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Das unter- und überirdische London

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Das unter- und überirdische London
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 729-731
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das unter- und überirdische London.

Wer von London, der größten Stadt auf der Erde, in seinen kleinen Geburtsort, einen germanischen „Gau“, zurückkehrt und den neugierigen Philistern von den ungeheuren Größen- und Massenverhältnissen dieser Englischen- und Welthandels-Metropolis erzählt, wird Anfangs zwar mit Staunen und Wunder angehört, aber hinterher findet sich immer bald ein gewisser Aerger ein, der unter Verhältnissen leicht bis zur Wuth gegen den „Aufschneider“ steigen kann. Die Meisten, die von London nach Deutschland kommen, haben derartige Erfahrungen gemacht. „Der will uns weiß machen, daß London so und so groß, daß es in London von dem und dem so und so viel gebe,“ heißt es. „Denkt er denn, weil er in London gewesen, daß er uns deshalb die Hocke so voll lügen kann, daß wir hier so dumm sind, daß wir hier in unserm respectvollen Kreisstädtchen so gut wie gar nichts sein sollen?“

Kurz, es ist eine kitzlige Sache, Kleinstädtern und Kleindeutschländern von London zu erzählen. Es ist dem Bewohner einer Stadt, um die man zwischen Kaffee und Abendbrod mit einer Pfeife oder Cigarre gemüthlich herum schlendern kann, schwer, oft unmöglich, sich genau zu denken, was ein Städte-Koloß mit drei Millionen Bewohnern, mit mehr Menschen, als man in ganzen Königreichen findet, Alles für Zahlen- und Größenverhältnisse bedingt. Man gibt die drei Millionen zu, ohne nur von einem Tausend eine klare arithmetische Vorstellung zu haben, erbost sich hernach aber leicht über die Zahlen, welche durch die Bedürfnisse dieser drei Millionen entstehen und sich daraus sehr leicht erklären. Geht man nun gar zur Beschreibung solcher Anstalten und Einrichtungen über, die nur durch die drei Millionen zusammengedrängter Menschen, nur in dem Mittelpunkte des ganzen Welthandels, [730] nur allein unter diesen nicht zum zweiten Male auf der Erde vorkommenden Verhältnissen möglich, nothwendig und wirklich wurden, so kann man in Schöppenstedt oder Buxtehude leicht herausgeworfen werden.

Alle Abende über 600,000 Gasflammen, alle Tage über 15,000 Omnibuse und Droschken, 17 große Eisenbahnhöfe mit mehr als hundert Stationen innerhalb Londons, Eisenbahnen über den Häusern und Straßen hin – das sind schon gefährliche Themata für den Londoner Deutschen in der Bürger-Ressource zu Posemuckel. Aber Eisenbahnen unter der Erde, unter den Häusern und Straßen Londons hin, unter dem ungeheuren unterirdischen Lebensadersysteme der Cloaken, Wasser- und Gasröhren und elektrischen Nervendrähte – das gilt für offenbare Aufschneiderei und Verhöhnung kleinstädtischer Philister-Weisheit. Außer und neben den unterirdischen Adern und Nerven, den Cloaken, Wasser- und Gasröhren, den elektrischen Drähten, den Eisenbahnen – noch ganze unterirdische gewölbte Straßen, 7 Fuß 6 Zoll, also hoch genug für den größten Mann, darin aufrecht umherzuwandeln, und 12 Fuß breit, neue Haupt-Cloaken als Pfort-Adern für den Abfluß alles Schmutzes von drei Millionen Menschen und aus einer halben Million von Küchen – der eine davon acht englische Meilen lang, 9 Fuß hoch und eben so breit, ein anderer zehn Meilen lang und 10 Fuß 6 Zoll hoch mit eben dieser Breite, ein dritter und vierter von ähnlichen Verhältnissen, unterirdische Riesenbauten, um den mehr als 300 Meilen langen, unter allen Straßen hinlaufenden, gemauerten, aus jedem Hause getränkten Abflußadern Auswege zu verschaffen.

Das sind allerdings fabelhafte, mit Nacht und Grauen, mit Unglaublichkeit bedeckte Wunder des unterirdischen London. Gleichwohl ist jeder Zoll davon massive, gemauerte Thatsache. Wer London über dem Steinpflaster kennt, wundert sich über diese unterirdischen Wunder höchstens insofern, als sie jetzt erst im Werke und Werden und nicht längst vollendet sind. Oben war längst kein Platz mehr, da ein Acker leerer Boden in der City schon vor Jahren mit 85,000 Pfund oder viel mehr als einer halben Million Thaler bezahlt ward, und der Raum auf den Straßen längst nicht mehr für die ewig rollenden und knatternden Millionen von Rädern und Pferdehufen hinreicht.

