Der Todesgang des armenischen Volkes/Dritter Teil/Ergebnis
Die Tatsachen, die wir ermitteln konnten, ergeben das folgende Bild:
Die Zahl der Armenier in der Türkei betrug vor dem Kriege nach der Statistik des Patriarchats ca. 1 845 000. Von der Maßregel der Deportation wurden alle von Armeniern bewohnten Wilajets in Ost- und West-Anatolien, Cilicien und Mesopotamien betroffen. Verschont blieb außer Konstantinopel, Bagdad und Jerusalem nur das Wilajet Aidin mit Smyrna.29) Der Deportation entgingen die Armenier des Wilajets Wan und der angrenzenden Bezirke, die, soweit sie nicht von den Kurden getötet wurden, teils über die Grenze flohen, teils von den Russen ausquartiert wurden. Als verschont können auch die Familien gelten, die sich unter dem Druck der Behörden durch den Uebertritt zum Islam der Deportation entzogen und die zahllosen Mädchen, jungen Frauen und Kinder, die in türkische Harems verkauft und in kurdische Dörfer abgeführt wurden.
Höchstens ein Drittel der Bevölkerung mag durch Flucht, Islamisierung oder durch Belassung in ihren Wohnsitzen der Deportation entgangen sein. Drei Viertel der Bevölkerung (ca. 1 400 000) sind von der Deportation betroffen worden. In den östlichen Provinzen waren die Deportationen meist von systematischen Massakers begleitet, durch die hauptsächlich die männliche Bevölkerung, zum nicht geringen Teil auch Frauen und Kinder vernichtet wurden.
Von offizieller türkischer Seite ist die Zahl der getöteten Armenier auf 300 000 angegeben worden.30) Rechnet man hinzu, was von den Massen der Deportierten unterwegs und am Verschickungsziel durch Hunger und Krankheit umgekommen ist, so muß der Verlust an Menschenleben weit höher veranschlagt werden.
Nimmt man an, daß von der noch überlebenden Million Deportierter noch ein gutes Drittel auf der Landstraße liegt, in muhammedanische Dörfer versprengt oder in die Berge geflüchtet ist, so bleiben sechshunderttausend, zumeist Frauen und Kinder, die am Ziel der Verschickung in der mesopotamischen Wüste angekommen sein müßten.
Von der türkischen Regierung wurde die Maßregel der Deportation als „Ansiedlung nicht einwandfreier Familien in Mesopotamien“ charakterisiert. Eine Ansiedlung würde erfordern, daß den Deportierten Land, Häuser Vieh, Ackergerät, Saatgut usw. zugewiesen würde. Nichts dergleichen ist geschehen.
Die Expropriation betraf anderthalb Millionen Untertanen der Türkei, die Aecker, Häuser, Werkstätten, Kaufläden, Hausrat usw. besaßen. Sie mußten alles zurücklassen. Auf Entschädigung können sie nicht hoffen. Für einen Unterhalt der Ueberlebenden wird, von geringen Ausnahmen abgesehen, nicht gesorgt, so daß sie auf den Bettel angewiesen sind und in steigender Zahl dem Tode durch Hunger und Krankheit verfallen.
Da 80 Prozent des armenischen Volkes Ackerbauer waren, bleibt ein beträchtlicher Teil der sonst bebauten Bodenfläche der Türkei unbestellt, so daß auch die muhammedanische Bevölkerung dieser Gebiete von einer Hungersnot bedroht ist.
Den Schaden der Vernichtung des Wohlstandes der armenischen Nation trägt außer dem osmanischen Reich auch der deutsche Handel. Die Armenier hatten über 60 Prozent des Imports, 40 Prozent des Exports, wenigstens 80 Prozent des inländischen Handels und den größten Teil der Handwerke und freien Berufe in Händen. Die Arbeiter und Angestellten der deutschen Firmen in der Türkei waren größtenteils Armenier.
Gregorianer, Katholiken und Protestanten wurden gleichermaßen betroffen. Die Organisation der Kirche ist zerstört. Dem Patriarchat wurde die geistliche Versorgung der Deportierten nicht gestattet. Ueber tausend Kirchen stehen leer. Sie werden, wenn nicht zu profanen Zwecken verwendet, in Moscheen verwandelt oder dem Verfall überlassen.
