelnden Träume auf stillen Schwingen in die Ferne.

Da klang eine gepreßte Stimme über den Zaun her: „Guten Abend, Fräulein!“

Lo’ blickte auf und sah über der gestutzten Holunderhecke das bleiche Gesicht mit den funkelnden Augen. Sie erhob sich und verließ das Sommerhäuschen. „Guten Abend!“ sagte sie, wie man einen Fremden grüßt, und ging auf das Haus zu.

Der Pfad führte am Zaun entlang, und so konnte Mazegger über der Hecke draußen gleichen Schritt mit ihr halten.

„Aber eilig haben Sie’s heut!“ Der Jäger lachte. „Freilich, ich bin halt nur der Mazegger. Und nicht der ander’ … der mit’m Krönl im Schnupftuch! Wenn’s der wär’, aaah, da thät’ sich’s freilich rentieren, daß man stehen bleibt. Da hätt’ man Zeit eine ganze Nacht lang … wie draußen beim Sebensee! Gelt, ja?“

Schweigend, ohne das Gesicht zu wenden, folgte Lo’ ihrem Weg.

„Aber ich komm’ von Tillfuß herein! Da sollten Sie doch ein bißl neugierig sein, was draußen los is … bei Ihrem hochgeborenen Courschneider! Es könnt’ ja sein, daß ich ’was zu erzählen hätt’, das Ihr Herzl interessieren muß … weil’s was von ihm ist! Na also, wirklich? Gar nicht neugierig?“

Er wartete auf Antwort. Vergebens.

Nun lachte er wieder, gallig und rauh. „Sie, Fräulein … so gar stolz sollten Sie doch nicht sein! Denn wenn Sie von mir nichts hören mögen … bis er Ihnen wieder ’was vorplauscht, mein’ ich, das kann lang’ dauern. Jetzt kommt er so bald wohl nimmer zum Sebensee! Jetzt hat er keine Zeit mehr … für Sie! Jetzt hat er Besuch bekommen! Heut’! Und was für einen! Eine Baronin! Natürlich … billiger thut er’s nicht, wenn’s ernst wird. Ich hab’ mir allweil gedacht, es gäb’ nichts Schöneres auf der Welt, als Sie sind. Aber die! Aaah! Was die für ein Lachen hat! Da müßt’ der ägyptische Joseph d’rüber stolpern. Und Joseph ist der doch keiner! Gelt? Und wie sie ihn frißt mit ihren sündschönen Augen! Und er erst! Er!“ Mazegger lachte. „Freilich, die vornehmen Herren, die halten’s gern mit der Abwechslung. Heut’ Butterbrot und Sebenseeblüm’ln … und morgen wieder Salami mit Pfeffer …“

Lo’ hatte den Pfad verlassen, und quer durch die Wiese schritt sie auf das Haus zu. Was der Jäger ihr nachrief, verstand sie nicht mehr – nur noch sein Lachen hörte sie.

Als sie zur Hausthür kam, mußte sie sich an die Mauer stützen – so zitterten ihr die Kniee. Doch diese Schwäche währte nicht lang. Sie richtete sich auf, und ruhigen Schrittes trat sie ins Haus. Matter Lichtschein fiel aus der Küche in den Flur und über die Bilder hin, welche die Mauer bedeckten.

Während Lo’ zur Stube ging, berührte sie eines der Bilder mit der Hand – als gäb’ es ihr Trost und Kraft, die Leinwand zu fühlen, auf der ein reiner und schöner Gedanke ihres Vaters Form und Farbe gewonnen.

Nun trat sie in das helle, trauliche Zimmer, in dem Frau Petri noch mit dem Tisch beschäftigt war.

„Du, Lo’? Heute kommst du früher als sonst. Bist du draußen schon fertig?“

„Ja, Mutter … mit allem.“

Beim Klang dieser Stimme blickte Frau Petri betroffen auf. Da sah sie dieses weiße, vom Schmerz berührte Gesicht, diese verstörten Augen, und erschrocken fragte sie: „Kind? Was hast du?“

„Nichts!“

„Aber Lo’! Wenn du dich nur sehen könntest! Ich bitt’ dich, Kind, jage mir doch nicht solchen Schreck ein! Sag’ mir … was hast du? Bist du krank?“

„Nein, Mutter, gewiß nicht!“

„Das sagst du mir und kannst mich doch nicht ansehen dabei!“ Vor Sorge zitterte die Stimme der alten Frau. „Kind!“ Sie faßte die beiden Hände des Mädchens. „Und wie kalt du bist … deine Hände sind ja wie Eis!“

„Ich bin erschrocken … vor etwas Häßlichem. Draußen im Garten, dicht vor meinen Füßen, kroch eine Natter über den Weg …“

„Nein! Nein! Das hätte mich erschrecken können! Aber du! Vor einem Tier erschrecken, das nur unschön ist, aber nicht gefährlich … das ist doch sonst nicht deine Art! Sag mir, was du hast … und sieh mich doch an, Lo’!“

Ein Lächeln erzwingend, hob Lo’ die Augen. Aber stärker als ihr Wille, ruhig zu erscheinen, war der stumme Sorgenblick, der auf ihr ruhte. Sie zitterte und schlug die Augen nieder.

„Lo’! … Daß das vorhin, was du von der Natter sagtest, nur ein Gleichnis war, das fühl’ ich doch! Draußen im Garten ist etwas geschehen, was dich kränkte. Das war so abscheulich, daß du es deiner Mutter gar nicht sagen magst … und ich frag’ auch nicht mehr. Ich kann mir’s ja denken! Wie halt die Leute oft schwatzen: ein dummer oder böser Mensch wird dir was gesagt haben … ein Wort, das etwas in dir verletzte, was dir lieb und heilig ist.“

„Ja, Mutter! Lieb und heilig! Etwas, an das ich glaube, Wie ich an Papa glaube und an dich!“

„Gelt, ja? Ich hab’s erraten?“ Mit scheuem Blick an dem Gesicht ihres Kindes hängend, atmete Frau Petri, als läge ihr ein Stein auf der Brust. „Aber schau nur, wie ich mich sorge um dich! Und nicht nur, weil du so herein kamst … nein, Lo’! Schon die ganze Zeit her … seit ich den Buben heimbrachte, und … weißt du, wie du damals zu mir an den Wagen kamst, so ganz verändert! Und was mir gestern der Bub erzählte … vom Jagdhaus … schau, Kind, ich bitte dich, diese eine Sorge mußt du mir ausreden! Gelt, nein? Es ist nicht so, wie ich fürchte? Denn … schau, Lo’, wenn ich recht hätte mit meiner Sorge … das wäre ein Unglück, für dich und für uns alle! … Kind?“

Lo’ wollte sprechen, doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Als könnte sie den erschrockenen Blick der Mutter nicht mehr ertragen, so löste sie ihre Hände und wandte sich ab. Sie wollte zum Tisch, doch ihre Kniee wankten, und auf die Holzbank niedersinkend, brach sie in strömendes Schluchzen aus.

Wortlos setzte sich Frau Petri an die Seite ihres Kindes, nahm die Weinende in den Arm, küßte ihr das Ohr und die Wange, streichelte ihr das Haar und suchte immer nach Worten, während ihr selbst die Thränen über die furchigen Wangen fielen.

Noch ehe Frau Petri sprechen konnte, hatte sich Lo’ schon wieder gefaßt. Sie trocknete die Augen, und nur noch ein schmerzliches Lächeln irrte um ihre Lippen, als sie ruhig sagte: „Mutter! Wir müssen fort von hier!“

„Fort? … Weil du ihn lieb hast?“

„Ja. Weil ich ihn liebe!“

„Ach, Gott! Ach du guter Gott!“ stammelte die alte Frau, Während sie die zitternden Hände ineinander schlang. Sie war von jenen Frauen eine, die ein schmerzvolles Leben müde gemacht und die nur stark sind, so lang’ eine ungewisse Sorge sie quält; erfahren sie, daß ihre Furcht begründet war, so werden sie schwach und ratlos, und es bleibt ihnen kein anderer Trost als Thränen, geduldiges Tragen und schüchterne Klage. „Ich hab’s gefürchtet! Ich hab’s ja gefürchtet! Was ist über mich schon alles gekommen! Und jetzt auch das noch! Mein Kind muß ich leiden sehen und kann ihm nicht helfen! Ach, Gott, ist das ein Unglück!“

„Ein Unglück? Nein, Mutter!“ Lolos Augen leuchteten in stillem Glanz. „Was ich fühle bei jedem Gedanken an ihn … es ist das Herrlichste, was über ein Menschenherz nur immer

[313] kommen kann! Und es wird mein ganzes Leben erfüllen, wie die Sonne einen klaren Tag erfüllt vom Morgen bis zum Abend! Ist Liebe denn weniger rein und schön und reich … weil sie nicht hoffen darf? Kein Unglück. Mutter, nein … was ich fühle, ist Glück. Und nicht ein Kummer ist es, dem ich entfliehen will. Denn wenn mein Glück auch Schmerz ist … dieser Schmerz ist süß … ihm kann und will ich auch nicht entfliehen. Er wird bei mir sein in jeder Stunde, ob ich gehe oder bleibe! Nur Zeit mußt du mir vergönnen, daß ich mich ganz wieder finde, daß ich stark und mutig werde … und daß ich ihm ruhig begegnen kann, ohne daß er ahnt, was in meinem Herzen brennt. Nur deshalb will ich fort … einige Wochen nur. Und ich bitte dich, Mutter, thu’ mir das zuliebe!“

„Ja, Kind! Alles thu’ ich, alles, was du willst. Und sag’ nur … wohin möchtest du denn?“

„Das war immer eine Sehnsucht in mir: Papas Heimat kennenzulernen … das Haus sehen, in dem er geboren wurde.“

„Ja, ja, da reisen wir hin.“

„Dort bleiben wir einige Wochen. Und dann, Mutter … dann gehen wir nach München.“

„… München?“ Vor den Augen der alten Frau erwachte bei diesem Wort das Bild ihrer bittersten Lebensjahre, und wie scheue Bitte und Abwehr klang es aus ihrer Stimme: „Kind?“

„Das müssen wir, Mutter! Was wir über Papa erfuhren … das hat eine Pflicht auf uns gelegt. Die Welt soll wissen, welche Schätze unser Haus umschließt, sie soll bewundern und lieben lernen, was Papa unter diesem Dach geschaffen hat. Deshalb müssen wir nach München!“

„Ja, ja, ich seh’ es ein, Lo’! Das müssen wir! Das sind wir seinem Namen schuldig … jetzt! Aber … Ach, Lo’! Ach du lieber Gott! Wieder hinein in den alten Kampf und in die neue Sorge! Und es war so schön hier … bei unserem Erinnern und bei seinen Blumen … so still und friedlich …“

Lo’ legte den Arm um den Hals der Mutter. „So wird es auch bleiben, immer! Und wenn wir heimkehren, werden wir nur reicher sein um eine Freude.“

„Ach ja, Gott soll es geben!“ Frau Petri seufzte; doch ihr wurde dabei das Herz nicht leichter. Sie hatte es verlernt, an die Hoffnung zu glauben. Als nach allem Kampf der früheren Jahre die Zeit der schönen Ruhe gekommen war, hatte sie diesen Frieden nicht recht von Herzen genießen können, weil sie immer fürchten mußte: er wird nicht dauern! Und hatte sie denn nicht recht gehabt mit dieser Furcht? Noch war die Trauer um den Mann, dem zuliebe sie alles noch leichter getragen, in ihrem Herzen nicht still geworden – und da kam nun das wieder! Der hoffnungslose Schmerz ihres Kindes! Und was würde dann kommen? Dann? Was stand ihr noch alles bevor an Leid und Weh? „Ach, ja!“ Mit zitternden Fingern drückte sie an ihren Augen die Lider zu. Dann fielen ihr die Hände schwer in den Schoß. „Und … sag’, Lo’, wann willst du reisen?“

„Sobald der Bub wieder wohl ist. Uebermorgen, mein’ ich, darf ich ihn aufstehen lassen. Aber dann muß er sich noch ein paar Tage schonen, bevor wir reisen dürfen. Und morgen will ich hinausreiten zum See … nur über eine Nacht … und will das Häuschen in Ordnung bringen für den Winter. Und die Blumen draußen, die dürfen wir in den heißen Sommerwochen nicht ohne Pflege lassen … ich will den Sebener Senn ersuchen, daß er diese Arbeit übernimmt.“

„Ja, Lo’, das mußt du noch thun! Seine Blumen … die waren ja sein letztes Wort … die dürfen nicht leiden.“

Nun schwiegen sie eine Weile, als wäre alles zu Ende gesprochen, was zu sagen war.

„Noch eines, Mutter …“ Lolos Wangen färbten sich, und in feuchtem Schimmer strahlten ihre Augen. „Weißt du … der Fürst …“ Wie ihr die Stimme schwankte bei diesem Wort! „All die Freude, die er uns brachte, mit seinem Glauben an

Papa … und mit dieser letzten Nachricht … das müssen wir ihm danken!“

Schweigend blickte die alte Frau zu dem brennenden Gesicht ihres Kindes auf.

„Ich meine,“ sagte Lo’, „wir sollten ihm eines von unseren Bildern schicken … als Erinnerung an Papa und … an alles andere.“ Ein mildes Lächeln verschönte ihren Mund, während ihre Augen in Thränen schwammen. „Meinst du nicht auch?“

„Ja, Lo’, wenn du es so willst, dann freilich, ja! Und welches meinst du denn?“

Da trat die Magd in die Stube. „Ich bitt’ Ihnen, Fräul’n … aber der Gusterl weiß, daß ’s Fräul’n schon im Haus is, und jetzt giebt er kein’ Ruh nimmer: ’s Fräul’n soll kommen, ’s Fräul’n soll kommen!“

„Ich komme gleich!“ erwiderte Lo’, und die Magd verschwand. Lo’ erhob sich. Lächelnd zog sie die alte Frau zu sich empor und umschlang sie. „Sei gut, Mutterl! Und sorg’ dich nimmer. Papa hat mich erzogen zu seinem starken Kind … und was ich dir sein kann, Mutter, das sollst du haben an mir!“

„Ach ja!“

Lo’ küßte die Mutter auf beide Augen. Dann verließ sie die Stube. Erst ordnete sie noch in der Küche die Theeplatte und sagte zu dem Mädchen: „Trag nur alles gleich hinein, Mama hat schon so lange warten müssen.“

Als sie durch die Schlafstube der Mutter ging, fiel aus der offenen Thür des anstoßenden Zimmers der helle Schein einer Lampe und erleuchtete eine Bilderwand. Lolos Blick begegnete jener Leinwand mit dem Hermeskopf – mit der weißen Marmorsäule des jugendlich schönen Gottes, dem eine Natter auf die Schulter kriecht. Ekel und Grauen sprechen aus seinem Gesicht, doch seine Brust ist angewachsen an den unbeweglichen Stein, und er hat keine Arme, um die giftige Häßlichkeit von sich abzuwehren.

Das! … Das soll er haben!“

Zitternd, in einem Sturm von Empfinden, nahm Lo’ das Bild von der Wand und küßte die Stirne des schönen Gottes.

Da klang die Stimme des Knaben: „Lo’? Was machst du denn da draußen? Geh, komm doch zu mir!“

„Ja, Bubi, ich komme schon!“ Sie hing das Bild wieder an die Wand und trat in die kleine Stube.

Mit seinem verpflasterten Gesichtchen saß Gustl aufrecht in den Kissen. „Du, Lo’, jetzt eben hab’ ich probiert, ob ich marschieren kann. Ich sag’ dir, es geht schon ganz famos. Morgen darfst du mich aufstehen lassen.“

Sie trat zum Bett und nahm die Hand des Bruders. „Morgen? Nein, Bubi, morgen mußt du noch liegen bleiben.“

„Na also, morgen noch! Aber dann, gelt? Dann darf ich aufstehen? Und darf ich dann auch bald hinauf ins Jagdhaus? Er hat mich doch eingeladen! Uebrigens, weißt du … ich hab’ so was wie eine Ahnung. Gieb acht, Lo’, morgen kommt er …“

Lo’ befreite ihre Hand, und damit der Bruder die Erregung nicht sehen möchte, die sie zittern machte, ging sie hastig zum Fenster, das noch offen stand.

Verwundert sah Gustl zu ihr auf. „Aber Lo’?“

„Ich will nur das Fenster schließen. Die Nacht wird kühl …“ Ihre Stimme erlosch – draußen über der Hecke sah sie einen Menschen stehen, regungslos in dem trüben Dunkel. Ruhig schloß sie das Fenster und zog die Gardinen vor. –

Der auf der Straße draußen lachte leis und schob den Hut aus der Stirne. Mit den Armen über den Lauf der Büchse gelehnt, deren Kolben auf der Erde ruhte, blieb er stehen, bis der Lichtschein am Fenster erlosch. Dann eilte er durch das finstere Dorf hinauf, dem Gaisthal entgegen. –

Es ging auf elf Uhr, als Mazegger die Tillfußer Alm erreichte. Zitherklang, Gesang und Lachen tönte aus der Sennhütte. Das Jagdhaus stand noch mit hell erleuchteten Fenstern – – nur das Speisezimmer war dunkel. Und im Försterhäuschen wurde just die Lampe ausgeblasen.

Während Mazegger an der Sennhütte vorüberging, warf er einen gleichgültigen Blick in die offene Thüre, durch die es herausquoll wie roter Feuerdampf.

Das war ein lustiger Trubel in der Wirtsstube zum „verloffenen Lampl“! Cigarrenrauch und Staub, den die tanzlustigen Paare aufgewirbelt hatten, erfüllten den großen Raum. Ein mächtiges Feuer flackerte auf dem Herd, und über dem dichtbesetzten Tisch, in einem Mauerring, brannte eine Kienfackel. Einer der jungen Touristen spielte mit wenig Kunst, aber mit vielem Eifer die Zither, die anderen sangen und tranken, schwatzten und lachten – und nur eine einzige hielt sich abseits von diesem fidelen Spektakel: mit rotem Gesicht und gerunzelten Brauen stand Burgi am Herd und warf ein Scheit um das andere ins Feuer, als gält' es, eine Höllenlohe für eine dem Bratspieß verfallene Sünderseele anzuschüren. Sie trat nur zum Tisch, wenn sie ein leer gewordenes Glas wieder zu füllen hatte. Und dann mußte sie in den Keller hinunter, wo das Fäßlein mit dem roten „Spezial“ schon bedenklich hohl erklang. Was ihre grimmige Laune am meisten zu reizen schien, das war, daß sie den Weg in den Keller besonders häufig für den Praxmaler-Pepperl machen mußte. Der schien den Schwur der Nüchternheit, den er draußen beim Sebensee seinem Jagdherrn geleistet hatte, völlig vergessen zu haben. Zwei Liter hatte er schon hinuntergebissen in seine durstig aufgeregte Seele, und jetzt eben schrie er zum neuntenmal:

„He, Sennerin? Noch ein Viertele!“

Abgewandten Gesichtes stellte ihm Burgi den frisch gefüllten Schoppen hin. Doch während sie zum Herd ging, warf sie einen Wutblick über die Schulter – und nicht nur auf den Praxmaler-Pepperl. Die schlimmste Glut dieses Blickes galt der kleinen Französin, deren lustiges Lachgezwitscher die Stimmen all der anderen übertönte.

Zwischen Pepperl und Mam’zelle Fifi hatte sich die ungenierteste Freundschaft im Verlauf einer Stunde so flink und heiß entwickelt wie Dampf aus kochendem Wasser. Als die kleine Französin am Arm des Leibjägers die Sennhütte betreten hatte, war Pepperl mit finster brütenden Augen in einem Winkel gesessen und hatte sich gegen Fifis ersten Annäherungsversuch so scheu und unzugänglich verhalten wie ein junges Fohlen, dem man zum erstenmal das Geschirr um den Hals legen will. Aber war es die Wirkung des Weines, den er als reichlichen Seelentrost in sich hineingoß, oder war’s ein spöttisches Lächeln der Sennerin, ein bissiges Wort, das Burgi einem der Touristen über die Französin gerade so laut noch zuflüsterte, daß es Pepperl hören mußte – irgend etwas hatte im Praxmaler-Pepperl plötzlich einen psychologischen Wettersturz hervorgerufen und hatte ihn aus einem griesgrämigen Leimsieder in einen krakehlenden Don Juan verwandelt, dessen Schmeicheleien die kleine Französin in um so größere Begeisterung versetzten, je derber sie ausfielen. Dieser „echte Tiroler“, dieser „Typus der Rasse“ gefiel ihr immer besser mit jeder Minute. Sie ließ es, um ihn in Feuer zu bringen, an Avancen nicht fehlen – und Pepperl war nicht dumm: wenn sie ihm einen kleinen Finger reichte, nahm er immer gleich die ganze Hand, zum Gaudium der Französin und der ganzen lustigen Gesellschaft – die Sennerin ausgenommen. An diesem „Flirt“ – wie Jean, der Verschnürte mit den grünen Achselklappen, die koketten Manöver Fifis mit Weltbildung bezeichnete – beteiligten sich alle Mitglieder der Tafelrunde und spielten mit, wie die Zuschauer bei einer Hanswurstiade. Da Fifi kaum ein paar deutsche Worte, geschweige den tiroler Dialekt, und Pepperl kein Wort Französisch verstand, mußte bald der Leibjäger und bald wieder einer der jungen Touristen den Dolmetscher abgeben, wobei die drastischen Komplimente, welche Pepperl der Französin machte, mit lautem Halloh bei der Uebersetzung noch übertrieben wurden. Als Pepperl in seiner schwehlenden Weinlaune beteuerte: „Die g’fallt mir, die mag ich, ja!“ – begnügte sich Fifi nicht mit der Uebersetzung.

„Moi, je veux, qu'il me dise cela en français!“

„Was hat s’ g’sagt?“ fragte Pepperl.

Einer der Touristen übersetzte: „Sie will, du sollst ihr auf Französisch sagen, daß sie dir gefällt.“

„So?“ Pepperl studierte eine Weile, und dann fragte er zögernd: „Wie thät’ denn das nachher heißen auf Franzeesisch, wann ich ebba sagen möcht: du bist eine saubere, du … dich hab’ ich gern!“

Unter Gelächter sagte man’s dem Praxmaler-Pepperl ein paarmal vor: „Vous êtes très belle! Je vous aime!“

Und Pepperl plapperte nach: „Wussed treppell, schö wussem!“

Fifi klatschte vor Wonne in die Hände und zwitscherte ihr höchstes Lachen. Die Bewunderung, die sie für diesen superbe colosse empfand, fing an ins Bedenkliche zu wachsen. Alles an ihm gefiel ihr, aber ihr ganz besonderes Entzücken erregten seine „Kreuzerschneckerln“.

„Regardez, Jean, quels jolis cheveux il a! Ils ont l’air de s’amuser beaucoup!“

„Was hat s’ g’sagt?“ fragte Pepperl mit etwas gereizter Neugier. „Daß deine Schneckerln so lustig ausschauen … sie meint, die müssen sich gut unterhalten.“

Fifi kicherte vor Vergnügen über das sonderbar erstaunte Gesicht, das der Jäger zu dieser Verdeutschung machte – und als müßte sie dem Wohlgefallen, das sie an diesen „lustigen“ Haaren fand, noch deutlicheren Ausdruck geben, sprang sie auf, faßte den Praxmaler-Pepperl über den Tisch hinüber am Kopf und wühlte mit ihren winzigen Spinnenhänden in diesem Wust von blonden Locken wie ein Geiziger in seinem Gold.

Alles lachte – nur drüben am Herd empörte sich die Sennerin und zischelte vor sich hin: „So ein ausg’schaamts Frauenzimmer! Die erlaubt sich ein bißl gar z’ viel! Das muß ich schon sagen!“ Und ein Scheit flog ins Feuer, daß die Funken aufstoben.

