Der Todesgang des armenischen Volkes/Vorwort
Anfang Juni 1915 wurde mir im Auswärtigen Amt ein Telegramm des Botschafters Freiherr von Wangenheim aus Konstantinopel vom 31. Mai 1915[1] vorgelegt, das folgenden Inhalt hatte:
Bitte Dr. Lepsius und deutsche armenische Komitees entsprechend verständigen, daß erwähnte Maßnahmen bei der politischen und militärischen Lage der Türkei leider nicht zu vermeiden.…
Nach Kenntnisnahme des Telegramms sagte ich dem Referenten für die Orientangelegenheiten, Geh. Legationsrat von Rosenberg: „Der Botschafter scheint sich über die Tragweite der Entschließung Enver Paschas nicht klar zu sein. Um „Massenerhebungen vorzubeugen“ verschickt man nicht „Familien“, die „nicht ganz einwandfrei“ sind, sondern „Massen“. Massendeportationen sind Massenmassakers. Das weiß jeder, der die inneren Zustände der Türkei und die Bedingungen, unter denen solche Verschickungen stattfinden, kennt. Erwirken Sie mir bitte die Erlaubnis nach Konstantinopel und in das Innere zu reisen, um festzustellen, was dort vor sich geht“. Unterstaatssekretär Zimmermann, dem mein Wunsch vorgelegt wurde, war bereit, ihn zu erfüllen und wies den Botschafter telegraphisch an, bei dem Minister des Innern Talaat Bey die Erlaubnis zu meiner Reise nach Konstantinopel und in das Innere zu erwirken. Der Botschafter erwiderte, daß Talaat Bey auf Befragen abgelehnt habe, mir die gewünschte Erlaubnis zu geben. Mein Vorschlag, durch ein Schreiben an den Botschafter die Gründe, die mich bestimmten, darzulegen und auf erneute Vorstellung bei Talaat Bey zu dringen, fand den Beifall des Unterstaatssekretärs. Mein Schreiben wurde von den Vorständen der Deutsch-Armenischen Gesellschaft und der Deutschen Orientmission, deren Vorsitzender ich war, unterstützt und von dem Unterstaatssekretär befürwortet. Zu gleicher Zeit hatte ich gebeten, dem Armenischen Patriarchen in Konstantinopel meinen Besuch anzukündigen.
Am 24. Juni erhielt ich durch das Auswärtige Amt die telegraphische Antwort des Botschafters:
Um mit Vertretern der Partei Daschnakzutiun und den Schweizer Armenierfreunden in Verbindung zu treten, beschloß ich, meine Reise so einzurichten, daß ich auf dem Wege nach Konstantinopel zuerst Basel und Genf besuchte, und dann in Bukarest und Sofia Station machte, wo ich durch armenische Freunde Informationen über die Lage im Innern der Türkei zu erhalten hoffte. In Bukarest traf ich Dr. Nasariantz, den wir bereits im Januar vonseiten der Deutsch-Armenischen Gesellschaft nach Konstantinopel geschickt hatten. Das Konstantinopeler Zentralbureau der Daschnakzutiun war inzwischen nach Sofia verlegt worden. Die Nachrichten, die ich in Bukarest und Sofia empfing, die durch Korrespondenzen aus dem Innern und durch zugereiste Armenier einliefen, gaben bereits ein Bild von Vorgängen, die auf eine planvolle Vernichtung der armenischen Bevölkerung des Innern schließen ließ. Die Berichte aus Konstantinopel machten es sehr unwahrscheinlich, daß ich dort von seiten der Daschnakzagan direkte Informationen würde erhalten können, denn die Führer waren bei der Massenverhaftung von Intellektuellen am 24.–26. April bereits deportiert und die Zurückgebliebenen wurden scharf von der Polizei überwacht.
Ich dehnte daher meinen Aufenthalt in Sofia etwas länger aus, als meine ursprüngliche Absicht war, weil ich hier, wie auch später nach meiner Rückkehr, die zuverlässigsten Nachrichten erhalten konnte.
Schon in denselben Tagen, in denen Talaat Bey die Erlaubnis zu meiner Reise nach Konstantinopel gegeben hatte, Ende Juni, war der Befehl zur allgemeinen Deportation der armenischen Bevölkerung in Kraft getreten. Als ich in Sofia eintraf, lagen schon Nachrichten vor, daß in den östlichen Provinzen die systematische Abschlachtung der Deportierten auf den Wanderzügen durch das armenische Hochland begonnen hatte. Es war bereits klar, daß es auf die Vernichtung der armenischen Nation abgesehen war. An eine Rückgängigmachung der Maßregel, die seit Wochen in vollem Gange war, war nicht mehr zu denken. Es bestand nur noch die Hoffnung, daß die unvollständigen Nachrichten übertrieben sein könnten und daß wenigstens die westlichen und zentralen Wilajets von Anatolien noch verschont bleiben würden. In Zilizien war es zwar schon zu Verschickung ganzer Bezirke, aber noch nicht zu Massakres gekommen. Wenn die Maßregel für die bisher verschonten Gebiete noch verhindert, und den Massakres Einhalt geboten werden konnte, war noch viel zu retten. Ich setzte daher meine Reise nach Konstantinopel fort und machte nur noch in Philippopel Station, um meinen Freund Pastor Awetaranian zu besuchen.
Am 24. Juli, dem Tage des Nationalfestes zur Feier der Einführung der Konstitution kam ich nach Anbruch der Dunkelheit in Konstantinopel an. Eine festliche Menge wogte auf den erleuchteten Plätzen und Straßen von Stambul. Die Gärten waren zu Tanz und Spiel mit Lampions geschmückt. Die Brücke, die Stambul und Galata über den Meeresarm des Goldnen Horns verbindet, bot einen bezaubernden Anblick. An den zahllosen Minarets, deren Nadeln hell belichtet in den Nachthimmel ragten, hingen Lichterkränze an den umlaufenden Altanen, von denen die Muezzins den Gebetsruf erschallen lassen. Koranverse in leuchtenden arabischen Schriftzügen, an Netzen zwischen den Moscheetürmen aufgespannt, waren an die dunkle Himmelsdecke gemalt. Das Quinquilieren türkischer Musikbanden erklang aus den Gassen und Gärten. Konstantinopel feierte heute die jungtürkische Revolution, während der Feind an die Pforte der Dardanellen hämmerte. Ich stieg im Hotel Tokatlian an der Grande rue de Péra ab. In der Stille der Nacht wurde ich von Kanonaden aufgeweckt, die den Angriffen von Torpedobooten zugeschrieben wurden, denen es gelungen war, die Dardanellen zu passieren und in den Bosporus einzufahren.
