Der Todesgang des armenischen Volkes/Zweiter Teil/Fünftes Kapitel

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5. Die Daschnakzagan.


Die Partei der Daschnakzagan („Verbündeten“) entstand Ende der achtziger Jahre. Sie war damals, ebenso wie die gegenwärtig in der Türkei herrschende jungtürkische Partei revolutionär. Ihre Führer standen in der absolutistischen Zeit mit den Führern des Komitees für Einheit und Fortschritt in enger Verbindung und arbeiteten mit diesen am Sturz des Hamidischen Regiments und der Einführung der Konstitution. Sie glaubten mit den Jungtürken, daß es nur durch die Einführung der Konstitution möglich sein würde, die verschiedenen Bevölkerungselemente des Osmanischen Reiches untereinander zu versöhnen und die Rassen- und Religionsgegensätze zu überbrücken. Auf ihrem Pariser Kongreß vom Jahre 1907 beschlossen die Daschnakzagan, alle nationalen Gruppen der Türkei durch die Losung „Einführung der Konstitution“ miteinander zu vereinigen. Auf ihre Einladung kamen Ende 1907 die Vertreter aller politischen Parteien der Türkei, die im Gegensatz zum Absolutismus Abdul Hamids standen, Jungtürken, Armenier, Griechen, Bulgaren, Israeliten, in Paris zusammen. Es gelang den Daschnakzagan die damaligen Führer der in Feindschaft lebenden jungtürkischen Gruppen, Achmed Riza und Prinz Sabaheddin, miteinander zu versöhnen. Auf diesem Kongreß übernahmen für den Fall des Gelingens ihrer Pläne die jungtürkischen Führer die folgenden Verpflichtungen:

1.
Sultan Abdul Hamid abzusetzen,
2.
in dem neuen konstitutionellen Staatswesen die bürgerliche Gleichberechtigung der Religionen und Nationalitäten einzuführen,
3.
das parteiische Verwaltungssystem, das die nichtmuhammedanischen Nationalitäten unterdrückte, dementsprechend abzuändern.

Einige Monate nach diesem Kongreß brach die Revolution aus und die Konstitution wurde eingeführt. Unbeschreiblicher Jubel herrschte damals in der ganzen muhammedanischen und christlichen Bevölkerung des Reiches. Christen und Moslems, Priester und Mollahs umarmten sich auf den Straßen. Man war im Rausch des Entzückens über die gewonnene Freiheit „ein einig Volk von Brüdern“ geworden. In Konstantinopel zog eine Prozession von türkischen Notabeln, Mollahs und Hodschas mit den Armeniern in die armenische Kirche der Dreieinigkeit, um dort große Reden zu schwingen und die armenischen Opfer der Verfolgungen Abdul Hamids zu beklagen. Die Türken sagten zu den Armeniern: „Ihr seid glücklich zu preisen, ihr wißt, wo eure von Abdul Hamid hingeschlachteten Opfer begraben sind; die unsrigen aber liegen auf dem Meeresgrunde oder sind in den Wüsten Arabiens verschwunden. Wir wollen mit euch auf euren Friedhof gehen und an den Gräbern eurer Toten, an deren Blut wir unschuldig sind, den Sieg der Freiheit feiern. Kommt ihr mit uns, um auf dem Befreiungshügel den Tag unserer Erlösung festlich zu begehen.“ So geschah es. Das Einvernehmen zwischen Christen und Moslems, Armeniern und Türken konnte nicht inniger sein, und alle Welt glaubte an eine glückliche Zukunft des Reiches.