„Comme il me plait! Ah! Ah! Qu'il me plait bien!“ zwitscherte Fifi. „Mais! Mais! Attention!“ Gestikulierend suchte sie das Gelächter der anderen zu beschwichtigen. „Je veux lui dire ça en allemand! Comment cela ce dit-il en tyrolien, tu me plais, tu es un joli garçon, toi?“

„Ruhe! Ruhe! Jetzt will sie deutsch mit ihm reden!“ verkündete der Dolmetsch. „Sie will wissen, wie das auf ‚tirolerisch‘ heißt: du gefällst mir, du bist ein hübscher Junge! … das muß ihr ganz echt gesagt werden! Also …“

Unter fideler Spannung der ganzen Tafelrunde sprach ihr einer der Touristen im breitesten Tirolerdialekt den Satz vor: „Du g’follscht ma, bischt a liaba Bua!“

Fifi versuchte die bleischweren Laute nachzuschwatzen, aber was auf ihrem leichten Zünglein daraus wurde, das hörte sich so drollig an, daß die ganze Gesellschaft in schallendes Gelächter ausbrach. Sogar die Sennerin lachte – aber das war ein Lachen, so grell und mißtönig wie der Klang einer springenden Saite.

Den Praxmaler-Pepperl schien diese Liebeserklärung der Französin – oder etwas anderes – um den letzten Rest seiner Zurückhaltung gebracht zu haben. Er stieß einen gellenden Jauchzer aus, griff mit beiden Armen zu, und wie man einen Knödel aus der Suppe sticht, hob er das kleine Persönchen über den Tisch herüber an seine Seite. „Sie, jetzt spielen S’ ein’ auf, ein’ rassigen!“ schrie er dem Zitherspieler zu. „Jetzt wird einer ’tanzt mit meiner Franzeesin! Ein g’sunder!“ Wieder jauchzte er und schwang seinen Hut dazu.

Mit schwirrenden Klängen fiel die Zither ein. Zwei der jungen Touristen faßten die beiden als Dirndln kostümierten Mädchen um die Hüfte, und Jean, der nicht leer ausgehen wollte, machte den Versuch, die Sennerin zum Tanz zu holen. Doch wortlos drehte ihm Burgi den Rücken, während Pepperl dem Verschnürten mit höhnischer Freude zurief: „Sie! Die lassen S’ in Ruh’! Die is der Rühr-mi-net-an! Die hat ein’ Heimlichen, wissen S’! Wann die ein’ andern anschaut, wird er wild, der Heimliche, und sie darf ihm die schecketen Jagdküh’ nimmer melchen … juhuuu!“ Das war ein Jauchzer, dessen scharfer Klang wie ein Dolch in alle Ohren fuhr – und mit einem Luftsprung, wie ein Tollgewordener, trat Pepperl an der Hand „seiner Franzeesin“ zum Schuhplattler an.

Burgi stand bleich am Herd und starrte ins Feuer.

Aber auch Fifis Gezwitscher war verstummt, und einen Augenblick schien es, als bekäme sie Angst vor diesem superbe colosse, der ihre Hand umklammert hielt wie mit eisernem Schraubstock und das kleine Persönchen im Kreise wirbelte, daß ihre Röcke flogen wie ein sausendes Rad. Dann aber lachte sie wieder, blitzte ihn mit ihren schwarzen Augen an, und flink hatte sie es den beiden anderen Mädchen abgeguckt, wie sie sich, mit beiden Händen die Röcke niederhaltend, vor ihrem Tänzer drehen, wiegen und wenden mußte, um den Sinn dieses urwüchsigen Naturtanzes zum Ausdruck zu bringen: dieses Entfliehen und Sich-haschen-lassen, dieses Versagen und Gewähren einer Gunst, um die der Tänzer wirbt.

Mit einem Jauchzer, daß die Stubendecke dröhnte, umkreiste Pepperl die sich wirbelnde Tänzerin und begann ein Schlagen und Springen, ein Blasen und „Schnackeln“ wie ein liebes- und frühlingstrunkener Spielhahn. Er „plattelte“, als wollte er seine Schuhe und Kniee zu Scherben klopfen, schlug Räder und Purzelbäume, schnellte im Aufsprung die Fußspitze bis zur Stubendecke und schwang, als die Zither schwieg, mit gellendem Juhschrei seine Tänzerin durch die Luft wie eine Feder.

Die beiden anderen Paare, auch Jean und der Zitherspieler, schrieen Bravo und applaudierten. Und Fifi, als sie mit den zappelnden Füßchen wieder zu Boden kam, schaute glühend und staunend an ihrem Tänzer hinauf und pisperte mit ihrem atemlosen Stimmchen: „Bigre, tu as de la race, toi!“ Mit beiden Händen haschte sie ihn am Schnurrbart, zog ihn zu sich nieder, hob sich auf die Fußspitzen und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. Dann huschte sie kichernd zur Stube hinaus.

Die Touristen machten dazu einen fidelen Spektakel und klatschten Beifall, während Jean der kleinen Französin ein wenig indigniert und mit der Bemerkung folgte: „Die ist ja rein wie verrückt, die kleine Katze!“ Er fand sie draußen, wie sie vor Lachen kaum Atem und Worte hatte. Und als sie sich in seinen Arm einhängte, um sich zum Jagdhaus hinaufführen zu lassen, meinte sie, das wäre die richtige Hetz’ gewesen, wie sich’s gehört für die Sommerfrische … „la vraie bêtise de campagne!“

Auch Pepperl lachte. Aber es schien, als wäre ihm dabei nicht besonders wohl zu Mut. Sein Gesicht brannte wie Feuer. Er mußte sich abkühlen und schrie der Wirtin zum „verloffenen Lampl“ mit heiserer Stimme zu: „He, Sennerin, noch ein Viertele!“

Wortlos, mit zitternder Hand, nahm Burgi das Glas vom Tisch und ging in den Keller. Schwer seufzend öffnete sie den Hahn am Faß, und während das dünne rote Brünnlein niederplätscherte in das Glas, tröpfelten ihr die dicken Zähren über die Wangen – und eine dieser Thränen fiel in den Rotwein. Wie in Wut über sich selbst fuhr sie mit der Faust über die Augen und biß die Zähne übereinander.

Als sie hinaufkam in die Stube, packte der Zitherspieler sein Instrument in den Rucksack, und die jungen Leute, denen der Wein ein wenig in den Köpfen wirbelte, schickten sich an, ihr Nachtlager auf dem Heu zu suchen. Unter Späßen, die der späten Stunde entsprachen, sagten sie der schweigsamen Sennerin Gute Nacht, stiegen mit Schwatzen und Gekicher über eine Leiter zum Heuboden hinauf und ließen an der Stubendecke die Klappe hinter sich zufallen.

Burgi und Pepperl waren allein. Ueber ihren Köpfen pumperte die Decke, und man hörte gedämpft die lachenden Stimmen der Heugäste, die es mit Schlaf und Ruhe nicht eilig hatten.

Unter schwülem Schweigen räumte Burgi den Tisch ab, so daß nur das letzte „Viertele“ des Praxmaler-Pepperl noch stehen blieb. Der suchte mit zitternden Händen aus seinem schweinsledernen Ziehbeutel das Geld für die zehn Schoppen heraus und legte die Münzen schön geordnet in Reih’ und Glied auf den Tisch. „So! … Da is mein’ Schuldigkeit!“

Er packte das Glas und stürzte den Wein hinunter – das ganze „Viertele“ mitsamt der bitteren Thräne, die hineingefallen, das war nur ein einziger Schluck. Dann stülpte er den Hut über die Kreuzerschneckerln, blies die heißen Backen auf, und ohne die Sennerin noch eines Blickes zu würdigen, wollte er zur Thüre.

Aber wie die strafende Gerechtigkeit den Verbrecher faßt, mit so jähem Sprung verlegte ihm Burgi den Weg.

Pepperl wurde bleich, und während sie so voreinander standen, sich messend mit finsteren Blicken, schienen sie alle beide zu ahnen, daß es jetzt ein Unglück geben würde.

Vor Aufregung klang die Stimme des Mädchens ganz verändert: „Wart’ ein bißl, du Moralischer, du! Mit dir muß ich noch was reden!“

„Du? Mit mir?“

„Ja! Ich! Mit dir!“

„Haha!“ Pepperl versuchte so von oben herab einen Ton anzuschlagen, der ihm nicht ganz gelang. „Wir zwei haben ausg’red’t miteinander! Und wenn schon meinst, du mußt mir was sagen, so such’ dir ein’ andere Zeit dafür aus! Heut’ weiß ich mir was bessers!“

Stolz machte er einen Schritt zur Thüre; doch Burgi war flinker, stieß den Riegel vor und nahm eine so kühne Fechterstellung ein, als wollte sie sagen: „Jetzt probier’, ob d’ ’nauskommst!“

Das ging dem Praxmaler-Pepperl über die geduldige Leber, und er fuhr auf, mit zornrotem Gesicht: „Du! Solchene Sachen verbitt’ ich mir fein!“ Er fand auch gleich für diesen Gewaltstreich das richtige Advokatenwort: „Die berseenliche Freiheit laß ich mir net beschränken!“

„G’hören thät’s dir aber, daß man dich einsperren thät’!“ fiel Burgi mit heißer Erregung ein. „So ein’, wie du bist, sollt’ man ja doch net freilings laufen lassen! Dir g’höret ein Halsbandl, dir!“

„Natürlich, mit ein’ Schnürl dran … daß du mich führen könnt’st! Aber gelt! Mich laß in Ruh’! Führ’du dein’ Schwarzlackierten spazieren … den mit die seidenen Höserln!“

„Du … du …“ Sie ballte die Fäuste und brachte nur mühsam die Worte heraus. „Ueber den … da sag’ mir fein nix mehr … du!“

„Dir sag’ ich noch viel!“

„Mein’twegen, ja! Aber gelt? Mit deiner Tugendhäftigkeit, da kannst mich auslassen, du! Und mit die Gomorringer! Denn die wann ausrucken, bist du als Korporal dabei.“

„Wer weiß, ’leicht awanzier’ ich gar noch zum Leutnant!“

„Ja, da hast recht! Du bringst es noch weit! Heut’ hab’ ich dich ausstudiert, du scheinheilig's Brüderl, du! Jetzt kenn’ ich dich, weißt! Denn so, wie du heut’, hat sich ja doch net bald einer aufg’führt!“

„Natürlich, ich hab’ halt was g’lernt von dir!“ erklärte Pepperl mit höhnischem Gelächter. „Schlechte Beispieler, weißt, verderben halt gute Sitten!“

„Verderben? So? Verderben?“ keuchte Burgi, als hätte ihr dieses Argument einen Stoß ins Leben versetzt. „An dir is noch was zum verderben? Meinst? Ja, kann schon sein … aber da bist in der richtigen Schul’ … bei der! So eine, freilich … die wachst net bei uns … die muß extra aus’m Frankreich kommen! Wie’s die versteht! Ah! Ah! Pfui Teufel! Und net einmal Deutsch kann s’, die!“

„Macht nix! Ihr Bussel, das hab’ ich schon gut verstanden!“

„So? Hast es verstanden?“ höhnte Burgi, während ihr die Thränen in die Augen sprangen. „Gut verstanden? So?“

„Ja! Und sie haben was Extrigs, die franzeesischen Busseln … da muß ich schon schauen heut’, daß ich noch eins derwisch …. drum geh’ von der Thür weg, sag’ ich, und laß mich ’naus!“

„So? ’Naus thätst mögen? ’Naus?“ Sie retirierte einen Schritt und machte die Ellbogen breit, um den Riegel zu decken. „Fensterln? Bei der? Das thät’ dir halt taugen, dir? Gelt?“

„Und wie! Es taugt ja dir auch net schlecht, wenn der ander kommt: Main scheenes Gindd!“

„Und du: Schö wussem, schö wussem …“

„Schö wussem, ja,“ schrie Pepperl mit erloschener Stimme, „schö wussem … noch tausendmal sag’ ich’s ihr heut’!“ Er machte einen drohenden Schritt. „Von der Thür geh’ weg!“

„Ich mag net! Na!“ Und während ihre Augen immer größer wurden, stemmte sie sich mit dem Rücken gegen die Bretter.

„Gehst weg oder net?“

Sie starrte ihn an, regungslos, mit einem Gesicht, das wie versteinert schien. Je bleicher sie wurde, desto dunkler stieg dem Praxmaler-Pepperl das Blut in die Stirn. „Geh weg, sag’ ich … zum letztenmal!“ Aber sie rührte sich nicht.

Da riß ihm die Geduld. Er machte einen Sprung zur Thür und versuchte Burgi mit dem Ellbogen beiseite zu schieben. Aber sie klammerte sich an den Riegel, als hinge ihre Seligkeit an diesem Stücklein Holz. Pepperl tauchte mit der Schulter an und schob und drückte, bis er den Riegel zur Hälfte frei bekam. Nun riß er ihn auf, und schon klaffte die Thür um einen handbreiten Spalt – aber als gält’ es jetzt einen Kampf auf Leben und Tod, so warf sich Burgi dem Feind entgegen, packte ihn mit der einen Hand an der Brust, mit der anderen an der Kehle, und suchte ihn mit verzweifelter Kraft von der Thüre wegzureißen. Und wirklich, Pepperl war von diesem jähen Ueberfall so völlig überrascht, daß er schon bis in die Mitte der Stube gezogen war, bevor er noch recht an Widerstand denken konnte. Aber jetzt erwachte die Wut in ihm. Mit Zucken und Zerren versuchte er sich freizumachen und wurde grob dabei. Doch Burgi hielt ihn mit den Armen umklammert, ihre letzte Kraft erschöpfend, und ließ ihn nicht los. Da begannen sie ein Ringen, wortlos und keuchend. Als wären ihre Körper festgewachsen aneinander, so bogen und krümmten sie sich – –

Dann plötzlich – als hätte ein Zauber ihre Kräfte gelähmt – standen sie regungslos, alle beide. Sie hielten sich mit den Armen noch umschlungen wie im Ringen – aber sie sahen sich an, bleich und erschrocken, Aug’ in Auge, mit einem Blick, der in die Herzen tauchte. Sie wollten sprechen, aber sie lallten nur – und eines schloß dem anderen die Lippen mit brennendem Kuß.

Die Stubendecke pumperte über ihren Köpfen, und eine Lachsalve nach der anderen prasselte dort oben im Heu.

Aber die beiden hörten es nicht. Sie waren auf die Herdbank niedergesunken, hielten sich mit den Armen umschlossen und wurden nicht satt an ihren Küssen. Nur einmal, scheu, hob Burgi das Gesicht und flüsterte: „Pepperl …“

„Ja, mein Schatzerl?“

„Neulich, weißt … da hat er mich busseln wollen … und … da hab’ ich ihm eine ’runterliniert!“

„Geh? Is wahr?“ Dieses Bekenntnis rührte ihn fast zu Thränen, als hätte sie ihm ihre Liebe besser nicht beweisen können als durch das „Zähntweh“ des Kammerdieners. „Geh? Is wahr! Na! So ein guts Madl wie du bist – so ein gut’s giebt’s nimmer auf der Welt! … Aber gelt? Das einschichtig Bussel von der andern da … das thust mir schon auch net verübeln?“

„Aber g’wiß net! G’wiß! Wir müssen noch froh sein, daß ’s bloß ein einzig’s war! Und sie hat’s ja dir ’geben … da kannst ja du nix dafür!“

„Ja, da hast recht!“ Dankbar zog er sie an seine Brust, und nun saßen sie wieder schweigsam und hielten sich fest umschlungen.

Droben auf dem Heuboden schien der übermütigen Gesellschaft allmählich der Schlaf zu kommen. Nur ein paarmal hörte man noch ein leises Gekicher, das sich in lautlose Stille löste.

Die Kienfackel an der Wand war schon erloschen; der Stumpf aber glühte noch und winzige Funken fielen von ihm zu Boden. Kleiner und kleiner wurde das Feuer auf dem Herd. Doch bevor es in stille Glut versank, züngelte knisternd noch ein letztes bläuliches Flämmlein auf.

[342]
18.

Mitternacht war vorüber. Dunkel und schweigsam, mit matt flimmernden Sternen, um die sich dünne Nebelschleier zu ziehen begannen, lag die Nacht über dem Tillfußer Almfeld, über Haus und Hütten. Nur manchmal hörte man leis die Glocke eines Rindes – und wie ein schwermütiges Lied in weiter Ferne, so sang der Wildbach im Thal.

Am Jagdhaus waren zwei Fenster noch erleuchtet, und eines von ihnen stand offen – es waren die Fenster am Wohnzimmer des Fürsten.

Zwei spähende Augen blickten durch die Nacht zu diesen hellen Fenstern auf. Doch sie sahen nichts, diese Augen, als den ruhigen Schein der Lampe. Angedrückt an die schwarze Holzwand der Jägerhütte, saß Mazegger auf der Erde und hielt mit den Armen die Kniee umschlungen.

Einmal hörte er Schritte dort oben, als ginge der Fürst im Zimmer auf und nieder. Dann war’s wieder still.

Nun flackerte an einem dritten Fenster ein Schein auf, nur matt, als würde ein Licht vorübergetragen.

Mazegger sprang auf, stieß die Schuhe von den Füßen, huschte über den Weg hinauf und duckte sich hinter den Hofzaun, dicht unter dem offenen Fenster.

Droben war eine Thür gegangen.

Und jetzt die Stimme des Fürsten, kalt und ruhig. „Baronin? … Wollen Sie wieder zur Bühne gehen? Und studieren Sie die Rolle der Lady Macbeth?“

Ein perlendes Lachen. „Sie noch auf? Das ist eine Ueberraschung! Hätt’ ich das ahnen können, dann würd’ ich meine schlaflose Langweile geduldig ertragen haben … ohne Sie zu stören. Aber der Band Maupassant, den Martin für mich aussuchte, war zu Ende gelesen, ich wollte einen neuen haben … wollte mein geplagtes Mädchen nicht wecken, und da der Bücherschrank in diesem Zimmer steht … was blieb mir übrig?“

„Ich bitte, Baronin …“

„Nein!“ Wieder jenes helle, schöne Lachen. „Jetzt kein Buch! Da Sie noch auf sind, sollen Sie mir Gesellschaft leisten, bis mir der Schlaf kommt. Sie sind ohnehin der Schuldige, dem ich diese schlaflose Nacht verdanke. Ja! … Aber wollen Sie mir nicht eine Cigarette geben? Da plaudert sich’s besser.“

Eine kleine Weile war Stille.

„Danke! … Aber Sie sind müde, Fürst?“

„Ich? Nein!“

„Ich meinte nur … weil Ihre Hand zitterte, als Sie mir Feuer gaben?“

„Sie irren sich, Baronin.“

„Wirklich? … Merkwürdig! Denn ich beobachte doch sonst so gut! … Aber wie können Sie nur in dieser kühlen Nacht bei offenem Fenster sitzen! Wie unvorsichtig!“

Baronin Pranckha erschien am Fenster. Ihre Büste war dunkel im Schatten, doch die halb entblößten Schultern und die von durchsichtigen Spitzen kaum verhüllten Arme waren im Lampenschein von roten Lichtlinien umzogen.

Leis klirrten die Scheiben, als sie das Fenster schloß. Und dann verschwand sie wieder. Jetzt hörte man wohl die Stimmen noch, aber es war kein Wort mehr verständlich.

Lautlos, geschmeidig wie eine Katze kletterte Mazegger am Flaggenmast hinauf und kam so hoch, daß er einen Blick in das Fenster werfen konnte. Da sah er ein ruhiges Bild – einen Teil des Zimmers mit dem Schreibtisch, auf dem die Lampe stand. Ettingen kehrte dem Fenster den Rücken, und ihm gegenüber ruhte die schöne Frau in einem Fauteuil, von weißen Spitzen umflossen; ihr Haar, das im Schein der Lampe flimmerte wie rotes Metall, umringelte den Hals und die schneeigen Schultern und zitterte wie Goldgespinst bei jeder leisen Bewegung des Hauptes; die eine Hand lag mit nervösem Spiel auf der Kante des Schreibtisches, in der anderen hielt sie die brennende Cigarette; so plauderte sie, bald ernst, bald wieder lächelnd; doch plötzlich legte sie die Cigarette fort, und halb sich aufrichtend, sah sie dem Fürsten mit flammenden Augen ins Gesicht. Sie sagte nur ein Wort, ein einziges kurzes Wort … ob es sein Name war? Der Fürst erhob sich – und nun konnte Mazegger sein Gesicht sehen – es war bleich, hart und ernst.

Hastig ließ sich Mazegger über die Stange hinuntergleiten, huschte über den Hof zum Haus hinüber und legte das Ohr an die Mauer. Doch er hörte nichts anderes als nur ein verworrenes Geräusch der Stimmen. Aber wie erregt diese beiden Stimmen klangen! Wie Rede und Gegenrede aufeinander folgten, kurz und heftig! Nun lautlose Stille. Und dann sprach der Fürst allein, immer allein, und nur selten unterbrach ihn die andere Stimme erregt mit einigen Worten. Jetzt wieder Schweigen, dem ein perlendes Lachen folgte – ein Lachen, welches zu sagen schien: das alles glaub’ ich dir nicht! – Der Fürst war stumm geworden, und nur noch diese Frauenstimme klang, kein anderer Laut sonst. Wie viel sie zu erzählen und zu erklären hatte! Das währte wohl eine Stunde und länger noch! Und wie diese Stimme wechselte im Ton! Bald klang sie wie in ersticktem Zorn, bald wieder flog sie in leidenschaftlicher Hast, die Worte überstürzend, dann stockte sie und verwirrte sich, wurde leise, schmeichelnd und süß. Fast hörte man keinen Laut mehr. Jetzt sprach der Fürst, ganz ruhig, nur wenige Worte, die ein

gepreßter Schrei übertönte. Ein Stuhl wurde gerückt, hastige Schritte klangen, durch den Lichtschein des Fensters glitt ein Schatten – und nun ein Stammeln und Flehen, halb wie Lachen und halb wie Schluchzen, ein Ton, der dem lauschenden Jäger alle Sinne schauern machte. Dumpfe Stille – dann ein jähes Auflachen, herb und mißtönig, das Geräusch einer Thür – und wieder Schweigen. Aber das währte nicht lang – klirrend wurde droben das Fenster aufgerissen.

Mazegger drückte sich regungslos an die Mauer. Im Lichtschein, der übers Almfeld hinausfiel, sah er den Schatten des Fürsten – und deutlich hörte er den tiefen Atemzug, mit dem der Einsame dort oben die frische Bergluft trank wie eine köstliche Erquickung.

Der Schatten im Fensterlicht verschwand, und man hörte den Schritt des Fürsten, der im Zimmer auf und nieder ging. Ein Stuhl wurde gerückt – und dann war’s still.

Noch lange stand Mazegger in der Nacht und spähte zu dem hellen Fenster hinauf. Kein Laut mehr, dort oben – aber auch die Lampe erlosch nicht. Wie gebrochen an allen Gliedern taumelte der Jäger zu seiner Hütte hinunter, nahm die Schuhe vom Boden auf und trat in die Stube. Er machte Licht und zog die Uhr. Drei Uhr vorüber – in einer halben Stunde mußte der Tag beginnen.

Immer mit der Uhr in der Hand, stand Mazegger am Tisch und starrte brütend vor sich nieder. Sein Gesicht war grau wie Asche, und die Augen brannten ihm wie im Fieber.

Schwankend ging er zum Bett, warf sich auf die Matratze und brütete mit starrem Lächeln vor sich hin.

