Das Volksgericht
Album der Poesien.
Auf der Zinne seines Schlosses
Sitzt der König schwach und alt,
Ihm zur Seite seines Sohnes
Jugendkräftige Gestalt.
Seiner ausgestreckten Hand
Sendet er die trüben Blicke
In sein reich gesegnet Land.
Und er spricht: Ich habe lange
Doch es sinken meine Tage,
Es versieget meine Kraft.
All mein Wille, all mein Streben
Weiht ich meines Volkes Heil,
War gar oft mein menschlich Theil.
Immer nur mein Glück gefunden
Hab’ ich in der Andern Glück,
Hinter meinem Königswillen
Nun am Ziel seh’ ich mit Bangen
Wie Geringes ich vollbracht.
Drum ein mächtiges Verlangen
Ist mir in der Brust erwacht.
Heilig unserm Herrscherhaus:
Löscht der Tod die Lebensfackel
Eines seiner Könige aus,
Wird in Kron’ und Purpurmantel
Seine Thaten, seinen Wandel
Prüfe neben ihm die Welt.
Durch des Königreiches Gauen
Zieht ein Herold hoch zu Roß,
Kommt herauf in’s Königsschloß.
In der Königsburg die Hallen
Füllen sich mit Menschen an,
Denn das Thor ist Allen, Allen,
Fern doch sind die Würdenträger,
Und die Höflinge sind fern,
Nur das Volk – so will’s die Sitte –
Steh’ um seinen todten Herrn.
Dem er Leides zugefügt;
Seine Mängel, seine Sünden
Werden schonungslos gerügt.
Und versteckt in naher Kammer,
Höre auf das strenge Urtheil,
Das der Mund des Volkes spricht.
Was er irrend auf dem Throne
Fehlte und im Frevelmuth,
Und dem ärmsten Knecht zu gut. –
Selbst will ich mein Urtheil hören,
Wie mein Volk es arglos spricht,
Daß ich selbst mein Fehlen sühne,
Drum noch heut von dir entsendet
Ruf im Land der Herold aus:
„Unser König hat geendet!
Eilet in sein hohes Haus!“ –
Was begehrt der edle Greis.
Dumpf erschallt die Trauerkunde
Durch des Reiches weiten Kreis.
Ungezählte Schaaren wallen
Und es füllen sich die Hallen
Schnell und wie noch nie zu Hauf.
Auf dem Lager in der Halle,
Mit dem Purpur zugedeckt,
Liegt der König ausgestreckt.
Und der Katafalk umflossen
Rauscht von düsterm Trauerflor.
Mund und Auge sind geschlossen,
Reiche, Arme, Kinder, Greise
Nahen dem verehrten Leib:
„Unser Vater ist gestorben!
Weh uns!“ klagen Mann und Weib.
Gießen Thränenbäche hin.
Jeder rühmt des Königs Tugend,
Jeder seinen edeln Sinn.
Immer neue Klagen stimmen
Alle preisen seine Güte,
Allen hat er wohlgethan.
Und die einzige Beschwerde,
Die ertönt im weiten Saal,
Sie betrübt zum ersten Mal.
Weinend ziehen sie von dannen,
Und das Schloß ist wieder leer. –
Und der Sohn tritt selig lächelnd
Doch die Lippen sind entröthet
Und die Wangen starr und kalt.
Ach! den Glücklichen getödtet
Hat der Freude Allgewalt.
Ludw. Storch.