Die jungtürkischen Führer hielten sich nicht an ihre Versprechungen. Abdul Hamid blieb auf dem Thron. Erst ein Jahr später mußte nach dem vorübergehenden Sieg der Reaktion die Absetzung Abdul Hamids nachgeholt werden. In den April 1909 fiel auch das Massaker von Adana, bei dem unter Mitwirkung von jungtürkischen Truppen 20 000 Armenier umgebracht wurden. Ein schlimmes Vorzeichen! Das Komitee für Einheit und Fortschritt hatte die früheren Zusagen seiner Führer, die die Gleichberechtigung der Nationalitäten und Religionen verbürgten, vergessen. Es wandte sich schnell einem panislamischen Programm zu, in der Hoffnung, so die türkischen Massen zu gewinnen und die reaktionäre Propaganda aus dem Felde zu schlagen. Trotzdem blieben die Daschnakzagan an der Seite der Jungtürken und hielten ihr politisches Zusammengehen mit dem Komitee für Einheit und Fortschritt aufrecht. In der Zeit ihrer gemeinsamen Verbannung waren sie Kameraden der jungtürkischen Führer gewesen, waren persönlich mit ihnen befreundet und waren entschlossen, ihnen treu zu bleiben. Trotz mancher Enttäuschungen und trotz des Massakers von Adana blieben sie der Überzeugung, daß einzig die jungtürkischen Führer (die gegenwärtig die Regierung des türkischen Reiches in Händen haben) aufrichtige Anhänger und Verteidiger der Konstitution seien. Dies ließ sie über manches hinwegsehen, was sie hätte zurückstoßen müssen. Aber auch die Jungtürken kamen, wenn sie eine Zeitlang ihre eigenen Wege gegangen waren, immer wieder zu den Daschnakzagan zurück. Sobald nämlich ihre eigene Herrschaft in Gefahr war, baten sie die Daschnakzagan um ihre Hilfe, machten ihnen größere Versprechungen als zuvor und rüsteten sie für den Fall eines Bürgerkrieges mit Waffen aus, um die Konstitution zu verteidigen. Solche Vereinbarungen wurden mündlich und schriftlich getroffen und von den jungtürkischen Führern mit ihren Namen unterzeichnet. Sobald die Letzteren wieder Oberwasser hatten, vergaßen sie ihre Versprechungen und fragten nichts nach dem Mißmut der Daschnakzagan. Als die Krisis des Jahres 1911 die Auflösung des Parlaments herbeiführte und die Jungtürken fürchteten, daß die Wahlen für sie ungünstig ausfallen könnten, näherten sie sich aufs neue den Daschnakzagan, schlossen ein Wahlabkommen mit ihnen ab und sicherten ihnen, entsprechend der armenischen Bevölkerungszahl von ca. 2 Millionen, 19 Parlamentssitze zu. Durch Unterschrift der angesehensten Vertreter des Komitees für Einheit und Fortschritt wurde das Wahlabkommen besiegelt. Gemeinsame Wahlaufrufe wurden unterschrieben und überall im Reich agitierten die Daschnakzagan für die Jungtürken. Als die Letzteren während der Wahlkampagne das Heft wieder in die Hand bekamen, richteten sie die Sache so ein, daß die Armenier nicht nur keine 19, sondern statt der früher innegehabten 12 nur 9 Sitze bekamen. Diese 9 Sitze waren überdies zum Teil mit Kreaturen des Komitees besetzt, die das Vertrauen der Armenier nicht besaßen. Trotz all dieser Enttäuschungen blieben die Daschnakzagan den Jungtürken treu, wie gesagt aus dem einzigen Grunde, weil sie sie für die einzig aufrichtigen Vertreter des konstitutionellen Prinzips hielten. Weder während des tripolitanischen Krieges noch während des Balkankrieges dachten sie daran, die Schwäche des Reiches für eigennützige Pläne auszunützen. So traten sie auch in den gegenwärtigen Krieg mit der Zuversicht ein, daß ihre seit sieben Jahren bewiesene Loyalität und Treue endlich ihre Früchte zeitigen würde.

Beim Ausbruch des europäischen Krieges, Ende Juli und Anfang August 1914, tagte im Theaterklub zu Erzerum mit Zustimmung des Ministers des Innern Talaat Bey ein Kongreß der Daschnakzagan. Die Möglichkeit eines russisch-türkischen Krieges mußte ins Auge gefaßt werden, und es wurde mit voller Aufrichtigkeit beschlossen, in diesem Falle strengste Loyalität gegen die osmanische Regierung einzuhalten und, gegen wen es immer sei, die Unabhängigkeit und Souveränität der Türkei mit bewaffneter Hand zu verteidigen. Die türkischen Armenier wußten, daß ihre Volksgenossen im Kaukasus gezwungen sein würden, im russischen Heere gegen die Türkei zu kämpfen. Das politische Programm der Daschnakzagan vertrat grundsätzlich den Standpunkt, daß die Zukunft des armenischen Volkstums in der Türkei besser gesichert sei, als in Rußland. Ihr Programm, das durch seine innere Logik für sich selbst spricht, beruhte auf folgendem Gedankengang:

Das armenische Volk, das in der Türkei gegen 2 Millionen, in Rußland gegen 1¾ Millionen zählt, kann weder in Rußland noch in der Türkei auf eine Autonomie rechnen. Es muß daher die Vorteile des Gleichgewichts zwischen diesen beiden Ländern benutzen, um seine nationale Eigenart zu schützen, die durch ein völliges Aufgehen in Rußland gefährdet wäre. Keine Nation ist so sehr an der Existenz der Türkei interessiert als die armenische. Denn nur im Zusammenhang mit einem größeren Staatswesen vermöchte sie wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung zu erlangen, vorausgesetzt, daß ihr normale Existenzbedingungen gegeben würden. Die Armenier selbst müßten eine Türkei schaffen, wenn sie nicht existierte, um an ihr einen Rückhalt gegen die russische Expansion zu haben.11)

Der Beweis, daß dieses Programm und die daraus folgende loyale Haltung gegenüber der jungtürkischen Regierung bis zu dem Tage der völlig unerwarteten Verhaftung und Verschickung ihrer Führer die strenge Richtlinie aller Absichten und Maßnahmen der Daschnakzagan gewesen und geblieben ist, kann lückenlos erbracht werden.

Zu dem Kongreß in Erzerum stellten sich auch zwei Mitglieder des jungtürkischen Zentralkomitees ein, Omer Nadji und Dr. Behaeddin Schakir, die mit den Führern der Daschnakzagan über die Mitwirkung der Armenier bei dem kommenden Kriege gegen Rußland verhandelten. Sie regten an, ob man nicht die Kaukasusarmenier gegen Rußland revolutionieren könne, wie man ein gleiches mit den Georgiern und Tataren des Kaukasus vorhatte. Die Daschnakzagan erklärten dies für nicht wohl möglich. Nach den Verfolgungen der Jahre 1903 bis 1905, bei denen der Statthalter des Kaukasus regelrechte Massakers unter den Armeniern durch die Tataren hatte veranstalten lassen, war mit der Übernahme der Statthalterschaft durch Fürst Woronzoff Daschkoff ein völliger Wechsel des bisherigen Systems eingetreten. Die über die Armenier verhängten Maßregeln, Entziehung ihres Kirchen- und Schulvermögens, wurden rückgängig gemacht, und die Kaukasusarmenier hatten sich wieder einer loyalen Behandlung von seiten der russischen Regierung zu erfreuen. Zwar dauerte die Unterdrückung der Partei der Daschnakzagan, die sich zu einem Werkzeug für die russische Regierung nicht hergab, noch an, aber die armenische Bevölkerung und die armenische Kirche hatte sich über keinerlei Repressalien zu beschweren. Ein den Russen genehmer Katholikos in Etschmiadzin wurde gewählt. Hätten die Jungtürken auch nur die gleiche Haltung gegen die armenische Bevölkerung der Türkei bis zum Kriege eingenommen, sie hätten nicht nur, wie es der Fall war, auf die Loyalität der türkischen Armenier rechnen können, sie würden vielleicht auch das Band zwischen den Kaukasusarmeniern und der russischen Regierung gelockert haben. Besonders eine Maßregel machte auf die russischen Armenier den allerschlechtesten Eindruck. Im Jahre 1913 war auf Drängen der Großmächte, insbesondere Rußlands, endlich ein Reformplan für die Verwaltung der von Armeniern bewohnten sieben östlichen Wilajets ausgearbeitet und damit ein Versprechen eingelöst worden, das die Türkei auf dem Berliner Kongreß im Jahre 1878 ihren armenischen Untertanen und den sechs Großmächten gegeben hatte. Die Ausarbeitung des Reformprogrammes war von seiten der übrigen Mächte Rußland und Deutschland als den wirtschaftlich am meisten an der Türkei interessierten überlassen worden. Der deutsche Botschafter, Baron von Wangenheim, hatte sich mit Erfolg bemüht, das Programm in Grenzen zu halten, durch die die Souveränitätsrechte der Türkei nicht angetastet wurden, um die Pforte zur Annahme des Programms willig zu machen. Am 26. Januar[WS 1]/8. Februar 1914 war das Programm von der Pforte angenommen worden. Zwei Generalinspektoren, der Holländer Westemenk und der Norweger Hoff, wurden berufen und trafen im Frühjahr in Konstantinopel ein. Bei Ausbruch des europäischen Krieges waren sie im Begriff, ihr Amt anzutreten. Hoff befand sich bereits in Wan. Sofort nach Ausbruch des europäischen Krieges nahm die Pforte das Reformprogramm zurück und schickte die Generalinspektoren nach Haus. Ein unverzeihlicher Fehler. Wären die Generalinspektoren im Lande geblieben, so hätten die Ereignisse, die zum Verlust von Wan führten, verhütet werden können und das Vertrauen des armenischen Volkes in die Aufrichtigkeit der Reformabsichten wäre nicht erschüttert worden.