Draußen begann es zu dämmern. Da huschte ein Schritt an der Hütte vorüber, vorsichtig und leis, als möchte er nicht gehört werden. Das erleuchtete Fenster der Jägerhütte war ihm offenbar nicht ganz willkommen, denn er duckte sich, um ungesehen vorüberzuschlüpfen. Schon wollte er auf den Fußspitzen in das Försterhäuschen schleichen, als ihn eine Stimme anrief: „Praxmaler?“

„Mar’ und Josef!“ stotterte Pepperl. „Der Herr Fürst!“ Scheu trat er seinem Herrn entgegen, der über den Weg herunterkam. „Ja Duhrlaucht! Was machen denn Sie schon auf? In aller Fruh?“

Ettingen lachte. „Das begreifen Sie nicht? Ein Jäger? Sie sind ja doch auch schon munter!“

„Ja mein, ich … das is ganz was anders!“

„Wo waren Sie denn heute schon?“

„Ich? Nirgends! Na, na! Gott bewahr’! Ich bin nirgends g’wesen!“ stammelte Pepperl. „Bloß da drunten … ein bißl da drunten halt … weil ich ein bißl ausschauen hab’ wollen, wie sich der Tag heut’ anlaßt, ja … weil ich befohlen bin … mit’m Herrn von Sensburg, zur Gamsbirsch. Den muß ich wecken jetzt! Gleich!“

„Lassen Sie den nur schlafen und gehen Sie lieber mit mir!“

„Mit Ihnen, Duhrlaucht? Gott sei Dank! Das is mir freilich lieber! Und der ander Herr, mein’ ich, thut sich eh viel leichter im Bett als wie auf der Gamsbirsch! … Aber wohin denn, Duhrlaucht?“

„Wohin Sie wollen. Nur hinauf! Hoch hinauf! Ich möchte eine Stunde früher die Sonne sehen.“

„Da steigen wir zum Steinernen Hüttl ’nauf … das is der nächste Weg in d’ Höh. Und gleich bin ich fertig!“

„Noch eines … hier ist ein Brief. Der soll an Graf Sternfeldt übergeben werden, sobald er aufsteht. Ich bitte, besorgen Sie das. Und bis Sie sich fertigmachen, geh ich langsam voraus.“

Ettingen folgte dem Steig, der sich in das matte Zwielicht des Waldes verlor.

Als Praxmaler in seine Hütte treten wollte, wurde er von einer zischelnden Stimme angerufen: „Peppi!“

Mazegger kam auf ihn zugesprungen.

„Was is?“

„Ich hab’ dich reden hören mit dem Herrn Fürsten … kannst ja mir den Brief geben. Ich besorg’ ihn.“

Hätte Pepperl nicht Kopf und Herz mit anderen Dingen voll gehabt, so hätte ihm der seltsame Klang dieser Stimme auffallen müssen. So aber sagte er: „Ja, is recht … und is mir lieber, als daß ich den Herrn Förstner aus’m besten Schlaf wecken muß! Aber gelt, ich kann mich verlassen auf dich?“

„Ja! Gieb her …“

„No, no, no? Was hast denn? Geh, du bist einer! Reißt er mir den Brief aus der Hand als wie … ich weiß net, wie!“

Ohne zu antworten ging Mazegger zu seiner Hütte. Auf der Schwelle blieb er lauschend stehen, bis er die davoneilenden Schritte des Jägers hörte, der seinem Herrn folgte. Dann schloß er am Fenster die Läden, trat in die Stube und verriegelte die Thür. Schwer atmend, mit starren Augen und klaffenden Lippen stand er und lauschte – rings um die Hütte war alles still. Nun untersuchte er den Brief und drehte ihn hin und her, langsam, als wäre das leichte Papier so schwer wie Blei. Der Brief war nicht gesiegelt, nur leicht verklebt.

Mazegger öffnete ihn – und damit kein Lichtschein durch die Ritzen der Läden hinausfallen möchte, schraubte er an der Petroleumlampe die Flamme ganz klein herunter. Bei diesem trüben Zwielicht las er:
„Drei Uhr Morgens.  

  Lieber Goni!
Du hast recht gehabt! Ich sollte nicht erlöst werden ohne ,Gewaltstreich‘. Aber sie war es, die ihn versuchte – mit einer plumpen Reminiscenz an die französische Komödie, deren Heldinnen sie ja verkörperte, bevor sie den adeligen Hochstapler fand, der ihr seinen Namen gab und dann auf Reisen ging, damit sie ungestört die ‚schöne Witwe‘ spielen und ihre Netze stellen konnte. Aber was mich in meinem Wahnsinn damals, als ich allen Zusammenhang erfuhr, vor Ekel krank machte, krank auf den Tod fast – daran kann ich heute denken, als wär’ es nie gewesen, als hätt’ es mich nie berührt, als läge für mich eine ganze Welt zwischen damals und heute, ein Feuer, das mich reinigte, als ich seine Flammen durchschritt. Und denk nur, Goni, sie kam, um die Flitterwochen ihrer Freiheit mit mir zu verleben! Denn sie hat sich scheiden lassen – das war der Grund ihrer langen, Dir so unbegreiflichen Reserve – sie wollte frei sein, um mir sagen zu können: ich habe mich frei gemacht, für dich! Daß sie mir das nicht einen Monat früher sagte – das ist für mich ein Glück, das ich meinem Gott und meinem guten Engel danke. Ich glaube, ich wäre bei meiner falschen Vorstellung von dem, was ‚Verpflichtung‘ heißt, noch vor wenigen Wochen zu jeder Thorheit fähig gewesen, auch auf die Gefahr hin, mit Bewußtsein mein Leben zu vernichten. Aber daß sie für das Bekenntnis ihres ‚Opfers‘ gerade diese Stunde wählte und dazu ein Kostüm, wie für die Rolle der ,Iza‘ im ‚Fall Clemenceau‘ geschnitten – das war ein schlechtes Spiel, mit dem sie gegen meine gute Karte nicht aufkam. Das hat mir die Bilanz meiner Vergangenheit und Zukunft leicht gemacht. Nun ist alles vorüber und abgethan! Gründlich! Wie ich aufatme! Und nun brauch’ ich Dir gar nicht mehr zu schreiben: Mache mein Haus rein, Goni, und ich will es Dir danken! Denn ich bin überzeugt, sie wird den Wagen schon befohlen haben, noch ehe Du am Morgen munter wirst. Daß ich nach einem solchen Auftritt keine Stunde mehr mit ihr unter dem gleichen Dach verbringe, wirst Du begreiflich finden. Nur diese Zeilen schreib’ ich Dir. Dann weck’ ich den Jäger und steige mit ihm hinauf – hoch, hoch hinauf, wo ich Sonne und reine Luft finde. Am Abend komm’ ich heim – und ich bitte Dich, Goni, laß im Jagdhaus alle Fenster öffnen! Weit!

Und doch – eigentlich muß ich ihr dankbar sein. Denn sie verhalf mir zu einer Erkenntnis, die ich gestern noch nicht besaß – zur Erkenntnis meines Glückes, das gestern noch unbewußt in mir blühte wie ein Gefühl wunschloser Freude, ruhig, heiter und schön. Doch als ich diese Frau so vor mir stehen sah, mit ihrer blendenden Schönheit und all ihrem innerlichen Unwert, da zwang sie mich zu einem Vergleich, da sah ich neben ihr eine andere stehen – wie neben einer faulen Frucht der Großstadt eine reine, schöne Blume der Berge. Ach, Goni, wie wurde mir da die Wahl so leicht! Wenn ich Dir nur sagen könnte, wie mir zu Mute war, als es so plötzlich Licht wurde in mir, als ich so jählings das Glück erkannte, das mich erwartet wie ein blühender Frühlingstag, so plötzlich fühlte, daß ich liebe! Ja, Goni, ich liebe, liebe, liebe! Mit meiner Seele! Tief und heilig! Ein Glück, das ich gefunden habe auf reinem Weg! Erinnerst Du Dich an dieses Wort meines ersten Briefes? Nun ist es zur Wahrheit an mir geworden. Aber nun hab’ ich mein Glück erkannt, nun will ich es auch gewinnen und wahren an meiner Brust! Mit starken Armen. Mehr kann und will ich Dir jetzt nicht sagen. Ihren Namen herschreiben auf dieses gleiche Blatt, auf dem ich von jener anderen schrieb? Nein! Das wäre Entweihung. Am Abend, wenn ich heimkomme, sollst Du alles wissen. Und morgen, Goni, morgen hol’ ich mein Glück! Küsse mir das Bild meiner Mutter, Du Guter und Treuer, und freue Dich mit dem glücklichsten der Menschen. Das ist Dein Heinz.“ 

Mazegger hatte schon längst zu Ende gelesen, und noch immer saß er über das Blatt gebeugt, das in seinen Händen zitterte. Sein fahles Gesicht war verzerrt, und mit einem Lächeln, das alle Zähne sehen ließ, als wären ihm die Lippen eingetrocknet, raunte er nur immer das eine Wort des Briefes vor sich hin: „Morgen hol’ ich mein Glück … morgen hol’ ich mein Glück …“

Plötzlich fuhr er auf, als hätte ihn eine Stimme geweckt. Erschrocken sah er um sich, schob den Brief in den Umschlag und verschloß ihn. Hastig blies er die Lampe aus und stieß am Fenster die Läden auf. Draußen war es Tag geworden.

Als wüßte er nicht, was er that, so verloren ging er zum Tisch zurück und betrachtete wieder den Brief.

„So? … Morgen? … Morgen? …“

Er lachte heiser, und seine Augen glühten. Dazu machte er eine Bewegung, als wollte er den Brief in Fetzen reißen.

Da trat der Förster in die Stube. „Guten Morgen, Toni! Und gut, daß d’ noch daheim bist. Heut’ mußt mit mir … Aber was hast denn da?“ Er nahm dem Jäger den Brief aus der Hand. „An Herrn Grafen? Und die Schrift von der Duhrlaucht? Ja, von wem hast denn den Brief?“

„Vom Peppi.“ Mehr zu erklären, hielt Mazegger nicht für nötig.

„Der Brief muß ja b’sorgt werden! Gleich auf der Stell’!“ Mit diesen Worten eilte Kluibenschädl davon.

Finsteren Blickes sah ihm Mazegger nach. Daß er heute den Förster begleiten sollte, gerade heute, das schien ihm nicht zu passen. In aller Hast machte er sich fertig, warf die Büchse hinter den Rücken, steckte mit zitternder Hand ein paar Patronen zu sich und schritt über das Almfeld hinunter. Doch bevor er den Wald noch erreichen konnte, klang hinter ihm die Stimme des Försters: „He! Toni! Was is denn? Warten, sag’ ich!“

An der Lippe nagend, blieb Mazegger stehen, bis der Förster ihn eingeholt hatte.

„Wo rennst denn hin? Ich hab’ dir doch g’sagt, daß ich dich brauch’! Oder hast schon wieder dein’ eigenen Kopf? Was? Und ausschauen thust wieder! Hast am End’ ein’ Ausflug g’macht in der Nacht … Gott weiß wohin?“

Mazegger wandte sich wortlos ab.

„Heut’ bleibst bei mir! Wir müssen die neuen Steig’ vermessen. Da haben wir Arbeit den ganzen Tag.“

„So?“ Mazegger lächelte. „Aber die Nacht? Die gehört doch mein?“

Der Förster sah ihn von der Seite an. „Was das jetzt wieder für eine Red’ is! D’ Nacht, natürlich, die g’hört freilich dein.“

„Gut! Mehr brauch’ ich nicht.“

„Zu was?“

„Zum schlafen.“

„Geh, du!“ brummte der Förster und schüttelte den Kopf.

Sie verschwanden im Wald. –

Eine stille Morgenstunde, und dann kam die Sonne. Heute flog sie die Berge nicht mit jenem reinen Schimmer an, der all die hohen Felsen wie in durchsichtiges Flammengebilde verwandelt. Es war etwas Trübes in ihrem Feuer. Und die dünnen Nebel, die mit zerrissenen Formen hoch in den Lüften schwammen, glühten so rot, als wären Blutbäche über den mattblauen Himmel ausgegossen. Auch die Sonne selbst, als sie hinter den östlichen Bergen hervortauchte, hatte einen roten Schleier umgehangen – man konnte sie ansehen, ohne geblendet zu werden. –

Hoch droben über dem Bergwald, auf einem steilen, von Almrosen überwucherten Gehäng’, das die Sonne mit ihrem roten Feuer schon überleuchtete, ruhten Ettingen und Praxmaler zu Füßen einer einsamen Zirbe.

Pepperl saß mit dem Rücken gegen den Stamm gelehnt, so schwer, als hätte er eine Stütze recht nötig. Und er machte kein lustiges Gesicht. Die zehn „Viertelen“ rumorten wohl in seinen Haaren, denn er sah übernächtig aus und hatte Ringe um die Augen. In seinen Blicken, die das Thal suchten, leuchtete es wohl manchmal auf wie Glück und Freude, aber das erlosch immer wieder in trüber Kümmernis wie droben das Sonnenlicht in Nebelschleiern. Dazu wurde er, je länger er saß, immer schläfriger; ein um das andere Mal fielen ihm die Augen zu für einen kurzen „Sumser“, aus dem er mit erschrockenem Nicker wieder auffuhr.

Im Gesicht des Fürsten aber hatte die durchwachte Nacht keine Spur von Ermüdung zurückgelassen. Ettingen lag behaglich ausgestreckt in den Almrosenbüschen, über die der Wettermantel gebreitet war. Mit dem Blick des Glücklichen, für den alle Rätsel seines Lebens sich aus schwüler Nacht zu schönem Tage lösten, sah er träumend und lächelnd über den Bergwald in ziellose Ferne hinaus und empor zum glühenden Himmel.

Wieder einmal fuhr Pepperl aus kurzem Schlummer auf.

„Was meinen S’, Duhrlaucht … heut’ macht’s ein Lüfterl, da könnt’ man rein einschlafen dabei … sollten wir net ein bißl weiterbirschen?“

„Nein. Ich will nicht jagen heut’. Nur ruhen … so wie jetzt. Das alles zu sehen, wie das leuchtet, der Wald, die Berge, der Himmel … wie schön das ist! Bleiben wir nur!“

Pepperl seufzte. Um sich wach zu erhalten, mußte er wenigstens versuchen, einen „Dischkurs“ in Gang zu bringen.

„So ein Himmel wie der heut’? Der g’fallt Ihnen? Mir net! Na!“

„Ich habe noch keinen gesehen, der mir besser gefiel.“

„Aber ich bitt’ Ihnen, schauen S’ doch die verzupften Wölkerln an! Das is ein grauslichs Wetterzeichen. Morgen kriegen wir schlechte Birsch und ein’ trüben Tag.“

„Meinen Sie? … Nein! Wie morgen der Tag auch sein mag, er wird helle, reine und schöne Sonne haben!“

„Da täuschen S’ Ihnen. Herr Fürst … da möcht’ ich gleich wetten drauf.“

Als Ettingen nicht antwortete, machte Pepperl noch ein paar Versuche, den abgerissenen Gesprächsfaden wieder anzuknüpfen. Umsonst. Schließlich ergab er sich in stummer Geduld, und dann fielen ihm wieder die Augen zu.

Eine schweigsame Weile verging. Da machte ein Rascheln den Fürsten aufblicken. Praxmaler war mit dem Rücken halb über den Stamm hinuntergeglitten und fing schüchtern zu schnarchen an.

„Gute Nacht, Pepperl!“

Nun streckte sich auch Ettingen bequemer aus und verschränkte die Hände unter dem Nacken. So blickte er träumend zu den ziehenden Wolken auf, deren Rot immer blässer wurde, bis sie weißlichen Glanz bekamen.

Als hätte, was er fühlte und sann, nicht Raum in seinem Innern, als wäre die Brust zu enge dafür und als müßt’ es heraus an den Tag, so flüsterte er lächelnd vor sich hin:

„Lo’! … Meine Lo’!“

Tief atmend, mit diesem Lächeln auf den Lippen, schloß er die Augen, weil ihn der silberne Glanz der Wolken blendete.

Stille. Träumende Sonnenstille.

Kaum hörbar fächelte der laue Wind um die Almrosenbüsche mit ihren halb verwelkten Blüten, machte die Blätter zittern und rollte wie spielend die abgefallenen Blütenkelche über das kurze Gras.

Langsam zogen die weißen Wolken im Blau, sammelten sich immer dichter und hüllten schon die höchsten Spitzen ein. Doch immer noch fand die Sonne zwischen Nebel und Gewölk eine Gasse für ihre Strahlen. –

Es war schon Mittag vorüber, als die beiden aus diesem wohligen Sonnenschlaf erwachten. Sie stiegen über den Berghang hin und hielten Einkehr im „Steinernen Hüttl“ – in einer aus groben Felsblöcken gefügten Sennhütte. Da gab es freilich nichts besseres als Milch und grobes Brot mit frischer Butter – aber die beiden verspürten nach diesem Schlaf einen Hunger, der mit allem zufrieden war.

Während sie neben der Sennhütte auf dem Rasen kauerten, jeder mit der Milchschüssel auf den Knieen, fragte Ettingen: „Sagen Sie mir, Praxmaler … Sie sind heute nicht wie sonst … was ist denn los mit Ihnen?“

„Nix! Na, na! Gar nix!“ Pepperl wurde rot bis über die Ohren. „G’wiß wahr! Nix, nix, nix!“

„Doch, Pepperl! Sie kommen mir heute so gedrückt vor, so unruhig? Haben Sie Unannehmlichkeiten in Ihrer Familie?“

„Ah na! Gott bewahr’! No ja, wissen S’, Duhrlaucht … freilich, in der Familli, da giebt’s allweil ein bißl was … ja, ja, es wird schon so was sein … wie mit der Familli.“

Ettingen stellte die Schüssel beiseite. „Na also, was ist denn los? Mir dürfen Sie alles sagen. Ich bin Ihnen doch ein guter Herr, nicht wahr? Sie können wirklich ganz offen mit mir reden. Was drückt Sie?“

Pepperl schluckte. „Schauen S’, Duhrlaucht … weil S’ so freundschaftlich mit mir reden, da kann ich auch net z’ruckhälterisch sein … da muß ich schon gleich alles ’raussagen.“ Er seufzte schwer, guckte tiefsinnig in die Milch und drehte die Schüssel zwischen den Knieen. „Ein bißl was dummes hab’ ich halt ang’stellt.“

„Im Dienst?“

„Gott bewahr’!“ wehrte Pepperl ganz erschrocken ab. „Auf der Jagd, da hab’ ich mein Köpfl allweil bei ’nand’!“ Jetzt Wurde er wieder kleinlaut. „Aber in der Lieb’ halt … in der Lieb’ hab’ ich ein Dalken g’macht.“

Ettingen lachte.

Dem Praxmaler-Pepperl aber war bitter ernst zu Mute. „Wissen S’, Duhrlaucht, da hab’ ich mich jetzt in so ein Madl verschaut. Z’erst haben wir allweil g’stritten und g’hachelt miteinander, und auf einmal … no ja!“ Pepperl seufzte. „Aber is ein lieb’s Madl, das muß ich sagen. Recht ein lieb’s und ein bravs Madl! Die Burgi drunten, wissen S’!“

„Unsere Sennerin? Brav, Pepperl! Zu dieser Wahl gratulier’ ich Ihnen. Das ist wirklich ein nettes Mädl.“

Diese Zustimmung schien Pepperls Herz ein wenig zu erleichtern. „Gelten S’, die g’fallt Ihnen? Gelten S’, ja? Is ein liebs Madl! Und so viel gern hat’s mich, so viel gern! No ja … und jetzt muß g’heirat’ werden, geh’s wie’s mag, jetzt hab’ ich die Verantwortigung!“ Mit beiden Händen fuhr sich Pepperl kummervoll in die Kreuzerschneckerln. „Ich hab’ schon ’s Pech … ich komm’ aus der Verantwortigung gleich gar nimmer ’raus! Jetzt muß halt g’heirat’ werden, in Gott’snamen! Aber d’ Mutter! Mar’ und Josef! Die wird ein’ schönen Spittakel machen! Teufi, Teufi, Teufi … da g’freu’ ich mich drauf!“

„Ihre Mutter?“

„No ja, wissen S’, wie d’ Mütter halt sind! Das wär’ so ihr Gusto g’wesen, daß ich einmal g’scheid heiraten thät’. Und jetzt bin ich so ang’rumpelt! Ein lieb’s Madl, freilich, und gern hab’ ich’s! Aber haben thut’s halt nix, rein gar nix, wissen S’, nixer wie nix … und d’ Mutter und ich, wir haben vom Vater her noch Schulden aufm Häusl … und nachher, ’s Madl hat ein’ Vater, so ein’ alten Krackler … den muß ich natürlich ins Haus nehmen und muß ihn derhalten. D’ Mutter wird ihn freilich ordentlich kuranzen, da sieht er ’s ganze Jahr kein Wirtshäusl nimmer außer auf Ostern und Weihnächten … aber no, sein G’wand und sein richtig’s Essen muß er ja dengerst kriegen … und so wird’s halt Sorgen über Sorgen geben … in der Familli! Aber hab’ ich A g’sagt, muß ich Be sagen, in Gott’snamen! Und da wär’s mir schon lieb, Herr Fürst, wenn S’ mir als Jagdherr d’ Heiratsverlaubnis geben thäten. Ich thät’ schon recht schön bitten, ja!“ Er hatte nasse Augen, als er das sagte.

„Die geb’ ich Ihnen von Herzen gerne.“

„Gott sei Dank!“ Pepperl atmete auf. „Da is mir schon der ärgste Stein von der Seel’!“

Ettingen lächelte und sah dem Jäger mit herzlichem Blick in die Augen. Was wäre ihm in der Stimmung dieses Tages willkommener gewesen, als die Freude und das Glück zweier Menschen schaffen zu dürfen. „Wie viel Schulden haben Sie denn auf Ihrem Häuschen?“

Das ging hart heraus: „Dreihundert Gulden!“

„Die wird Ihre Braut schon bezahlen können.“

„Aber!“ Pepperl machte schiefe Augen zu diesem Witz. „Der muß ich ja zur Hochzeit die Pomeranzen kaufen … so viel hat die!“

„Nein, Pepperl! So viel ich weiß, hat Ihre Braut fünfhundert Gulden zur Aussteuer.“

„Ja, wär’ schon recht! Da müßt’s ihr rein einer schenken! Aber ein’ solchenen Narren giebt’s ja doch net auf der Welt!“

„Doch!“ Ettingen lachte. „So ein Narr bin ich!“

„Was?“ Pepperl verfärbte sich, und seine Hände zitterten, daß aus der Milchschüssel ein weißer Taufguß über die Kurzlederne niederging. „Was haben S’ g’sagt?“

„Daß ich der Burgi das zur Aussteuer gebe.“

„Mar’ und Josef … “

„Und der Förster hat viel Arbeit mit der Jagdverwaltung, er wird eine Hilfe brauchen … das haben Sie mir ja neulich bei der Jagd im Gaisthal drunten selbst gesagt … da will ich ihm vorschlagen, daß er Sie zum Oberjäger macht, mit entsprechendem Gehalt natürlich.“

„Was?“

„Haben Sie nicht verstanden?“

Die Milchschüssel kollerte über Pepperls Kniee hinunter. Mit starren Augen sah er den Fürsten an, schlug die Hände ineinander und stotterte: „Ich bitt’ Ihnen, Duhrlaucht, thun S’ mich net für ’n Narren halten!“

„Nein, Pepperl. Was ich sage, das gilt!“

In Zweifel studierte der Jäger noch eine Sekunde lang das Gesicht seines Herrn. Aber dann stieg ihm der Glaube und die Freude zu Kopf, wie ein elftes und zwölftes „Viertele“ vom roten Spezial. Wie ein Verrückter sprang er auf und schrie einen Jauchzer zum Himmel, daß der Senn vor die Thür gelaufen kam – einen Jauchzer, daß ihm die Sehnen am Hals hervortraten wie rote Striemen.

Und Ettingen bekam zu merken, daß es Menschen giebt, denen man ein Glück nicht minder vorsichtig mitteilen soll als eine Trauerbotschaft. Denn Pepperl drückte im ersten Sturm seinem Herrn die Hand, daß Ettingen noch eine Stunde später die Finger kaum bewegen konnte.