Es war mir klar, daß ich von dem Tage meiner Ankunft an von Polizeiagenten überwacht werden würde. Wollte ich das Leben von Armeniern, mit denen ich in Verbindung trat, nicht gefährden, so mußte ich mich der größten Vorsicht bedienen. Nur meine Besuche auf der Botschaft und beim Armenischen Patriarchen brauchte ich nicht zu verschleiern.
Selbst Deutsche trugen hie und da Bedenken, sich mit mir sehen zu lassen. Es gelang, meine Zusammenkünfte mit Armeniern so einzurichten, daß sie von Spionen unbemerkt blieben.
In der Botschaft fand ich jede gewünschte Unterstützung für meine Absichten. Freiherr von Wangenheim, der erkrankt war, hatte bereits am 20. Juli Konstantinopel verlassen. Fürst Hohenlohe-Langenburg war in außerordentlicher Mission mit seiner Vertretung betraut worden. In den wiederholten Aussprachen, die ich mit ihm hatte, konnte ich mich überzeugen, daß er vom ersten Tage an die Vorgänge im Innern sehr ernst genommen und gegenüber dem Großvezier und den Ministern zum Gegenstande nachdrücklichster Vorstellungen gemacht hatte. Doch jeder Schritt, den er tat, stieß auf wachsenden Widerstand. Das Urteil, das ich mir bereits in Sofia über den Charakter der Deportation gebildet hatte, wurde durch die Herren der Botschaft, die aus ihrem Entsetzen keinen Hehl machten, nur bestätigt. Obwohl man mir keinen Einblick in die Konsularberichte geben konnte, erfuhr ich doch von Herrn Dr. Mordtmann, der mit der Bearbeitung der Eingänge betraut war, genug, um die Nachrichten, die ich selbst empfing, sogleich oder bald darauf bestätigt zu finden. Verschiedene Deutsche, Missionare, Lehrer, Schwestern, waren in denselben Tagen aus dem Innern gekommen, die Grauenhaftes berichteten. Noch während ich in Konstantinopel war, wurde die Maßregel der Deportation auf das Küstenland von Zilizien und die nordsyrischen Distrikte, in der zweiten Augustwoche auch auf das westanatolische Gebiet gegenüber von Konstantinopel und am Marmarameer, mit den Städten Ismid, Baghtscheschik, Brussa, Adabasar usw. ausgedehnt. Die armenische Bevölkerung von Konstantinopel zitterte vor der drohenden Verschickung. Durch den Einspruch der deutschen und der amerikanischen Botschaft konnte die letztere verhindert werden, obwohl unter der Hand Tausende von Armeniern aus den unteren Klassen, vor allem diejenigen, die nicht ortsansässig waren, ins Innere abgeschoben wurden. Für das der Hauptstadt benachbarte Gebiet der westanatolischen Städte konnte trotz der energischen Vorstellungen und Warnungen der Botschaften nur ein Aufschub des Abtransportes von ein oder zwei Wochen erreicht werden, um den Unglücklichen den wohlfeilsten Verkauf ihrer Habe und Zeit zu Reisevorbereitungen zu ermöglichen. Eine unerhörte Nachricht, die ich aus dem Inneren erhielt – von den Mollahs in den Moscheen werde der muhammedanischen Bevölkerung erzählt, daß die grausamen Maßregeln gegen die Armenier auf Befehl Deutschlands erfolgten –, fand erst auf der Botschaft keinen Glauben, bis sie auch ihr bestätigt und strengster Widerruf von der Pforte verlangt wurde.
Ich blieb drei Wochen in Konstantinopel und benützte die Zeit, um von früh bis spät von allen Seiten Erkundigungen einzuziehen. Ich wandte mich an Vertreter aller Nationalitäten, an die fremden Gesandten, an die Ordensgesellschaften, die im Innern Stationen hatten, an das Amerikanische Bible House und an jeden Europäer oder Amerikaner, der aus dem Innern kam. Bei allen fand ich die größte Bereitwilligkeit, mir ihre Nachrichten zur Verfügung zu stellen. Meine Notizen häuften sich, und so unzusammenhängend sie waren, konnte ich doch daraus ein nahezu vollständiges Bild der Vorgänge gewinnen. Von den armenisch-katholischen Mechitharisten, von römisch-katholischen Ordensleuten, vom Armenischen Patriarchat, von zugereisten deutschen und amerikanischen Missionaren wurde ich fortlaufend über die jüngsten Vorgänge unterrichtet. Auch ansässige Konstantinopeler Armenier wagten es, mit mir in Verbindung zu treten. Besonders möchte ich an dieser Stelle Herrn Chatschadurian, dem ausgezeichneten Kenner der deutschen Sprache und Literatur, früher Professor an der Hochschule von Erzerum, jetzt an der Patriachatschule, und Herrn Djavidjan, dem Vorsitzenden des armenischen Nationalrats, für ihre keine Gefahr scheuenden Dienste, meinen Dank aussprechen. Von verschiedenen Seiten erfuhr ich auch manches, was in den jungtürkischen Kreisen hinter den Kulissen vorgegangen war. Ergreifend waren jedesmal meine Besuche bei dem Armenisch-Gregorianischen Patriarchen, Msgr. Zaven, der trotz seines unerschrockenen Eifers, seiner Nation und Kirche zu dienen, sich schon damals von der völligen Nutzlosigkeit aller seiner Vorstellungen bei der Pforte hatte überzeugen lassen.
Durch den griechischen Gesandten erfuhr ich, in welchem Maße auch die griechische Bevölkerung der Bosporus- und Marmaraküste in Mitleidenschaft gezogen worden war. Auch der bulgarische Gesandte nahm den lebhaftesten Anteil an den Vorgängen im Innern.
