Der Schachspieler

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Titel: Der Schachspieler
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aus: Fliegende Blätter, Band 2, Nr. 33, S. 70–71.
Herausgeber: Kaspar Braun, Friedrich Schneider
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Erscheinungsdatum: 1846
Verlag: Braun & Schneider
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Erscheinungsort: München
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Der Schachspieler.


Durch das Hazardspiel unglücklich zu werden, gehört zu den Alltagsfällen; aber selbst das Schachspiel hat seine Dämonen und Erinnyen, die ihr Opfer umgarnen, verfolgen, peinigen, bis die Leidenschaft des Schachspiels zur krankhaften Manie anwächst, die jeden anderen Gedanken, jede andere Willens- und Thatrichtung verschlingt und in sich begräbt.

Ich sehe ihn noch, den armen Mandler, mit dem blassen verkümmerten Gesicht, den tiefliegenden matten Augen, der gebückten Gestalt. Er war Doctor der Medicin, gescheidt in seinem Fache, tüchtiger Mathematiker, in allen modernen Sprachen wohlgeübt. Sein Unglück aber war die Schachspielwuth; er verspielte seine Praxis im Schach. Auf dem Café, das er zur Befriedigung seiner Leidenschaft besuchte, fand er sich zuletzt schon in der Morgenfrühe ein. Hier genoß er seinen Morgenkaffee, sein zweites Frühstück, sein Mittag- und sein Abendbrot. So viel warf ihm seine kleine Praxis noch ab. Zu Haus hatte er kein Licht, kein Holz; ein paar alte Sessel, ein armseliger Tisch bildeten sein ganzes Mobiliar. Glücklicher Weise lebte und starb er als Junggeselle; er hätte Frau und Kinder verhungern lassen, um seine Leidenschaft für das Schachspiel zu sättigen.

An Gelegenheit, seine wahnsinnige Neigung zu befriedigen, fehlte es ihm nicht; im schlimmsten Falle ist ihm auch der mittelmäßigste Spieler willkommen; und Mandler ist ein nobler Spieler; er selbst nimmt keinen Zug zurück, unterläßt aber nicht, sein Gegner auf Fehler und Vergeßlichkeiten aufmerksam zu machen. Oft bringt er sich durch gewagte Combinationen fast absichtlich in die schlimmste Situation; dann steigert sich seine Anstrengung; unterliegt er, so versucht er in einem zweiten Spiel dasselbe gewagte Manoeuvre; gewinnt er, dann leuchten seine Augen, seine Wangen röthen sich, und der ganze Ausdruck seiner Physiognomie scheint die Umstehenden zu fragen: „Nicht wahr! das hättet Ihr nicht erwartet? Das habe ich gut gemacht.“ Eben so beredt spiegelt sich aber auch die Verzweiflung in seinen Zügen, wenn er einmal gegen einen vorzüglichen Spieler drei oder vier Partieen verloren hat und sein Gegner sich zu einer neuen Parthie nicht engagiren lassen will. Aber bis morgen ist eine so lange Zeit; sein Ueberwinder kann bis morgen erkranken oder gar sterben; wer nennt alle die Zufälle, die zwischen heut und morgen eintreten und eine Revange unmöglich machen können?

Um so gewaltiger ist seine Freude, wenn sein Ueberwinder am folgenden Tage wirklich erscheint. Mandler wirft sich seine Unaufmerksamkeit von gestern auf´s lebhafteste vor und beschließt zu siegen oder zu sterben. Der Kampf ist auch wirklich einer auf Tod und Leben, die Figuren fallen bis auf den letzten Mann, nicht geschlagen nicht sieghaft , stehen zuletzt vielleicht nur die beiden Könige sich gegenüber, um mit dem Theaterkönig zu sprechen: „Ich bin sehr einsam auf dem Thron der Väter“ Unterliegt auch heute Doctor Mandler, so gesteht doch Jedermann: es sei eine Musterpartie gewesen, und von beiden Seiten gleich trefflich manoeuvrirt worden.

