Das arme Mädchen (Frank Wedekind)
[92] Das arme Mädchen
Böt’ mir Einer, was er wollte,
Weil ich arm und elend bin,
Nie, und wenn ich sterben sollte,
Gäb’ ich meine Ehre hin!
Ohne Obdach, ohne Brot,
Das Entsetzen ihr Begleiter,
Ihre Zuversicht der Tod.
Es klappert in den Laternen
Am Himmel ist von den Sternen
Kein einziger zu sehn.
Wie sie nun noch eine Strecke
Weiter irrt, sieht sie von fern
Einen ernsten, jungen Herrn.
Ihm zu Füßen auf die Steine
Bricht sie ohne einen Laut,
Hält umklammert seine Beine,
[93] Wenn dich die Menschen verlassen,
Komm auf mein Zimmer mit mir;
Jetzt tobt in allen Gassen
Nur wilde Begier.
Hielt sich schüchtern hinter ihm;
Jener hat es auch gelitten,
Wurde weiter nicht intim.
Angelangt auf seinem Zimmer
Bei des Lichtes mildem Schimmer
Bald sich ein Gespräch entspann:
Es boten mir wohl Viele
Ein Obdach für die Nacht,
Was mich erschaudern macht.
Ferne sei mir das Verlangen,
Sprach der ernste, junge Mann,
Dir zu färben deine Wangen,
Bat sie, länger nicht zu weinen,
Holte Wurst und kochte Tee,
Und am Morgen zog er einen
Taler aus dem Portemonnai.
Und fand, eh’ der Tag vorbei,
Als Plätterin Unterkommen
In einer Wäscherei.
Aber ach, die Tage gingen
Bluteswallungen umfingen
Ihren frommen Kindersinn.
Immer mußt’ sie sein gedenken,
Der so freundlich zu ihr war,
In der muntern Mädchenschar.
Und eines Abends um neune
Hielt sie’s nicht aus,
Lief ganz alleine
Er war noch nicht heimgekommen,
Sie verkroch sich unters Bett,
Bis sie seinen Schritt vernommen,
Wo sie gern gejubelt hätt’.
Bis er sich zu Bett gelegt
Und den süßen Schlaf gefunden,
Dann erst hat sie sich geregt.
[95] Leise wie eine Elfe
Daß Gott mir helfe –
Ich bin dein!
Doch da hat er sich erhoben,
Wußte erst nicht, was geschah,
Als das Kind er nackend sah:
Nein, jetzt will ich dich nicht haben;
Wohl dir, daß du mir vertraut!
Aber spare deine Gaben,
Er führte binnen acht Tagen
Sie wirklich zum Altar.
Es läßt sich gar nicht sagen,
Wie glücklich sie war.