Wertvolle Aufschlüsse empfing ich von Mr. Henry Morgenthau, dem amerikanischen Botschafter. Auch er machte sich keine Illusionen über die Fruchtlosigkeit aller diplomatischen Schritte bei den jungtürkischen Machthabern und sprach sich wiederholt dahin aus, daß auch Freiherr von Wangenheim und Fürst Hohenlohe mit ihren Vorstellungen nicht mehr erreichen würden als er selbst. Er hielt es für nutzlos, gegenüber Männern wie Talaat Bey und Enver Pascha den Ton sittlicher Entrüstung anzuschlagen, da die Herren dafür gänzlich unempfänglich seien, suchte aber möglichst mehrmals in der Woche Gelegenheit zu persönlicher Aussprache, um ihnen freundschaftlich den Unverstand und die gefährlichen Folgen ihres Vorgehens, das den moralischen Kredit und den wirtschaftlichen Wohlstand der Türkei vernichten müßte, zu Gemüt zu führen. Aber auch dafür fand er nur taube Ohren. Durch die Berichte der amerikanischen Konsuln von Aleppo, Trapezunt, Kharput und anderen Städten des Inneren war er über die Hergänge bei den Deportationen, die meist sofort die Gestalt von Massakers annahmen, in vielen Einzelheiten unterrichtet. Für seine Person hätte er mir gern diese Dokumente zur Verfügung gestellt, glaubte aber nicht ohne weiteres dazu berechtigt zu sein. Er fragte telegraphisch in Washington an und erhielt die Antwort, daß eine Hergabe von Kopien der Konsularberichte der Neutralität der Vereinigten Staaten widerstreite. Er gab mir gleichwohl Einblick in die Berichte, und drückte ein Auge zu, als ich mir Notizen aus den Dokumenten machte. Als ich später in den Besitz der Berichte des amerikanischen Hilfskomitees gelangte, das die amerikanischen Konsularberichte ohne Ort- und Namensangaben enthielt, konnte ich aufgrund meiner Notizen die Lücken ausfüllen und die wichtigsten Konsularberichte aus Aleppo, Trapezunt und Kharput in meinem „Bericht“ vollständig wiedergeben.
So erfolglos der Schritt sein mochte, wollte ich es doch nicht unversucht lassen, auf einen der türkischen Machthaber persönlich einzuwirken. Durch Korvettenkapitän Humann wurde ich bei Enver Pascha eingeführt. Am 10. August vormittags sollte ich ihn im Seraskeriat (Kriegsministerium) in Stambul sehen. Um rechtzeitig zur Stelle zu sein, nahm ich einen Wagen, mußte aber, als ich ans Goldene Horn herunter kam, den Wagen verlassen, da die große Brücke, die Pera-Galata mit Stambul verbindet, aufgezogen war. Ich sprang in ein Kajik, um über das Goldene Horn zu fahren und hoffte, drüben wieder einen Wagen zu finden. Durch die Gemächlichkeit des Bootsführers aufgehalten und genötigt, den Weg zu Fuß fortzusetzen, da ein Fuhrwerk nicht zur Stelle war, verspätete ich mich. Enver Pascha hatte das Seraskeriat bereits verlassen, ließ mir aber sagen, daß ich ihn im Ministerium des Innern auf der Hohen Pforte treffen könne. Im Ministerium wurde ich durch lange Gänge, von denen man in die Amtszimmer blickte, – die Türen sind nur mit Vorhängen verhängt – in einen Empfangsraum im oberen Stockwerk geführt. Ich mußte ein halbes Stündchen warten, aber die Zeit wurde mir nicht lang. Bei einer freundlich gereichten Tasse türkischen Kaffees am Fenster sitzend, hatte ich über zerfallene Kuppeln und Gemäuer hin zwischen Pinien und Cypressen das fesselnde Panorama des von Dampfern und Kajiks belebten Bosporus mit seinen Uferstädten vor mir.
Enver Pascha trat ein, eine schlanke mittelgroße Gestalt mit schmalen abfallenden Schultern. Der osmanische Nationalheld, dessen halbalbanisches Blut in den kritischen Phasen der jüngsten Geschichte das türkische Phlegma oft zu abenteuerlichen Entschlüssen hinriß, hat bei aller selbstbewußten Unbekümmertheit nichts heldisches in seinem Wesen, eher etwas mädchenhaftes, wie es von Robespierre gesagt wird. In seiner schmucken Uniform mit Pelzmütze und Schnüren mehr Zigeunerbaron als Heros. Schon in Berlin wurde erzählt, daß über seinem Schreibtisch zur Rechten Napoleon, zur Linken Friedrich der Große und in der Mitte, als Kreuzung beider, sein eigenes Bildnis hing. In Stambul wollte jemand die gleiche Wanddekoration in seinem Arbeitsraum gesehen haben. Mag beides fabuliert sein, die Selbsteinschätzung Envers, die zwei Jahre zuvor seinem Rivalen, dem Kriegsminister Nazim Pascha, das Leben gekostet hatte, sollte dem türkischen Reich zum Verhängnis werden. Der unbeirrte Glaube an seinen Stern scheint ihn auch jetzt noch nicht verlassen zu haben. Man sagt, daß er nach seiner Flucht aus Konstantinopel im Kaukasus auf neue Abenteuer ausgeht.
Ich hatte einen Gruß an ihn aus Deutschland auszurichten und wir kamen sogleich in ein ungezwungenes Gespräch, das nahezu eine Stunde währte.
„Ich weiß nicht“, begann ich, um zur Sache zu kommen, „ob das was im Innern vor sich geht, mit Ihrem Wissen und Willen geschieht.“ Er wußte, was ich meinte und erwiderte: „Ich übernehme die Verantwortung für alles.“ Ich berührte einiges von dem, was ich in den letzten Tagen über Massendeportationen und Abschlachtungen von Frauen und Kindern erfahren hatte, und sagte ihm offen, daß der moralische Kredit, den sich die junge Türkei durch den Sturz Abdul Hamids und die Einführung der Konstitution erworben hätte, durch derartige Vorgänge vernichtet werden würde. Er hörte mich ruhig an, von allem, was ich sagte, unberührt, und erging sich dann in langen Reden über militärische Notwendigkeiten, die in der Kriegszeit das Vorgehen gegen die revolutionären Elemente des Reiches zur Pflicht gemacht hätten. Als Beweise für eine geplante Erhebung brachte er Fälle von Spionage und Desertionen und die „Aufstände“ von Zeitun und Wan vor, Dinge, die nicht einmal in seinem Vergrößerungsglas nach etwas aussahen. Ich bemerkte, daß man auch zur Zeit Abdul Hamids dergleichen vereinzelte Vorgänge zum Anlaß für blutige Verfolgungen genommen hätte, und, daß gerade von jungtürkischer Seite Abdul Hamid deswegen verurteilt und seine Gewaltherrschaft gestürzt worden sei. Mir schiene, daß man die Politik Abdul Hamids jetzt weiterführe, ja überbiete. Ich selbst glaube nicht an die armenische Verschwörung und hätte aus meiner persönlichen Kenntnis armenischer Führer Grund dazu. Sodann kam ich auf die Massenverhaftung der armenischen Intellektuellen von Konstantinopel zu sprechen und fragte, ob die Untersuchung irgend welche Beweise für die Vorbereitung eines Aufstandes zutage gefördert habe. Ich wisse, daß dies nicht der Fall sei. Er lächelte zu allem gleichmütig und sagte: „Der Beweise darf es nicht, wir kommen selbst von der Revolution her und wissen, wie so etwas gemacht wird.“ Auch die wirtschaftlichen Folgen brachte ich zur Sprache und sagte: „Wahrscheinlich kenne ich das Innere durch ausgedehnte Reisen, humanitäre und wirtschaftliche Unternehmungen besser als Sie. Ihr Komitee, das in Saloniki seinen Ursprung hat, beurteilt die asiatischen Fragen nach Gesichtspunkten, die dem Innern fremd sind. Ob sie für Mazedonien, das ich nicht kenne, anwendbar sind, weiß ich nicht. Für Anatolien bedeuten sie den Ruin. In den Küstenländern haben die Griechen, im ganzen Innern von Anatolien die Armenier den Groß- und Kleinhandel fast ausschließlich in der Hand. Sie sind in den östlichen Provinzen die besten Ackerbauer und stellen in ganz Anatolien nahezu allein den Stand der Handwerker. Die Armenier sind der Magen des Reichs. Sie nehmen den Magen jetzt heraus und glauben, daß die andern Glieder, Turkmenen, Kurden, Lasen und Tscherkessen, seine Funktionen übernehmen werden. Das ist ein Irrtum.“ Er lächelte: „Mag sein, wir werden ein paar Jahre nach dem Kriege einen schwachen Magen haben. Wir werden uns erholen. Bedenken Sie,“ fuhr er fort, „das Volk der Türken zählt 40 Millionen. Wenn sie erst in einem Reich zusammengefaßt sind, so werden wir in Asien dieselbe Bedeutung haben, wie Deutschland in Europa.“
Die bevölkerungsstatistische Phantasie des Kriegsministers sprang auf die Heeresstärke der türkischen Armee über. Auch hierbei sparte er nicht mit Millionen.