Zuweilen ruht Mandler von den Anstrengungen seiner Feldzüge aus und gesellt sich zu einem Kreise von Männern, die einer interessanten Schachpartie als Zuschauer beiwohnen. Anfangs verhält er sich passiv; sein Mienenspiel wird allgemach lebendiger; man gibt einen Fehler oder man macht den Zug nicht, den sich Mandler einbildet; er schüttelt den Kopf; er lächelt ironisch; ein halb unterdrücktes Hm! preßt sich durch seine Lippen. Im Verlauf des Spiels wird seine Mimik lebendiger; die Hm’s wiederholen sich, werden zu mißbilligenden Aeußerungen; seine Gesichtsmuskeln kommen in eine fieberhafte Bewegung, und drücken bald Aerger,[1] bald getäuschte Hoffnung, bald Zorn und Ingrimm aus; sein ganzer Körper theilt diese Unruhe; er wendet sich um; er möchte dies gräuliche Schauspiel von Ungeschicktheit gar nicht mehr ansehen; er vermag aber nicht, sich loszureißen. Jetzt hält er sich nicht mehr; er bricht los; der Eine der Spieler droht einen so bedeutenden Fehler zu geben, daß dadurch das Spiel nothwendig zu seinem Nachtheil ausschlagen muß. Mandler hustet, der Spieler wird aufmerksam, besinnt sich; Mandler zeigt seine Unruhe deutlicher; der Spieler will einen andern Zug thun. „Nein, nein!“ murmelt Mandler; der Gewarnte greift nach einem dritten Stein; Mandler schüttelt heftig den Kopf! Jener besinnt sich abermals, der Gegenpart klagt über die Langsamkeit seines Mitspielers, und dieser, jetzt in arger Verzweiflung, macht kurzen Prozeß und zieht den ersten besten Stein-, um nur einen Zug zu thun. „Aber ich bitte Sie, mein Herr!“ fährt Mandler heraus, „da, den Läufer[2] – hieher!“– Der Gegenpart, muthmaßlich schon Sieger, bedeutet Mandler, zu schweigen und das Spiel nicht zu stören. Mandler nimmt sich bei den nächsten Zügen zusammen und hält mit äußerster Anstrengung an sich. Aber der sich im Nachtheil befindende Spieler wird immer mehr in die Enge getrieben; er gibt sein Spiel bereits vollständig verloren; da bricht Mandler los, faßt die Königin bei der Krone, setzt sie auf irgend ein Feld und bietet: Schach! mit starker Stimme. Beide Spieler ergießen sich gegen ihn in Ausfälle, auf die er eine Injurienklage einleiten könnte; Mandler überhört diese Anzüglichkeiten oder erträgt sie, weil er um seinen Zweck zu erreichen die Beleidigungen einer Welt auf sich nehmen würde.

„Ich gewinne die Partie, die Sie verloren geben“ ruft Mandler abermals, glühend vor Kriegslust, indem er bei der geringen Fertigkeit des Gegners das gesammte Gebiet der Siegesmöglichleiten übersieht. Die Königin, ein Springer, ein Bauer gegen die Königin, einen Thurm, einen Läufer und vier glücklicherweise zerstreut stehende Bauern des Gegners – man sieht, es ist ein kühnes Unternehmen.

„Das sollten Sie doch wohl bleiben lassen!“ sagt dieser, durch einen so kecken Ausspruch gereizt. Man verständigt sich, [71] indem man von beiden Seiten neugierig ist, wie eine so offenbar verloren scheinende Partie gewonnen werden könne, und Mandler übernimmt die zusammengeschmolzenen Truppen des geschlagenen Gegners.

Er bietet mit der Königin Schach und abermals Schach und zum drittenmal Schach. Es sind dies ziemlich unschuldige Züge, aber durch die Schnelligkeit, mit der sie gethan werden, verliert der ohnehin weniger geübte und unaufmerksame Gegner seine Besonnenheit; er stellt seinen Läufer vor den König und gibt dadurch dessen Flanke Preis.

Abermals Schach! und wieder Schach! und zum drittenmale Schach. Jetzt bringt Mandler noch seinen Springer ins Gefecht, und bietet mit dem Springer Schach. Der Gegner, ganz und gar verwirrt, zieht den König auf ein verhängnißvolles Feld. ,,Schach dem König und Schach dem Thurm!” ruft Dr. Mandler. Der vermaledeite Springer! Des Gegners Thurm, eine Hauptbasis für seine Operationen, wird von dem Springer geschlagen, der freilich seinerseits gegen den feindlichen Läufer fällt; aber ein Bauer hat seine Deckung verloren; dieser wird durch Mandlers Königin genommen, und der verhängnißvolle Schreckensruf Schach tönt abermals aus Mandlers Munde. Jetzt fällt auch der Läufer; des Gegners Königin ist durch ihre Stellung ohnedies gelähmt, während Mandlers Königin den flüchtigen König des Widerparts Schritt für Schritt verfolgt und aus seinen Schlupfwinkeln, die er hinter diesem oder jenem Bauer nehmen will, auf und ins Freie jagt. Die Bauern fallen bis auf einen; jetzt steht das Spiel gleich, da auch Mandler noch einen Bauer besitzt, der ihm das Spiel gewonnen machen muß. Mandler bietet mit der Königin Schach; der Gegner zieht seine Königin vor und Mandler zwingt ihn zum Abtausch. Mandlers Bauer zieht siegreich in die Position der Königin ein, wird nun selbst zur Königin creirt und entscheidet die Schlacht, während der Gegner seinen Bauer, wie in Verzweiflung, blind vor sich hinstößt, und auch diesen letzten Mann noch verliert. Er will den schmerzlichen Ruf ,,Schachmatt“ nicht erst hören und verläßt ärgerlich und verstimmt den Kampfplatz.