Aber mitten in dieser Freude kam dem Jäger gleich wieder eine Sorge. „Um Gottswillen, Duhrlaucht, wenn’s mit der Aussteuer wirklich wahr is, sagen S’ nur ja kei’m Menschen ein Wörtl davon!“

„Nein, Pepperl, das bleibt unter uns.“ Doch Ettingen hatte diese Bitte anders verstanden, als sie gemeint war.

„Denn wissen S’, wenn das unter d’ Leut’ käm’, da hätten S’ kein’ Ruh’ nimmer, Tag und Nacht. Da thät’ ja die ganz’ Gegend heiraten auf Ihnen ’nauf … und jeder, der ’was brauchen könnt’, thät’ sich denken: Ah was, der gute Kerl, der giebt mir schon auch was … hat er’s dem Pepperl ’geben, giebt er’s mir auch! … Nimmer schlafen könnten S’ vor lauter Brautleut’!“

Ettingen lachte. „Ja, Pepperl, da wollen wir lieber reinen Mund halten!“ –

Als sie den Heimweg antraten, hatte der Jäger solche Eile in den Beinen, daß er alle Augenblicke ein paar hundert Schritte voraus war und wieder stehen bleiben mußte, um auf seinen Herrn zu warten.

Ehe der Pfad sich in den Wald verlor, klomm er über eine vorspringende Bergrippe hinweg, von welcher aus man über die Wipfel frei hinunter sehen konnte ins Thal. Wie ein zierliches Spielzeug lag die Tillfußer Alm mit den Jagdhäusern und der Sennhütte da drunten.

Pepperl zog in seiner freudigen Ungeduld das Fernrohr auf. „Muß doch schauen, ob ich ’s Madl net sieh’!“

Das sah er nun freilich nicht – dafür aber etwas anderes: eine vierspännige Equipage und einen Zweispänner, die im Hof des Jagdhauses standen.

„Duhrlaucht! Da fahren ja Ihre Gäst’ davon! Die Herrschaften sitzen schon im Wagen und g’rad’ steigt der Herr Martin auf’n Bock … und jetzt fahren s’ ’naus zum Hof!“

Ettingen antwortete nicht; er machte nur lächelnd mit der Hand eine Bewegung, die jedes Wort ersetzte.

Pepperl aber war ganz aufgeregt. „Ja kommt denn der Herr Martin fort? Für ganz?“

„Ja. Und Sie werden seinen Dienst bei mir übernehmen müssen …“

Da machte Pepperl ein Gesicht, als hätte sich in seinem Freudenkelch der letzte Tropfen Wermut in Zucker verwandelt.

„ … und bei der Tafel servieren.“

Nun erschrak er. „Teufi, Teufi, Teufi, das wird sich hart machen!“ Mißtrauisch sah er seine klobigen Hände an. Dann aber lachte er. „Duhrlaucht … wann S’ heut’ zu mir sagen, ich soll ein’ Heuwagen auflupfen mit ein’ Zwirnsfaden, nachher probier’ ich’s auch!“

Und da ging es nun thalwärts ohne Aufenthalt. So flinke Beine Pepperl auch machte – Ettingen blieb nicht zurück hinter ihm. Bei diesem ungeduldigen Abstieg plauderten sie nur wenig. Der Fürst war in Gedanken versunken, und auch Pepperl hatte zu „sinnieren“ – er studierte sich’s aus, wie er’s der Burgi sagen wollte. Was die für Augen machen würde! „Teufi, Teufi, Teufi!“ Und selig lachte er vor sich hin.

Eine Stunde, und sie hatten die Tillfußer Alm erreicht. Als sie aus dem Wald traten, kam gerade der Förster mit Mazegger von der anderen Seite übers Almfeld heraufgestiegen. Schon von weitem winkte Kluibenschädl seinem Herrn zu und eilte ihm atemlos entgegen. „O mein Gott, mein Gott, Duhrlaucht, wenn S’ nur heut’ bei mir g’wesen wären. Da hätten S’ ein’ Hirsch g’schossen … ein’ Kapitalkerl!“

„So?“ Ettingen schien über den Entgang dieser Weidmannsfreude nicht sonderlich schmerzlich berührt.

„Ja, denken S’ … wie ich gegen Zehne vormittags beim Steigvermessen ’runterkomm’ aufs Straßl, schau ich so zufällig ’nunter zum Bach. Was steht drunten? Ein Kapitalhirsch! Gar net ’kümmert hat er sich um uns … und wer weiß, wie lang’ er noch g’halten hätt’, wenn ’s Malerfräul’n net daher’kommen wär’ …“

„Fräulein Petri?“

„Ja, die is auf ihrem Hansi ’nausg’ritten zum Sebensee. Natürlich, da hat sich der Hirsch davong’macht. Aber ganz g’mütlich is er ang’stiegen … zwei-, dreimal hätt’ man ihn noch derglangen können mit der Kugel … und d’ Haar’ hätt’ ich mir schier ausg’rissen, weil ich mir allweil hab’ denken müssen: Ja wenn nur der Herr Fürst da wär’, um Gottswillen, wenn nur der Herr Fürst da wär’!“

„Ja, Herr Förster,“ Ettingen lächelte, „ich weiß nicht, was ich darum gäbe, wenn ich bei Ihnen gewesen wäre.“

„Gelten S’, ja? Aber morgen müssen S’ ’nunter auf den Hirsch … der kommt schon wieder!“

„Nein, lieber Förster! Für morgen hab’ ich andere Pläne. Praxmaler!“

Pepperl, der zur Sennhütte hinuntergeschielt hatte, fuhr auf: „Ja, Herr Fürst?“

„Morgen machen wir einen Birschgang zum Sebensee. Früh um fünf Uhr … da sind wir draußen, bis die Sonne kommt.“

Ettingen nickte dem Jäger zu und ging zum Fürstenhaus hinauf, in dessen Thüre Graf Sternfeldt erschienen war.

Pepperl, um seine Büchse los zu werden, eilte ins Försterhäuschen. Kluibenschädl wollte ihm folgen. Aber da sah er Mazegger stehen und sagte freundlich zu ihm: „Jetzt leg’ dich aber schlafen, Toni! Du mußt ein’ ja erbarmen, wenn man dich anschaut … und seit Mittag hast dich ja schier nimmer auf die Füß’ derhalten können. Wenn mir gleich hundertmal sagst, es fehlt dir nix … so kann doch ein Mensch net ausschauen, wenn er richtig bei ’nander is! Sei g’scheid und schlaf dich ordentlich aus … und wenn dir morgen net besser is, gieb’ ich dir dienstfrei.“

„Morgen?“ Mazegger nickte und ging seiner Hütte zu.

Droben im Hof des Fürstenhauses war Sternfeldt dem Freunde lachend entgegengekommen.

„Schau hinauf, Heinz, wie wir gelüftet haben!“

Am Jagdhaus standen alle Fenster offen.

„Aber damit du das Ende der Komödie entsprechend heiter nimmst, hab’ ich eine Ueberraschung für dich. Baronin Pranckha und Mucki, der Edle von Sensburg, empfehlen sich als Verlobte.“

„Nein?“

„Wahrhaftig!“ Da lachte Ettingen hell hinaus.

„Ich war sogar Zeuge dieses weltgeschichtlichen Aktes. Dem kleinen süßen Mucki schien’s „ainigermaaasen“ überraschend zu kommen, als sie ihm vor meinen Augen feierlich die Hand reichte … um jedes Mißverständnis auszuschließen, wie sie sagte. Du hättest sein Gesicht sehen sollen! Im ersten Moment war er so verblüfft, daß er richtiges Hochdeutsch sprach … und das will viel sagen. Aber dann wurde er wieder ganz „Fiaker“, stellte sich möglichst empört über dich – was er sich dabei dachte, will ich nicht näher untersuchen – ärgerte sich, daß er „ohne Gams“ fort sollte, und gab dem drolligen Lied seiner Wut und Verlegenheit den klassischen Refrain: „,So eine Benehmitätt, großoatig!‘“ Sternfeldt lachte. „Er brauchte zehn Minuten, um sich in die Glücksstimmung hineinzuzappeln. Aber dann … ah! Als er mit ihr abdampfte, benahm er sich in der Rolle des Glücklichen so musterhaft, daß ich ihn fast um seine Dummheit beneidete! Na also …“ lachend winkte er gegen den Wald, „fort mit Schaden! Sie wird ihm ehrlich helfen, die zwei dunklen Millionen seines Vaters ins Rollen zu bringen.“ Nun wurde er ernst. „Aber du, Heinz? Dein Brief? Ich stand vor diesem lyrischen Bekenntnis wie der Prophet vor dem Berg! Aus der einen Todesangst um dich errettest du mich und wirfst mich in die andere. Du schriebst mir doch in jenem ersten Brief, daß du dich fühlst wie ein gebranntes Kind, das nach neuem Feuer nicht lüstern ist? Und jetzt? … Heinz?“

Ettingen legte den Arm um die Schulter des Freundes.

„Komm!“

Sie traten ins Haus.

Drüben bei der Försterhütte rumpelte Pepperl aus der Thür und eilte über das Almfeld hinunter, mit langen Sprüngen, als könnte er den Augenblick nicht erwarten, den er sich auf dem Heimweg ausgemalt hatte wie der Hungrige die Mahlzeit.

Auf der Schwelle der Sennhütte stellte er sich breitspurig auf, mit den Daumen in den Hosenträgern und mit dem Hut im Genick. „Grüß Gott, Frau Oberjagerin!“

Burgi erhob sich von der Herdbank, machte scheue Augen an den Jäger hin und fuhr sich mit dem Schürzenzipfel über die Wangen, als hätte sie einen feuchten Tag hinter sich. „Geh, du!“ Mehr sagte sie nicht.

Pepperl schraubte die Stimme. „Grüß Gott, Frau Oberjagerin!“

„Ich bitt’ dich, Pepperl, mach’ mir kein’ Fasnacht her … mir is net z’ Mut danach … ich weiß schon, wie ich dran bin!“ Das war ein Ton, als wären die Thränen nicht weit.

Der Jäger aber lachte und rief es zum drittenmal: „Grüß Gott, Frau Oberjagerin!“ Dann sprang er mit ersticktem Jauchzer auf das Mädel zu wie der Fuchs auf die Ente, packte sie mit beiden Armen, wirbelte sie im Kreis und küßte sie ab, daß ihr der Atem verging.

„Wenn’s ebber sieht … Mar’ und Josef … wenn’s ebber sieht …“ stotterte sie wehrlos unter seinen Küssen.

„Soll’s sehen, wer mag! Meintwegen der Pfarrer!“ schrie er lachend. Und dann kam’s wie ein Wolkenbruch der Freude aus ihm heraus: Fünfhundert Gulden und Oberjäger!

Als sie begriffen hatte, brachte sie keinen Laut hervor, rührte nur wortlos die Lippen, und in Schluchzen ausbrechend, drückte sie das Gesicht an seine Brust.

Er schmiegte gerührt seine Wange an ihren Kopf, tätschelte sie auf den Rücken und tröstete schluckend: „Geh, Schatzerl, schau, was hast denn? Thu’ dich doch lieber freuen! Was thust denn jetzt weinen? Is ja doch eh’ alles gut! In drei Wochen wird g’heirat’!“

„Pepperl? … Is wahr?“

„Meiner See!’!“

Da legte sie ihm die Arme um den Hals, sah ihm unter Thränen lachend in die Augen und atmete auf. „Nachher is mir alles recht … alles!“

„Gelt, ja? Und unser Herr Fürst! Das is halt einer! Gleich hat er’s ’raus g’habt, daß ebbes in der Familli net in Ordnung is. Und wie er nachher g’redt hat mit mir … alles, alles verzähl’ ich dir auf’n Abend! Jetzt hab’ ich kein’ Zeit nimmer, weißt, jetzt muß ich ’nauf! Oder weißt es noch gar net? Der Schwarzlackierte is abg’schoben!“

„Ja! Gott sei Dank!“

„Und jetzt hab’ ich d’ Verantwortigung, daß ich sein’ Dienst übernimm … da muß ich sehrwieren beim Dineh.“

Was mußt?“

„Sehrwieren … aufwarten beim Essen.“

„Du, Pepperl, da mußt dir fein d’ Händ’ ordentlich waschen!“

„Ja freilich, das is g’wiß! Hast ein warm’s Wasser?“

„Ja, da geh her!“ In geschäftigem Eifer schöpfte sie aus dem Kupferkessel, der über dem Feuer hing, eine Schüssel voll dampfenden Wassers heraus und probierte mit der Hand, ob es nicht zu heiß wäre. „Es thut’s g’rad’.“ Dann holte sie einen Klumpen Seife und die Holzbürste.

Pepperl rieb und scheuerte aus Leibeskräften, zuerst mit der rechten Hand die linke, dann mit der linken die rechte. Als er die Hände an Burgis Schürze trocknen wollte, sagte sie: „Halt, laß mich z’erst anschauen!“ Und nach kurzer Musterung meinte sie: „Na, na, du, da muß schon ich noch ein bißl drüber!“ Es dauerte eine ziemliche Weile und viel Seife ging drauf, bis sie erklärte: „So, jetzt kannst doch eine fürstliche Schüssel anrühren mit Manier!“

„Du bist halt ein Madl! Mit dir bin ich aufg’richt’! Ja!“

Ein Kuß, der sich etwas in die Länge zog, und dann rannte Pepperl davon.

Als er an der Jägerhütte vorüber kam, stand Mazegger am Fenster, mit den Händen hinter dem Rücken, regungslos wie eine Steinsäule. Er schloß nur manchmal die Lider, als hätte er brennenden Schmerz in den Augen. Dann blickte er wieder auf und stand und wartete. Nach einer Weile sah er den Förster zum Jagdhaus hinaufwandern und in der Thür verschwinden. Mazegger streckte sich und dehnte die Arme wie einer, den die Arbeit ruft. Er zog die Läden zu und schloß das Fenster. Dann nahm er die Büchse auf den Rücken, verließ die Stube, sperrte die Hüttenthür ab und schleuderte den Schlüssel weit hinaus in das Almfeld.

Mit starrem Lächeln blickte er noch einmal hinauf zum Fürstenhaus und eilte hastigen Schrittes davon, in der Richtung gegen den Sebenwald.


19.

Der Abend wurde trüb.

Tiefer und tiefer senkte sich das Gewölk über die Berge nieder, nur hie und da noch angeflogen von einem letzten mattroten Schein der Sonne. Aus den Waldsümpfen und von allen kahlen Flächen in der Nähe des Baches begann es aufzudampfen, und wie graues Spinngewebe, das immer dichter wurde, zog sich der Nebel über die moorigen Almen hin. Unruhig hauchte der Abendwind und trieb die grauen Dünste bergan und gegen den Sebenwald hinauf.

Bei Anbruch der Dämmerung, als die Sennleute der Sebenalm unter Geschrei und Schelten das Milchvieh von allen Gehängen zusammentrieben gegen den Stall, war der Nebel schon so dicht geworden, daß man kaum mehr auf hundert Schritte sehen konnte.

Der Senn und sein Weib blieben im Stall, um die Kühe zu melken, während der alte Hüter, der nun Feierabend hatte, mit seinen Holzschuhen in die Sennstube schlorpte, um sich ans Feuer zu setzen – ein krummgebeugter, weißhaariger Mann mit stumpfen Augen in dem müden Runzelgesicht. Mit gähnendem Behagen suchte er seinen Platz am Herd und rückte die Beine möglichst nah’ an die Glut – sein abgewerkeltes Leben hatte keinen anderen Wunsch mehr, als Abend für Abend diese schläfrige Rast am Feuer genießen und die kalten Füße wärmen zu können.

Als er draußen vor der Hütte einen Schritt körte – den Schritt eines Fremden – blickte er gar nicht auf. Gähnend legte er einen dürren Ast nach dem anderen über die Glut und nickte zufrieden, so oft er ein neues Flämmchen aufzucken sah.

Mazegger trat in die Hütte und stellte das Gewehr an die Mauer. „Guten Abend!“

Ein gähnender Laut war die Antwort des Alten, der sich beim Feuerschüren nicht stören ließ.

Der Blick des Jägers huschte durch die Sennstube und blieb an den beiden Holznägeln haften, die über dem Herd in die Mauer geschlagen waren und ein Bündel langer Kienfackeln trugen.

Höher und höher, mit Knistern und Geprassel, flammte in der Herdgrube das Feuer auf.

Mazegger setzte sich auf die Steine nieder und legte die Arme über die Kniee. So saßen sich die beiden eine Weile schweigend gegenüber. Als der Alte die nackten Füße aus den Holzpantoffeln hob und in die heiße Asche hineinwühlte, sagte Mazegger:

„Narr! Verbrennst dir ja die Füß’!“

„Narr? Hihihihi!“ kicherte der Hüter mit seiner dünnen hohen Stimme. „Der is gut! Narr sagt’r … weil ich mir was Gut’s vergunn!“ Er gähnte wieder und legte ein paar neue Aeste in die Flammen. „Wann ich net mit halb’bratene Füß’ ins Heu komm’, kann ich net schlafen … na, gar net schlafen … so viel kalt hab’ ich allweil … so viel kalt!“ Mit zittrigen Händen öffnete er an der Brust das Hemd, beugte sich näher gegen das Feuer, und wie ein Kater schnurrend, blinzelte er mit den roten Lidern. „Is was Schön’s, so ein Fuierl, gelt? Was Schön’s?“

Heiser lachte Mazegger.

„So, so, so? Lachen thust übers Fuierl? Hast halt noch Hitzen im Blut und brauchst kein Fuierl, gelt? Wart’ nur ein bißl, wart … wird dich schon auch noch frieren, dich! ’s kommt für ein’ jeden, ja … ’s Frieren! Bist halt noch jung … und jung sein heißt dumm sein! Und wann er g’scheid wird, der Mensch, nachher fangt ’s Frieren an … ’s kalte Frieren, weißt. Da kann er nimmer warm g’nug haben, ja … da merkt er’s, weißt, daß ’s Fuierl ’s einzig is, was bleibt! Hihihihi! Weiberleut’ und Lieb’ und Haß … Gut und Geld und Bürgermeister sein … alles is Wasser und g’friert in der Kält’! ’s Fuierl is ’s einzig’, was bleibt … so viel schön warm macht ’s Fuierl … so viel schön warm! Da kann er schlafen, der Mensch … gut schlafen … hihihihi!“ Kichernd griff der Alte mit seinen dürren Händen nach den Flammen, während draußen im Stall der Senn über die Kühe fluchte, die beim Melken nicht ruhig hielten. „Ein bißl spat, Jager … ein bißl spat bist auf’m Marsch? Wohin denn heut’ noch, sag?“

„Nach Ehrwald. Und dürsten thut mich. Kannst mir einen Trunk vom Brunnen holen!“

„So? Frisch vom Brunnen? So viel g’näschig bist? Hihihihi! Aus’m Ganterl taugt’s dir net? Gleich vom Brunnen mußt es haben … und thust mich furthetzen vom Fuierl?“ Seufzend und gähnend erhob sich der Alte, nahm eine Blechkanne und verließ die Hütte.

Mazegger sprang auf, riß zwei Kienfackeln von der Mauer herunter und schob sie zu einem Rauchloch hinaus. Sie fielen draußen mit dumpfem Klatsch in die Kräuter.

Der Alte brachte die gefüllte Kanne. „So, du G’näschiger, da hast dein’ Trunk, dein’ kalten!“ Gähnend setzte er sich wieder zum Feuer und wühlte die Füße in die Asche. „Jetzt laß mich aber in Ruh’, gelt!“

„Ja. Jetzt hab’ ich, was ich brauch’!“ Mazegger that einen langen Trunk aus der Kanne. „Gut’ Nacht!“ Er nahm seine Büchse und ging.

Draußen raffte er die beiden Fackeln auf, barg sie unter dem Wettermantel und eilte über das Almfeld hinaus. Als er den Waldsaum erreichte, blieb er stehen und blickte sich um. Der Nebel war so dicht, daß die Sennhütte völlig im Grau verschwand und daß von dem Lichtschein, den das Herdfeuer zur Thüre hinaus warf, kaum noch ein fahler Schimmer zu erkennen war. Aber deutlich hörte man noch die Stimme des Sennen, der mit seinem Weib und mit den Kühen schalt.

Mazegger wartete. Als mit Einbruch der Nacht in der Sennhütte drüben alles ruhig wurde, steckte er eine Fackel in Brand und stieg durch den Wald empor. Der Nebel umgab ihn so dicht, daß die Fackelflamme nur einen Umkreis von wenigen Schritten erhellte. Verschwommen tauchte, als er die Lichtung erreichte, der hohe Reisigwall vor ihm auf wie eine dunkle Mauer, in die eine Bresche gebrochen ist. Diese Lücke – das war der Weg, den er gehen mußte; nur dünne Stangen versperrten ihn.

Mazegger streckte die Hand, um das Gitter zu öffnen – aber da zögerte er. Hatte ihn das Grauen vor der That befallen, die er verüben wollte? War der rechnende Gedanke in ihm erwacht: Wenn ich es thue – was hilft es mir? Und erkannte er, daß bei dem wahnwitzigen Spiel, das er im Durst seiner Leidenschaft als ein letztes, gewaltsames Mittel versuchen wollte, der Einsatz sein eigenes Leben war?

Er stand und sann – und schüttelte sich, wie um ein letztes Bedenken von sich abzuwerfen.

„Soll’s kommen, wie’s mag! Ob ich gewinn’ oder hin bin … der ander’, der soll sie auch nicht haben!“

Mit einem Fußtritt warf er das Gitter auf und durchschritt den Reisigwall. Knarrend fielen die Stangen hinter ihm an den Pfosten zurück.

Er warf den Mantel zu Boden und die Büchse dazu. An der Flamme des schon halbverbrannten Kienholzes entzündete er das zweite Scheit und hob die beiden Fackeln über den Kopf empor, um den Wind zu prüfen. Der machte die Flammen lodern und trieb ihren Rauch waldaufwärts – – brannte der Reisigwall, so hatte das Feuer nur einen Weg: hinauf zum See!

Mazegger senkte die Fackeln und wollte werfen. Doch wieder zögerte er. Aber das währte nur einen Augenblick. Mit kreischender Stimme, als bedürfte er zu seiner That noch eines letzten Spornes, schrie er jene Worte aus dem Brief des Fürsten vor sich hin: „Morgen hol’ ich mein Glück!“ Dann schwang er die Arme zum Wurf und schleuderte die eine Fackel zur rechten, die andere zur linken des Thores in den Reisigwall.

„So, du … jetzt komm und hol’ dein Glück!“

Sein heiseres Lachen hallte im stillen, nächtigen Wald wie der Schrei eines Tieres.

Die Fäuste hinter dem Rücken, das Gesicht verzerrt und mit funkelnden Augen, so stand er und sah, daß aus dem dürren Reisig das Feuer aufflog wie aus verpuffendem Pulver, und daß es mit Prasseln und Geknister zu beiden Seiten des Thores über den Wall dahinlief, so flink, als hätt’ es hundert flammende Füße.

„So! Jetzt komm!“

Den Mantel und die Büchse vergessend, schritt er in den Wald hinein. Hinter ihm erlosch die matte Feuerhelle, die den dichten Nebel durchglomm, und je tiefer er in den Wald kam, desto finsterer wurde es um ihn her. Schritt für Schritt mußte er den Weg suchen, sich forttasten von Baum zu Baum.

In diesem Dunkel verlor er den Pfad und wußte nicht mehr, wohin seine stolpernden Schritte ihn führten. Und plötzlich wich der Grund unter seinen Füßen. Er stürzte und kollerte über eine steile Lehne hinunter. Stöhnend richtete er sich auf und kletterte wieder über den Hang empor. Als er den Grat erreichte, wehte ihm dicker Rauch entgegen – und jählings war es im Nebel, als ginge die Sonne auf, rot, blutig rot, wie sie am letzten Morgen aufgegangen war. Das wurde heller und immer heller, dazu ein Knistern und Geprassel, ein Rauschen und Krachen, als wäre ein Sturm über den Wald gefallen, um alle Bäume zu brechen. Wie brennende Bäche schlängelte sich das Feuer über den Waldboden hin, faßte das dürre Zeug, das in Haufen überall umherlag, und geschürt vom Winde, klomm es mit Zucken und Geflacker an den hundertjährigen Stämmen hinauf und entzündete das Harz der blutenden Baumwunden. Die morschen Aeste brannten mit weißer Flamme, die dürren Nadeln gingen glitzernd in Feuer auf und warfen im Winde den Brand mit Funkengesprüh von einem Stamm auf den andern.