Ich hatte einen Mann vor mir, der, da er keine Größe besaß, aller Voraussicht nach an seiner knabenhaften Phantasie und seinem maßlosen Selbstbewußtsein Schiffbruch leiden mußte. Das rein türkische Volkselement in Anatolien beträgt wahrscheinlich nicht mehr als fünf, höchstens sechs Millionen, von denen, wie man annimmt, etwa eine Million durch Kriegs- und Seuchenverluste abzubuchen sein wird. Man muß schon weit über Nordpersien, Trans- und Ciskaukasien, Turkestan nach Kaschgar greifen, um auch nur 20 Millionen bestenfalls halbzivilisierter Türkvölker zusammen zu bringen. Die dachte Enver eines Tages zu beherrschen, und mit ihnen der ganzen Welt die Stirn zu bieten.
Ich lenkte auf die Dinge, die mir näher lagen, zurück. Ich machte geltend, daß die Massen der Deportierten zum größten Teil aus Frauen und Kindern bestünden, die dem Untergange preisgegeben sein würden, wenn nicht eine Organisation geschaffen würde, um ihre Ernährung, Unterbringung und vorläufige Ansiedelung an den Verschickungszielen zu ermöglichen. „Nach den Erfahrungen,“ sagte ich, „die man mit Tscherkessenansiedlungen gemacht hat, sind die Behörden im Innern wenig befähigt zu solchen Aufgaben; es fehlt ihnen an Organisationsgabe, an brauchbaren Organen und jetzt während des Krieges, selbst wenn sie den Willen dazu hätten, an Zeit und Geld, um eine so schwierige Aufgabe durchzuführen. Der Untergang von vielen Tausenden von Frauen und Kindern kann ja nicht Ihre Absicht sein.“ Enver ging leicht über diese Bedenken hin, sagte, es würde für alles gesorgt werden, aber wenn ich ihm Vorschläge zu machen hätte, sollte ich sie ihm schreiben, er würde sie gern erwägen. Ich erwiderte: „Ich will Ihnen gleich einen Vorschlag machen. Schicken Sie mich ins Innere und geben Sie mir den Auftrag, die Versorgung der Deportierten zu organisieren. Ich werde für die nötigen Hilfskräfte und auch für die notwendigen Geldmittel sorgen. Ich habe Erfahrung in diesen Dingen. Ich habe schon einmal nach den Abdul Hamid’schen Massakers ein Hilfswerk ins Leben gerufen, kenne die wirtschaftlichen Möglichkeiten, und die Bedürfnisse der Leute und meine zwanzigjährige Erfahrung wird mir von Nutzen sein. Durch deutsche Hilfsvereine sind damals viele Tausende von Waisenkindern unterhalten und auferzogen worden, Hospitäler gegründet, wirtschaftliche Betriebe eingerichtet worden. Ein Hilfswerk für die Deportierten würde sich auch jetzt, trotz des Krieges, in weit größerem Maßstabe ermöglichen lassen, wenn ich dazu von Ihnen ermächtigt würde.“
Enver Pascha hörte mich aufmerksam an. Dann sagte er mit einem Unterton höhnischer Grausamkeit, die sich ihre Überlegenheit über jede Menschlichkeit bewußt war: „Ich schätze Ihre gute Absicht, aber ich kann Ihren Vorschlag nicht annehmen. Wenn ich zulassen würde, daß Fremde den Armeniern Hilfe bringen würden, so würden sie nicht aufhören, ihre Hoffnung auf fremde Einmischung zu setzen, um ihre Träume zu verwirklichen. Wir können mit unsern inneren Feinden fertig werden. Sie in Deutschland können das nicht. Darin sind wir stärker als Sie. Darum kann ich keinem Fremden gestatten, den Armeniern Wohltaten zu erweisen. Die Armenier sollen in uns allein ihre Wohltäter sehen. Doch ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Geben Sie die Mittel, die Sie sammeln, mir. Ich werde sie ganz nach Ihrer Bestimmung verwenden, und Personen, denen Sie Vertrauen schenken, mit der Kontrolle beauftragen, doch keine Deutschen.“
Ich konnte nicht wohl antworten, daß auf diesem Wege unser Geld teils in den Taschen türkischer Beamten verschwinden, teils für andere Zwecke verwendet werden würde. Darum erwiderte ich, daß unsere deutschen Geberkreise Wert darauf legten, daß sie durch ihre eigenen Beauftragten über die Verwendung ihrer Mittel unterrichtet würden, was Enver Bey ablehnte. Die Gelassenheit, mit der er seine deutschen Verbündeten auf gleiche Stufe mit jedem Fremden stellte, sagte mir, daß hier jedes weitere Wort verloren war. Ich war daher auch später nicht erstaunt, als im April 1916 ein schriftliches Gesuch von drei deutschen Gesellschaften, das mit der Befürwortung der Deutschen Botschaft an die Pforte gerichtet wurde, eine Hilfsexpedition in die Notstandsgebiete senden zu dürfen, aus denselben Gründen, die mir Enver Pascha vortrug, von der Pforte abgelehnt wurde, mit dem Wortlaut „daß die türkische Regierung keinerlei fremde Hilfe für die Armenier zulassen könne, da hierdurch die Armenier in ihren Hoffnungen auf das Ausland bestärkt würden“. Dieselbe Antwort hatte der deutsche Konsul Loytved in Damaskus einen Monat zuvor von dem Oberkommandierenden der 4. Armee, Djemal Pascha, erhalten, als er anfragte, welche Aussichten eine vom American Bible House geplante Hilfsunternehmung für die notleidenden Armenier in Damaskus haben würde. Die Antwort des Paschas lautete, „daß er persönlich das Los der Armenier nach Möglichkeit erleichtern möchte, aber strenge Weisungen von Konstantinopel habe, jede deutsche und amerikanische Beteiligung an einer Hilfsunternehmung für Armenier zu verhindern, da der innere Widerstand der Armenier gegen die türkische Regierung nur gebrochen werden könne, wenn ihnen beigebracht werden könne, daß sie keinerlei Unterstützung von einer fremden Regierung zu erwarten hätten. Der Deutsche war in Fragen der Menschlichkeit so gut ein „Fremder“ für den Türken als das neutrale Amerika. Man kann gewiß sein, daß im Falle eines Sieges die jungtürkische Regierung jede ausländische Missions-Waisen- und Schularbeit im ganzen osmanischen Reich verboten haben würde.
