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Das Unterrocks-Gäßchen

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Textdaten
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Autor: Johann Heinrich Bettziech
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Titel: Das Unterrocks-Gäßchen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 661–664
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Pettycoatlane in London
Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben Nr. 5
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Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben.
Nr. 5. Das Unterrocks-Gäßchen.


„Je mehr Bevölkerung, desto weniger Uebervölkerung,“ hat neulich ein volkswirthschaftlicher Schriftsteller ausgerufen. Dies klingt unsinnig genug, aber es ist nichts destoweniger eine alte Wahrheit, die erst jetzt nach und nach begriffen wird. Wir wollen sie hier nicht wissenschaftlich erklären, aber durch ein Bild einigermaßen anschaulich machen.

Der Sonntagsmarkt im Londoner Unterrocks-Gäßchen.

Auf den tausendmeiligen Wüsten und Prairien Nordamerikas, durch welche eben jetzt die riesigste aller Eisenbahnen zur Verbindung des atlantischen und großen Oceans gebaut wird, springen gleichsam über Nacht ganze Städte empor und ernähren mit jedem Tage eine fast um hundert Procent steigende Bevölkerung auf Stellen, wo vorher kein einziger Mensch nur vierundzwanzig Stunden zu leben im Stande war, und die dünn verstreuten Indianerstämme – noch lange nicht ein Mensch auf eine Quadratmeile – führen einen mörderischen Krieg gegen die eindringende Civilisation, weil sie nun auf ihren Tausenden von Quadratmeilen nicht mehr Lebensmittel genug erjagen zu können fürchten. Die paar Tausende von Indianern werden denn auch mit der Zeit elendiglich verhungern, um auf ihren ungeheuren Jagdgründen Millionen von Menschen und einem blühenden Wohlstande derselben Platz zu machen. Je Einer auf einer Quadratmeile verhungert oder lebt kaum wie das armseligste Raubthier, je Tausend oder Zehntausend oder noch mehr Menschen auf derselben Quadratmeile nähren sich desto besser und leben um so [662] menschlicher, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, je dichter neben einander sie produciren und Ueberflüsse zum Austausche mit den Producten und Waaren ferner Länder bieten können. Der verlassenste und ärmste Straßenjunge Londons hat in der elendesten, überfülltesten Gasse mehr Gelegenheit Geld zu verdienen und ist reichlicher von wohlfeilen Lebens- und Luxusmitteln umgeben, als der absolut herrschende Indianerhäuptling in seinem von Natur reichen, vielleicht Tausende von Quadratmeilen ausgedehnten Lande.

In dem üppigreichen Indien sind unter englischer Herrschaft während der letzten zwei Jahre über zwei Millionen Menschen auf einem Gebiete, welches halb Europa ernähren könnte, thatsächlich verhungert; in London, wo drei Millionen Menschen sich auf einem Stück Erde zusammendrängen, das nicht so viel hervorbringt, wie allein die Katzen für ihren Lebensunterhalt brauchen, und wo jeden Morgen vielleicht eine halbe Million vom Schlafe erwacht, ohne zu wissen, wovon sie den Tag über leben wird, ist während der letzten Jahre wohl kein einziger geradezu Hungers gestorben. Das Räthsel löst sich, wenn man begreift, daß im volkswirthschaftlichen Sinne Uebervölkerung nicht das Verhältniß der Menschenmenge zur Bodenfläche, sondern zur Ernährungsfähigkeit, zur Möglichkeit der Verwerthung von Kräften, zu guter, wirthschaftlicher Existenz bedeutet. Mit diesen Vorbetrachtungen können wir uns getrost in die trostlosesten Gegenden des Londoner Elends begeben und uns mitten in der schmutzigsten Armuth, mitten unter den wimmelnden Schaaren von Hunger und Entbehrung eines Luxus erfreuen, der uns selbst in kleinen behäbigen Landstädten Deutschlands mehr oder weniger unzugänglich sein mag.