Auch sonst erlebten die türkischen Armenier böse Enttäuschungen. Auf dem Kongreß von Erzerum war mit den jungtürkischen Führern vereinbart worden, daß ein bekannter Daschnakzagan, Alojan, in den Kaukasus gesandt werden sollte, um die russischen Armenier dazu zu bewegen, daß sie sich, soweit es in den Grenzen der Loyalität möglich war, zurückhalten und alle provokatorischen Handlungen vermeiden sollten, um nicht die Loyalität der türkischen Armenier zu kompromittieren. Alojan wurde auf der Reise nach dem Kaukasus, noch auf türkischem Boden, ermordet. Auch die Bewegungsfreiheit der Führer der türkischen Daschnakzagan wurde eingeschränkt. Der Minister des Innern Talaat Bey nötigte seinen Freund Aknuni und andere Daschnakzagan, wie Nostam und Wrazian, die sich in den Provinzen der gemeinsamen Sache widmen wollten, in Konstantinopel zu bleiben, um sie dort überwachen zu lassen. Durch diese Beweise eines illoyalen Mißtrauens wurde Garo Pastermadsjian, der Deputierte von Erzerum, derartig konsterniert, daß er Ende August, also 2½ Monate vor dem Ausbruch des russisch-türkischen Krieges, in den Kaukasus, wo er zu Haus ist und Fabriken besitzt, und von wo er lange Zeit verbannt war, zurückkehrte. Da er in Tiflis sein Geschäft hat, war das sein gutes Recht. Aber es war sein persönlicher Entschluß, der von allen andern Führern der Daschnakzagan mißbilligt wurde. Er hatte bis dahin mit ganzer Seele das Programm vertreten, daß das Schicksal des armenischen Volkes an das Schicksal der Türkei gebunden sei und war in seinem Herzen durchaus antirussischer Gesinnung gewesen. Sein impulsives Temperament aber hatte den Stoß, von dem sein Vertrauen getroffen war, nicht überwunden. Er kehrte in den Kaukasus zurück, hat aber niemals ein Gewehr abgeschossen und ist im Kaukasus tätig gewesen, um den Unterhalt der armenischen Flüchtlinge zu organisieren.

Noch eine Sache, die beiläufig auf dem Kongreß zu Erzerum zur Sprache kam, verdient erwähnt zu werden. Von kurdischer Seite war den Daschnakzagan der Vorschlag zugegangen, die Türkei im Stich zu lassen und gemeinsam die Waffen gegen die Regierung zu erheben. Der Vorschlag stammte von bekannten türkischen Kurdenscheichs, die, wie jedermann wußte, in russischem Solde standen und schon längst mit Rußland konspiriert hatten. Ebenso wurde von russischer Seite den Armeniern zugemutet, im Geheimen Waffen an die Kurden zu liefern. Beide Vorschläge wurden von der Schwelle weg abgewiesen. Die Daschnakzagan wollten nichts mit irgend welchen illoyalen Machenschaften und Verschwörungen gegen die Türkei zu tun haben.