Da die Hauptabsicht meines Gesprächs gescheitert war, wollte ich wenigstens noch versuchen, durch den allvermögenden Einfluß von Enver Pascha, einen Freund, zu retten. Dr. Heiranian, einer der Mitbegründer unserer Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Arzt und Philosoph, von friedfertigem und nachdenklichem Wesen, von großer Güte und zartestem Gemüt, war kurz vor dem Kriege in seine Heimat Divrigi im Wilajet Siwas zurückgekehrt und hatte Frau und Kind in Berlin zurückgelassen, um seine hochbetagten Eltern noch einmal wieder zu sehen. Der Ausbruch des Krieges hatte ihn veranlaßt, sich als Militärarzt zum Lazarettdienst zu stellen. In Siwas richtete er besondere Kurse für Ausbildung von Pflegern ein, hatte viele Verwundete und an Seuchen erkrankte Türken gepflegt und war selbst dabei am Typhus schwer erkrankt, aber wieder genesen. Die Armenierverfolgung setzte ein und der Wali von Siwas warf ihn mit allen armenischen Hilfsärzten ins Gefängnis, während das armenische Pflegepersonal deportiert wurde.
Ich bat Enver Pascha, ehe ich mich verabschiedete, mir noch einen persönlichen Dienst zu leisten, und trug ihm den Fall von Dr. Heiranian vor, mit der Bitte, seine Freilassung und Rückbeförderung nach Deutschland zu erwirken. Ich verbürgte mich persönlich für meinen Freund, daß ihm jede unbesonnene Handlung fern liege und daß er seine Freilassung auf keine Weise mißbrauchen würde. Enver Pascha versicherte mir, daß es ihm eine Freude sein würde, meinen Wunsch zu erfüllen, daß er aber zuvor beim Wali von Siwas anfragen müsse, was gegen Dr. Heiranian vorläge. Ich sagte, daß nichts anderes gegen ihn vorläge, als gegen alle armenischen Ärzte, die verhaftet worden seien, nämlich, daß er Armenier sei. Enver Pascha versicherte mir noch einmal, daß wenn die Antwort irgend es erlaubte, er für die Heimkehr meines Freundes sorgen würde.
Die Liebenswürdigkeit, mit der mich Enver Pascha verabschiedete, hatte wenigstens die eine Hoffnung in mir genährt, daß ich meinen Freund würde retten können. Nach Deutschland zurückgekehrt, erhielt ich durch Korvettenkapitän Humann die Antwort, daß der Bericht aus Siwas über Dr. Heiranian ungünstig ausgefallen wäre, und daß Enver Pascha bedaure, meinen Wunsch nicht zu erfüllen zu können. Dr. Heiranian ist, wie man annimmt, im Gefängnis ermordet worden. Man hat nichts mehr von ihm gehört.
Nach der Unterredung mit Enver Pascha mußte ich den Gedanken aufgeben, auf eine Änderung des Schicksals der Armenier irgend einen direkten Einfluß gewinnen zu können. Was im Bereich der Möglichkeiten lag, um ihr Los zu mildern, geschah durch die deutsche und amerikanische Botschaft. Andere Instanzen, auf die die Pforte hätte Rücksicht nehmen müssen, gab es nicht. Auch die Stimme des Papstes verhallte ungehört. Was mir zu tun übrig blieb, war, meine Informationen noch möglichst zu vervollständigen, um die öffentliche Meinung in Deutschland, wo die Presse nur die verlogenen türkischen Communiqués wiedergab, wenigstens in den Grenzen, die unter der Zensur möglich waren, aufzuklären. Nachdem ich alle mir zugänglichen Quellen in Konstantinopel erschöpft hatte, war kein Grund vorhanden, meinen Aufenthalt länger auszudehnen. Schon in den ersten Tagen des August war mir auf der Botschaft mitgeteilt worden, daß Herr Chatschadurian wegen des Verkehrs mit mir von der türkischen Polizei verhaftet worden sei. Das schien mir unglaubhaft, da ich bei meinem allerdings häufigen Zusammentreffen mit ihm immer die größte Vorsicht beobachtet hatte. Nach zwei Stunden konnte ich der Botschaft mitteilen, daß ich eben mit dem angeblich Verhafteten gesprochen hatte und daß er von niemand behelligt worden war.