Wer die blühenden Vorstädte Londons mit ihren unabsehbaren Reihen von gartenumgebenen Villen verläßt, um über oder unter der Erde mit Dampf in der Gegend der Bank, wo täglich alle „respectablen“ Menschen aussteigen, sich diesen Mittelpunkt der Weltcivilisation näher zu betrachten, wird schon kaum begreifen, wie dieses London in der City noch dieselbe Stadt sein kann, wie die, welche er vor einigen Minuten draußen im Sonnenschein und im saftigsten Grün verlassen hat. In diesen steinernen Palästen um die Bank herum wird der Reichthum der Welt in Form von Wechseln und hin und her geschaufelten Goldhaufen in ganzen Säcken voll Gold und riesweise in Banknoten in Form von allen möglichen fliegenden Drachen mercantiler Speculationen umgesetzt. Die Straßen sind zwar hier nicht mit Gold gepflastert, aber blos deshalb nicht, weil eine solche Verschönerung für unpraktisch gilt; doch ist der Grund und Boden so viel werth, daß er, dicht mit Goldstücken belegt, für diese noch nicht zu haben sein würde. Ein Kauflustiger wollte einmal hier eine Baustelle dicht mit Gold belegen, wenn sie ihm dafür verkauft würde; aber der Eigenthümer schüttelte den Kopf und meinte, dazu könne er sich blos verstehen, wenn das Gold dicht neben einander auf die hohe Kante gestellt werde.

Von diesem goldenen Mittelpunkte Londons aus ist es nur einige hundert Schritte weit bis zur Hundeteichstraße, Houndsditch. Sie sieht schon selbst schäbig und schmutzig genug aus, aber wenn man um diese oder jene Ecke herum von hier aus in eine Nebengasse einbiegt, befindet man sich plötzlich wie in einem ganz fremden Lande unter Leuten, Nationen und Racen, die gar nicht wie Engländer aussehen, eine ziemlich unverständliche Sprache reden und Kleider, Sitten und Gebräuche zeigen, von denen die zehn Minuten weit davon handelnden, sehr reinlichen und sehr modern gekleideten Herren meist gar keine Ahnung haben. Diese Nebenstraße könnte ebensogut in Kairo oder in Constantinopel liegen, nur daß hier die Kameele, die Fez’ und Turbans fehlen. Im Uebrigen sieht sie und alle die engen, sich hier kaldaunenartig verschlingenden Nebenstraßen und Gäßchen ganz so schmutzig und seltsam aus mit ihren drei Etagen hohen, verfallenen, schmutzigen, schimmeligen Höhlen und Hütten, Schuppen und Buden, die zum Theil straßeneinwärts so überhängen, als wollten sie sich gegenseitig in die Arme fallen. Aus den nicht selten zerbrochenen oder offenen, hier und da mit Eisengittern verschlagenen Fenstern quillt ein solcher Reichthum von Taschentüchern und alten Kleidungsstücken, von Pfannen und Töpfen und Tiegeln, von Hacken und Spaten, von alten Herrenstiefeln und koketten Damenhüten, von allen möglichen Culturinstrumenten und Civilisationswerkzeugen hervor, daß sie den engen Streifen nebligen Himmels über uns verdunkeln und die Straße stellenweise ganz überwölben. Und unten auf dem engen, schmutzigen, klebrigen Straßenpflaster, welch’ ein Gewühl und Gewimmel von ameisenartiger Geschäftigkeit, von Handel und Wandel, von Schmutz und Elend, von Licht und Schatten, voll dichtgedrängter Herrlichkeiten für Gaumen und Magen, für Kleidung, ja für Putz und Pracht! Freilich muß man am Sonntag Morgen kommen, um diese malerische Wunderwelt in ihrer ganzen Herrlichkeit kennen zu lernen. Zu diesem Zwecke geht man aus der City etwa mit Sonnenaufgang ostwärts durch Bishopsgatestreet bis Houndsditch und hier auf der linken Seite bis zu einer engen Passage, welche den Namen Phil’s-Buildings führt. Sie endigt mit einem steinernen Thore, aus dessen Dunkelheit ein dichtes Gedränge von Menschen und überfüllten Buden schauerlich hervorleuchtet.