Das blühende Schulwesen des armenischen Volkes, das mehr als 120 000 Volksschüler[1] zählte, ist vernichtet. Schulgebäude und Schulmittel sind konfisziert, die Lehrer vielfach getötet, die Lehrerinnen verschleppt oder verschickt.
Selbst die Familien hat man auseinandergerissen und die Männer von den Frauen, die Kinder von den Eltern getrennt.
Die politischen Folgen der Vernichtung der armenischen Nation treten jetzt schon zutage. Die russischen Armenier des Kaukasus, ca. 1½ Millionen, hatten bisher keinen Grund, sich mit Rußland zu identifizieren. Sie wünschten vielmehr die Erhaltung der Türkei, die ihrer Nation mehr Bürgschaften für den Fortbestand ihrer Kirche, Schule, Sprache und nationalen Sitte zu gewähren schien als Rußland. Durch die Verfolgung der Armenier in der Türkei wurden die russischen Armenier genötigt, sich Rußland in die Arme zu werfen. Von den syrischen Nestorianern gilt das gleiche.
Die moralischen Folgen der armenischen Massakers und Deportationen werden erst nach dem Kriege fühlbar werden. Die Welt wird sich nicht davon überzeugen lassen, daß strategische Rücksichten die Deportation einer halben Million von Frauen und Kindern, Massenkonversionen zum Islam und die Vernichtung Hunderttausender von Wehrlosen erforderten.
Alle Bemühungen, die Türkei wirtschaftlich und kulturell zu heben, werden durch die Expropriierung des intelligenten und fleißigen armenischen Volkes und durch die Vernichtung der wertvollsten Arbeitskräfte der Türkei aufs schwerste geschädigt werden.
Die politischen Führer des armenischen Volkes hatten sich nicht nur aller illoyalen Handlungen gegen die türkische Regierung enthalten, sondern schon seit Begründung der Verfassung die gegenwärtig herrschende jungtürkische Partei unterstützt. Die armenischen Intellektuellen werden nicht unterlassen, die völlige Aufklärung der Vorgänge herbeizuführen, denn sie sind der Ueberzeugung, daß die vernichtenden Maßregeln, die ihr Volk betroffen haben, in den panislamischen Tendenzen der gegenwärtigen türkischen Regierung und nicht in illoyalen Handlungen des armenischen Volkes begründet sind.
Der Verfasser ist für jede Berichtigung und Vervollständigung des Materials dankbar.
Das vorstehende ist im Jahre 1916 geschrieben. Zu Pfingsten 1919 ist die von mir herausgegebene Sammlung der diplomatischen Akten des deutschen Auswärtigen Amtes erschienen. Sie bestätigt alles, was ich 1916 berichtet und befürchtet habe. Die Zahl der ermordeten und durch Hunger vernichteten Armenier wird von den deutschen Autoritäten auf eine Million geschätzt.
1)
Die letzte Phase der Verfolgungsgeschichte spielte sich im Kaukasus ab, als nach dem Frieden von Brest-Litowsk die russische Armee sich zurückzog und den Kaukasus der Invasion der türkischen Truppen preisgab. Über die Vorgänge im Kaukasus vgl. „Deutschland und Armenien 1914–1918“. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, hersg. und eingel. von Dr. Johannes Lepsius. Der Tempelverlag in Potsdam 1919. Einl. S. XLV und die Aktenstücke d. Js. 1918, S. 365 ff.
2) Über Nazareth Tschauch und die Entstehung der Unruhen in Zeitun vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. IX ff. und die Berichte von Konsul Roeßler, Aleppo, Aktenstücke Nr. 11 und 25.
3) Die Gesamtzahl der Deserteure, die, aus Christen und Muhammedanern bestehend, schon vor dem Kriege seit 1913 sich in die Berge geflüchtet hatten, betrug zu der Zeit nach Mitteilung von Herrn Konsul Roeßler etwa 150. Der Verlust der Toten und Verwundeten bei dem Angriff auf das Kloster wird von ihm auf „eine Anzahl Toter und Verwundeter“ angegeben.
4) Die Zahl von 20 000 Seelen umfaßt auch die Dörfer in der Umgegend von Zeitun.
5) Über die Vorgänge in Dörtjol sind nähere Berichte in dem deutschen Konsularbericht aus Adana vom 13. März 1915 gegeben. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 19.
