Dem „Gartenlaube-Kalender“ für 1891 auf den Weg
[644] Dem „Gartenlaube-Kalender“ für 1891 auf den Weg. Sie haben eigentlich etwas Grausames, diese Kalender, die das neue Jahr vor uns heraufführen, ehe noch das alte hinuntergesunken, die gleichsam einen neuen Rock vor uns ausbreiten, den man sich anziehen soll, eh noch der alte abgetragen ist. Ich muß gestehen, ich betrachte den jeweils neuen „Gartenlaube-Kalender“, der nun seit Jahren regelmäßig so im August auf meinem Schreibtisch sich einfindet, immer zuerst mit gemischten Gefühlen: Sapperment – da liegt er schon wieder vor Dir, der Bote des neuen Jahres, und Du wolltest doch noch so viel thun im alten – und dann schwirrt mir der Kopf vor der Menge von Unterlassungssünden und halbfertigen Leistungen, die mir alle auf einmal einfallen, wenn ich das rothe Bändchen mit seinem golden leuchtenden Titel und der – ich weiß nicht, ist es richtig so oder nur schmerzhafte Einbildung – besonders deutlich leuchtenden goldenen Jahreszahl sehe, die immer um eins größer wird. Und fast mit Widerstreben gingen auch diesmal die Finger daran, den Deckel aufzuschlagen und etwas in dem Büchlein zu blättern. Mittlerweile ist mir aber doch die Erinnerung lebendig geworden, daß ich das vorige Jahr auch so dasaß und blätterte und in Gedanken eine Art Selbstparade abhielt, und daß ich dabei unversehens ins Lesen gerathen war – ich hatte mich, ehe ich mir’s selber recht bewußt geworden war, so in „Onkel Leos Verlobungsring“ vertieft, daß darüber der Ankläger in meinem Inneren ganz stille wurde, weil niemand mehr da war, der ihm zuhörte. Mit merklich geglätteten Stirnfalten betrachte ich schon auch den „Einundneunziger“; er wird mir ja wohl ähnlich angenehme Stündchen gewähren, wie sein nicht minder kritisch aufgenommener Vorfahre. Und richtig, während ich so die Blätter unter dem Daumen vor meinem Gesicht vorübersausen lasse und bald ein hübsches Bildchen, bald eine brauchbare Notiz entdecke, da fällt mir auf einmal der alt vertraute Name Heimburg ins Auge: er steht unter derselben Ueberschrift, der ich vom vorigen Jahre her ein so freundliches Gedenken bewahre: „Aus meinen vier Pfählen“. Und ich lese und lese fort – das „Flickdorchen“ der Heimburg und die anderen Erzählungen von Hans Arnold und Joachim Dürow, merke mir auch manchen Artikel zum Späterlesen – denn es ist spät geworden inzwischen – dann klappe ich das rothe Büchlein zu, und merkwürdig: die längst noch so vorwurfsvoll leuchtende Jahreszahl 1891 hat ihre Schrecken für mich vollständig verloren; nicht mehr grämlich und mißtrauisch, sondern mit behaglichem Vergnügen betrachte ich den frühen Boten eines neuen Jahrganges – ich war in ausgezeichneter Stimmung!
Nun denn, was der „Gartenlaube-Kalender“ an mir gethan hat, das möge er an Tausenden bewähren! Und somit sei ihm ein herzlich „Glück auf!“ mitgegeben auf seinen Weg! H. E.