Dieses Thor bildet den Haupteingang zu dem großen Kleider- und Lumpenmarkt der Ostendier Londons, einem großen, viereckigen Platz, der von allen Seiten mit hohen Wänden und von ineinander hakenden hölzernen Buden und Schuppen umgeben ist. Die Verkaufsstellen strotzen von männlicher und weiblicher Kleidung jeder Art und jedes Ranges und Werthes. Es fehlt nicht an Sammet und Seide, aber auch nicht an zerfetzten Lumpen, die gleichwohl immer noch viel besser sind, als die, welche die Käufer und Käuferinnen tragen, so daß sie sich hier für verhältnißmäßig wenig Kupfermünze metamorphosiren und in ihren Sonntagsstaat werfen können. Auch an erneuerten Schuhen und Stiefeln, das Paar zu vier Pence, oder drei Silbergroschen vier Pfennige, fehlt es nicht. Freilich waren die Stiefeln einem Jungen, welchem sie für diesen Preis geboten wurden, noch zu theuer, so daß er den wohlmeinenden Rath erhielt, er möge sich außerhalb dieses aristokratischen Kleider-Bazars in der nächsten Straße nach einem wohlfeileren Paar umsehen. Und ich zweifle nicht, daß er in der eigentlichen Marktstraße ebenso gute Stiefeln für zwei und einen halben Silbergroschen fand, denn in diesem Bazar müssen die Verkäufer für ihre Verkaufsstellen eine Abgabe entrichten, so daß sie schon deshalb auf höhere Preise halten und überhaupt auf ein respectableres Publicum rechnen. Der kaum drei Käse hohe Junge hier in rothem und blauem Sammet, in welchen ihn eine wohlthätige Lady des Westendes gesteckt haben mag, trägt auch sein Brett voll kleiner Kuchen und Zuckersachen, die er mit schriller Stimme ausbietet, mit einer so vornehmen Miene, als sei er sich der Vorzüge dieses Bazars bewußt und es komme ihm blos auf anständige Kunden an. Doch verkauft er, wie ich sehe, ohne Unterschied des Standes und der Person jedes Stück Kuchen und Fruchttorte für einen halben Penny.

„Only a h’penny“„ (Nur einen halben Penny) schreit eine tiefere Stimme neben ihm und bietet für diesen Preis ein Glas schäumender Limonade, die für den achtfachen Preis anderswo nicht besser zu haben ist und die sich selbst der Bürgermeister oder sonstige Aristokrat einer kleinen deutschen Stadt nicht so bequem und billig herstellen kann, wie sie hier jedem zerlumpten Jungen vor den Mund gehalten wird. Ueberhaupt kennen wohl die meisten Bewohner von Dörfern und kleinen Städten in Deutschland diese Herrlichkeiten, welche hier für das niedrigste Stück Kupfer massenweise ausgeschrieen und gekauft werden, kaum dem Namen nach. Das naschhafteste und verzogenste Kind in Deutschland hat wohl nie von den weißen Cocosnüssen gekostet, welche hier in schönen, frischen Schnitten aufgehäuft liegen und hinter den Zähnen der schmutzigsten Jungen verschwinden.

Auf den großen umhergetragenen Präsentirtellern fliegender Conditoren lachen ganze Berge von Zuckerwaaren in Form von „drops“ (Tropfen) aller möglichen Farben und Fruchtkuchen, Pasteten und Torten aus ihren ziemlich dicken Staubkrusten hervor, welche den Zucker vertreten, und locken alle verdienten, erworbenen oder gestohlenen halbe und Viertelpence aus den Taschen der zahlreich umherlungernden Jugend. Und giebt es nicht mitten auf der Straße große Kessel voll Aalsuppe, fünf Pfennige die Tasse?