Ein keuchender Laut rang sich aus Mazeggers Kehle. Jählings aus allem träumenden Wahnwitz seiner Leidenschaft ernüchtert und von Entsetzen erfaßt, stand er wie gelähmt und starrte mit glasigen Augen in dieses Brennen und Glosten, in dieses Gewirbel von schwarzem Rauch und leuchtenden Dämpfen. Statt der Richtung gegen den See zu folgen, war er im Kreis gegangen, die äffende Finsternis hatte ihn zurückgeführt an den Ausgang seines Weges. Und beim Anblick des grauenvollen Flammenbildes, zu dem die That seiner Eifersucht sich ausgewachsen, erlosch ihm alles Denken und Verlangen, so daß in ihm nur noch ein einziges war: die jäh erwachte Angst um das eigene Leben!

Mit heiserem Schrei begann er zu rennen, immer am Rande des Feuers hin, verfolgt von den züngelnden Flammen und überschüttet vom Regen der Funken. Er kam bis zur kahlen Felswand und sah das Feuer hinaufschlagen über die Steinmauer, turmhoch, halb verschleiert von Rauch und Nebel. Keuchend rannte er zurück, quer durch das ganze Thal, bis wieder die Felsen vor ihm aufstiegen. Feuer, Feuer und überall Feuer. Nirgends ein Ausweg mehr – das ganze Thal verriegelt von Rauch und Flammen.

Schreiend rannte er zurück in den finsteren Wald, rannte wie sinnlos, strauchelte und fiel, schlug mit dem Gesicht an die Bäume und schrie vor Entsetzen, wenn flüchtendes Hochwild mit Brechen und Gepolter an ihm vorüberjagte. Schon sah er, daß der Wald sich lichtete, aber seine Kräfte begannen zu schwinden, sein Atem erlosch. Taumelnd brach er in die Knie, mit gellendem Schrei, der im Nebel zerschwamm und nur noch wie ein matter Ruf hinauftönte zum See.

Dort oben, am Ufer, klangen in Unruh’ die Glocken der Almtiere, als hätte das Vieh sich erhoben aus der Ruh’ und zu weiden begonnen, mitten in der Nacht.

Dieses Klingen und wirre Läuten tönte hinauf zum kleinen Seehaus, dessen Fenster noch erleuchtet waren. Die Thür stand offen, und trüb’ zerfloß die ins Freie fallende Lampenhelle in Nebel und Nacht.

In der Stube war Lo’ damit beschäftigt, alles Grün und alle Blumen von den Wänden zu nehmen und das kleine Haus für die lange Zeit in Ordnung zu bringen, in der es nun unbewohnt und verschlossen stehen sollte. Still und ruhig that sie diese Arbeit, aber der verlorene Blick ihrer feucht umflorten Augen verriet, daß sie mit den Gedanken nicht bei dem Werk ihrer Hände war. Manchmal wurden ihr die Arme müd, und dann stand sie eine Weile unbeweglich, und während sie mit schmerzvollem Lächeln ziellos vor sich hinblickte, löste sich Thräne um Thräne von ihren Wimpern und perlte über die bleichen Wangen nieder. Wenn sie mit stockendem Atemzug aus solcher Versunkenheit erwachte, streifte ihr Blick alles Gerät der Stube, das ihr so lieb und durch Erinnerung so heilig war. Dann redete aus ihren Augen eine Wehmut, als wäre in ihr die Ahnung, daß sie diese trauliche Waldstube, in der sie so viele glücklich schöne Stunden und Tage verlebt hatte, niemals wieder sehen würde.

Wieder begann sie die Arbeit. Und da blickte sie lauschend auf. Was sie gehört hatte, draußen in Nacht und Nebel – war das ein Ruf?

Sie legte die Blumen nieder, die sie aus einer Rindenvase genommen hatte, und trat vor die Thüre. Nur den Nebel sah sie, der in der Dunkelheit das Haus umlagerte, und einen trüben Umriß der nächsten Beete. Horchend stand sie eine Weile und rief dann mit lauter Stimme in die Nacht hinaus: „Ist jemand hier?“

Keine Antwort kam. Aber mit fauchenden Stößen fuhr der immer stärker werdende Wind über das Dach der Hütte hin, es rauschte in den Zweigen des Harfenbaumes, und mit wirrer Unruh’ tönten in seinen Wipfeln die kleinen Glocken.

Und was nur die Almtiere haben mochten? Jetzt, in der Nacht? Drunten am See, auf den höheren Latschenfeldern, überall klangen ihre Schellen. Ein Rind begann zu brüllen, ein anderes gab Antwort, kurz und dumpf – wie das Jungvieh brüllt, wenn es sich in den Felsen verstiegen hat und hilflos auf den Sennen wartet. Und die Tiere befanden sich doch auf gefahrlosem Weidegrund! Oder hatten sie das Vorgefühl eines bösen Wettertages, den dieser Nebel bringen würde? Wohl schien der Wind, der über den See heraufblies, noch unbedenklich, aber dort unten, im tieferen Thal, da schien er stärker zu wehen, fast wie Sturm, denn ein dumpfes Krachen und Rauschen tönte verworren mit dem Winde über den Wald herauf. Und dieser Nebel – wie seltsam! Er hatte einen Geruch wie Rauch. Oder war’s der Herdrauch, den der Wind herauftrieb von der Sebenalpe? Sollten sie dort unten so spät noch beim Feuer wachen? Oder waren Holzknechte untertags im Sebenwald bei der Arbeit gewesen? Hatten sie das Gezweig und die Rinden der Windbrüche auf einer Blöße verbrannt – und diese Feuerstätten rauchten noch?

Schon wollte Lo’ in die Stube zurückkehren. Da hörte sie ein Gepolter, das Krachen von Aesten und den Sprung eines Tieres, das den Gartenzaun durchbrochen hatte.

„Hansi!“

Mitten durch die Blumenbeete kam der Esel zur Thüre gestürmt. Schnaubend und zitternd blieb er neben dem Mädchen stehen und windete mit vorgestrecktem Halse gegen den Wald hinunter.

Was hatte das Tier? War es durch Raubwild erschreckt worden? Oder durch einen Steinschlag unter den Wänden?

„Hansi? Geh, du Närrchen, was hast du denn?“

Beruhigend wollte sie ihm den Rücken streicheln und fühlte, daß seine Haare gesträubt waren wie Stacheln. Das Tier mußte eine ernste Gefahr überstanden haben – oder sah es eine Gefahr, welche kam?

„Hansi?“

In grober Zärtlichkeit fuhr der Esel mit der Schnauze an ihr hinauf und drückte gegen sie, als wollte er das Mädchen von der Stelle drängen. Schnaubend schüttelte er das Fell und machte, den Hals immer länger streckend, ein paar zögernde Schritte. Plötzlich setzte er mit tollem Sprung über den Zaun, und ein schmetterndes Gewieher ausstoßend, verschwand er im Dunkel.

Im gleichen Augenblick jagte im stärker ziehenden Wind eine dicke Rauchwolke an der Hütte vorüber. Ein Schein durchglomm den wirbelnden Nebel, nur matt, doch er wurde breiter und breiter. Ueberall im Thal begannen die Glocken der Almtiere zu läuten, überall dröhnte und röhrte ihr Gebrüll, überall hörte man das Rollen der Steine, die der Schritt der Rinder auf den steilen Gehängen löste – jählings war das ganze Thal erfüllt von unheimlichem Leben – und da erkannte Lo’, was die Tiere fürchten und flüchten machte.

„Feuer im Wald! … Die armen Tiere!“

Daß auch ihr eigenes Leben bedroht sein könnte, daran schien sie nicht zu denken. Denn ohne Erregung, wenn auch mit fliegender Hast, eilte sie in die Stube und holte eine schon halb verbrauchte Pechfackel. Damals, als diese Fackel gebrannt hatte, das war auch eine ernste Nacht gewesen, eine Nebelnacht im Juni – sie hatte die Rufe eines verstiegenen Touristen gehört und hatte den Verirrten aus der Tejawand heruntergeholt und zur Sebener Almhütte geführt.

Die brennende Fackel senkend, damit das Harz sich heller entzünden möchte, trat sie aus der Hütte. Was den Nebel so durchscheinend erleuchtete – war es die Flamme der Fackel oder das wachsende Feuer dort unten, das man rauschen hörte wie heranziehenden Sturm?

Sie wollte zur Gartenthüre, aber da taumelte ihr ein Mensch entgegen. Erst als er vor ihr stand, mit rasselndem Atem, das verzerrte und erschöpfte Gesicht von Schweiß überronnen, erkannte sie ihn. „Mazegger!“

Lallend stürzte er vor ihr nieder und klammerte sich an ihr Kleid. Auch ihr Anblick konnte in ihm nicht mehr erwecken, was ihn zum Wahnsinn dieser That getrieben hatte. Seine Eifersucht und seine Liebe, alles, was er erwartet hatte von dem Gewaltstreich dieser Nacht, das alles war erloschen in ihm. In ratloser Angst und in der Verstörtheit seiner Sinne umklammerte er die Knie des Mädchens und keuchte:

„Der Sebenwald brennt … der Sebenwald … wir müssen verbrennen … du und ich … ersticken im Rauch!“ Mit Zittern und Grauen drückte er das Gesicht in die Falten ihres Kleides.

Lo’ war bleich geworden. Aber sie wich nicht zurück vor ihm. Was zwischen ihr und diesem Menschen lag, das war vergessen beim Anblick dieser lallenden Angst, die sich zu ihren Füßen krümmte.

„Aber Mazegger! Sind Sie denn ein Mann? Wie können Sie sich vom Schreck nur so verstören lassen!“ Sie versuchte ihn aufzurichten.

Doch er war wie Blei und blieb auf den Knien liegen, immer nur mit dem einen Wort: „Verbrennen … verbrennen …“

„Aber seien Sie doch vernünftig! Man verbrennt nicht gleich, weil Feuer im Wald ist. Und stehen Sie auf!“

Er wollte sich erheben, aber die Knie brachen ihm wieder, und er taumelte auf die Schwelle hin.

Da lief auch ihr ein Zittern über die Hände. Doch ihre Stimme klang ruhig: „Ich sehe, daß Sie sich übermüdet haben bei dieser sinnlosen Flucht. Aber wenn Sie schon flohen vor dem Feuer … wie kommen Sie hierher? Zu mir? Wollten Sie mich warnen?“

Er schwieg und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

„Aber Mazegger! So geben Sie mir doch Antwort! Und sagen Sie mir: in welcher Richtung des Waldes ist das Feuer?“

„Ueberall … überall … es giebt keinen Ausweg nimmer!“

„Das ist ja Thorheit! Wenn es aus dem Feuer keinen Ausweg gäbe … wie wären Sie denn hereingekommen in den brennenden Wald?“

„Ich … ich weiß nicht.“

„Wissen Sie denn, wie das Feuer ausgekommen ist?“

„Nein … nein … nichts weiß ich … nichts …“

„Aber wie kamen Sie denn in den Sebenwald? Jetzt? In der Nacht?“

„Ich … ich …“ es fiel ihm wohl die Lüge ein, die er dem alten Hüter gesagt hatte, „ich hab’ nach Ehrwald wollen … nach Ehrwald … und hab’ mich verirrt … im Nebel … und … da war das Feuer da … überall Feuer … überall!“ Das Grauen schüttelte ihn. „Wir müssen verbrennen … es giebt keinen Ausweg nimmer!“

„Ich will ihn suchen! Kommen Sie, Mazegger!“ Sie nahm seine Hand und zog ihn von der Schwelle auf. „Ich kenne hier im Wald jeden Weg und Steg … und ich will Sie führen.“

„Führ’ mich, führ’ mich, ja, mit dir ist der liebe Herrgott!“ keuchte er und klammerte die Hände um ihren Arm. „Wenn’s noch einen Weg giebt … du … du mußt ihn finden … über den Paß hinüber … ins Prantlkar …“

Den Felsenpaß, den Ettingen und Praxmaler an jenem Gewittertag überstiegen hatten – ja, den kannte sie. Aber dort hinauf, über die steilen Wände? Jetzt, bei Nacht und Nebel? Nein, das war unmöglich – das wäre der sichere Tod! Es mußte einen anderen Ausweg geben, thalwärts durch den Wald. Der Zufall dieses Brandes konnte so unselig nicht gespielt haben, daß schon das ganze Thal vom Feuer verschlossen war.

„Kommen Sie, Mazegger!“

Er ließ sich ziehen von ihrer Hand. Als sie über das Latschenfeld gegen den See hinunterkamen, mischte sich der Rauch immer dichter in den Nebel, immer lauter tönte auf allen Seiten das Brüllen der Rinder. Ein paarmal tauchte der Esel in ihrer Nähe auf, mit Schnauben und Gewieher, begleitete sie eine Strecke und verschwand wieder. Schwüle Hitze wehte ihnen vom brennenden Wald entgegen, und rauschend zog der Wind, der die Rauchwolken über die Berge hinausjagte. Als die beiden den See erreichten, kamen von allen Seiten die Rinder auf sie zugerannt und folgten ihnen Schritt um Schritt unter angstvollem Gebrüll. Ein sausender Windstoß teilte den von Rauch durchflossenen Nebel, und nur noch matt verschleiert lag der brennende Wald vor ihnen, eine näher rückende Flammenmauer, welche die ganze Breite des Thales füllte, von Wand zu Wand.

„Wir laufen ins Feuer,“ schrie Mazegger wie ein Wahnsinniger, „wir müssen hinauf! Ueber die Wänd’ hinauf!“

„Nein! Das ist unmöglich!“

Mazegger bedeckte mit dem Arm die Augen, und die Zähne begannen ihm zu klappern.

Das bleiche Gesicht vom Ruß der Fackel angeflogen, stand Lo’ auf einem Felsblock und spähte über den brennenden Wald hinunter, aus dem die Flammen schon herauszüngelten gegen die Latschenfelder. Nur an einer einzigen Stelle des Waldes, dort, wo der Seebach seinen Weg hinunter nahm gegen Ehrwald, dort war es noch dunkel. Aber auch dort schon quoll es mit rötlichen Dämpfen hinter den Bäumen herauf. Es gab durch den brennenden Wald keinen Ausweg mehr – und wollten diese beiden Menschen ihr Leben retten, so mußten sie das Unmögliche versuchen: den Weg über die Berge.

Das erkannte Lo’, und schon wollte sie dem Jäger sagen: ja, wir müssen hinauf, wir haben keinen anderen Weg mehr – als jählings die Rinder, welche brüllend um sie herstanden, ein tolles Rennen begannen. Hatte eines der Tiere jene dunkle Stelle im Wald gewahrt? Ahnte es dort noch einen Weg der Rettung? Es begann zu rennen, und alle die anderen Rinder jagten ihm nach im blinden Herdentrieb, schnaubend und mit gestreckten Schweifen.

„Das Vieh … das Vieh weiß einen Ausweg!“ kreischte Mazegger, und nur an die Rettung des eigenen Lebens denkend, riß er dem Mädchen die Fackel aus der Hand und rannte mit verzweifelten Sprüngen den Tieren nach. Rauch und Nebel verschlangen ihn, und das Gerassel der Steine, die sich auf seinem Wege lösten, ging unter im Sausen des Windes, im Geprassel und Krachen des brennenden Waldes.

„Mazegger! Mazegger!“ schrie Lo’ in der Todesangst, die sie erfüllte um diesen verlorenen Menschen. Sie schrie und schrie, doch keine Stimme gab Antwort – und das Brüllen der Rinder war verstummt dort unten. Nur über den See herüber klang noch das Röhren einzelner Tiere, welche bergaufwärts flüchteten, den Felsen zu. „Mazegger!“

Sie wollte ihm folgen, hoffte, ihn noch hindern zu können, den Weg der toll gewordenen Tiere zu nehmen. Aber dichter Rauch umwirbelte sie, der sie fast zu ersticken drohte, und wohin sie auch ihren Weg nahm, überall loderte ihr das wachsende Feuer entgegen, das den Waldsaum schon übersprungen hatte und die Latschen ergriff.

„Mazegger! Mazegger!“ schrie sie noch immer, bis ihr die Stimme versagte.

Rauch und Flammen trieben sie weiter und weiter zurück. In Qualm und Nebel wußte sie nicht, wohin sie kam – sie merkte nur plötzlich, daß ihre Füße in Wasser traten. Der See! Da ihre Kräfte zu erlöschen drohten, bückte sie sich, schöpfte Wasser mit den Händen und trank und kühlte das Gesicht. Im jagenden Winde flogen schon die glühenden Funken über sie her, als sie die seichte Bucht durchwatete und wieder das Ufer gewann. Während sie hineilte über den ebenen Rasen, kam es mit Keuchen und Schnauben hinter ihr nachgerannt.

„Hansi!“

Zitternd drängte sich das Grautier an seine Herrin, als wäre Hilfe bei ihr.

Noch einmal schrie sie den Namen des Jägers in den wallenden Rauch, und als sie keine Antwort hörte, klammerte sie sich an die Hoffnung, daß er den rettenden Weg gefunden hätte, den ihr das wachsende Feuer verschloß. Ihr selbst blieb jetzt nur dieser einzige Weg noch, dieser unmögliche: über die Berge hinauf, um den Paß in das andere Thal zu gewinnen. Ein Weg, auf dem in der Finsternis der tödliche Sturz sie erwartete bei jedem Schritt – aber sie mußte ihn versuchen, es blieb ihr kein anderer. Wohl dachte sie einen Augenblick daran, im höheren Felsenthal eine geschützte Stelle zwischen kahlem Gestein zu finden – aber der Rauch, der sich dichter und dichter herwälzte über den See, mußte, wenn die grünen Latschenfelder bis hoch hinauf ins Glühen kamen, das ganze Thal erfüllen und alles atmende Leben ersticken.

Sie faßte den Halsriemen des Esels, um das Tier mit sich fortzuführen. Aber es sträubte sich und wollte nicht von der Stelle – immer wieder, unter Zittern und Schnauben, drehte es den Kopf nach dem brennenden Wald zurück. Lo’ redete ihm zu mit schmeichelnden Worten und zerrte am Riemen – ein paar Schritte folgte das Tier mit Zögern, dann jählings, als hätt’ es die Absicht seiner Herrin verstanden, als hätt’ es begriffen, welchen rettenden Weg es zu suchen galt, begann es zu traben, immer rascher und rascher, das Mädchen mit sich fortreißend, das an den Riemen geklammert hing. Den auch bei Tage nur schwer erkennbaren Steig, der über die steilen Latschengehänge emporführte zu den öden Felsenkaren – Lo’ hätte ihn wohl nie gefunden bei diesem unruhigen Wechsel zwischen trüber Feuerhelle und rauchschwarzer Finsternis – aber die nachtsehenden Augen des Tieres fanden ihn. Schnaubend zerrte es seine Herrin mit sich hinauf, eine Latschenhöhe nach der anderen überwindend, bis sie das kahle Gestein erreichten. Da blieb es stehen, erschöpft und mit vorhängender Zunge, von welcher der Geifer niedertropfte – es wollte nicht weiter, legte sich auf die Steine nieder und begann an seinen Knien zu lecken.

Auch Lo’ war atemlos zu Boden gesunken. Mit dem Rücken an das Tier gelehnt und halb erstickt vom Gewirbel des Rauches, hielt sie die Hände auf ihre kämpfende Brust gedrückt. Ein brausender Windstoß jagte den Rauch, und vor den Augen des Mädchens lag es dort unten wie eine lodernde Hölle. Der ganze Sebenwald eine einzige ungeheure Flamme! Rings um den See her brannten schon alle Latschenfelder, bald in rote Glut versinkend, bald wieder aufleuchtend mit weißem Feuerglanz, wenn der Wind darüber hinfuhr. Aus diesem Glutfeld ragte eine dunkel qualmende Säule hervor: der Harfenbaum, der den Flammen noch widerstand – und daneben loderte eine hohe Feuergarbe: das brennende Seehaus.

Als Lo’ diese Flamme sah, sprang sie auf mit schluchzendem Schrei.

„Vater! Vater! Unser Haus … deine Blumen!“

Thränen stürzten aus ihren Augen, und in der ersten Marter dieses Anblicks wollte sie ins Thal hinunter und dem Feuer entgegen, als könnte sie noch retten, diesen Flammen noch wehren. Doch wehender Rauch quoll ihr entgegen, schwarz und schwer, das Bild des Brandes verhüllend.

Sie rang nach Atem, einer Ohnmacht nahe. Schon wollte sie mit taumelnden Sinnen zu Boden sinken – doch wie von einem Strom neu quellenden Lebens durchflosscn, richtete sie sich wieder auf und streckte mit zitterndem Laut die Arme in das Dunkel. Ihr war, als stünde der Vater vor ihr, in heller Sonne, ruhig und lächelnd – und seine Stimme hörte sie, mit jenem gleichen, von Liebe durchwärmten Klange, wie einst: „Komm, Lo’! Meine liebe, gute kleine Lo’! So komm doch!“ Er reichte ihr die Hand, als ob er sie führen wollte – sie meinte diese Hand zu fassen, sie fühlte ihren Druck – aber da war es nicht mehr ihr Vater, es war ein anderer, der vor ihr stand, lächelnd und leuchtenden Auges, mit der gleichen Liebe im Ton der Stimme: „Lo’! So komm doch!“

„Heinz!“

In Schmerz und Freude schrie sie diesen Namen – und da war alles dunkel vor ihr, alles verschwunden, was ihr fieberndes Blut und ihre erregten Sinne gesehen hatten.

Doch in ihren Gliedern war neue Kraft, neuer Wille zum Leben. Bei dem matten Feuerschein, der das zerfahrende Gewölk durchschimmerte, erkannte sie deutlich im Felsenkar den Steig, den sie gehen mußte. Mit starker Hand riß sie das ruhende Tier von der Erde auf – und als es ein paar Schritte mit Gewalt gezogen war, folgte es wieder willig seiner Herrin und ihrem lockenden Ruf. Hastenden Schrittes eilte sie, solange der Feuerschein noch währte, durch das öde Felsenkar. Dann umhüllten sie wieder die jagenden Rauchwolken und das Dunkel der Nacht. Tastenden Fußes mußte sie den Weg suchen. Immer wieder verlor sie ihn und fand ihn immer wieder. Felsen sperrten den Pfad – das mußte die Wand sein, die sie zu übersteigen hatte – und dieses Felsenband, auf das ihre Füße traten, das war der Weg, der über die Wand hinaufklomm bis zur Höhe des Passes. Sie stieg und stieg, doch immer schmäler wurde das Steinband unter ihren Füßen. Weit hinter sich vernahm sie das Schnauben des Tieres, das ihr folgen wollte, das Rollen der Steine, die seine Hufe lösten, und jetzt den Fall eines schweren Körpers, welcher tiefer und tiefer stürzte. Eine Weile noch rasselten die nachrollenden Steine – dann war es still dort unten.

Sie wollte schreien, doch die Stimme versagte ihr.

Jetzt hörte sie in schwarzer Tiefe das Aechzen des sterbenden Tieres, und da schlich auch ihr das kalte Todesgrauen in die Seele.

Zitternd hing sie an die Felsen angeklammert, während fern das dumpfe Brüllen der letzten, noch irrenden Rinder klang und stickender Rauch immer dichter die finsteren Lüfte füllte.

Kein Laut mehr in der Tiefe zu ihren Füßen, kein Aechzen und Stöhnen mehr – das Tier war erlöst von seiner Qual.

