Der Komiker Charlie Chaplin

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Maria Lazar
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Komiker Charlie Chaplin
Untertitel:
aus: Der Tag, 3. Juli 1923, Seite 4-5
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1923
Verlag: Tag Verlag AG
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Wien
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ÖNB-ANNO
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: [1]
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
[[index:|Indexseite]]

Charlie Chaplin ist der Künstler der Gegenwart. Er hat Amerika entlarvt. Das Land der Zukunft, der unbegrenzten Möglichkeiten, ist ein toll gewordener Kramladen.

Es ist kein Zufall, daß die Bühne dieses großen Schauspielers die stumme Leinwand, sein Tempo das rasende Tempo des Films ist. Und es ist kein Zufall, daß seine Gegenspieler Zündhölzchen und Zigaretten, Tische und Betten, Leitern und Eimer, Feuer und Wasser sind. Denen er mit der rührenden Maske des Lächerlichen entgegentritt, mit denen er kämpft, denen er unterliegt.

Dieser watschelnde Akrobat, dessen Gang allein eine Persiflage aller menschlichen Bewegung ist, hat die Macht der Dinge erkannt. Die Leblosen sind lebendig geworden, Gespenster.

Was ist eine Stiege, – nun, eigentlich die alltäglichste Sache der Welt, man geht hinauf oder hinunter. Natürlich, man kann auch über die Stiege fallen. Charlie fällt. Er fällt von der ersten Stufe, er fällt von der letzten Stufe, er fällt von der Mitte herab, er fällt durch das Geländer, er fällt über das Geländer, er fällt so oft und so viel, bis der Zuschauer merken muß, daß gar nicht er es ist, der fällt, sondern daß die Stiege ihn hinunterwirft. Diese Stiege ist sein ungeheurer, sein grausamer Feind. Und hat er sie schon endlich erklommen, so steht oben eine riesige Uhr, deren Pendel ihn kopfüber wieder hinunterschlägt.

Will er sich einmal eine Zigarette anzünden, so springt sie ihm weg, die Zündhölzchen sind voll ausgesuchter Bosheit, der Tisch rollt ihm unter den Händen davon. Er drückt an einen Knopf in der Wand, heraus springt – Triumph der Technik – ein Bett, er legt sich darauf, es schleudert ihn in die Höhe, er legt sich darunter, es zerdrückt ihn, er kämpft einen verzweifelten, wahnsinnigen Kampf mit dem automatischen Wunderbett, das immer wieder tückisch zusammenknickt und ihn braun und blau prügelt.

Dieses Bett ist lauernd und abwehrend, es ist frech und aggressiv, es ist höhnisch und roh. Seine Bewegungen sind mindestens so lebendig wie die Charlies, dessen Glieder sich wieder dem toten Mechanismus der Objekte angepaßt haben. Sähe man einen Menschen in einem so entsetzlichen Kampf mit der Natur, mit Sturm oder Lawinen, es wäre unerträglich qualvoll. Daß es die Gegenstände täglichen Gebrauches sind, die ihm zum Nutzen ausgedacht wurden und nun auf einmal über ihre eigene Wichtigkeit hinauswachsen, ist ungeheuer, ist phantastisch komisch. Aus der wechselnden Physiognomie dieser Gegenstände, die der Film und nur allein der Film in seiner ungeheuren Geschwindigkeit wiedergeben kann, spricht ihre Seele, eine Seele des Alltags, die sie dem Menschen gestohlen haben. Das Geschöpf hat seinen Schöpfer, das Produkt den Produzierenden überwunden. Das ist widersinnig, teuflisch, grotesk und komisch.

Der Zweck der Dinge, ihre vielgepriesene Vernunft wird ad absurdum geführt. Es ist z. B. nicht zu schildern, was Charlie mit einer Weckuhr anzufangen weiß. Er schneidet sie auf wie eine Sardinenbüchse, er legt sie ans Ohr, er riecht in sie hinein, er zerstückelt sie, er gießt Öl in sie. Und alle diese Stühle, Tische und Kasten sind so konkret geworden, daß sie irrsinnig wirken und gespenstisch. Zwischen ihnen steckt Charlie, eine verzweifelte Marionette.

Diese Phantastik der Realität ist überhaupt eine Eigentümlichkeit amerikanischer Kunst. Bei Poe kann eine leere Tonne zum Dämon, eine Schiffsladung zur Hölle werden. Meer und Himmel, Inseln und Häuser sind seine Helden, die an dem Menschen, einer höchst nebensächlichen Winzigkeit, ihre Kräfte austoben. Bei Mark Twain ist jede Uhr ein Lebewesen. Die Leute werden überfahren, zerstückelt, skalpiert – was liegt daran. Auch Chaplin ist nicht gerade zart mit sich und anderen. Er sieht eine Wäscherolle und schon steckt er eine Serviette hinein, dann den Teig der Köchin, dann Teller, dann Gläser, schließlich die eigenen Hände. Unaufhörlich wird geprügelt, gestoßen, getreten. Amerika lacht.

Aber Charlie ist dabei immer arm, immer verzweifelt. Dieser unwiderstehliche Komiker bleibt fast immer totenernst. Lächelt er einmal, so hat dieses Lächeln eine ungeahnt warme, menschliche Wirkung. Stets trägt er die Maske des armen Teufels. Und seine Hilflosigkeit ist so groß, so nackt, so schamlos, daß sie rührend wirkt und – komisch.

Das goldene Kalb ist lebendig geworden. So lange hat die Menschheit um es herumgetanzt, bis es selber zu tanzen begonnen hat in tausenderlei Formen. Das sind die Gespenster des großen Westens.

Charlie Chaplin spielt die Schicksalstragödie der Gegenwart. Sie ist zur Komödie, der Mensch ist zur Sache geworden.