Welcher Crösus eines deutschen Krähwinkels kann sich für den zehnfachen Preis und für zehnfache Mühe einen solchen Labetrunk verschaffen? Selbst tüchtige Stücke würziger Ananas aus halbverfaulten Köpfen stehen hier dem niedrigsten Proletarier wahrhaft spottbillig zur Verfügung. In den Läden hinter schmutzigen Glasscheiben locken verführerisch riesige, geröstete Kartoffeln mit und ohne Butter, substantielle Stücke von Erbsenpudding, gekochtes und gebratenes Fleisch kalt und warm, Kaffee und Thee, weichgekochte Eier, Streifen gerösteten Specks, frische Austern, alle Arten von geräucherten und gekochten Fischen und Crustaceen, alle mögliche [663] Gattungen von Muschelthieren und Meeresschnecken und Shrimps, (ganz kleine Krabben) die zugleich auch von unzähligen Karren auf der Straße feilgeboten und zum Theil sofort gegessen werden; Sprotten, welche in Deutschland hier und da geräuchert als Delicatessen auf dem Theetische oder zum Rothwein erscheinen, werden hier frisch und silberweiß glänzend haufenweise in die schadhaftesten Körbe der zotteligsten Proletarierweiber geschaufelt, und ohne Shrimps trinken auch diese Käufer und Kunden dieses Lumpenmarktes selten ihren Thee. Daß sie immer Weißbrod – oder wenigstens ein sogenanntes Braunbrod (brown bread) – dazu essen, versteht sich von selbst, denn unser deutsches Schwarzbrod wird in London immer nur noch von einzelnen deutschen Bäckern als Rarität an deutsche Landsleute verkauft.

Schon mitten im Winter kommen ganze Flotten beladen mit Apfelsinen an und geben Monate lang selbst den engsten und schmutzigsten Straßen ein appetitlich goldgeflecktes Ansehen. Der gewöhnliche Preis, wofür sie auf allen Straßen aus Karren und Körben lustiger, schmutziger Irländer und Irländerinnen ausgeschrieen werden, ist: zwei für einen Penny, doch kann man auch leicht drei und vier für zehn Pfennige erhandeln. Diese und viele andere Lebens- und Genußmittel drängen sich hier auch auf dem ärmsten Sonntagsmarkte des Unterrocks-Gäßchens (Petticoat-Lane) so massenweise und wohlfeil durch die dichte Menge, daß sie uns beinahe umsonst in die Tasche fallen oder nach dem Mund emporschwellen. Alle diese Herrlichkeiten sind feil für die niedrigsten Kupfermünzen, und auch wer keinen Farthing (¼ Penny) mehr hat, weiß sich durch Diebslist oder durch Geschicklichkeit von den fallenden Schätzen mehr anzueignen, als sich manchmal der reichste Eigenthümer in unseren kleinen Städten und Dörfern für schweres Geld erkaufen kann. Die ganz verstoßene und pennylose Jugend frißt sich hier mit durch, wie die Sperlinge unter den Hühnern. Manchmal hackt wohl ein neidisches Huhn nach einem solchen umherhüpfenden Spatze, aber er ist viel zu pfiffig und gewandt, als daß er sich treffen ließe. Ebenso gelingt es diesen barfüßigen Jungen, beim heimlichen oder offenen Stibitzen der Rache des Bestohlenen oder dem Arme des Policeman unter den Armen und Beinen der dichten Menge hinweg zu entwischen und lächelnd, siegreich und zu neuen Angriffen bereit an der nächsten offenen Stelle wieder emporzutauchen.

Wir sind hiermit aus dem Kleider-Bazar unvermerkt durch einige enge Straßengewinde in der Hauptader dieses vom Gesetze verpönten, aber praktisch blühenden Sonntagsmarkt-Verkehrs in Petticoat-Lane angekommen. Die Wege dahin und die verschiedenen aus- und einmündenden Nebenstraßen sehen einander ziemlich ähnlich und sind mehr oder weniger von derselben Menge, demselben Marktverkehr angeschwollen, nur daß in dieser Gasse sich Alles noch dramatischer und dichter drängt und alle Arten des Kaufs und Verkaufs am leidenschaftlichsten getrieben werden. Es ist schwer, in diesem ewigen Gedränge und Geschiebe von Irländern und Juden, von Arbeitern und Proletariern jedes Geschlechts und Alters, von Waaren, Producten und Menschen aus allen Theilen der Erde dies oder jenes Augenblicksbild festzuhalten; aber einige Scenen und Gestalten prägten sich mir sofort so ein, daß sie mir stets unvergeßlich bleiben werden.