„Kann ich die Oberen nicht bewegen, nehm’ ich zum Acheron meine Zuflucht.“ Man baut also endlich ein London unter London. Wo das Pflaster so theuer ist, daß man durch Pflasterung mit purem Golde den leeren Boden nicht erkaufen kann, da bezahlt sich’s schon, sich unten durchzumauern. Andere wölben neue Eisenbahnen über den Häusern und Straßen und der Themse hin, so daß wir ein unterirdisches London entstehen und das überirdische sich nach allen Seiten erweitern und ausdehnen sehen.

Wir sehen uns zuerst das unterirdische an. Um zunächst eine Vorstellung von den Cloakenstraßen zu bekommen, brauchen wir nur zu bedenken, daß die drei Millionen Bewohner Londons in 3000 Straßen und 600,000 Häusern wohnen, und aus jedem Hause aller flüssige Unrath durch je zwei bis fünf Canäle in die Cloake der Straße abläuft, um durch letztere einem größeren Verbindungscanale zugeführt zu werden. Letztere münden wie Nebenflüsse in die großen Hauptströme der neuen 9 und 10 Fuß hohen, meilenlangen Abzugs-Passagen, die den zusammenströmenden Unrath dieser ungeheueren Menschenmassen und den Spülicht aller Köchinnen Londons nicht mehr, wie bisher, in die Themse, sondern weit hinaus in östliche Niederungen abführen, wo der auf jährlich 600,000 Pfund abgeschätzte Dung-Werth dieses „goldenen“ Paetolus extrahirt und in goldenen Weizen verwandelt werden soll.

Von der Industrie und dem Leben in diesen unterirdischen Straßen, den unzähligen Menschen und Hunden, die alle Tage in diese Schachte einfahren, um weggespülte silberne Löffel und goldene Ringe zu nehmen, wenn sie sie finden, sich sonst aber mit Knochen, Papierfetzen und sonstigen proletarischen Stoffen zu begnügen oder Ratten zu fangen (todt für Pasteten-Bäcker und sonstige Gourmandie, lebendig für die Rattenhetz-Clubs, acht Pence bis einen Schilling per Dutzend), ließe sich manch schauerliches Nachtstück componiren, was wir aber für diesmal der „geneigten“ Phantasie der Leser zu eigener Besorgung überlassen wollen. Wir haben diesmal vollauf mit oberflächlicher Besichtigung zu thun.

London wird auch in jedem Hause, jeder Küche mit reinem Wasser versehen. Neun Compagnien pressen täglich über 50 Millionen Gallonen reines, wenigstens filtrirtes Wasser durch hundertmeilige, unterirdische Eisenröhren in die Cisternen der Häuser, von wo es theils durch Küchen, theils durch „Water-closets“, nachdem es seine Pflicht gethan und gewaschen, gespült und sonst irgendwie gereinigt und sich selbst mit Schmutz beladen hat, durch die Cloaken, die auch alles Regen- und Straßenwasser durch unterirdische Canäle aufnehmen, wieder abläuft. So wird London fortwährend in allen architektonischen Poren durchwässert, gereinigt und gewaschen, wodurch die größte Stadt der Welt ungeachtet des Giftes und der Galle und der Pestilenzien, die es fortwährend producirt, zugleich eine der gesundesten wird. Genaue Vergleiche der Sterblichkeit vor und nach Einführung solcher Drainage haben ergeben, daß in ein und derselben Stadt nachher bei vermehrter Einwohnerzahl 15 bis 25 Procent weniger Menschen starben. So wichtig für die öffentliche Gesundheit ist die Art, wie die Städte, und nicht blos Menschen, sich der Reinlichkeit erfreuen.