Als der Ausbruch des russisch-türkischen Krieges in sicherer Aussicht stand, richtete das Bureau der Daschnakzagan in Konstantinopel an die Zentralkomitees am 10./23. Oktober eine Proklamation folgenden Inhalts:

„Kameraden, wie Sie wissen, hatte der achte Parteitag zu der anberaumten Zeit seine Arbeiten angefangen und beendet. Indem wir die Ausführung unserer Beschlüsse den lokalen Organisationen überlassen, wollen wir hiermit Ihre Aufmerksamkeit auf den Ernst der Lage lenken, in die unser Land infolge des allgemeinen Krieges versetzt wurde. Es ist jetzt mehr als je notwendig, alle Kräfte anzuspannen, um unser Volk vor einem Unglück zu bewahren. Um unsrerseits zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung und Sicherheit beizutragen, muß jeder Anlaß zu irgend welchen Zwischenfällen oder politischen Mißverständnissen unter den verschiedenen Elementen der Bevölkerung vermieden werden.
Indem wir Ihnen ein besonderes Maß von Arbeitskraft in diesen besonderen Zeiten wünschen, senden wir Ihnen unsere freundschaftlichen Grüße.
Das Bureau von Konstantinopel.“

Die weitere Korrespondenz des Bureaus, die bis zur allgemeinen Deportation vorliegt, bewegt sich unentwegt auf der Linie der Loyalität. Die Verbindung mit dem jungtürkischen Komitee, die zur Bestürzung der Führer allmählich abzureißen drohte, wird immer wieder angeknüpft. Nach und nach kommt die Sorge zum Ausdruck, daß die ungeordneten Zustände in den Provinzen und die panislamische Tendenz der Regierung eines Tages Anlässe zu einem Schlage gegen die christlichen Nationalitäten suchen könne. Mit wachsender Beängstigung werden die Symptome registriert, die dieser Befürchtung Recht zu geben scheinen. Jeder denkbare Weg wird beschritten, um die Regierung von der Loyalität der Daschnakzagan zu überzeugen. Die persönlichen Beziehungen der Führer der Daschnakzagan mit den jungtürkischen Führern werden angespannt, um das drohende Verderben aufzuhalten, bis endlich die schmerzliche Überzeugung zum Ausdruck gelangt, daß alle Loyalität und Treue der Daschnakzagan gegen das jungtürkische Komitee umsonst war und daß ihr Vertrauen nur dazu gemißbraucht wurde, um sie über die Absichten der türkischen Regierung zu täuschen.

Die Lektüre dieser Korrespondenz macht einen erschütternden Eindruck. Man sieht, wie sich ein Steinchen auf der Höhe eines Schneefeldes löst, wie der Ball ins Rollen kommt und wächst, bis endlich eine ungeheure Lawine in die blühenden Gefilde des armenischen Volkes niederrast und wahllos Dörfer, Städte, Besitz, Kultur und Menschenleben in einer ungeheuren Katastrophe begräbt.

Es ist notwendig, den Vorgängen, wie sie von Konstantinopel berichtet werden, im einzelnen zu folgen, um einen Einblick in den Zusammenhang der Ereignisse und in Tatsachen zu gewinnen, die, von fern betrachtet, kaum glaublich erscheinen.

Aknuni, ein Mann von hoher Bildung und weitem Horizont, der die gleichen Sympathien bei Türken wie bei Armeniern genoß, und als Führer der konstitutionellen Armenier sichtbar im Vordergrund stand, als Schriftsteller ebenso bedeutend wie als Mensch, war ein persönlicher Freund des allmächtigen Ministers des Innern Talaat Bey. Aknuni besucht Talaat Bey und spricht mit ihm über die Lage der Armenier in der Provinz. Darauf gibt Talaat den telegraphischen Befehl nach Erzerum, daß man die Armenier und insbesondere die Daschnakzagan gut behandeln solle.

„Es gibt in der Tat keine Ursache,“ heißt es nach der Mitteilung über diese Unterredung in der Parteikorrespondenz[1] (29. Sept./12. Okt. 1914), „weshalb die Regierung gegen uns Mißtrauen hegen könnte. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Sie wissen, daß unser Kongreß beschlossen hat, daß jeder Armenier seine Pflicht als ottomanischer Untertan erfüllen und sich willig der Mobilmachung unterziehen soll. Wir sind daher berechtigt zu erwarten, daß die Regierung unsere Loyalität anerkennt, denn wir sind bereit, alles, was in unsern Kräften steht, für die Aufrechterhaltung der Unantastbarkeit des Osmanischen Reiches und für die Verteidigung unseres Vaterlandes zu tun.“ (Schon damals waren in den Provinzen vielerlei Unregelmäßigkeiten und Übergriffe gegen die Armenier von seiten der Gendarmerie und der Lokalbehörden vorgekommen. Die Korrespondenz fährt daher fort:) „Bei dem Vorgehen gegen die Armenier im Innern scheint es sich nicht um Maßnahmen der Zentrale zu handeln, sondern um Maßregeln der Lokalbehörden. Wahrscheinlich verdanken wir dieses verfehlte Vorgehen verleumderischen Denunziationen (journals). Es ist traurig, daß dieses System aus der Zeit Abdul Hamids auch in die konstitutionelle Regierung Eingang gefunden hat, was böse Folgen haben kann.“