Mitten aus den in der Mitte der Straße aufgehäuften Verkaufsartikeln aller erdenklichen Art und zwischen den wandernden persönlichen Buden, die unter unaufhörlichem Geschrei ihre Schätze im dicksten Gedränge anzubringen suchen, ragte sitzend ein offenbar menschliches und sogar weibliches Wesen strickend hervor; die Früchte ihrer Arbeit lagen auf ihrem Schooße ausgebreitet. Die ganze Gestalt hatte in Gesicht und Kleidern nur eine einzige schmutzig braune Farbe. Wo andere Menschen ihre Backen haben, häuften sich eine Menge Spuren von Stößen und Schlägen, Mißhandlungen und Entbehrungen aller Art. Von einer Stirn war wenig, von Augen gar nichts zu sehen; letztere lagen tief in großen Höhlen verborgen wie in dem Kopfe eines Skelets. Auf einer Seite des Kopfes flogen einige dünne, graue Haare im Winde hin und her, auf der andern hingen die letzten Spuren eines Hutes herunter. So saß sie da und strickte eifrig mit ihren knöchernen Händen und hörte blos auf, um dann und wann ein Paar Kindersocken, ihr eigenes Werk, zu einem Penny zu verkaufen. Ein Paar gestrickte Kindersocken, neu und weiß, für zehn Pfennige! Und davon lebte die Ruine eines ehemaligen Weibes, offenbar auf eine ehrliche Weise, und verdiente sich damit sicherlich einen Ehrenplatz unter den Heldinnen der Armuth und des Elends.

Nicht weit von ihr stach die eigentliche Schönheit von Petticoat Lane als Beherrscherin und Verkäuferin eines mitten auf der Straße aufgestapelten Haufens weiblicher Kleidungsstücke hervor und wußte durch ihre ziemlich anmuthige Koketterie durch ihr lachendes, fröhliches Gesicht unter dem à l’Impératrice aufgekämmten Haar selbst ärmste Männer herbeizulocken und zu ungewöhnlicher Freigebigkeit für ihre Frauen oder Töchter zu verleiten. Wie kam diese Schönheit unter die verwitterten, vertrockneten, gedunsenen und nicht selten verhauenen Gesichter, die sich hier in der engen, schmutzklebrigen, pestilenzialen Straße drängten? Konnte sie hier aufgewachsen sein und dieses Gesicht entwickelt, conservirt haben? Sehr wahrscheinlich, denn unter der Jugend und namentlich unter den Kindern leuchteten lachend und lustig manche frische und volle Gesichter aus dem ziemlich stark aufgetragenen Schmutze hervor, wie ich sie ebenfalls nicht selten aus den elendesten Kellern anderer Armuths- und Elendsstraßen hervorlachen gesehen habe. Dies hat mich schon zu der Annahme verleitet, daß manche Menschen wie gewisse Thiere und Blumen (letztere fand ich oft in schönster Blüthe feilgeboten oder in den Fenstern der elendesten Dachkammern und Keller) durchaus nicht der gesunden Luft und des himmlischen Segens der Sonne zu ihrem Gedeihen bedürfen. Rechts, an der Wand des sieben Stockwerke hohen Palastes, aus welchem heraus die angenehmsten Düfte die verpestete Luft dieses Sonntagsmarktes durchwürzten (es ist das Theewarenlager der ostindischen Compagnie), zeigte sich eine grimmige Figur, welche zu dem furchtbaren Räuberdrama in dem benachbarten großen City-Theater einlud. Der lebensgroß angeklebte Räuber blickte stolz auf die Irländer herab, die sich aus den großen Vorräthen von sehr alten, aber bestechend überklebten, geflickten und gewichsten Stiefeln und Schuhen für ihre strumpflosen, schmutzigen Beine drei-, viermal neu aufgelegte Kunstwerke Crispin’s aussuchten und anpaßten. Zu den sonntagsstaatlichen Füßen gehört auch eine neue oder verjüngte Kopfbedeckung. Deshalb blühte just mitten in der Straße ein lebhafter Handel mit Mützen und Hüten aus einem großen Kasten heraus, für welchen ein furchtbar schreiendes Individuum unter einem riesigen, breitkrempigen Papphute hervor einen hohen Adel und bürgerliches Publicum als Kunden einlud, während der Eigenthümer dieser Schätze einem erwischten Käufer die ihm aufgedrungene Mütze durch ein vorgehaltenes Stück Spiegelglas als die vortrefflichste Verschönerung seines Kopfes darzustellen suchte. Das wandernde Kreuz dahinter war mit Hosenträgern behangen. Etwas weiter links machte ein riesiger Kerl mit einer großen, gläsernen Schüssel auf dem Kopfe aus der rechten Hand eine Art Sprachrohr, um seine Gurken, ununterbrochen schreiend, über Tausende von anderen Schreiern hinweg, anzupreisen. Ihn übertrafen mit ihren kreischenden Stimmen noch die fanatischen Kleiderjuden auf der linken Seite des Hintergrundes, welche aus ihren großen Vorräthen von allerhand zusammengeschacherten, zurechtgeflickten und aufgebügelten Bekleidungsstücken immer eines nach dem anderen hoch in die Luft schleuderten und die Qualität und Billigkeit derselben mit den feurigsten Zungen ausposaunten, während die Leute zum Theil meuchlings angefallen werden, um sich mit Gewalt eines nach dem anderen anprobiren zu lassen, so daß man sich manchmal gar tapfer wehren mußte, um der Scylla eines solchen Geschäftes zu entgehen, worauf man freilich auch nicht selten in die benachbarte Charybdis eines noch viel fanatischeren mosaischen Mannes fiel. Kauft man auch keinen Rock, muß man doch sehr tapfer sein, um ohne Taschentuch zu entkommen. Die während der Woche im hundert Quadratmeilen großen London gestohlenen seidenen Taschentücher hängen ganz besonders verlockend gewaschen und geplättet hoch oben entlang, und wem es darauf ankommt, das ihm abhanden gekommene sich wieder anzueignen, kann mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, es hier wiederzufinden und für einen civilen Preis zum zweiten Male zu kaufen. Er muß sich hernach freilich in Acht nehmen, sonst kommt er in die Lage, es vielleicht schon nach ein paar Stunden wieder oben an der früheren Stelle locken und lächeln zu sehen. Es ist überhaupt das Hauptmerkmal des Sonntagsmarkts von Petticoat-Lane, daß ein sehr großer, vielleicht der größte Theil der auf ihm feilgebotenen Gegenstände gestohlenes Gut ist.