6) Über die Vorgänge in Urfa siehe die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Roeßler von Aleppo, Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 193, 202 und 226 Anl. 1. Am 19. und 20. August fanden Massakers statt, bei denen etwa 200 Armenier getötet wurden. Am 29. September setzten sich die Armenier, um der drohenden Deportation zu entgehen, in Verteidigungszustand in ihrem Stadtviertel. Vom 4. bis zum 15. Oktober währte die Belagerung des Viertels durch türkische Truppen, wobei diese 50 Tote und 120 bis 130 Verwundete hatten. Die männliche armenische Bevölkerung der Stadt wurde, nachdem der Widerstand gebrochen war, zum größten Teil getötet, die Frauen und Kinder deportiert. Die Stadt zählte vor der Deportation etwa 20 000 Armenier.
7) Dazu schrieb Prediger J. Spörri, Leiter der Station Wan des deutschen Hilfsbundes für Christliches Liebeswerk im Orient, am 7. 10. 1916 aus Zürich an den Verfassen
„Als am 20. 4. 15 die Feindseligkeiten vor meinen Augen ausgebrochen waren und in schauerlicher Weise auf uns geschossen wurde, war ich gedrungen, an den Wali zu schreiben. Ich erzählte den Anfang der Feindseligkeiten, teilte mit, daß wir dem Kugelregen ausgesetzt seien, ersuchte, da ich annehmen mußte, daß solches unmöglich nach dem Wollen des Walis sein könne, um weitere Vermeidung solcher Handlungen und bat, die Streitigkeiten friedlich zu ordnen. Mit meinem Schreiben ging ich zu Dr. Usher (es war das ein gefährlicher Weg, da unaufhörlich geschossen wurde), las ihm den Inhalt vor und veranlaßte ihn, von seiner Seite ein Gleiches zu tun. Der Brief vom 23. 4. von Djevdet Bey war die Antwort auf unser Schreiben. Übrigens hatte ich die Verteidiger gebeten, sie möchten sich von der Front unserer Station zurückziehen, da sie das Feuer auf uns zögen. Ich hatte die Genugtuung, daß mein Wunsch erfüllt wurde. Freilich war auch so von einem Aufhören des Feuers gegen uns nicht die Rede.“
8) Auch der Wali Rachmi Bei wurde schließlich, wenn auch erst ein Jahr nach der allgemeinen Deportation, durch den Befehl der Regierung von Konstantinopel gezwungen, den Befehl zur Deportation zu geben. Lediglich dem Einschreiten des Oberbefehlshabers General Liman von Sanders, der mit militärischem Widerstand drohte, ist es zu danken, daß die Deportation der Armenier von Smyrna nicht zur Ausführung kam. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LIX und die Aktenstücke Nr. 306, 307, 308.
9)
Vgl. den fesselnden Bericht über die Flucht der Armenier von Suedije von Pastor Digran Andreasjan, der im Anhang von Lepsius, Dtschl. und Arm. abgedruckt, auch im Tempelverlag in Potsdam separat erschienen ist, „Suedije, eine Episode aus den Armenierverfolgungen des Jahres 1915.“ M. 0,50.
10) Durch Gesetz vom 1. August 1916 wurde ein Jahr darauf die alte Kirchenverfassung der gregorianischen Kirche zerstört und das Patriarchat von Konstantinopel in das Kloster Mar Jakub in Jerusalem verlegt. Erst nach dem Sturz der jungtürkischen Regierung und dem Zusammenbruch der Türkei wurde das Gesetz wieder aufgehoben.
11) Nach dem Zusammenbruch der Türkei ist das ursprüngliche Programm der Daschnagzagan natürlich gegenstandslos geworden. Auf den Glücksfall, daß die beiden Feinde der Armenier, die Türkei und Russland, gleichzeitig zusammenbrechen würden, so daß für ein völlig unabhängiges Groß-Armenien Raum wurde, konnte kein politisches Programm im voraus rechnen.
12) Wartkes wurde zusammen mit Sohrab auf dem Wege von Urfa nach Diarbekir durch die begleitenden Gendarmen auf Befehl der Regierung ermordet. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. 109.
13) Die Polizei in Konstantinopel hat nachträglich zwei Bilderbücher mit Haufen von Gewehren, Bomben, Fahnen und dergl. veröffentlicht, die nur Unkundige über den Wert solcher Machwerke täuschen können. Eine Charakteristik dieser Publikation hat die Deutsch-Armenische Gesellschaft veröffentlicht.