Es waren keine angenehmen Wochen, die ich am Goldenen Horn verlebte. Die Stimmung unter der türkischen Bevölkerung war keineswegs deutschfreundlich. Der jungtürkische Chauvinismus machte keinen Hehl daraus, daß man eines Tages mit allen „Fremden“, zu denen man nicht in letzter Linie auch die Deutschen rechnete, reinen Tisch machen würde. Eine Polizeiverordnung hatte die Absicht schon zum symbolischen Ausdruck gebracht, als alle nichttürkischen Firmenbezeichnungen und Reklameschilder in ganz Konstantinopel, nicht nur in Stambul, sondern auch in den Europäervierteln von Galata und Pera verboten und entfernt wurden. Kein Ausländer konnte sich in der großen Geschäftsstraße, der Grande rue de Péra, mehr zurechtfinden, wenn er eine Firma oder einen Laden suchte. Europa hatte türkisch zu lernen, wenn es mit Türken verkehren sollte. Auch den deutschen Professoren, die man aus Courtoisie gegen den Bundesgenossen berufen hatte, wurde zugemutet, innerhalb eines Jahres türkisch zu lernen und dann ihre türkischen Hefte abzulesen oder ablesen zu lassen. Wenn die Deutschen in der Türkei verstanden werden wollten, konnte ja in den deutschen Schulen, so gut wie englisch und französisch, auch türkisch gelernt werden. Alle Geschäftskorrespondenz sollte nur noch türkisch geführt werden. Man ist im Irrtum, wenn man glaubt, daß die Lobhudeleien einiger deutscher Türkenfreunde in Konstantinopel Eindruck gemacht hätten. Da die Begeisterung für unsern Bundesgenossen in der Regel mit großer Unkenntnis türkischen Wesens und islamischer Kultur verbunden war, spotteten die Jungtürken über ihre Wortführer und sahen hinter ihren Freundschaftsbeteuerungen nur materielle Absichten, während die ansässigen Deutschen, die den Schaden zu tragen hatten, und die türkische Mißwirtschaft und Ausbeutung aus der Nähe sahen, ingrimmig darüber wetterten. Deutsche Kaufleute, die seit Jahren ansässig waren, versicherten mir, daß ihnen nichts anderes übrig bliebe, als nach dem Kriege den Staub von den Füßen zu schütteln und die Türkei zu verlassen. Die Aufhebung der Kapitulationen werde jeden Deutschen rechtlos machen. Schon jetzt sei das Betragen türkischer Polizei- und Steuerbeamter unerträglich. Dieselben Steuern würden mehrfach eingezogen, vorgezeigte Quittungen zerrissen und auf nochmaliger Zahlung bestanden. Das Backschischwesen unterscheide sich in der jungen Türkei nur dadurch von dem der alten, daß, was früher in Piastern, jetzt in Pfunden verlangt werde. Alle Versprechungen, die die Pforte Deutschland gemacht hätte, würden, sobald die Türkei unversehrt aus dem Kriege hervorgegangen sei, vergessen sein, und das jungtürkische Komitee, das in der Mehrzahl noch ebenso ententefreundlich sei, wie früher, werde die alte Taktik, alle europäischen Mächte gegen einander auszuspielen, wieder aufnehmen. Im übrigen sei der wirtschaftliche Zusammenbruch der Türkei nicht mehr aufzuhalten, da die Mitglieder des jungtürkischen Komitees nur von dem einen Gedanken beseelt seien, die Kriegszeit in der schamlosesten Weise zu ihrer eignen Bereicherung auszubeuten. Durch die Vernichtung der Armenier sei das Wirtschaftsleben von Anatolien vernichtet und den Griechen würde es zuletzt nicht besser gehen. Das war das Urteil aller Deutschen, die ich sprach. Die Ereignisse haben diesen trüben Prophezeiungen Recht gegeben. Die einzige Rettung, nicht nur der christlichen sondern auch der muhammedanischen Bevölkerung vor der Abenteurerpolitik des jungtürkischen Komitees war der Zusammenbruch der Türkei.
Als ich nach Sofia zurückkehrte, waren im Bureau der Daschnakzagan wieder viele böse Nachrichten eingegangen. Ich ließ mir die ganze Korrespondenz seit dem Beginn der Verfolgungszeit mündlich übersetzen und machte mir Aufzeichnungen, die ich in meinem „Bericht“ verwertet habe.
Als ich nach Deutschland zurückkehrte, überzeugte ich mich, daß man sich im Auswärtigen Amt über den Charakter und die Tragweite der Vernichtungsmaßregeln gegen die Armenier keinen Illusionen hingab. Mein Verlangen, daß Deutschland auf die türkische Regierung einen stärkeren Druck ausüben und die Zügel straffer anziehen müsse, wurde als unmöglich hingestellt, wenn wir das Bündnis nicht aufgeben wollten. Man habe es an Protesten und Vorstellungen nicht fehlen lassen, aber die jungtürkischen Machthaber seien für jede Mahnung und Warnung unzugänglich. Dem Unterstaatssekretär Zimmermann sagte ich: „Wenn Sie nicht den bestimmenden Einfluß auf die innere Politik der Türkei gewinnen, die in ihrem maßlosen Nationalismus für die Folge ihrer Handlungsweise völlig blind ist, die Araber und Juden ebenso vor den Kopf stößt, wie sie Armenier, Griechen und Syrer vernichtet, so wird am Ende des Krieges die ganze arabische Hälfte des Reiches in den Händen Englands sein.“ Er tröstete sich damit, daß nach dem Anschluß Bulgariens deutsche Truppen die Dardanellenarmee entlasten und türkische Heereskräfte für Mesopotamien frei werden würden. Von einem Feldzug gegen Ägypten sagte er nichts. Ich erwiderte, daß der wirtschaftliche Ruin der Türkei durch alle militärischen Erfolge nicht aufgehalten würde, und daß, wenn das Schicksal der Armenier an den Tag käme, die Pforte bei den Friedensverhandlungen moralisch unmöglich sein würde. Es müsse die stärkste Pression auf die Pforte ausgeübt werden, um den Verschickungen Einhalt zu gebieten und mindestens für die Erhaltung des Lebens der Deportierten zu sorgen. Der Unterstaatssekretär war bereit, alles zu tun, was in seinen Kräften stehe, und wollte die deutsche Hilfsarbeit auf jede Weise unterstützen, sah aber in der Hauptsache keinen Weg, um das Unheil aufzuhalten: „Was sollen wir tun? Unser Bündnis mit der Türkei steht auf den sechs Augen von Talaat, Enver und Halil. Wenn die drei nicht auf uns hören, bliebe uns nur, das Bündnis aufzulösen. Und das können wir nicht.“
Die Zusage der Unterstützung unserer Hilfsbestrebungen ist eingehalten worden. Als im Frühjahr 1917 die Verordnung erschien, daß alle Sammlungen zu wohltätigen Zwecken der Genehmigung des Ministers des Innern bedürfen und mein Gesuch für armenische Sammlungen abgelehnt wurde, hat mir das Auswärtige Amt die Genehmigung beim Minister erwirkt, die dann auch ohne weiteres von drei zu drei Monaten erneuert wurde. Leider mußte ich meine Sammeltätigkeit bis zur Gewährung der Genehmigung monatelang unterbrechen, ein Übelstand, der dadurch noch verschärft wurde, daß die Deutsche Orientmission meine Propaganda lahmzulegen versuchte und mich durch ihr Verhalten nötigte, aus meiner Mission auszutreten.