Und fortwährend wechselt dies Schauspiel von unabsehbaren Menschenmassen von allerhand Kleidern, Knöpfen, Glas-, Gold- und Putzsachen, von Bildern, zum Theil unter Glas und Rahmen, von Eß- und Trinkwaaren, Früchten und Delicatessen [664] aller Art, von Armuth und Reichthum, von Hunger und Ueberfülle in allen nur erdenklichen Stufen und Gestalten, und in diesem raschen, kräftig pulsirenden Umsatze von allen möglichen nothwendigen Lebens- und erquickenden Genußmitteln mitten in der trostlosesten Armuth der Dreimillionenstadt liegt das Geheimniß, daß hier in dieser scheinbar entsetzlichsten Uebervölkerung weniger Menschen hungern, leiden und umkommen, als in den von Natur gesegneten Prairien und Steppen, die sich in Asien und Amerika noch vielhundertmeilig ausdehnen. Wir können deshalb den Satz, womit wir anfingen, auch umkehren und sagen: je weniger Bevölkerung, desto mehr Uebervölkerung, und uns aus dem schmutzigen Gedränge des Sonntagsmarktes im Unterrocks-Gäßchen zu London mit dem Troste hervorwinden, daß die großen Städte, welche in der civilisirten Welt immer mehr anschwellen und mit fabelhafter Schnelligkeit ehemalige Wüsten und Einöden für einen höheren Wohlstand und besseren Lebensgenuß künftiger noch ungeborner Millionen erobern, desto eher zu festen Burgen und Bürgschaften allgemeiner menschlicher Glückseligkeit werden, je dichter nebeneinander freudig schaffende und thätige Menschen wohnen und miteinander verkehren und je kräftiger sich die kosmopolitischen Schwingen Mercur’s von den Bleigewichten der Politik des Mars, der Völkerfeindseligkeit, der gewaltsamen Steuern und Abgaben zu befreien wissen werden.

H. B.