Einige charakteristische Auszüge aus der Partei-Korrespondenz, die den Lauf der Dinge wiederspiegeln, mögen hier folgen:

7./20. Oktober: „Wir erfahren, daß sich die Lage im Innern von Tag zu Tag verschlimmert. Infolge der allgemeinen Mobilisierung wurde der Belagerungszustand erklärt. Seitdem ist die ganze Lage verändert. Die Armenier haben der Mobilisierung Folge geleistet. Wir haben alles getan, was in unsern Kräften stand, und unsere Ratschläge gegeben, daß jeder Armenier seine Pflichten als ottomanischer Untertan erfülle. Immerhin hat es wie unter den Türken auch unter unserm Volk einige gegeben, die der Mobilisierungsorder nicht gefolgt sind; die Regierung hat sehr strenge Maßregeln gegen sie erlassen: die, welche sich nicht melden, werden damit bestraft, daß ihre Häuser verbrannt werden. Deserteure werden füsiliert. Leider treffen diese Füsiladen auch völlig Unschuldige. Im Wilajet Wan waren fünf solche Fälle. Ähnliches gab es in Cilicien.“

24. November/7. Dezember 1914: „Man hat weder Aknuni noch Scharikian erlaubt, Konstantinopel zu verlassen; man will die Führer der Daschnakzagan in der Hand behalten.“

26. Dezember/8. Januar 1914/15: „Es scheint, daß die Haltung der kaukasischen Armenier die Regierung enttäuscht hat. Man sieht dies aus ihrem Verhalten gegen die Armenier überhaupt und gegen die Daschnakzagan insbesondere. Nun ist es natürlich sehr schwer, unsere türkischen Freunde davon zu überzeugen, daß wir Daschnakzagan nicht nur keinen Anteil an dem Verhalten der russischen Armenier haben, sondern auch überzeugte Anhänger der Erhaltung der Türkei und Gegner der Einverleibung Armeniens in Rußland sind. Wir haben von Wan einen Brief vom 16/29. November erhalten, der die Lage als sehr schwierig schildert. Die Requisitionen haben den Charakter einer Ausplünderung angenommen; die Dörfer werden vollständig ausgeleert. Unter dem Vorwande der Bestrafung von Deserteuren haben die Gendarmen zahllose Häuser niedergebrannt und Güter konfisziert. Gegen die Muhammedaner, bei denen viel mehr Desertionen vorkommen, tut man nichts dergleichen. Neulich hat man alle Räuber amnestiert und bewaffnet. In einigen Orten hat man bekannte Verbrecher aus den Gefängnissen freigelassen und ihnen Waffen gegeben. Die Schritte unserer Kameraden bei der Regierung bleiben fast immer ohne Erfolg.“

Im Januar kommen die ersten Nachrichten über böse Zustände im Wilajet Erzerum. Die Daschnakzagan wenden sich an den Wali Tahsin Bey, der verspricht, binnen zwei Tagen die Missetäter, die in den Dörfern gehaust haben, zu bestrafen. Aber nach zehn Tagen geschieht dasselbe in anderen Dörfern. Die Armenier werden von Türken gewarnt. Zum erstenmal hören sie von dem „Plan einer allgemeinen Metzelei“.

20. Januar/2. Februar: Weitere beunruhigende Nachrichten aus den Wilajets Erzerum und Bitlis. „Hier in Konstantinopel ist das Mißtrauen der Regierung gegen die Daschnakzagan so groß, daß man mit ihr kaum über die Lage sprechen kann.“

20. Februar/5. März: Beunruhigende Nachrichten aus dem Wilajet Wan über Mißhandlungen und Totschläge in den Dörfern durch Gendarmerie und Tschettehs.