Meine zweite Aufgabe bei meiner Heimkehr war, wie zur Zeit der Abdul Hamid’schen Massakres im Jahre 1896, die evangelische Kirche Deutschlands zu einem Einspruch wider die armenische Christenverfolgung und zu einem Hilfswerk für die Deportierten aufzurufen. Ich setzte mich dazu mit Missionsdirektor Schreiber, dem Direktor der Deutschen Evangelischen Missionshilfe, in Verbindung, und wir luden die Vertreter der im Orient arbeitenden Missionsgesellschaften und führende Männer der Kirche zu einer Besprechung ein, die am 15. Oktober in Berlin stattfand. Ich teilte der Versammlung das Ergebnis meiner auf der Reise gesammelten Dokumente mit, und es wurde beschlossen, ein Schreiben an den Reichskanzler zu richten, das von 50 namhaften Vertretern evangelischer Kreise aus verschiedenen Teilen Deutschlands unterzeichnet wurde. Dr. von Bethweg Hollweg bestätigte am 12. November den Empfang und erwiderte:
Die Frage, ob die Vernichtung der Armenier als eine Christenverfolgung anzusehen sei, habe ich in der Einleitung zu meiner Aktensammlung[2] auf Grund der Urteile der deutschen Konsuln und Botschafter bejaht.
Auf meine Anregung wandte sich auch der Missionsausschuß des Zentralkomitees für die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands mit einer Eingabe vom 29. Oktober an den Reichskanzler und erhielt eine entsprechende Antwort.
Inzwischen hatte ich noch einen kurzen Besuch in der Schweiz gemacht, um den Basler und Genfer Armenierfreunden das Ergebnis meiner Nachforschungen mitzuteilen und übergab ihnen einige der von mir mitgebrachten Dokumente. Für die Basler Nachrichten schrieb ich einen Artikel, der das Wesentliche über die Vorgänge in der Türkei zusammenfaßte, ohne ihn mit meinem Namen zu unterzeichnen. Ein deutscher Pressechef stellte fest, daß „dieser Artikel sich an einzelnen Stellen direkt wie eine Übersetzung aus einem französischen Urtext lese, im übrigen, wie jene berühmten bei Whisky und Water fabrizierten Leitartikel aus London zur Zeit des Boxeraufstandes die reinste Indianerbücherromantik sei“.
Des weiteren lag mir daran, die deutsche Öffentlichkeit vor einer weiteren Irreführung durch die türkischen Communiqués zu schützen. Dazu gab sich Gelegenheit. In der „Pressevereinigung“, die allwöchentlich im Reichstagsgebäude zusammenkam, der auch Vertreter des Auswärtigen- und Marineamtes beiwohnten, hielt ich Anfang Oktober einen Vortrag, in dem ich ein ungeschminktes Bild von den Tatsachen gab und vor den bösen Folgen einer verlogenen und beschönigenden Berichterstattung für den moralischen Ruf Deutschlands im feindlichen und neutralen Ausland warnte. Die Presse hielt seitdem mit ihren Urteilen zurück.
Längere Zeit erforderte die Ausarbeitung meines „Berichtes über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“, den ich hier in neuer Auflage herausgebe. Aus hunderten von Notizen, die ich mir gemacht hatte, mußte, soweit möglich, ein zusammenhängendes Bild der Tatsachen zusammengestellt und eine alle Teile zu Gehör bringende Ermittlung der Schuldfrage versucht werden. Die Einzelnachrichten über Vorgänge in denselben Wilajets mußten verglichen, nach dem Grade ihrer Zuverlässigkeit geprüft, zeitlich geordnet und ihr pragmatischer Zusammenhang untersucht werden. Auch neue Quellen flossen mir beständig aus deutschen und armenischen Kreisen zu. Als ich im vorigen Winter in die Lage kam, das Aktenmaterial der deutschen Konsular- und Botschafterberichte mit meinem damaligen Befund zu vergleichen, war ich angesichts der Zufälligkeit der Nachrichten, auf die ich vor drei Jahren angewiesen war, erstaunt, wie vollständig das Bild war, das ich damals schon geben konnte, und wie zuverlässig (auch ohne Kenntnis der deutschen amtlichen Berichterstattung) die Schuldfrage beantwortet werden konnte. Ich kann meinen Bericht von 1916 heute in unveränderter Gestalt herausgeben und brauche nur einige Kleinigkeiten nachzutragen. Meine „Aktensammlung“ bietet noch reicheres Material, und vor allem schließt sie zum ersten Mal die Quellen für die Haltung der deutschen Politik und die Diplomatie der Pforte auf. Auch beleuchtet sie die damals noch in der Zukunft liegenden Phasen, besonders die Vorgänge im Kaukasus. An meinem früheren Gesamturteil ist nichts dadurch geändert worden. Mein Bericht von 1916 und die deutschen Konsular- und Botschaftsberichte werden auch dem Ausland den Beweis erbringen, daß man in Deutschland nicht mit moralischer Blindheit gegenüber den Schandtaten unseres Bundesgenossen geschlagen war, wie uns jahrelang zum Vorwurf gemacht worden ist.
Unerwartete Schwierigkeiten bereitete zuletzt die Drucklegung meines Berichtes. Der Faktor der Druckerei, die zuerst den Druck übernommen hatte, weigerte sich, den etwa bis zur Hälfte gediehenen Satz weiter zu führen, da er wegen seines gefährlichen Inhaltes fürchtete, es mit der Polizei zu tun zu bekommen. Der Inhaber der Druckerei, der damals abkommandiert war, mußte der Hartnäckigkeit des Faktors, der im Falle des Weiterdrucks mit Abgang drohte, nachgeben, und bat mich, da er den Mann nicht entbehren konnte, den Druck in einer anderen Druckerei zu Ende führen zu lassen. Eine Druckerei in der Provinz übernahm den Auftrag, aber nach etlichen Wochen verweigerte jetzt der Inhaber der Druckerei den Druck, falls ich nicht zuvor den ganzen Satz der Zensur zur Genehmigung vorgelegt hätte. Da es damals noch keine Vorzensur gab, hatte ich gar keine Veranlassung, den Bock zum Gärtner zu machen. Bei verschiedenen Umfragen ergab sich aber, daß verschiedene Druckereien, die ich anging, sich mit einer so heiklen Sache nicht befassen wollten. Über dem Hin- und Herschicken von Satz und Manuskripten waren viele Wochen vergangen. Endlich fand sich die Druckerei des „Reichsboten“ bereit, den Druck zu übernehmen. Der Geschäftsführer stellte sich auf den Standpunkt, daß den Drucker der Inhalt meines Buches nichts anginge. Um eine Versendung in großem Maßstabe zu ermöglichen, sollte eine Auflage von 20 000 Exemplare hergestellt werden. Zur Beschleunigung des Druckes gewann ich noch die Firma Imberg & Lefson, Berlin-Neubabelsberg, die sich mit der Druckerei des Reichsboten in den Druck des fertigen Satzes teilte. Im Frühjahr war ich endlich soweit, an die Verbreitung des Berichtes zu denken. Das Kuratorium der Deutschen Orientmission hatte sich bereit erklärt, die Kosten der Versendung, M. 4000.–, zu übernehmen. Die Kosten für Satz, Druck und Papier hatte ich selbst durch Freunde der guten Sache aufgebracht. Der Zweck der Verbreitung des Berichtes war, meine Missionsgemeinde und die evangelischen Christen Deutschlands zu einem Hilfswerk, das der Größe der Not entsprach, aufzurufen und die dazu nötige Klärung des Urteils über die Tatsachen und die Schuldfrage herbeizuführen. Mein Wunsch war, meine Missionsgesellschaft zur Trägerin des Hilfswerkes zu machen. Inzwischen waren den Mitgliedern des Kuratoriums aus verschiedenen Gründen Bedenken gekommen, die Mitverantwortung für meine Publikation zu übernehmen. In der Junisitzung des Kuratoriums wurde die Bewilligung der Versandkosten zurückgezogen und mein Vorschlag, mir persönlich die Verantwortung sowohl für die Veröffentlichung des Berichtes als auch für das darauf zu gründende Hilfswerk zu überlassen, angenommen.