Welche Verzweiflung spiegelt sich aber in Mandlers Zügen, wenn er einmal zu ungelegener Zeit auf das Café kommt, wo bereits alle Schachspieler in voller Thätigkeit sind. Nie ist er nach einer Partie so lüstern gewesen, als gerade heut, und nie waren die Aussichten auf eine Partie so weit in die Ferne geschoben.

Er wendet sich an Mehrere, welche den Schachspielern zusehen und trägt ihnen eine Partie an. Alle refusiren. Er wendet sich an einen Anfänger; dieser macht große Augen, entschuldigt sich mit seiner Mittelmäßigkeit, und meint, mit einem so ausgezeichneten Spieler könne er keine Partie wagen. Mandler bittet, fleht, beschwört ihn. Endlich willigt der Anfänger ein und ersucht nur um möglichst viele Nachsicht. Mandler bestellt ein Schachspiel. Ein Brett ist noch vorhanden, aber keine Figuren mehr. Man sucht aus alten defekten Schachspielen ein vollständiges zusammenzustellen, Königinnen ohne Krone, Könige ohne Kopf, Läufer ohne Füße, Springer ohne Rößchen; man ersetzt die fehlenden Bauern durch Kupferpfennige – das Alles sieht so bunt und verworren aus, wie eine geschlagene Armee. Man beginnt zu ziehen, aber der Anfänger bringt die ohnehin verworrene Masse in die heilloseste Verwirrung; man muß den Versuch aufgeben.

Ein Fremder erbarmt sich endlich des Unglücklichen und bietet ihm eine Partie an, für den Fall daß ein Schachspiel erledigt wird. Die Partieen dauern heut so ewig lang; der Fremde hat noch ein Geschäft, verspricht wieder zu kommen und empfiehlt sich. Mandler vergräbt sich in ein Journal, aber alle Lettern verwandeln sich ihm in Schachfiguren, Mandler weiß nicht, was er liest. Unruhig blickt er nach der Thür. Der Fremde muß Abhaltung haben, er kommt nicht wieder. Es dämmert bereits. Mandler hatte heute gerade seinen guten Tag, er würde die glänzendsten Siege erfochten haben; es soll nicht sein, alle Verhältnisse und Personen haben sich gegen ihn verschworen. Mandler leidet mehr, als je ein Mensch gelitten hat. Und welche Nacht! er kann nicht schlafen, er zieht in der Vorstellung Schach; seine schon längst untergrabene Natur leistet nicht mehr Widerstand, er fällt in ein hitziges Fieber, er phantasirt vom Schachspiel.

Treten wir an sein Lager. Die Bauern wachsen vor seinen Augen und werden zu wirklichen Bauern mit Sensen und Heugabeln; die Springer verwandeln sich in glänzend geharnischte und behelmte Kuirassiere; die Thürme erweitern sich zu Festungen mit Mauern und Schießscharten, die Läufer werden zu Grenadieren mit gewaltigen Bärenmützen; die Königin sitzt als Amazone hoch zu Roß, der Schach dehnt seine Glieder und läßt sich von Odalisken Kühlung fächeln. Mandler ruft im Fiebertraum: „Vorwärts, ihr Bauern! Brecht die Reihen im Mittelpunkt! Falle, wer fällt! Nach ihr Läufer, der Weg ist gebahnt! Vorwärts, Königin, setze dich fest in Feindesland! Springer, deckt euch, haltet aneinander; wer will euch widerstehen? Schweres Geschütz, ihr Thürme, als Reserve, stellt euch auf, einer hinter dem andern, entscheidet zum Keil geordnet, den heißen Tag! Sie fällt, die Königin des Gegners, ein gemeiner Läufer schlug sie! die Reihen lichten sich. Auf, feindlicher Herrscher, aus träger Ruhe; die Bewegung schadet dir nicht! Flüchte hinter deine wenigen Bauern, die kernfeste Stütze des Staats! Vergebens! Wir dringen nach! Schach und Schach und abermals Schach, und Schachmatt!“

Mit diesen Worten sinkt Mandler in das Kissen; zurück; ein seliges Lächeln spielt um seine Lippen – er ist verschieden!



  1. Im Original: Aeger.
  2. Im Original: Laufer.