27. Februar/12. März: Nachrichten über ein Massaker in den Alaschkertdörfern, die nach dem Rückzug der russischen Armee (seit 22. 12. 14.) von Hamidieh-Kurden geplündert wurden. „Alle in den Dörfern zurückgebliebenen jungen Frauen und Mädchen wurden geraubt und gezwungen, den Islam anzunehmen. Als die Russen Mitte Januar zurückkamen, fürchtete die muhammedanische Bevölkerung wegen ihrer Untaten an der christlichen bestraft zu werden. Sie verließen mit ihren Familien die Dörfer und wurden von der Regierung in der Gegend von Malaskeri und Bulanek in armenischen Dörfern untergebracht. Die Flüchtlinge zählten ungefähr zweitausend Familien. In allen diesen Gebieten sind die Kurden und Tschettehs die einzigen Truppen, über die die Regierung verfügt. Es gibt nicht einen regulären Soldaten. Wären reguläre Truppen dagewesen, das Unglück wäre nicht geschehen. Man hat den Alai-Kurden die Verteidigung des Landes anvertraut. Welch ein ungeheurer Fehler der Regierung! Wahan Papasian (Parlamentsmitglied für Wan) tat Schritte bei der Regierung, daß die Muhadjirs (muhammedanischen Flüchtlinge) nicht in die Ebene von Musch geschickt würden. Der Mutessarif von Musch versprach, sie nach Diarbekir zu schicken, hat aber nicht Wort gehalten.“ Es folgen beunruhigende Nachrichten über die allgemeinen Zustände im Wilajet Wan und Siwas, besonders über Requisitionen und das Schicksal der als Lastträger ausgehobenen Armenier, die vielfältig unterwegs umkommen oder erschlagen werden. Dann kommen die ersten Nachrichten aus Cilicien, Dört-Jol und Hadjin, mit der Schlußfolgerung: „Die Absicht der Regierung scheint darauf hinzugehen, die Armenier aus ihren Zentren zu entfernen. Obwohl wir mit ganzem Herzen unsere Bürgerpflicht erfüllen, mißtraut uns doch die Regierung mit ungerechtfertigtem Zweifel. Hier in Konstantinopel fangen die Türken an, die Stadt zu verlassen und nach Eskischeher und Konia überzusiedeln; falls die Dardanellen forciert werden sollten, soll der Sitz der Regierung nach Konia verlegt werden. Auch das Patriarchat wurde davon benachrichtigt, daß es in diesem Falle mitüberzusiedeln habe.“

2./15. März: „Das Memorandum von Wramjan hat nichts genützt und nur die Regierung gegen ihn eingenommen. so daß sein Leben in Gefahr ist.“

11./24. März: „Aus offiziellen Quellen hören wir, daß es in Zeitun einen Zusammenstoß gab.“ Folgen weitere Nachrichten über Untaten von Gendarmen im Wilajet Bitlis, in Terdjan und Baiburt.

Aus Baiburt wird geschrieben: „Die ganze Bevölkerung lebt unter dem Albdruck eines allgemeinen Massakers. Die Regierung hat Befehl gegeben, daß alle armenischen Soldaten entwaffnet werden sollen. Im Falle auch des unbedeutendsten Anlasses sollen alle niedergemetzelt werden.“

20. März/2. April 1915: Aus den Wilajets Erzerum und Bitlis wird wachsende Beunruhigung über die Plünderungen in den Dörfern und die allgemeine Unsicherheit gemeldet. Die ökonomische Lage der Armenier ist entsetzlich, sie werden allmählich zu Bettlern gemacht. Weder im Frühjahr noch im Herbst konnte man die Felder besäen. „Die Furcht vor einem allgemeinen Massaker hängt über unsem Häuptern. Die Türken sagen zu uns: ,Ihr Armenier seid an dem Unglück dieses Krieges schuld, und wir werden euch vernichten.' Es ist die höchste Zeit, die Aufmerksamkeit auf die Zustände in Armenien zu lenken, sonst werden wir statt eines Armenien bald nur einen Haufen von Ruinen haben.“

In Konstantinopel hatte sich bis dahin nichts ereignet, was befürchten ließ, daß die Regierung gegen das armenische Element in der Hauptstadt einschreiten könnte. Gründe zu einem Mißtrauen gegen die loyale Bevölkerung lagen nicht vor. Ebensowenig hatte man den Führern der Daschnakzagan oder dem Patriarchat etwas vorzuwerfen. Da kam am 18./31. März das erste Anzeichen, daß hinter den Kulissen der Regierung etwas vorging. Das weitere Erscheinen der Tageszeitung „Azatamart“, des Organs der Daschnakzagan, wurde ohne sichtbaren Grund vom Kriegsgericht verboten. Als Vorwand diente ein Artikel über die Verwaltung der protestantisch-armenischen Gemeinden. Einer der Redakteure des Azatamart, der persischer Untertan war, wurde verhaftet und trotz der Intervention des persischen Konsuls ins Innere verschickt.