Da atmete sie auf, ihre Schwäche und das Todesgrauen überwindend, das sie befallen hatte. Leise sprach sie ein Wort ihres Vaters vor sich hin: „Tod? Das ist nur ein Wort, nur das letzte Lächeln eines guten Menschen, der mit seinem Leben zufrieden war … wann und wie es auch endet.“ Und sollte ihr Leben auch erlöschen in dieser Nacht, dort unten in dieser schwarzen Tiefe, ferne von Mutter und Bruder – wie war es doch reich gewesen, reich und schön ohnegleichen, vom ersten, fröhlichen Lachen des Kindes an, bis zum letzten Händedruck jenes Einen, der ihre Seele und ihr Herz in seine Hand genommen hatte wie einen Besitz, der ihm zu eigen war über Tod und Leben hinaus!

Sie flüsterte seinen Namen – und das war ihr wie ein Abschied, den sie nahm von dem geliebten Manne, nicht für den Tod – fürs Leben nur!

Denn sie fühlte, daß sie leben würde – jetzt, da die Furcht des Todes von ihr abgefallen war, jetzt konnte sie an den Tod auch nicht mehr glauben.

„Mutter! Bruder!“

Der Gedanke an diese beiden richtete sie auf – um dieser beiden willen mußte sie ringen um ihr Leben, stark und mutig, bis zum Erlöschen ihrer Kräfte. Sie rastete, an die Felsen gelehnt, um ihren Atem in Ruhe zu bringen, und preßte ihr Tuch vor die Lippen, um sich gegen den Rauch zu schützen, der emporquoll über die Felsen. Und während sie hinausblickte in die von dunklem Gewirbel erfüllten Lüfte, sah sie nicht das wogende Gewölk und nicht die schwarzen Felsen um sie her – sie sah die Stube der Mutter und das Kämmerchen des Bruders. Die waren still und dunkel – und dennoch erkannte sie jedes Bild an den Wänden, jedes Gerät, sah den schlummernden Knaben und die wachende Mutter, die sich in ihrer schlaflosen Immersorge aus den Kissen aufrichtete, um auf die Atemzüge des Buben zu lauschen – und hörte, wie die alte Frau vor sich hinflüsterte: Gott sei Dank, er schläft, da kann er doch keine Schmerzen haben! Morgen wird sein Fuß wieder gut sein … und Lo’ wird kommen! Ach ja!

„Morgen!“ Wie ein heißer Strom der Freude und Sehnsucht rann es ihr durch Blut und Seele. Morgen! Die beiden wiedersehen! Morgen im Frühlicht! In Sonne!

Sie erhob sich, und in ruhiger Vorsicht begann sie sich mit Händen und Füßen an den Felsen hinzutasten, höher und höher klimmend.

„Mutter! Bruder!“

Sie stieg und stieg, bei jedem Schritt um ihr Leben kämpfend, an das sie glaubte.

[374]
20.

Unter ziehenden Nebeln graute der Morgen über dem Gaisthal, über den Tillfußer Wäldern und Almgehängen.

Doch lange vor dem ersten Grau, schon um drei Uhr morgens, war im Försterhäuschen ein Licht lebendig geworden. Als Praxmaler, um seinen Herren zu wecken, mit der Laterne zum Jagdhaus hinaufging, sah er, daß im Schlafzimmer des Fürsten schon Licht war, das mit flimmerndem Schein in die vom Nebel durchwobene Dämmerung hinausleuchtete.

Droben pochte er an die Thüre.

„Duhrlaucht?“

„Ich danke, ja, ich bin schon auf!“ klang es mit heller Stimme aus dem Zimmer.

„Schlecht schaut’s aus mit’m Wetter!“ berichtete Pepperl durch die geschlossene Thüre. „Nebel haben wir. Ich mein’, Sie sollten heut daheimbleiben, Duhrlaucht.“

„Nein, nein, ich gehe! Mag das Jagdwetter sein, wie es will!“

„No ja, wenn S’ meinen! Aber ein’ Gamsbock bringen S’ heut’ kein’ net heim … heut’ marschieren S’ umsunst!“

Ein frohes Lachen war die Antwort.

„Nebel hin oder her … den freut heut’ ’s Leben!“ dachte Pepperl, während er die Treppe hinunterging. „Und mich freut’s auch!“

Drunten in der Hütte, um den Förster nicht aus dem besten Schlummer aufzustören, setzte er möglichst geräuschlos die Wasserpfanne übers Feuer. Bis das Wasser kochen würde, blieb ihm genügende Zeit, ein „Sprüngerl“ in die Sennhütte hinunterzumachen. Da kam er gerade recht, um seinem Mädel den Schlaf aus den Augen zu küssen.

Lachend streckte sich Burgi in ihrem Heubett und schlang die Arme um den Hals des Jägers. „Du … so ein Bußl beim Aufwachen … das ist fein was Gut’s!“

„Halt ja! Aber jetzt gieb nur g’schwind noch eins her zum B’hüt-dich-Gott! Auf'n Abend hast mich wieder!“

Es dauerte lang, dieses „g’schwinde Bußl“ – so lange, daß das Wasser, als Pepperl wieder in die Hütte kam, schon kochend aus der Pfanne sprudelte. –

Der helle Morgen begann, und durch die grauen, im Fluge sich klüftenden Nebel schimmerte ein armseliges Stücklein des blauen Himmels, als Ettingen mit raschem Gang vom Jagdhaus herunterkam, auf dem Hut einen blühenden Zweig der Edelrose. Pepperl stand schon wegfertig mit der Büchse vor seiner Hütte. Einem Menschen, der froh und glücklich ist, fällt nur der fremde Kummer auf, doch nicht so leicht die Freude des anderen – denn Freude erscheint ihm als das Selbstverständliche. Als aber Pepperl seinen Herren sah, fiel ihm doch der Glanz dieser Augen auf, so daß er dachte: „Teufi, Teufi, der muß sich heut’ ein’ guten Birschgang derwarten, weil er gar so gottsfreudig dreinschaut! Und den Bruch hat er schon aufs Hütl g’steckt, noch eh, daß er g’schossen hat … Teufi, Teufi, da kriegen wir g’wiß nix … da hab’ ich ein’ Aberglauben drauf!“ Dem Jäger ging’s wie ein Schatten über die eigene Freude. Er hätte so gern dazu geholfen, daß sich die frohe Jägerhoffnung seines [375] Herrn erfüllen möchte – aber der verfrühte Bruch und solch ein Wind und Nebel dazu – da wußte er’s ganz gewiß: „Wir kriegen nix!“ Auf diese Enttäuschung mußte er seinen Herrn vorbereiten.

„Schön’ guten Morgen, Duhrlaucht!“

„Guten Morgen, Pepperl! Und kommen Sie nur gleich! Wir wollen keine Minute mehr verlieren und tüchtig ausgreifen!“

„No ja … d’ Füß’ mach’ ich gern so lang, wie’s geht … aber heut’ hab’ ich kein’ rechte Schneid’ auf d’ Jagd!“

„Ich auch nicht!“ erwiderte Ettingen lachend.

„Gott sei Dank, weil S’ Ihnen nur net z’viel derwarten. Und gelten S’, ich hab’ recht g’habt gestern … heut’ wird’s ein Hakerl haben mit der Sonn’!“

„Mir wird sie scheinen! Kommen Sie nur!“

„Ja, wär’ mir selber recht, wenn d’ Sonn’ grad’ Ihnen z’lieb ein’ Ausnahm’ machen thät!“

Sie schritten gegen den Wald hinunter.

Da wurde im oberen Stock des Fremdenhauses ein Fenster geöffnet. „Guten Morgen, Heinz! Und Glück auf den Weg!“

Mit seinen „gottsfreudigen“ Augen grüßte Ettingen zu dem Freunde hinauf. „Ich danke dir, Goni! Das war lieb von dir!“

Pepperl aber schüttelte bedenklich den Kopf zu diesem Wunsch und dachte: „Glück hat er ihm auch noch g’wunschen … jetzt is’ erst recht g’fehlt!“ Und er wollte sich kaum fassen darüber, daß ein so fermer Jäger wie Graf Sternfeldt sich so schwer gegen den Weidmannsbrauch verfehlen konnte. Glück – was Schlimmeres als das kann einem Jäger gar nicht gewunschen werden!

Raschen Ganges wanderten die beiden durch das lange Thal hinauf; sie waren schon eine Stunde unterwegs, doch der Morgen wurde nicht heller. Wohl klüftete sich manchmal der unruhig ziehende Nebel und gab einen dunklen Waldgrat oder ein Stück der düsteren Wände frei, doch alle Höhen schienen von dunklem Gewölk überlagert, und wenn sich der Nebel teilte, trieb ihn der Wind immer wieder zu dichten Massen zusammen, so daß man im Wald oft kaum auf zwanzig Schritte die Stämme unterscheiden konnte. Aus diesen wehenden Dünsten ging ein dünnes Geriesel nieder, bei dem sich alles wie mit feinem Tau beschlug, und alle Geräusche klangen trüb’ gedämpft: das Rauschen des Baches, die schreienden Stimmen, die man irgendwo in der Ferne von den Almen hörte, und das Geläut und Brüllen der Rinder, die heute mit solcher Unruhe ihre Aesuug zu suchen schienen wie nach einem Schneefall, der alles Grün bedeckte.

Immer sorgenvoller wurde das Gesicht des Jägers. Auf seinen Herren aber schien das unfreundliche Bild der Landschaft mit seinem trostlosen Grau keine Wirkung zu üben. Der wanderte zu und immer zu, mit so treibendem Gang, daß ihm der Jäger kaum zu folgen vermochte – versunken in stille Gedanken, immer mit diesem träumenden Lächeln, mit diesem Leuchten in den Augen, als wäre frühlingsblauer Himmel mit heller Sonne über ihm und um ihn her das lachende Grün im Duft der Blumen.

Schon ein paarmal hatte Praxmaler verwundert den Kopf geschüttelt. „Das is aber doch ein g’spaßiger Nebel! Der riecht ja schier wie der Dampf, der von der Kohlstatt kommt!“

Und was war denn das für ein Rauschen, fern in der Höhe? Sie hatten noch eine gute Wegstunde bis zum See – da konnte man doch den Wasserfall des Seebaches noch nicht hören? Und waren denn die Leute auf der Sebenalm verrückt geworden – sie schrieen ja, daß man’s auf eine halbe Stunde weit hören konnte! Was die nur haben mochten?

Während der Jäger sich diese Frage stellte, kamen ein paar Kühe in wilder Flucht durch den Wald heruntergerannt. Jetzt meinte er zu wissen, was auf der Sebenalm los war – den Leuten war das Milchvieh scheu geworden und durchgegangen. Aber da hörte er im Wald einen Laut, der ihn ganz verblüfft machte – den Pfiff einer Gemse. Und jetzt ein Jagen und Brechen, als würde ein ganzes Rudel flüchtig! Das begriff er nicht. Gemsen hier unten im Thalwald? So tief steigen sie nicht einmal herunter im schwersten Winter!

„Herr Fürst! Ich weiß net was … aber es muß was los sein heut’. Da saust ein Rudel Gams durch’n Wald … Wie kommen denn die Gams da ’runter?“

Ettingen schien nur halb zu hören. Und da er sah, daß der Jäger stehen blieb, drängte er mit Ungeduld: „So kommen Sie doch! Lassen Sie die Gemsen … ich will ja nicht jagen heute! Kommen Sie doch!“

„Net jagen?“ Das war für Praxmaler von allen Wundern dieses Morgens das größte. „Ja warum denn steigen wir nachher ’nauf zum See?“

Er bekam keine Antwort; aber da er in seiner Verblüffung mit diesem Schweigen nicht zufrieden war, begann er zu grübeln, während er mit langen Schritten hinter seinem Herrn einhermarschierte. Und da er den Maßstab seiner eigenen Natur an dieses dunkle Rätsel legte, fragte er sich: Wär’s nicht im Dienst oder der Jagd zuliebe – was könnte mich denn zwingen, bei solchem Wetter einen solchen Weg zu machen? „Ich wüßt’ net, was … oder es müßt’ mein Burgerl droben sein und warten!“ Da machte sein Scharfsinn einen jähen Gedankensprung, und verdutzt betrachtete er seinen Herrn, der es so eilig hatte. „Ah, da schau!“ Hatte nicht gestern der Förster erzählt, er hätte das Maler-Fräulein zum Sebensee hinaufreiten sehen? Und hatte der Fürst nicht gleich darauf gesagt: „Pepperl, morgen machen wir eine Birsche zum Sebensee?“ Er dachte an jenen Morgen, an dem er seinen Herrn im Blumengarten des kleinen Seehauses gefunden hatte – dachte an die drei Hirsche im Gaisthal, die ihr Leben dem Maler-Fräulein zu danken hatten – dachte an jene Gewitternacht in der traulichen Waldstube dort oben, und da ging ihm jählings ein Licht auf, bei dessen Schein er das Rätsel dieses Nebelmarsches flink und leicht gelöst hätte, auch wenn es noch viel dunkler gewesen wäre. „Ah, da schau!“ Schmunzelnd musterte er seinen Herrn – und jetzt verstand er auch das Wort von der Sonne, die heute scheinen würde. „Das glaubst! Die hat freilich Sonn’schein in die Aeugerln … da kann der Nebel so dick sein, wie er mag!“

Dieses Mitwissen, das vor seinem Scharfsinn so plötzlich aufgedämmert war, konnte sich nicht verborgen halten und mußte aus ihm heraus mit einem Wort.

„Drei Viertelstünderln noch, Herr Fürst, und ich mein’, wir sitzen droben im Seehäusl! Und nachher haben wir d’ Sonn’! Werden S’ sehen … nachher haben wir’s!“

Da sah sich Ettingen nach dem Jäger um, schweigend wohl, doch lächelnd und mit einem Blick, der so deutlich redete, daß Pepperl vergnügt vor sich hinschmunzelte: „Hab’s schon ’troffen … ’s Richtige!“

Ein sausender Windstoß riß den Nebel entzwei, und man sah den steilen Tejakopf von einer schwarzen Wolke umlagert.

„Ja Duhrlaucht! Schauen S’ doch nur da ’nauf! Was is denn jetzt das für ein G’wölk? So pechschwarz kann ja doch ums Himmelswillen kein Wetter net aufziehen?“

Doch ehe der Blick des Fürsten die Höhe fand, nach welcher der Jäger deutete, hatte der jagende Nebel die Bergspitze mit ihrer finsteren Haube schon wieder verhüllt.

Sie schritten aufwärts durch den steigenden Wald. Da hörten sie wieder von der Sebenalm die schreienden Stimmen. Jetzt blieb auch Ettingen stehen, wie von einer Sorge befallen.

„Praxmaler! Hören Sie doch! Was können die Leute nur haben?“

„Was da droben los sein muß … ich kann mir’s gar net denken! Und da müssen ja viel mehr Leut’ bei ’nander sein als wie d’ Sennleut’ und der Hüter! Und in der Luft … wie’s in der Luft liegt! Als ob’s in der Näh’ wo brennen thät’! Es wird doch ums Herrgottswillen d’ Almhütten net im Feuer stehn!“

Da hörten sie das Keuchen eines Menschen und ein Gerappel von Steinen, als käme einer wie in wahnsinnigem Lauf über den Steig heruntergerannt.

„Ja um Christiwillen,“ stammelte der Jäger, „was is denn?“

Ein Mensch tauchte im Nebel auf. Es war der Sebener Senn. Jetzt stand er vor den beiden, zitternd an allen Gliedern, nach Atem ringend, das fahle Gesicht wie mit Ruß bestrichen. Die Augen waren rot verquollen, wie verweint, und die Aermel seiner Joppe von kleinen Brandlöchern durchsiebt, als wäre er durch einen Regen glühender Funken gelaufen. Mit beiden Fäusten packte er den Jäger an der Brust und keuchte: „Der Förstner … wo is der Förstner? Ich muß den Förstner haben und d’ Holzerleut …“

Ettingen rüttelte ihn am Arm. „Aber Mensch, so sagen Sie doch … was ist denn geschehen?“

„Der Sebenwald brennt … der ganze Wald bis übern See ’nauf … alles ein einzig’s Feuer! ’s ganze Jungvieh droben … alles muß hin sein, alles, alles! Jesus Maria! D’ Höll’ kann net ärger sein! Und ’s Fräul’n is droben seit gestern … das arme Fräul’n! Und alles muß hin sein droben. Jesus! Jesus! … der Förstner? Ja, sag’ mir doch, Jager, wo is denn der Förstner?“

„Mar’ und Josef! … draußten im Tillfuß is er! Lauf, Senn, lauf, ja lauf doch ums Himmelswillen, was d’ laufen kannst!“

Der Senn wollte rennen, doch Ettingen hielt den Arm des Mannes umkrampft wie mit eiserner Faust.

„So lassen S’ doch aus, Herr!“ keuchte der Senn. „Ich muß ja um d’ Leut’! Es brennt ja ’s Fuier schon z’ruck gegen d’ Alm … und die Küh’ sind narrisch, wir zwingen s’ ja nimmer ... ich muß ja Leut’ haben, Leut’ … aber so lassen S’ doch aus!“

Ettingen rang nach Worten. „Giebt es noch einen Weg …“ die Stimme brach ihm wieder, „einen Weg durch das Feuer … zum See hinauf …“

„Kein’ nimmer! Kein’! ’s ganze Seethal is zu mit Fuier! So lassen S’ doch aus … verflucht!“ Mit Gewalt befreite der Senn seinen Arm und rannte davon, mit keuchender Stimme betend: „Jesus, Jesus Maria … und Vater, Vater unser, der du bist im Himmel …“ Er verschwand im Nebel, und das Geklapper seiner schweren Schuhe erstickte die betende Stimme.

Zitternd klammerte sich Ettingen an den Ast einer Fichte, als müßte er eine Stütze haben, um sich aufrecht zu erhalten. Dem Jäger schossen vor Erbarmen die Thränen in die Augen, als er das verstörte Gesicht seines Herren sah und diesen verzweifelten Blick. „Um Christiwillen … mein lieber, lieber Herr Fürst!“

Ettingen erwiderte keinen Laut. Aber seine Glieder streckten sich, als wären sie Stahl geworden – und ein Blick nur sagte dem Jäger: „Kommen Sie!“

Wortlos eilten sie durch den Wald hinauf und erreichten das Almfeld. Hier lag der Nebel nicht mehr so dicht wie im tieferen Thal. Man sah die Leute, die mit Geschrei umherrannten, um die Kühe einzufangen und nach dem Stall zu bringen – man sah den Wald und über seinen Wipfeln den schwarzen, von trübem Feuerschein durchflackerten Qualm, der von Wand zu Wand die ganze Breite des Seethals füllte.

Mit brennenden Augen spähte Ettingen durch die Schleier des Nebels. „Nein … da giebt es keinen Weg mehr! Nicht durch den Wald hinauf!“ sagte er mit erloschener Stimme. „Aber einen anderen giebt es! Sie muß sich ja vor dem Feuer geflüchtet haben … in die Felsen hinauf! Dort müssen wir sie finden! Wir müssen!“ Er eilte den Latschengehängen zu, die sich oberhalb des Almfeldes steil emporhoben gegen den Tejakopf, dessen gewaltige Felsenmauer zwischen dem Prantlkar und dem brennenden Seethal aufstieg und mit seiner Zinne in schwarzem Rauchgewölk verschwand.

Erschrocken lief der Jäger seinem Herren nach. „Mar’ und Josef! Duhrlaucht! Wo wollen S’ denn hin?“

„Hinauf! Dort hinauf! Durch das Prantlkar und über den Paß … den Weg, den wir neulich gingen, als das Gewitter kam … und die schöne Nacht …“ Seine Stimme erlosch wie in einem Schluchzen, das keine Thränen hatte.

„Ja, ja, Herr Fürst … aber da müssen wir wieder ’nunter durch’n Wald und drüben ’nauf!“

„Nein! Ich sehe einen Weg ins Kar, der näher ist. Dort hinauf!“ Ettingen deutete nach den Latschenbändern, welche schräg über die Felswand emporkletterten gegen die Höhe des Kars. „Da sparen wir eine Stunde!“

Praxmaler wischte sich den Schweiß von der Stirn und stammelte: „Um Gott’swillen, Duhrlaucht … alles was recht is … aber da steig’ ja ich kaum durch! Sie kommen net ’nauf!“

„Ich muß hinauf!“ Ettingen hatte schon den Latschenhang erreicht und begann zu klimmen.

Ohne Widerrede legte der Jäger alles ab, was er trug, die Büchse, den Rucksack, die beiden Wettermäntel – jetzt brauchte er freie Arme, denn er wußte, daß es um das Leben seines Herren ging.

Sie kamen zum Fuß der Felswand und begannen zu klettern, wortlos, mit schwerem Atem – Ettingen immer voran. Mit Rasseln und Sausen stürzten unter seinen Tritten die Steine in die Tiefe – er hatte keinen Blick für sie, seine Augen suchten nur immer die Höhe. Nie bedurfte er der Hilfe des Jägers – und wenn Praxmaler schon ratlos innehielt, immer wieder fand Ettingen eine Schrunde im Gestein, einen Tritt für seine Füße, der ihn höher brachte, so rasch, daß der Jäger Mühe hatte, sich dicht hinter seinem Herrn zu halten.

Als sie die Kuppe der Wand erreichten, schlug Praxmaler ein Kreuz und sah mit bleichem Gesicht in die schwindelnde Tiefe.

Nur eine kurze Strecke hatten sie noch zu steigen, weniger mühsam, und dann kam über Griesfelder und Latschenrücken ein ungefährlicher Weg in das Kar.

Der Nebel begann sich langsam zu heben – und von der Höhe, auf der die beiden waren, konnten sie den Eingang des brennenden Thals überblicken. Zwischen Qualm und Dämpfen sah man die flammenden Bäume. Auf weite Strecken war der Grund schon kahlgebrannt – und bald erschienen diese Stellen grau, bald wieder, wenn der Wind die Asche verwehte, verwandelten sie sich in rote Glut. Und alles, die Flammen der Bäume, Rauch und Qualm, die Aschenwolken – alles strebte im jagenden Winde hinauf und immer hinauf, dem See entgegen.

Ettingen bedeckte mit den Händen das Gesicht, als könnte er diesen grauenvollen Anblick nicht ertragen, als müßte er mit Gewalt die martervollen Bilder ersticken, welche die Angst seines Herzens ihm vor Augen stellte.

Schwere Thränen rannen ihm über die Lippen, als er sich wandte und den Weg ins Kar begann.

„Ich bitt’ Ihnen, mein lieber Herr,“ bettelte der Jäger, „thun S’ doch ein bisserl rasten!“

Ettingen schüttelte den Kopf und eilte weiter.

Sie stiegen eine Stunde und eine zweite. Je näher sie im Kar der letzten Grieszunge kamen, von deren Ende der Steig über brüchige Wände hinaufkletterte zum Paß, desto ungeduldiger wurden die Schritte des Fürsten, obwohl ihm Atem und Kräfte schon fast zu Ende gingen. Auch der Jäger war so erschöpft, daß er die letzte Kraft seiner Glieder geben mußte, um sich an der Seite seines Herrn zu halten.

Einer steilen Felswand nahe, ging der Weg zwischen mächtigen Felsblöcken dahin, die ein Bergsturz über das Griesfeld geworfen hatte. Wohl war der Nebel gestiegen und hatte sich schon über Thal und Bergen zu einer grauen, regungslosen Decke gesammelt – aber das ganze Kar lag verschleiert vom dünnen Geriesel der Asche, die aus den Lüften fiel, und vom Rauch, der drüben aus dem brennenden Seethal aufstieg und im Kar sich wieder niedersenkte über die Wände.

