Das Wunder in der Westentasche

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: T. D.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Wunder in der Westentasche
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 544
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[544] Das Wunder in der Westentasche. Wohl selten hat der Besitzer einer Uhr den Leistungen der kleinen Maschine, die er in der Westentasche trägt, eingehend Beachtung geschenkt. Sowie der Pulsschlag beim Menschen ohne Pause vom ersten Lebensmoment bis zum Tode pocht, so soll die Uhr Tag und Nacht ohne Aufhören lebendig sein; sie soll bei jeder Bewegung, in jeder Lage, bei Hitze und Kälte gemessenen Schrittes äußerst kleine Zeittheilchen zählen und unserm Auge anzeigen, Monate und Jahre hindurch, ohne auch nur einmal den Dienst zu versagen.

Wenn man eine Cylinderuhr der am meisten üblichen Größe, deren Zifferblatt einen Durchmesser von achtzehn Linien hat, öffnet und einen Blick in das Werk thut, so sieht man ein sich flink hin und her drehendes Rad, die Unruhe. Läßt man durchweg mittlere Angaben gelten, so kann man bei guten Cylinderuhren jede einzelne Schwingung dieser Unruhe zu zweihundertsiebenzig Grad oder dreiviertel Umdrehung rechnen, ferner kann man annehmen, daß der Durchmesser der Unruhe sieben Linien, oder auch, daß der Umkreis einundzwanzig Linien beträgt. Der am äußern Umkreis befindliche kleine Stift, der Prellstift, legt also bei jeder Schwingung einen Weg von ¾ X 21 Linien zurück. Dies kann man abrunden auf sechszehn Linien, da man den stets waltenden kleinen Unregelmäßigkeiten Rechnung zu tragen hat. In einer Secunde thut nun die Uhr, wie jeder aufmerksame Beobachter nach einer Uebung am Secundenzeiger wahrnehmen kann, fünf Schritte oder Schwingungen. In einer Stunde also 18,000 und während eines Tages 432,000 Schwingungen. Der Prellstift legt also in vierundzwanzig Stunden einen Weg von 432,000 X 16 Linien zurück. Das sind zwei Meilen. Geht eine solche Uhr nun ununterbrochen zwei Jahre hindurch, was durchaus kein seltner Fall ist, so hat der Prellstift ohne Rast einen Weg von 1460 Meilen zurückgelegt.

Bei einer gleich großen Ankeruhr ist jede einzelne Schwingung doppelt so groß. Jeder angenommene Punkt am Umkreis ihrer Unruhe (denn einen Prellstift trägt sie nicht) legt also in vierundzwanzig Stunden einen Weg von vier Meilen und in zwei Jahren 2920 Meilen zurück. Sollte der ohne Pause zurückgelegte Weg 5400 Meilen, dem Umkreis der Erde gleichkommen, so müßte die Uhr ohne Reparatur ca. drei dreiviertel Jahre gehn, und auch dieser Fall kommt häufig vor.

Würde man es einem kleinen Wägelchen, dessen Räder einen Durchmesser von sieben Linien haben, wohl zutrauen, daß es auf ebener Bahn ohne Aufenthalt und Reparatur in drei dreiviertel Jahren die Erde umfahren könnte? – Die Uhr ist dieser Leistung nur fähig vermöge der Leichtigkeit, der Härte, und der nach Möglichkeit beseitigten Reibung der betreffenden Theile. Die Freiheit der Bewegung wird besonders durch das den Zapfen der Unruhe mitgetheilte Oel unterstützt. Die Feinheit der Zapfen bedingt ein so geringes Quantum Oel, daß von einem Tropfen desselben etwa zweihundertfünfzig Zapfen gespeist werden könnten, es muß aber von einer Güte sein, daß es auch in diesem geringen Maße jahrelang flüssig bleibt.

Eine andere Leistung der Taschenuhr, die kaum nach Würden beachtet wird, ist die Genauigkeit, mit der sie uns jederzeit dient.

Die Schwingungen der Unruhe werden durch die Spiralfeder isochronisch (von gleicher Dauer) gemacht. Der Gang der Uhr wird durch Verlängern und Verkürzen dieser Spiralfeder regulirt, und zwar geschieht dies vermittels des Rückers, denn dieser verleiht bei jedesmaliger Verschiebung nach retard oder avance der Spiralfeder eine andere Länge. Wir wirken also durch den Rücker auf die Dauer der einzelnen Schwingungen der Unruhe. – Wenn nun eine Uhr in vierundzwanzig Stunden zwei Minuten differirt, so heißt das, da in dieser Zeit vierhundertzweiunddreißigtausend Schwingungen stattfinden, ebensoviel als: jede einzelne Schwingung ist um den dreitausendsechshundertsten Theil einer Secunde zu lang oder zu kurz. Stellen wir nun etwa das Verlangen, daß die Uhr höchstens täglich eine halbe Minute differiren soll, so heißt das wünschen, daß jede einzelne Schwingung der Unruhe höchstens um den vierzehntausendsten Theil einer Secunde zu schnell oder zu langsam sein soll.

Wir unterstützen die Uhr nur durch die geringe Mühe des Aufziehens täglich einmal, und verlangen dann stillschweigend das, was wir hier einer Betrachtung unterzogen haben; aber es ist in der That staunenswerth, mit welcher Genauigkeit uns das an sich todte Metall dient, wenn es durch die Hand der Kunst, den Naturgesetzen gemäß, unsern Zwecken dienstbar gemacht wird.
T. D.