14) Vgl. den Bericht des deutschen Botschafters Freiherrn von Wangenheim in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 38. „Die Behauptung, es lägen Beweise vor, daß für den Tag des Thronbesteigungsfestes ein Putsch beabsichtigt gewesen sei, erklärte Talaat Bey für unzutreffend.“ Die Pforte selbst erklärte offiziell die Verschickung der Konstantinopler Intellektuellen nur für eine Vorbeugungsmaßregel.
15) Die letzte türkische Lesung lautete, daß alle 180 000 Muselmanen von den Armeniern massakriert worden seien. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXIII f.
16) Vgl. dazu die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Anders in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 5, 6 und 10.
17) Das später erschienene Communiqué der türkischen Regierung über die Vorgänge in Urfa wird von dem deutschen Konsul Herrn Roeßler in Aleppo in seinem Bericht vom 16. November 1915 einer Kritik unterzogen. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 202.
18) Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl Kap. V, 5: Die offizielle Motivierung. S. LXVI ff.
19) Vgl. die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln ebenda S. LXXVI ff.
20) Vgl. das Urteil des deutschen Botschafters Graf Wolff-Metternich in Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 287.
21) Vgl. die Urteile deutscher Konsuln in Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXVI ff.
22) Wäre die Türkei siegreich aus dem Krieg hervorgegangen, so wäre allerdings nicht daran zu denken gewesen, daß der Raub des gesamten Nationalgutes des armenischen Volkes wieder rückgängig gemacht worden wäre. Auch jetzt wird es schwer sein, auch nur einen beträchtlichen Teil der beweglichen Habe den Dieben und Räubern, die daß Gut schon längst verschleudert haben werden, zu entreißen.
23) Vgl. den Bericht über die Verhandlungen im türkischen Senat vom Oktober und November 1915 in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 223.
24) Vgl. zu diesem Kapitel den Abschnitt: Zwangsbekehrungen zum Islam, in der Einleitung von Lepsius, Dtschl. und Arm. und ebenda die Konsularberichte laut Sachregister unter Zwangsbekehrungen.
25) Vgl. den Bericht des deutschen Vizekonsuls Herrn Kuckhoff vom 4. Juli 1915 aus Samsun, Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 116 Anlage.
26) Nur unter den syrischen Nestorianern gab es eine kleine hochkirchliche Mission, die am Sitz des nestorianischen Patriarchen in Kodschannes bei Djulamerg im oberen Zabtal und in Urmia auf persischem Gebiet eine Vertretung hatte und eine Art Nuntiatur des Erzbischofs von Canterbury bei dem nestorianischen Patriarchat bildete. Diese hochkirchlichen Herren haben niemals mit Armenien oder der armenischen Frage zu tun gehabt und sich ausschließlich auf die syrischen Nestorianer beschränkt.
27) Dies war Anfang 1916 geschrieben. Nach der Vernichtung ihres Volkstums in der Türkei würden es jetzt natürlich alle noch Überlebenden Armenier ablehnen, unter türkische Herrschaft zurückzukehren.
28) Vielleicht wird Herr Bratter nach der Veröffentlichung der diplomatischen Aktenstücke über den Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier durch die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln jetzt eines Besseren belehrt werden.
29) Den genannten Städten ist noch Aleppo hinzuzufügen, wo dank der rastlosen Bemühungen des deutschen Konsuls wenigstens die ortsansässige Bevölkerung von der Deportation verschont blieb. Die Armenier von Bagdad waren zunächst nach Mossul deportiert worden und sollten von dort weitergeschafft werden. Der Einspruch des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz, der den Weitertransport untersagte, wurde von der Regierung in Konstantinopel erst respektiert, als der Feldmarschall wegen dieser Sache telegraphisch um seine sofortige Abberufung bat. S. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl. S. LIX und Aktenstück Nr. 224.
30)
Über den Gesamtverlust an Ermordeten und Verhungerten, der auf eine Million geschätzt wird, vgl. Lepsius Dtschl. und Arm. Einleitung V, 4, S. LXIII, das Kapitel: Opfer.
Anmerkungen
- ↑ Die Gesamtzahl der Schüler in den türkischen Regierungsvolksschulen beträgt nach offizieller türkischer Statistik nur 242 069 Schüler und Schülerinnen.