Nur einen Weg von wenigen Minuten hatten sie noch bis zu der Stelle, an welcher der Paßweg beginnen mußte, und Ettingen suchte ihn schon mit brennenden Blicken. Da rollten Steine aus der Wand herunter, an der sie vorüberschritten. Im gleichen Augenblick riß der Jäger seinen Herren hinter einen Felsblock und stammelte: „Mar’ und Josef! Kein’ Laut … nur um Gottswillen kein’ Laut nimmer! … Da schauen S’ ’nauf!“

Hoch über dem Griesfeld, in der steilen Felswand, welche pfadlos schien, bewegte sich unter dem Schleier des Rauches langsam eine Gestalt.

„Lo’!“ glitt es mit ersticktem Klang über Ettingens Lippen. Sein erstes Gefühl war ein Sturm von Freude. Sie nur wiederzusehen! Lebend! Doch dieser Rausch der Freude ging ihm unter in Angst und Grauen, das ihn fast um die Sinne brachte. Jeder Schritt in dieser Wand war ein Schritt in den Tod.

Ettingen raffte sich auf mit schluchzendem Laut und streckte die Arme. Nur helfen, helfen, dieses stürzende Leben schützen – kein anderer Gedanke mehr war in ihm! Er wollte schreien: Ich komme, Lo’! – doch seine Stimme war nur ein Lallen. Und da preßte ihm der Jäger die Hand auf den Mund und riß ihn zurück und flüsterte:

„Ein’ Laut, Herr Fürst, und Sie bringen das Fräul’n um! Da giebt’s kein Helfen … wir stehen ja da mit leere Händ’, ohne Seil und Eisen, ohne alles! Sie muß allein da ’runter … da hilft ihr keiner, bloß die eigne Kraft! Und schauen S’ nur ’nauf, wie s’ jeden Schritt probiert und wie sie sich ruhig halt’t! Sie derzwingt’s … passen S’ auf, sie derzwingt’s! Aber ein’ Laut von Ihnen … ein’ Merker von ihr, daß wer da herunten steht, und Sie g’rad’, Sie, Herr Fürst … und sie hat ihr’ Ruh verloren und …“ der Jäger sprach das Wort nicht aus, das ihm schon auf der Zunge lag. „In Rauch und Nebel hat s’ den Steig verfehlt und hat sich in d’ Wand’ verstiegen. Jesus, Jesus Maria … was muß das Fräul’n für ein’ Weg g’macht haben in der Nacht!“

Nun standen sie regungslos hinter dem Felsblock und spähten durch den ziehenden Rauch in die Wand hinauf. Sie sprachen kein Wort mehr, aber es hämmerte in ihrer Brust, daß einer den Herzschlag des anderen hören konnte. Mit beiden Händen klammerte sich Ettingen an den Fels und preßte die Lippen aufeinander, um auch den Ton seines Atems noch zu ersticken. Immer wieder schloß er die Augen, als ginge die Marter dieses Anblicks über seine Kräfte – und immer wieder spähte er hinauf mit einem Blick, in dem seine ganze Seele war, all seine Angst und all sein Hoffen. Und fielen Steine aus der Wand, dann zuckte er zusammen, als träfe ihn jeder Steinschlag ins Leben.

Sie schwirrten und sausten, diese stürzenden Steine, und wenn sie das Griesfeld erreichten, machten sie noch weite Sprünge. Der Staub, den sie aufwirbelten, dampfte an der Felswand empor und mischte sich mit den Schleiern des braunen Qualmes. Der umhüllte bald die Verirrte in der Wand, bald gab er sie wieder frei. Mit ausgebreiteten Armen die Brust an die Felsen schmiegend, suchte sie Tritt um Tritt. Manchmal blickte sie über die Schulter in den Abgrund, wie um den Weg zu messen, den sie noch finden mußte. Tiefer und tiefer kam sie, und eine glattgeschwemmte Wasserfurche überspringend – Ettingen zitterte, als sie sprang – erreichte sie ein Steinband, das ihr sicheren Grund für die Tritte gab. Sie ging, bis das Band zu Ende war, und dann rastete sie, lange, lange, wie um all ihre Kraft für dieses letzte und schwerste Stück ihres Weges zu sammeln. Schräg nach abwärts hatte sie eine Felsplatte zu überqueren, die nur von wenigen Rissen durchzogen war und so kahl erschien, daß der Blick, der aus der Tiefe hinaufspähte, kaum einen Vorsprung fand, auf dem ein Fuß hätte ruhen können.

„Unmöglich … das ist unmöglich!“ hauchte Ettingen. Sein Gesicht war weiß, und er zitterte an allen Gliedern.

„Nur Ruh’, Herr Fürst, nur Ruh’ ums Himmelswillen!“ flüsterte der Jäger. „Von droben schaut’s besser aus als wie von unt’ auf! Und sie derzwingt’s, sie hat die richtig’ Ruh’ … und nachher is alles g’wonnen!“

Ja, war dieses Schwere überwunden, dann war’s gewonnen. Denn unter der Felsplatte winkte ein Rasenfleck, auf dem sie sicher wieder rasten konnte, und nur noch so hoch über dem Griesfeld, daß ein Steinwurf ihn erreicht hätte. Wohl war dann das letzte Stück des Weges bis auf den Sand hinunter noch immer gefährlich, aber es bot in seinen Felsen doch feste Kanten für den Fuß und Schrunden für die greifenden Hände.

Noch immer rastete Lo’. Doch während sie die Arme um einen Felszacken geschlungen hielt, prüfte sie vorgebeugten Kopfes schon den Weg, den sie nehmen mußte. Und nun wollte sie ihn beginnen – man sah, wie ihre Gestalt sich streckte und ihr Arm sich zögernd von dem stützenden Schrofen löste.

Praxmaler umklammerte die Hand seines Herrn, als hätte er Sorge, daß sich die Seelenangst, die ihm aus Blick und Zügen redete, in diesen entscheidenden Minuten durch einen Ruf, durch eine unvorsichtige Bewegung verraten könnte. Doch Ettingen stand regungslos und stumm, wie zu Stein verwandelt; auch sein Atem schien erloschen, und nur seine Augen lebten noch und griffen hinauf mit ihrem Blick, wie die Angst mit Armen und Händen greift.

Dicht angeschmiegt an den Felsen, machte Lo’ mit ruhiger Vorsicht den ersten Schritt in die Platte -- einen zweiten und dritten, und während sie mit der einen Hand immer angeklammert hing an eine Schrunde, fühlte sie mit der anderen gleitend am Gestein hin, um einen neuen Halt zu finden. Zwei Schritte noch, und dann hielt sie rastend inne, mit ausgebreiteten Armen, wie an den Fels gekreuzigt. Wieder begann ihr Fuß zu tasten, ihre Hand zu suchen, denn sehen konnte sie nicht, da sie mit Körper und Wange sich an die steile Mauer pressen mußte, um das Gleichgewicht zu halten. So erkämpfte sie Schritt um Schritt, immer rastend und wieder klimmend. Oft tastete sie mit Hand und Fuß eine lange Weile am Felsen hin ins Leere, bis sie einen Tritt und einen Griff zu finden vermochte. Schon hatte sie die Hälfte der Platte überquert, und immer näher kam sie dem Rasenfleck, der sich mit festem Sockel aus der Wand herausbaute. Doch immer kürzer wurden ihre Schritte, immer langsamer und müder suchte ihr Fuß, und immer länger währte ihre Rast, als gingen ihre Kräfte zu Ende.

„Sie zittert …“ hauchte Ettingen und krampfte die Hände um die Kante des Felsblockes, daß sie weiß wurden wie Kalk.

Beängstigend lange hing Lo’ in der Felswand an eine aus der Tiefe kaum erkenntliche Rinne geklammert, dann jählings machte sie ein paar hastige Schritte, und jetzt trennte sie nur noch ein schmaler Felspfeiler von dem Rasen.

„Nur Ruh’, Herr Fürst, sie g’winnt! Sie g’winnt!“ stammelte der Jäger. Aber die Hoffnung, die er seinem Herrn einredete, schien ihm selbst zu fehlen. Denn er betete flüsternd: „O du lieber Herrgott, hilf ihr die paar Schritteln, nur die paar Schritteln noch!“

Unruhig tastete Lo’ mit dem Fuß, und immer schwerer schien ihr Körper an den Armen zu hängen, die sich länger und länger streckten. Nun fand ihr Fuß den gesuchten Tritt, aber als sie sich vorschob und ausgriff mit der Hand, wich der Stein, auf den sie getreten war – ein leiser Schrei – doch während sie schon taumelte, wagte sie noch den rettenden Sprung –

Mit stöhnendem Laut stürzte Ettingen der Felswand zu, aber da klang hinter ihm schon der Jubelschrei des Jägers.

Sausend flog der gelöste Stein aus der Wand herunter – doch Lo’ hatte im Sprung den Rasen gewonnen. Sie sank in die Kniee und wollte sich an den Felsen lehnen. Aber hatte sie den Schrei dort unten gehört und den Einen erkannt, der mit erhobenen Armen über das Schuttfeld emporstürmte? Oder löste sich, da sie an die Rettung glauben durfte, die gewaltsame Spannung ihrer erschöpften Kräfte zu einem Anfall jäher Schwäche? Ihr Kopf glitt am Felsen hin – lautlos sank sie auf den Rasen nieder und regte sich nicht mehr.

„Sie ist ohnmächtig! Hinauf!“ schrie Ettingen wie von Sinnen. „Praxmaler! Hinauf! Hinauf!“

Ehe der Jäger noch den Fuß der Wand erreichen konnte, war Ettingen über das zerklüftete Gestein schon halb bis zum Rasen emporgeklettert. Er hörte die erschrocken mahnenden Worte nicht, die ihm Praxmaler zuschrie – er stieg und stieg. Jetzt erreichte er die Bewußtlose. „Lo’ … Lo’ … meine Lo’!“ Aber der Rausch von Freude, der ihn erfüllte, als er ihre Hand erfassen konnte, verwandelte sich in neue Sorge. Wie schmal dieser Rasen war! Eine Bewegung im Erwachen – und sie mußte stürzen. Aus Angst und Liebe wuchsen ihm der Mut und die Kraft, daß er das fast Unmögliche versuchte: die Ohnmächtige über die steilen Felsen hinunterzutragen. Den einen Arm um einen Schrofen klammernd, zog er mit dem anderen die Bewußtlose an sich. Sie fiel ihm schwer entgegen, und wie leblos lag ihm ihr Kopf auf der Schulter.

Da stand schon der Jäger dicht unter ihm und stemmte den Arm an eine Kante der Felsen. „Da können S’ drauftreten, Duhrlaucht … mit aller Ruh’… meine Knochen halten’s aus!“

So stiegen sie langsam hinunter. Für jeden Schritt des Fürsten suchte der Jäger einen sicheren Vorsprung an dem Felsen, stützte ihn mit der Schulter oder hielt ihm bald den Arm, bald wieder die Fäuste oder das Knie als Staffel hin.

Als sie den sicheren Grund erreichten, taumelte Ettingen und ließ sich niederfallen auf den Sand. Aber er fühlte die eigene Schwäche nicht, nur den Jubel, die Geliebte gerettet zu wissen, sie so zu halten, in seinen Armen, an seiner Brust! „Meine Lo’ … meine Lo’ …“ Ein anderes Wort fand er nicht, während er in Thränen ihre geschlossenen Augen küßte, ihr Haar und ihre Stirne.

Der Jäger stand vor den beiden, erschöpft, verlegen lächelnd in seiner Rührung. Dabei leckte er mit der Zunge von seiner Hand das Blut fort, das ihm über die Finger tropfte. Wohl war das Denken nicht seine Stärke – aber jetzt brachte er’s fertig, für seinen Herrn zu denken. Er eilte zu den Felsblöcken hinunter, um mit dem Hut von dem Wasser zu schöpfen, das zwischen den Steinen rann. Vorsichtig brachte er den vollen Hut getragen. „Da haben S’ Wasser, Herr Fürst … Sie müssen das arme Fräul’n ein bißl derfrischen!“

Als Ettingen aufblickte, sah er das Blut an den Händen des Jägers.

„Praxmaler! Ihre Hände!“

„No ja, natürlich … Sie haben halt ein bißl scharfe Nägel an die Schuh’! Aber macht nix! Ich hab’ eh ein wengerl z’viel Blüet im Leib’ … so ein kleiner Schröpfer is mir g’sund. Aber jetzt denken S’ net an mich …“

„Wie soll ich Ihnen diese Stunde danken!“

„Was? Danken? Das wär’ mir ’s Richtige … auf die Fünfhundert und aufn Oberjager ’nauf! Aber da hab’ ich ’s Wasser! Brauchen S’ ein Tüchl? Na, um Gottswillen, wie das arme Fräul’n ausschaut! Das liebe G’sichterl … und so verstellt!“

Erst bei diesem Wort des Jägers bekam Ettingen Augen, um zu sehen. „Ach!“ Das war ein Laut, als würde ihm das Herz zerdrückt. Mit zitternden Armen preßte er die Ohnmächtige an sich, schmiegte ihr Haupt an seine Brust und streichelte ihr das Haar und die Wange. Wie müd’ und erschöpft ihr schönes Antlitz war – wie entstellt von Rußflecken und vom Staub der Asche! „Und ihre lieben Hände!“ Sie waren grau vom Steinsand, wund von Rissen, fast alle Nägel gebrochen und mit Blut unterlaufen.

Wie ein Schwindel überkam es ihn, als er sein Tuch in das Wasser tauchte, das ihm der Jäger hinbot. In scheuer Zärtlichkeit hauchte er die Asche aus ihrem Haar, wusch ihr den Ruß vom Gesicht und streifte ihr immer wieder das nasse Tuch über Stirn und Augen. Sie erwachte nicht, doch leise begann sich ihr Atem zu beleben. Er wusch ihr die Hände, küßte jede Wunde – und während der Jäger fortlief, um frisches Wasser zu holen, nahm er sie wieder in seine Arme.

Ein stockender Atemzug erschütterte ihre Brust, und sie schlug die Lider auf.

„Lo’!“

Sie sah das Gesicht, das sich in Glück und Sorge über das ihre beugte, fühlte schauernd den Druck der Arme, die sie umschlungen hielten, und trank den Blick der Liebe, der auf ihr ruhte. Dann lächelte sie müd’ und schloß die Augen wieder, als wüßte sie: Das ist ein Traum, der verschwinden muß, wenn ich wache und mit offenen Augen sehe!

„Lo’! … Kennst du mich nicht? … So sieh mich doch an!“

Sie öffnete die Lider.

„Lo’! … Meine liebe, gute, kleine Lo’!“

Da hörte sie es wieder – das Wort ihres Vaters! Mit dem gleichen Ton der Liebe! Nur süßer, zärtlicher noch, durchweht von einer Glut, die hinüberschlug in ihr Herz und ihr das Blut in die bleichen Wangen trieb. Als sähe sie ein Wunder, dessen Wahrheit sie fühlte und an das sie doch nicht glauben konnte, so hob sie zögernd die Arme und faßte scheu mit beiden Händen die Wangen des geliebten Mannes. Ein Zittern rann durch ihren Körper. „Du! … du!“ Und da schlang sie die Arme um seinen Hals, stark und heiß, und hing an seinen Lippen, als tränke sie neues Leben aus seinem Kuß. Dann schloß sie mit seligem Lächeln die Augen, und ihr Haupt sank auf seine Schulter, als ob sie schlummern wollte.

Er streichelte ihr Haar. „Du Starke, du Mutige du! Was hast du überkämpft in diesen grauenvollen Stunden! Was mußt du erlebt haben in dieser entsetzlichen Nacht!“

Ohne die Augen zu öffnen, flüsterte sie: „Ich weiß es nicht mehr … ich weiß nur, was jetzt ist … und das ist so schön, so schön!“

„Und ich schlief in dieser Nacht und träumte von meinem Glück, während du …“ Er konnte nicht weitersprechen. Der Gedanke an alle Gefahr, die in dieser Nacht auf jedem Schritt mit ihr gegangen, machte ihn zittern bis ins Herz. „Ich habe ja nur dieses Letzte gesehen … und nicht einmal helfen hab’ ich dir können! Das sehen zu müssen, so hilflos … jeder Blick war wie ein Tod für mich! Am Morgen, als ich mein Haus verließ, um dich zu suchen, da wußt’ ich, daß ich dich liebe … aber erst in diesen Stunden der Angst und Verzweiflung hab’ ich’s empfunden, wie viel du mir bist, und daß ich nicht leben könnte ohne dich!“

Sie lauschte seinen Worten wie der Dürstende dem Quell, den er rauschen hört. Aber daß sie so stumm war, das weckte seine Sorge.

„Lo’? … Wie fühlst du dich? Ist dir wohl?“

Sie lächelte nur und atmete tief.

„Warum siehst du mich nicht an?“

Da schlug sie die Augen mit leuchtendem Glanze zu ihm auf.

„Sag’ es mir, Lo’ … bist du mir gut?“

„Ach, du …“ Sie hob die Arme zu ihm hinauf.

„Ich weiß es und fühl’ es ja … aber ich möcht’ es hören mit deinen Worten. Sag’ es mir, Lo’!“

„Du … du …“ Ein anderes Wort fand sie nicht, aber sie schmiegte sich an seine Brust, daß er das Beben ihres Körpers und ihren Herzschlag fühlte.

So hielten sie sich schweigend umschlungen, versunken in ihr Glück, bis ein Schritt sie erweckte.

Der Jäger brachte frisches Wasser, und während er langsam heraufstieg über das Griesfeld, hob er keinen Blick von dem triefenden Hut.

Ettingen richtete die Geliebte in seinen Armen auf. „Willst du nicht trinken, Lo’?“

„Ja, Heinz, mich dürstet … gieb du mir einen Trunk!“

Er schöpfte Wasser, und das schlürfte sie ihm aus der hohlen Hand.

„Wie das erquickt! … Ich danke dir, Heinz!“

Lächelnd strich er das feuchte Haar von ihrer Stirne zurück. Dann nahm er den Hut des Jägers, leerte ihn bis auf den letzten Tropfen und hob sich auf die Kniee. „Komm, Lo’ … ich muß dich heimbringen, damit du ruhen kannst. Und sieh nur … deine armen Hände! Wir müssen heim …“

„Heim!“ Sie nickte ernst, und ein Schatten dämpfte den Glanz ihrer Augen. „Die Mutter … kann es meine Mutter schon wissen?“

„Daß der Wald brannte? Nein, Lo’!“ Wohl mußte er fürchten, daß die Nachricht schon hinausgeflogen wäre bis ins Dorf – aber er wollte ihr diese Sorge von der Seele nehmen. „Sie kann es unmöglich wissen … sie wird es hören mit der Nachricht, daß dein Mut dich rettete.“

Sie atmete auf.

„Fühlst du dich stark genug, um gehen zu können?“

„Sag’ mir: Gehe! … und ich kann es.“

„So komm!“

Sie begannen den Heimweg und wanderten langsamen Schrittes durch das von Rauch überschleierte Kar hinunter. Er hielt ihre Hand in der seinen und schmiegte stützend den Arm um ihre Hüfte. Immer suchte er den besten Weg für sie, und lag ein Stein im Pfad, so schob er ihn mit dem Fuß beiseite. Sie sprachen nicht. Was ihre Herzen erfüllte, war zu übermächtig für Worte. Nur ihre Augen suchten sich immer wieder und redeten mit stillem Lächeln. Während sie so hinunterschritten ins Thal, war in ihren Seelen ein Aufwärtssteigen, empor zur Sonnenhöhe des Glückes.

Eine Stunde waren sie schon gewandert, als sie Stimmen hörten.

Lo’ verhielt den Schritt. „Menschen?“ Das sagte sie, wie aus einem Traum erwachend, wie verwundert und erschrocken über die Wirklichkeit des Lebens, dessen Laute ihr entgegenschollen. Da tauchten auch wieder die Bilder der vergangenen Nacht vor ihren Augen auf, und stammelnd fragte sie: „Mazegger? … Ist er gerettet?“

Ettingen erschrak. „Mazegger?“ Und betroffen sah der Jäger seinen Herren an.

„Er wollte nach Ehrwald … und als das Feuer ausbrach, kam er, um mich zu warnen. Er nahm einen anderen Weg … durch den brennenden Wald …“ Das Grauen der Erinnerung machte sie zittern. „Ist er gerettet?“

„Ja, Lo’!“ sagte Ettingen und tauschte einen Blick mit dem Jäger.

Da lächelte sie erleichtert, als wäre mit diesem Ja der letzte Schreck der überstandenen Nacht von ihrer Seele gelöst.

Schreiend kamen ihnen die Leute entgegen. Es waren Sennen und Holzknechte, welche den Paß übersteigen wollten, um droben in den Felsenkaren des Seethals nach dem Jungvieh

zu suchen. Der Jäger flüsterte ihnen eine Frage zu – sie schüttelten den Kopf, schrieen durcheinander und eilten weiter.

Eine erregte Stimme rief durch das Thal herauf: „Heinz? Heinz? Bist du’s?“ Dort unten im Latschenfeld erschien Graf Sternfeldt mit dem Förster.

„Ja, Goni!“ gab Ettingen mit lautem Ruf zur Antwort. „Wir kommen!“

Sternfeldt eilte den beiden entgegen, während der Förster seinem Herrn ein „Gott sei Dank!“ zuschrie und wieder thalwärts rannte. Er war nicht weit gekommen, als ihn Praxmaler einholte, keuchend vom überstürzten Lauf.

„Herr Förstner … der Toni geht ab.“

„Der Mazegger?“ stotterte der Förster. „War der im Sebenwald? Heut’ nacht?“

Der Jäger erzählte, was er von Lo’ gehört hatte.

„Der? Und ’s Fräul’n warnen?“ Der Förster schüttelte ernst den Kopf, als wäre eine böse Ahnung in ihm aufgestiegen. „Komm, Bub! Ich fürcht’, da hat einer d’ Höll’ versucht, und der Himmel hat ihn g’straft! Aber sei’s, wie’s mag … jetzt müssen wir thun, was g’schehen kann! D’ Holzknecht’ schaffen schon bei der Brandstatt’ … jetzt müssen wir helfen! Komm!“

Sie eilten thalwärts, und Praxmaler begann zu rennen, daß der Förster weit hinter ihm zurückblieb.

Drunten im Waldthal begegneten ihm Sennleute, die zur Brandstätte liefen, und hinter ihnen kam ein Mädel gerannt, atemlos und bleich vor Angst – die Tillfußer Sennerin. Sie haschte den Förster an der Joppe.

„Mein Pepperl … is mei’m Pepperl nix g’schehen?“

Dein Pepperl! Ah, da schau her!“

„Is ihm nix g’schehen? Jesus Maria! Lebt er denn noch?“

„Ja, ja, ja … um Gottswillen! Der Schnurrbart is ihm net weg’brennt! Den hat er schon noch!“

Burgi drückte die Fäuste auf ihre Brust. „O du heilige Mutter im Himmel, ich sag’ dir Vergeltsgott … und ein Kerzl sollst kriegen!“ Dann fing sie wieder zu laufen an, und die grundlose Angst, die sie ausgestanden hatte, löste sich in ein Schluchzen der Freude. –

Die Stimmen und Schritte verhallten. Stille lag wieder im Tillfußer Wald. Kein Windhauch regte sich, kein Wipfel schwankte. Grau und unbewegt hing die glatte Nebeldecke über den Bäumen, die Felswände verhüllend. Gegen Westen lag es wie schwarzes Sturmgewölk über den Ehrwalder Bergen – gegen Osten aber schimmerte es zuweilen mit weißlichem Glanz durch die trüben Dünste, als wäre dort irgendwo die Sonne, die den grauen Schleier durchbrechen wollte.

Manchmal tönten im Schweigen des Waldes verworrene Menschenrufe aus weiter Ferne. Dann war’s wieder still.

Sichernd zog ein Rudel Hochwild über den Weg, scheu hinauswindend gegen den Sebenwald. Und lautlos trat es wieder in den stillen Forst.