Der Bericht ist in 20 000 Exemplaren an unsere Missionsfreunde und an die evangelischen Pfarrämter versandt worden. Weitere 500 Exemplare wurden an offizielle Persönlichkeiten, an Mitglieder des Reichstags und des württembergischen Landtags und durch den Verlegerverein an Redaktionen der größeren deutschen Tageszeitungen versandt.
Erst nach Verbreitung des Berichts ließ die Zensur das Buch beschlagnahmen. Der türkische Botschafter beschwerte sich am 9. September beim Auswärtigen Amt, daß „eine der infamsten Broschüren über die armenische Frage“, voll von „lügenhaften Verleumdungen“ gegen die türkische Regierung in einem mit der Türkei alliierten Lande verbreitet und an alle protestantischen Pastoren versandt werden dürfe, und verlangte die Einstellung meiner Agitation zugunsten der Armenier. Ohne auf die Sache weiter einzugehen, teilte der Unterstaatssekretär unter dem 15. September dem türkischen Botschafter mit, daß nach Auskunft des Kriegspresseamtes die fragliche Schrift bereits unter dem 7. August beschlagnahmt worden sei, was mir bis dahin unbekannt war. Erst im September fragte man beim Verlag nach dem Verbleib der Auflage. So traf die Beschlagnahme nur einen winzigen Rest von Remittenden.
Erst kürzlich, am 19. April 1919, erfuhr ich durch Rückgabe von 191 Exemplaren, die auf dem Berliner Polizeipräsidium gelagert hatten, daß von den im August 1916 versandten „Berichten“ 191 für Mitglieder des Reichstags und der württembergischen Ersten und Zweiten Kammer aufgegebene Exemplare, ohne daß ich von der Post benachrichtigt worden war, durch die Zensur beschlagnahmt wurden. Nun erst nach 2¾ Jahren konnten sie den Adressaten zugehen. Alle übrigen Sendungen waren, teils in geschlossenen Kuverts, teils in Paketen an Vertrauensleute expediert worden und von der Beschlagnahme nicht betroffen worden. Daß ausgesucht Reichstags- und Landtagsabgeordnete durch die Militärzensur, unter Geheimhaltung der Nichtablieferung, einer so wichtigen Informationsquelle beraubt werden konnten, damit hatte ich nicht gerechnet.
Wenn ich jetzt meinen damaligen „Bericht“ aufs neue herausgebe, so bewegt mich dazu, nächst dem Wunsch die Wahrheit über die Vorgänge in der Türkei bekannt zu machen, derselbe Grund, der mich bei der ersten Versendung bestimmte: die unsagbare Not der überlebenden Reste des armenischen Volkes, das fast nur noch aus bettelarmen Waisen, Witwen, Greisen und Elenden besteht, lindern zu helfen. Mag auch mit der Zeit darauf zu rechnen sein, daß die neubegründete armenische Republik, die 7 Monate nach dem Waffenstillstand auch heute noch weder ihre Grenzen noch ihre Existenzbedingungen kennt, diese Unglücklichen wieder in ihrer Heimat lebensfähig machen und die zwangsweise Islamisierten wieder zum Christenglauben zurückführen kann, so handelt es sich doch um eine halbe Million ausgeplünderter, heimatloser, überallhin versprengter Frauen, Mädchen, Kinder, deren Familien auseinandergerissen, deren Männer und Väter erschlagen, deren Mütter verhungert sind und denen sobald als möglich geholfen werden muß, wenn wenigstens dieser Rest am Leben bleiben soll. So schlimm es in unserm eigenen Vaterlande aussieht, an diesen Völkermord, den die Jungtürken auf dem Gewissen haben, reicht selbst unser Elend nicht heran. Wohl ist es allgemeine Menschen- und Christenpflicht – und Amerika hat damit den Anfang gemacht – dem armenischen Volke zu seinem Aufbau die Hand zu reichen. Aber wir Deutsche, obwohl wir die Beschuldigung einer Mitverantwortung von uns weisen, wollen umsomehr die Ehrenpflicht auf uns nehmen, für die Opfer der Schandtaten unseres Bundesgenossen einzustehen. Wir wissen, was es heißt, nicht nur dem Schwert, sondern dem Hunger zu unterliegen, auf jeden zweiten Mann ein Weib, ein Kind ins frühe Grab zu legen. Das armenische Volk aber hat alles das, was wir erlitten und mehr als das, unter unsagbaren Qualen und scheußlicher Tortur leiden müssen, vier lange Jahre den Untergang des ganzen Volkes vor Augen. Mag auch die halbe Welt des Rechtes sich begeben haben, zu beten: „Vater, gib uns unser täglich Brot“, – denn das will sagen: „gib nicht nur mir, gib allen Menschen, jedem Volk, Mann, Weib und Kind ihr täglich Brot“ – so wollen doch wir Deutschen, die wir von andern Christenvölkern vier Jahre lang aus ihrem Vaterunser ausgeschlossen waren, das unglücklichste der Völker, das gleich uns den Schwarzen Reiter mit der Wage in der Hand über die Leichen von Frauen und Kindern reiten sah, in unser Vaterunser einschließen und unser schmal gewordenes Brot mit ihnen teilen.
Ich wünsche die Mittel für mehrere tausend Waisenkinder aufzubringen und bitte jeden, der dieses Buch in die Hand bekommt, an seinem Teil dazu mitzuhelfen. Konnten wir das Verhängnis nicht abwenden, der Wiedergutmachung dürfen wir uns nicht entziehen.