Man denke sich die unterirdischen Adergeflechte, die täglich über 50 Millionen Gallonen reines Wasser in jedes Haus der drei Millionen Menschen liefern und noch viel mehr mit allem Schmutze und Unrathe dieser ungeheuren „Civilisation“ wieder abführen müssen. Neben diesen unterirdischen Eisen- und Steinadern laufen die Röhren der Gas-Compagnien, welche die 600,000 öffentlichen „Brenner“ alle vierundzwanzig Stunden mit 20,000,000 Cubikfuß Gas versorgen. Außerdem brennen in manchem einzelnen Laden mehr Gasflammen, als in einer ganzen deutschen Kleinstadt Straßenlampen. Es gibt Läden mit mehr Straßen, als in Treuenbrietzen oder in Flachsenfingen aufzutreiben sind. Zudem hat jedes anständige Privathaus seinen Kronleuchter mit je fünf bis zehn und mehr Gasbrennern. London ist oft heller bei Nacht, als am Tage. Privatim werden noch alle vierundzwanzig Stunden gegen 25,000,000 Cubikfuß Gas verbrannt. Dies muß Alles aus Kohlen geschwitzt und durch mehr als tausend Meilen Röhren (mit allen Privatröhren, die in die Häuser führen und darin in verschiedene Etagen und Räume) fortwährend in etwa eine Million Lampen und Brenner gedrückt werden. Welch ein Geäder unter diesem London! Die Gasströme beschäftigen noch Hunderttausende von unterirdischen Uhrwerken oder Gasometern, die auf einem Zifferblatte mit zwei Zeigern zu jeder Zeit angeben, wie viel Cubikfuß Gas seit der letzten Zahlung in jedem Hause verbraucht wurden, so daß die neue Rechnung sofort danach ausgefertigt werden kann.

Neben dieser unterirdischen Circulation des Wassers und der Gasluft in dem Adersysteme zucken aber auch entsprechende Massen von Nerven, die Stadt- und Landes- und unterseeischen Telegraphendrähte, welche sich zugleich je 10 bis 30fach an allen Eisenbahnen oben, und für Stadtpost-Zwecke über den Häusern und Straßen hinziehen. Das elektrische Stadtpost-System ist noch im Werden. Wir haben früher einmal auf dessen Wesen und Umfang hingewiesen.

So haben wir bis jetzt die Riesenwerke der Cloaken und der Wasserversorgung, der Gasadern und der Telegraphen-Nerven unter dem Pflaster Londons. Dazu kommen nun aber nicht nur Eisenbahnen unterhalb aller dieser unterirdischen Labyrinthe, sondern auch noch eine ganz neue Art von Untergrund-Bauten, die „Sub-Wege“ genannt werden.

Bis jetzt ist Eine unterirdische Eisenbahn in Angriff genommen und über die Hälfte vollendet. Sie verbindet die beiden großen Eisenbahnhöfe der West- und der Nordbahn und dehnt sich als ungeheueres Gewölbe für doppelte Schienen etwa 3 Meilen lang unter dem nördlicheren Theile Londons hin. Für diejenigen, welche Localkenntniß oder eine topographische Karte Londons haben, fügen wir hinzu, daß sie größtentheils unter der New Road hin die „Great Western“ in Paddington mit der „Great Northern“-Eisenbahn (mit dem großen Bahnhofe in King’s Croß) verbindet. Weitere Ausdehnung nach der City etc. wird beabsichtigt, ist aber noch nicht endgültig beschlossen.

Als der Tunnel unter der Themse hin gegraben wurde, war alle Welt voll Staunen über dieses tollkühne Unternehmen. Von der jetzigen unterirdischen Eisenbahn wird nicht viel Wesens gemacht, obgleich sie viel mehr Unternehmungsgeist, Capital und gigantisches Maulwurfstalent in Anspruch nimmt. Welche ungeheuere Erd-, schwere Lehm- und Thonmassen mußten aus der Tiefe herausgeschafft und von der Oberfläche, wo sie sich nicht häufen durften, entfernt werden, um den kolossalen Raum für den Doppelschienenweg unten zu gewinnen! Und diese Gebirge von Mauersteinen, [731] um diesen Raum drei Meilen lang zu sichern und zu wölben! Da auch die Cloaken- und andere riesige Mauerbauten fabelhafte Massen von gebrannten Steinen verschlangen, läßt sich leicht erklären, daß das Tausend schlechtester Mauersteine von 18 auf 40 Schillinge stieg und sie auch für diesen Preis nicht immer leicht zu haben sind.