Hoch in den Wipfeln schlug eine Ringdrossel. Schnalzend kam sie auf den Weg geflogen und begann ihre Käferjagd im feuchten Gras. Aber jählings hob sie das Köpfchen und flatterte davon.

Langsamen Schrittes kamen Heinz und Lo’ durch den Wald einhergegangen. Wo die Drossel aufgeflogen, blieben sie stehen, als hätte der gleiche Gedanke ihren Fuß gebannt – die Erinnerung an jenen Abend, an dem sie sich zum erstenmal im schweigenden Walde begegnet waren.

„Sieh, Lo’ … dort oben war’s!“

Sie nickte und schmiegte sich enger an ihn. So standen sie lange und blickten hinein in die blaue Dämmerung, die trotz der Mittagsstunde zwischen den stillen Bäumen lag.

Die Drossel schlug.

Sie lauschten ihr, bis sie fern im Wald verstummte, und dann schritten sie weiter.

Als sie, schon nahe der Tillfußer Alm, die Lichtung erreichten, auf welcher die von Leutasch kommende Fahrstraße zum Jagdhaus hinaufbog, rasselten zwei Leiterwagen mit galoppierenden Pferden aus dem Wald heraus. Auf jedem Wagen saßen an die dreißig Männer, dichtgedrängt, mit Aexten, Feuerhaken und schweren Seilrollen.

„Heinz!“ stammelte Lo’. „Sie wissen es schon im Dorf! Ach, meine Mutter! Und der Bub!“ Thränen schössen ihr in die Augen.

Er drückte ihren Arm an seine Brust. „Sei ruhig, Lo’! Die Sorge, die sie haben, wird sich in Freude lösen!“

Die Leute waren abgesprungen, da die Wagen auf dem schmalen Waldweg nicht weiterfahren konnten. Die jungen Bursche schleppten die schweren Seile und begannen zu rennen, dann kamen die älteren Männer mit den Aexten und Hacken. So eilig sie es alle hatten, jeder zog vor Lo’ sein Hütlein und bot ihr einen Gruß. Und ein graubärtiger Alter rief ihr zu: „Heut’, Fräul’n, heut’ sollten wir halt Enkern Herrn Vatern wieder haben … da thäten wir bald Herr sein übers Fuier da draußt!“

Lächelnd, mit nassen Augen, dankte sie dem Alten für dieses Wort, das ihr mit warmer Freude ins Herz geklungen.

„Siehst du, Lo’, wie dein Vater noch lebt für diese Menschen, denen er Gutes that!“ sagte Ettingen bewegt. „Und wie dieser Bauer an ihm die Kraft des Mannes schätzt, so wird ihn die Welt als Künstler ehren. Seine Blumen da draußen, die sind heute nacht in Asche gefallen – aber was in seiner Seele Wurzel hatte, das wird blühen für die Menschen, schön und dauernd!“

„Ja!“

Sie blieben seitwärts vom Wege stehen, um zu warten, bis die Leute vorüber wären. Als einer der letzten kam der Bauer, dessen Anwesen in Leutasch draußen an den Garten des Malerhauses grenzte.

„Nachbar!“ Ihren Arm lösend, eilte Lo’ auf den Bauern zu. „Nachbar! Weiß meine Mutter schon von dem Brand?“

„Ja, Fräul’n, ja! Und das arme Weiberl, o mein, o mein … die hat sich anders g’sorgt! No, Gott sei Lob und Dank, weil S’ nur da sind! D’ Frau Mutter wird gleich kommen mit’m Wagerl, nimmer derlitten hat sie’s daheim!“ Eine schrillende Knabenstimme klang aus dem Wald. „Da … hören S’ Ihr Brüderl!“

Die kleine Kutsche erschien am Waldsaum und mußte halten, da ihr die anderen Wagen den Weg verstellten.

„Lo’! Lo’!“ gellte die Stimme des Knaben. Und da kam er auch schon gerannt. Aber heute, mit seinem bandagierten Fuß, den er nur mit den Zehen aufsetzen konnte, da ging’s nicht so flink wie damals, als er von Innsbruck gekommen. Und Lo’, als hätte sie sich in ihre Mutter verwandelt, rief in Sorge: „Bubi! Aber Bubi! Ich bitte dich, lauf nicht so!“ Sie eilte auf ihn zu und fing ihn mit den Armen auf. Wortlos hielt sie ihn umschlungen, dann ließ sie ihn wieder und eilte der alten Frau entgegen. „Mutter! Mutter!“

Den kranken Fuß an der Wade des gesunden reibend, stand Gustl zwischen den niederen Fichten und balancierte mit den Armen. Stramm aber richtete er sich auf und zog mit einem Kompliment sein Hütlein, als Ettingen auf ihn zutrat.

„Guten Tag, Herr Fürst!“

„Grüß dich Gott, Bubi! Wie geht’s mit deinem kranken Fuß?“

„Danke, Herr Fürst, ganz gut!“

Ettingen zog den Knaben an sich. „Hast du dich gesorgt um deine Lo’?“

„Die Mama … ach, Gott! Aber ich? O nein! Ich kenn’ doch unsere Lo’ … und hab’s auch der Mama gleich gesagt: unsere Lo’, die weiß sich schon zu helfen! Und dann, ich war doch überzeugt, daß Sie bei ihr sind!“

„Wirklich?“ Ettingen küßte den Knaben auf die glühende Wange. „Davon warst du überzeugt?“

„Natürlich! Wenn ein Wald brennt, und jemand ist drin, den man lieb hat, da geht man doch gleich hin und hilft ihm.“

„Daß ich deine Schwester lieb habe … das weißt du?“

„Freilich!“ Mit strahlenden Augen blickte der Knabe an Ettingen hinauf. „Ich hab’s doch neulich schon gemerkt, viel früher als die Lo’ … der hab’s doch ich erst sagen müssen!“ Da sah er Lo’ mit der Mutter kommen und rief: „Gelt, Mutterl, gelt, ich hab’ recht gehabt!“

Lo’ mußte der Mutter schon von ihrem Glück gesagt haben. Denn in tiefer Bewegung, scheu und verlegen, mit Freude und doch auch mit Angst in den feuchten Augen kam Frau Petri dem Mann entgegen, dem sie ihr Kind fürs Leben anvertrauen sollte.

„Das ist meine Mutter, Heinz!“

„Herr Fürst …“ die alte Frau vermochte kaum zu sprechen und streckte die zitternden Hände. „Sie haben mir mein Kind gebracht …“

„Ja, Frau Petri.“ Ettingen küßte ihr die Hände. „Aber ich will Ihnen Lo’ wieder nehmen. Und ich weiß … ich nehme Ihnen viel!“

„Die Hälfte von allem, was ich noch habe.“ Zwei schwere Thränen fielen ihr über die furchigen Wangen, und doch lächelte sie und atmete auf. „Aber das ist ja das Los der Mütter … wenn ihre Schmerzen und Sorgen vorüber sind, dann werden sie einsam. Das kann für mich nicht anders sein, wie es für alle ist! Und wenn Lo’ das Glück findet, das ich ihr wünsche, dann bin ich mit allem zufrieden. Ach ja!“ Sie hielt die Hände des Sohnes fest, den ihr diese Stunde gegeben, und während sie ihn ansah, sprachen aus ihrem forschenden Blick die stummen Fragen: Hast du sie lieb? Bist du gut? Wirst du sie glücklich machen? – Und als hätte sie aus diesen klaren, leuchtenden Mannesaugen allen Trost für ihre Sorge gelesen, mit so tiefer Freude faßte sie die Hand ihres Kindes. „Lo’! … Ach, Lo’! … Warum konnte dein Vater das nicht erleben! Das Glück seines Kindes hätte ihn doch entschädigt für alles andere!“

Sie blieben stumm nach diesem Wort.

Wieder rasselten zwei Wagen mit schweißtriefenden Pferden aus dem Wald heraus. Die Männer sprangen ab unter wirrem Geschrei und eilten mit ihren Aexten und Seilen über den Pfad hinaus zum Sebensee – – –

Da draußen beim Waldbrand standen schon am Nachmittage über zweihundert Leute bei der Arbeit. Nicht nur von Leutasch waren sie gekommen, auch von Ehrwald herauf, von Bieberwier und Lermoos, von allen Almen her. Die Sennleute und Holzknechte, welche den Weg über den Paß genommen, waren zurückgekehrt: der dichte Rauch, der alle die hohen Felsenkare füllte, hatte ihnen den Zutritt in das brennende Thal verwehrt. Da war auch nichts mehr zu helfen dort oben – alles Jungvieh mußte schon längst erstickt sein.

Aber auch herunten im Thal war andere Hilfe nicht möglich als nur der Versuch, das Feuer einzudämmen. Graf Sternfeldt, der Förster und Praxmaler hatten die Führung der Arbeit übernommen. Man schlug eine breite Gasse durch den Wald, um die Flammen zu hindern, gegen die tieferen Wälder hinunterzugreifen. Was schon brannte, mußte seinem Schicksal überlassen bleiben.

Bevor es noch dämmerte, begannen schwere Tropfen zu fallen, und dann rauschte es aus den Wolken nieder mit grauen Strömen.

Die Leute suchten Schutz unter den Bäumen. Jetzt wußten sie, daß sie die Arbeit sparen konnten, die der Himmel übernommen hatte.

Weiße Dampfwolken fluteten über den brennenden Wald. Es währte keine halbe Stunde, und die Bäche des Regens hatten den Brand gelöscht. Während bei sinkender Nacht der weiße Dunst noch die weite Brandstatt überwirbelte, wagte sich schon ein erster hinein in diesen Wald von schwarzen Kohlsäulen, unter deren nasser Kruste der Kern der halbverbrannten Stämme noch glühte. Es war der alte Hüter von der Sebenalm. Als ihn die anderen hindern wollten, die Brandstatt zu betreten, sagte er mit seinem hohen Kichern: „So laßts mich doch … hihihihi … das is ja gut, so glei’ nach’m Fuierl!“ Er watete in die Asche hinein. „So schön warm hab’ ich schon lang’ net g’habt an die Füß’ … hihihihi!“ –

Als jede weitere Arbeit nutzlos war und die Dunkelheit einbrach, trat Graf Sternfeldt mit Praxmaler den Heimweg an.

Es war gegen Mitternacht, und sie hatten das Jagdhaus noch nicht erreicht, als der Förster sie einholte und die Nachricht brachte: „Mazegger ist gefunden!“

„Lebend?“

Der Förster schüttelte den Kopf.

„Herr, gieb ihm die ewig’ Ruh!“ flüsterte Praxmaler und bekreuzte das Gesicht.

Eine Weile standen sie schweigend im Regen, und dann erzählte der Förster: es wäre der alte Hüter von der Sebenalm gewesen, der den Erstickten gefunden hatte, im Seebach, bis an den Hals im Wasser sitzend und umringt von den Leichen halbverkohlter Rinder.

Sie durchschritten in der Finsternis den letzten Waldstreif und erreichten das Almfeld.

„Hören Sie, Herr Förster … und Sie, Praxmaler!“ sagte Sternfeldt. „Der Fürst und Fräulein Petri sollen das nicht erfahren … nicht jetzt. In der ersten Freude ihres Glückes! Die wollen wir ihnen nicht stören durch die Nachricht, daß Mazegger die Warnung, die das Fräulein rettete, mit dem eigenen Leben bezahlen mußte! … Der arme Bursch!“

Der Förster nickte, und während er den beiden anderen folgte, murmelte er vor sich hin: „So? G’warnt hat er ’s Fräul’n? … No ja, was man glaubt, is wahr für ein’!“

Sie stiegen zum Jagdhaus hinauf, an dem alle Fenster mit hellem Schein hinausleuchteten in die Nacht und in den strömenden Regen.

Die Tropfen, die durch die Helle fielen, blitzten mit farbigem Licht.

Die ganze Nacht und zwei Tage noch währte dies Rauschen und Gießen, als hätte der Himmel seine Berge reinspülen wollen vom Ruß und von der Asche des Brandes. Dann fegte ein Sturmtag alles Gewölk von den Höhen und schüttelte die in der Sonne glitzernden Wasserperlen von allem Gezweig. Wie mit neuer Keimkraft erwachte es bei dieser linden Wärme im getränkten Erdreich. Die Bergrosen hatten eine Nachblüte, und bis spät in den August hinein sah man auf allen Gehängen die grünen Stöcke von rotem Schimmer überhaucht.

Ein stiller Sommermonat. Und ein Glück, das lächelnd im Schweigen des Waldes blühte, menschenfern und weltvergessen.

*               *
*

Ende September fiel der erste Schnee, und es wurde einsam auf der Tillfußer Alm. Am Jagdhaus waren schon seit drei Wochen die Läden geschlossen – und nun stand auch die Sennhütte still und verödet.

Nur das Försterhäuschen war bewohnt. Hier braute Pepperl alltäglich seinen Sehnsuchtsschmarren, und wenn die Pfanne leer war, ging er in die Sennhütte hinunter, zündete auf dem Herd ein Feuer an, ließ sich das Herz und den Buckel wärmen und schmauchte sein Pfeiflein dazu. Am Morgen und Abend der Birschgang über die verschneiten Almen. Er hatte den Schutzdienst im Gaisthal ganz allein zu versehen, denn der neue Jäger sollte erst mit dem 15. Oktober in Dienst treten. Aber dann – ja, dann bekam der Praxmaler-Pepperl acht Tage „Hochzets-Urlab“. Und wenn er beim Feuer in der Sennhütte an diese kommende Zeit dachte, blies er in langem Faden den Rauch vor sich hin und schmunzelte: „Teufi, Teufi! Die acht Täg’ will ich mir aber schmecken lassen!“

Trotz all seiner ungeduldigen Sehnsucht verging ihm die Zeit gar rasch. Denn im Bergwald und auf den Almen röhrten an jedem Morgen und Abend die Hirsche, daß der Orgelton ihrer Stimmen von den Wänden wiederhallte. Wenn Pepperl am Waldsaum einer Alpe saß und einen Kronenhirsch auf hundert Schritte vorüberziehen sah, machte er seiner Aufregung mit einem heißen Seufzer Luft: „Teufi, Teufi, Teufi! Ja wann nur der Herr Fürst jetzt da wär’. Solchene Hirschen haben … und net jagen! Da hört sich doch alles auf!“ Nach solchem Aerger kam ihm aber gleich die Einsicht wieder: „Freilich, der weiß sich was Bessers jetzt!“ Und schmunzelnd dachte er an seinen fernen Herrn und an das „Maler-Fräul’n“, das jetzt Frau Fürstin wurde. – –

Schon in den ersten Septembertagen war Ettingen mit Frau Petri und ihren Kindern nach dem Allgäu abgereist. Ueber München, wo sie eine Woche blieben, ging die Reise an die Donau und dann zu Schiff stromabwärts nach Bernegg, wo Graf Sternfeldt den Freund und seine Gäste erwartete.

Das waren wundersame Tage für Lo’, dieses erste Einleben in die neue Heimat, das Wandern durch alle Räume des Schlosses, der Besuch der Felder und Arbeiterhäuser, die Begegnung mit den hundert neuen Menschen, deren Herrin sie wurde, die Fahrten durch die stundenweiten Buchenwälder, und die Plauderstunden im Park, dessen welkendes Laub in der Herbstsonne leuchtete wie Gold. Jede schöne Stunde nahm sie dankbar als köstliches Geschenk aus der Hand des geliebten Mannes an – und er bot ihr, glücklich und stolz, jede neue Freude wie eine Ehre, die ihr gebührte.

Zu Anfang Oktober mußte Gustl mit seinen Büchern nach Innsbruck einrücken. Aber schon einen Monat später bekam er wieder eine Woche „Extraferien“, um der Hochzeit seiner Schwester beizuwohnen.

In der Schloßkirche zu Bernegg wurde das Paar getraut. Außer Frau Petri und Gustl waren nur Graf Sternfeldt und die Beamten des Fürsten bei dieser stillen Feier zugegen.

Als die Nachricht von dieser Vermählung in alle Winde hinausflatterte und die Gesellschaft in Verblüffung und Aufruhr versetzte, waren die beiden Glücklichen schon auf dem Weg nach dem Süden und hörten nicht, was hinter ihnen geschwatzt, gelästert und gezischelt wurde. Und hätten sie es gehört – sie würden gelächelt haben.

Bis Gustls Ferienwoche vorüber war, blieb Frau Petri auf Bernegg. Dann brachte sie den Buben wieder nach Innsbruck und kehrte nach Leutasch zurück in ihr stillgewordenes Haus. Sie hatte es nicht anders gewollt.

„Lo’, ach ja, die lebt sich ein in das Neue und wird getragen von ihrem Glück. Aber ich alte Frau? Nein! Ich will bleiben, wo ich mich festgewachsen habe durch so viel Jahre – und wo alles noch mit mir lebt, was mein Glück gewesen ist! Und wenn ich einmal die Augen schließe, soll es dort sein, wo ich das letzte Lächeln meines Mannes sah!“

Allen Bitten ihrer Kinder gegenüber blieb sie fest in diesem Entschluß. Und sie wäre doch nur den Winter allein! Die paar Monate!

„Im Mai, da kommt ihr ja! Und dann sind wir beisammen, bis der Schnee fällt!“

Trotz dieses Trostes, den sie mit heim brachte, war ihr während der ersten Tage in dem leeren Haus das Herz zum Springen weh. Und sie weinte so viel, daß ihr die Magd einmal sagte: „Frauerl, Frauerl, ein bißl was sollten S’ ja dengerst noch übrig lassen von Ihrene Aeugerln!“

Diese Mahnung fruchtete nicht. Aber was anderes half! Eines Mittags wurde die Thüre aufgerissen, Gustl flog herein und der Mutter jubelnd an den Hals. Ihm folgte ein junger Mann, der wohl eine goldene Brille trug, aber sonst ein ganz vergnügtes Gesicht machte. Er stellte sich vor als Kandidat der Philologie und „Hofmeister des fidelen Jungen da.“ Zu seiner Beglaubigung überreichte er einen Brief:

„Capri, Hotel Quisisana, den 15. November. 
Liebes Mutterl! Damit Dir der erste Winter so allein nicht gar zu hart wird, haben wir beschlossen, daß Gustl ein Jahr lang zu Hause lernen soll. Haben wir’s recht gemacht? Ja?
Deine glücklichen Kinder Heinz und Lo’.“ 

Jetzt war geholfen gegen Thränen und Schwermut. Denn Frau Petri hatte wieder eine Sorge – jeden Tag eine neue. „Ach Gott, der Bub im Schnee! … Ach Gott, der Bub auf dem Baum! … Gustl! Dein Halstuch!“

Aber dieses Sorgenkind war ihr zugleich auch ein Tröster für die Sorge, die in die Ferne wanderte.

Wenn der Wintersturm die Mauern umbrauste und alle Fensterläden rasseln machte, dann hieß es: „Ach Gott! Bubi! Glaubst du, daß es in Capri auch so stürmt?“

„Gott bewahre, Mammi! In Capri ist ewige Sonne und immer blaues Meer. Und weißt du, wenn das Meer auch ein bißchen aufgeregt wird, dann liegt doch Capri so hoch, daß die Wellen gar nicht hinaufkönnen. Weißt du, Capri, das ist eine riesig hohe Felseninsel! Ja, du, das war die Lieblingsinsel des römischen Kaisers Tiberius. Du, denk’ nur, den hat man bisher für den grausamsten unter den römischen Cäsaren gehalten. Aber nach den neuesten Forschungen ist das gar nicht wahr. Er soll sogar ein sehr guter Fürst gewesen sein. Aber weißt du, so gut wie Heinz war er doch nicht … davon bin ich überzeugt!“

„Ja! Gut ist er! Von Herzen gut! Lo’ hat ein rechtes Glück gemacht!“

Und die Sorge war still – für einen Tag.

Als es März wurde, gab’s eine Aufregung, die durch Wochen dauerte. Die Bilder mußten verpackt werden, um nach München zu wandern. Denn ehe sie mit Beginn des Mai zur Ausstellung kamen, sollten sie reproduziert werden für die „Kollektion Emmerich Petri“, deren Verlag eine Münchener Kunsthandlung erworben hatte.

Pepperl zimmerte die Kisten, der Förster half beim Packen – aber an jedem Bild, das in die Bretter gelegt wurde, mußte Frau Petri ihre beiden Hände haben. Und war das Tuch darüber gebreitet und drauf das Heu gedrückt, dann fielen zwei schwere Thränen dazu. Mit jedem dieser Bilder schickte sie ja ein Stück Leben, unruhvolle Tage und schlummerlose Nächte ihres Mannes in die Welt hinaus.

„Ach ja! … Und die Menschen! Die Menschen! … Sehen Sie, lieber Herr Förster, ich muß es ja thun, dem Namen meines Mannes zulieb … aber mir wär’s lieber, die Bilder blieben hier. Gefallen sie nicht, dann kränk’ ich mich wieder und weiß, daß ihm Unrecht geschieht … und haben sie Erfolg, dann thut’s mir weh, weil er zu spät kommt! Nein, nein, ich geh gar nicht hin zur Ausstellung! Nein, ich kann’s nicht! … Ruhm! … Könnt’ er noch eine Stunde leben und sich an seinen Kindern freuen, das wär’ ihm lieber als aller Ruhm! … Nein! Ich müßt’ nur weinen! Ich geh nicht hin!“ – –

Sie hielt dieses Wort, ließ den Knaben mit seinem Hofmeister nach München reisen und blieb zu Hause, obwohl ihr Lo’ am ersten Tage der Ausstellung depeschierte: „Komm, Mutter, wir bitten Dich, komm und freue Dich an Papas Erfolg. Das ist wie ein seliger Rausch für mich, vor seinen Bildern diese Menschen zu sehen, in ihrem Staunen und ihrer Andacht. Die größte Wirkung von allen Bildern übt der ,Knabe Jesus unter den Faunkindern‘. Wie sich die Menschen vor diesem Bilde drängen, das mußt Du sehen. Komm doch, Mutter, komm! Wir alle bitten Dich, Heinz und Gustl und Deine Lo’.“

Als sie gelesen hatte, saß sie lange, lange, immer die Depesche vor sich, und ihre Zähren tropften nieder auf das Blatt.

„Nein, Kinder, nein! Ich kann nicht! Freut euch nur, ach ja … und laßt mich daheim! Ich kann jetzt diese Menschen nicht jubeln sehen! Ich kann nicht! Ich hab’s doch mit erlebt, wie sie gelacht haben über ihn … und wie er die Nächte lang in meinen Armen lag und weinte, als ob es ihm das Herz zerreißen möchte! Ach, ihr Menschen! Ihr Menschen! Euer Jubel … der macht ihn mir nicht mehr lebendig! … Nein! Ich geh’ nicht hin!“

Die Depesche in den zitternden Händen, saß sie in der Herrgottsecke des Wohnzimmers. Ganz erschöpft vom Weinen, lehnte sie den müden Kopf an die Mauer und blickte gegenüber auf die leere Wand, an welcher das große Bild gehangen hatte: „Der Knabe Jesus unter den Faunkindern“. Das Viereck, das der Rahmen mit der Leinwand so viele Jahre bedeckt hatte, war weiß, wie frisch getüncht, während rings herum der Kalk vom Lichte schon vergilbt war. Ein großer Haken ragte aus der Mauer.

Aber zu so viel hundert Malen hatte sie dieses Bild betrachtet, vor dem sich jetzt in der fernen Stadt die Menschen drängten – es war ihr so lebendig in die Erinnerung geprägt, daß sie es so deutlich sah, mit jeder Linie und jeder Farbe, als ob es wirklich vor ihren Augen hinge.

Ihre Thränen waren versiegt, ein glückliches Lächeln verschönte ihre welken Züge, und wie in Andacht hielt sie die Hände im Schoß, während ihre Blicke mit bewunderndem Schauen an der leeren Mauer hingen.

Breit fiel die Maiensonne durch die Fenster, und manchmal huschte etwas wie ein dunkler Falter durch diese Helle – der Schatten einer heimgekehrten Schwalbe, welche draußen das Haus umflog.


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