Und nun noch die gemauerten Maulwurfsgänge der „Sub-Wege“! Sie dienen blos dazu, das unterirdische Adersystem unter Aufsicht und in Ordnung zu halten und Raum für Reparaturen zu sichern, für welche bis jetzt immer das Steinpflaster aufgerissen und der Boden aufgewühlt werden muß, sodaß die Straßen, ohnehin längst zu enge für den gedrängten Wirrwarr des Verkehrs, oft ganz gestopft werden. Die Sub-Wege enthalten an ihren Seiten und auf ihrem Boden die Wasser-, Cloaken- und Gasröhren und elektrischen Verbindungs-Drähte, sodass sie unmittelbar zugänglich sind und bleiben und jede Aenderung und Reparatur vorgenommen werden kann, ohne die Oberwelt, das Steinpflaster, den Verkehr zu behelligen. Bis jetzt ist erst Ein solcher Sub-Weg im Werke, 7 Fuß 6 Zoll hoch und 12 Fuß breit. Die Länge ist noch unbestimmt, da er sich natürlich mit der Zeit an andere, die noch ausgewählt und gemauert werden, anschließen muß.

Viele Meilen lange Cloaken-Passagen, groß genug für Pferd und Wagen, Hunderttausende von Meilen in den Verbindungs-Cloaken, Wasserröhren, Gasadern und Telegraphen-Nerven – das ist eine respectable Londoner Unterwelt mit mysteriösen, schauerlichen Aus- und Eingängen und Fallthüren – vielleicht bald neuer Tummelplatz nicht blos für Ratten, sondern auch für Noth und Verbrechen und schauerliche Roman-Scenen. Aber diese neue Unterwelt reicht lange nicht hin, um dem Londoner Verkehre auf den Straßen die nöthigen Auswege und Lungenflügel zu verschaffen; man muß auch fortfahren, hoch über den Häusern, Straßen und Themsefluthen meilenlange Bogen zu schwingen, um wüthende, schwer beladene Locomotiven darüber hin rasen zu lassen. Es sind nicht weniger als sechs Eisenbahnverlängerungen über die Häuser- und Straßen-Labyrinthe hin citywärts im Werden, aber erst eine im Werke und halbvollendet. Sie führt vom Westende unweit des Buckingham-Palastes der Königin über die Themse und einen der verrufensten, elendesten Stadttheile hin nach dem großen Südost-Eisenbahnhofe jenseits der London-Brücke, wo 64 Schienen neben einander liegen, um den immerwährend kommenden und gehenden Eisenbahnzügen nach und von den verschiedensten Gegenden – besonders Krystall-Palast und Dover – Raum zu gewähren.

Als man in dem verrufensten Stadttheile drüben im Süden – dem Buckingham-Palaste und der stolzesten Aristokratie gegenüber – Häuser niederriß, um für die Brückenbogen der Eisenbahn Fundamente zu schaffen, wurden Arbeiter an der aufsteigenden Pestluft und dem sich enthüllenden unsäglichen Elende zwischen verfaulten Hütten und Löchern öfter krank und mußten entfernt werden. Die sich kühn hinschwingenden Mauerbogen der überirdischen Eisenbahn schafften dem Lichte und der Luft und den civilisirten Menschen zum ersten Male Zutritt in diese schauerliche Schattenwelt von moralischem und physischem Elende. Ohne Localkenntniß haben die übrigen projectirten überirdischen Eisenbahnen kein besonderes Interesse. Wir erwähnen sie nur, um die Vorstellung von den Communicationsmitteln Londons zu vervollständigen. Die Tausende von Omnibus, Droschken, Lastwagen und Equipagen auf den Straßen, die immerwährend kommenden und gehenden (größtentheils überirdischen) Local-Eisenbahnen, die auf der Themse wie Schwalben umherfliegenden Dampfschiff-Omnibus (von ½ Penny an pro Person) – das sind eben alte bekannte Dinge. Neu für diesen Verkehr auf dem Steinpflaster sind nur die Eisenschienen für pferdegezogene Omnibus-Waggons, wie sie sich auf den breiten Straßen amerikanischer Hauptstädte vortrefflich bewähren. Für die engeren, gewundenen und verkehrsüberfüllten Straßen sind sie noch eine brennende Frage, die ein Amerikaner eben durch Legung von Schienen zu beantworten sucht, während Presse, Publicum und Local-Obrigkeiten noch über deren Zulässigkeit und Nutzen streiten. London ist das concentrirteste, sich am leidenschaftlichsten reibende und kolossalste Leben der modernen Civilisation und ihres Verkehrs. Deshalb treibt es aus innerster, unnatürlichster, allmächtiger Nothwendigkeit Blüthen und Früchte, welche den in der ganzen Welt der Eisenbahnen sich immer weiter entwickelnden Proceß der Concentration – des Blutandrangs in großen Städten – am vollendetsten abspiegeln und den Sehenden warnen, ihm wenigstens die Zukunft zeigen mögen.