Noch niemand wußte, was dies Vorgehen zu bedeuten hatte. Nur merkte man, daß die Regierung ein auffallendes Mißtrauen gegen die Armenier hege, für das man Gründe nicht ausfindig machen konnte. Die ungewisse und schwüle Stimmung hielt noch drei Wochen an. Man ahnte nicht, was inzwischen vorbereitet worden war. Da, am Sonntag, den 12./25. April, wurde die armenische Bevölkerung von Konstantinopel von einer fast unglaublichen Kunde überrascht.

Am Sonnabend war seit dem frühen Morgen die ganze Polizei in Bewegung. Nach einer vorbereiteten Liste nahm man den Tag über einzelne Verhaftungen vor. Dann fanden von neun Uhr abends bis Sonntag früh ununterbrochen Verhaftungen statt. Fast alle, im Vordergrunde des öffentlichen Lebens stehenden Armenier, besonders auch die Führer der Daschnakzagan, wurden verhaftet und mit ihren Tresors und Papieren in Automobilen auf die Polizei gebracht. Von Mitternacht an wurde die Redaktion von Azatamart besetzt, alle Insassen verhaftet, das Haus geschlossen. Ein Gendarm bewachte das Tor. Aknuni wurde in seiner Wohnung verhaftet, wo sich gerade auch zwei andere Führer der Daschnakzagan, Wartkes und Heratsch, befanden. Der letztere ging zur Redaktion des Azatamart, wo man ihn auch verhaftete. Am nächsten Morgen waren 235 Armenier, die führenden Männer aus der besten Gesellschaft, in den Händen der Polizei und wurden sofort ins Innere abtransportiert.

Die beiden armenischen Parlamentsmitglieder Wartkes und Sohrab, persönliche Freunde von Talaat Bey und anderen hervorragenden Mitgliedern des jungtürkischen Komitees, hatte man noch auf freiem Fuß gelassen. Sie gingen zu Talaat Bey, um ihn um eine Erklärung der unbegreiflichen Vorgänge zu bitten. Talaat Bey antwortete: „Die Euren sind von den Bergen herabgekommen und haben Wan mit Hilfe der armenischen Stadtbevölkerung besetzt.“ (Die Armenier von Konstantinopel wußten noch nichts von den Vorgängen in Wan, die offenbar am gleichen Tage sofort telegraphisch nach Konstantinopel gemeldet waren und die Verhaftung der armenischen Führer zur Folge hatte. Die Annahme von Talaat Bey, daß auswärtige Armenier nach Wan gekommen seien und die dortigen Ereignisse veranlaßt hätten, war irrtümlich. Vergleiche die eingehende Darstellung in dem Bericht S. 81 ff.) Auf die Frage von Wartkes, warum man denn völlig Unbeteiligte verhafte, antwortete Talaat Bey: „Ich konnte mich dem nicht widersetzen.“ Er gab noch Wartkes den freundschaftlichen Rat, sich nicht öffentlich zu zeigen. Wartkes ging darauf zu dem Polizeichef Bedri Bey und sagte zu ihm: „Soweit habt ihr die Sache kommen lassen.“ Bedri Bey antwortet: „Djanum (meine Seele), was haben wir getan?“ Wartkes: „Ihr geht darauf aus, unser Volk aufzureizen und zur Verzweiflung zu treiben.“ Bedri Bey: „Ich gebe dir drei Tage Zeit, Konstantinopel zu verlassen und dich an einem nur von Türken bewohnten Ort niederzulassen.“ Wartkes: „Meine Frau ist krank, ich brauche wenigstens zehn Tage.“ Bedri Bey: „Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe.“

An anderen Stellen wurde geantwortet, „die Regierung habe zwar keinen bestimmten Verdacht, aber sie fürchte, es könne etwas geschehen, darum habe man aus Vorsicht die Verhaftungen vorgenommen“.

Zu den Verhafteten gehörten die folgenden Personen: Aknuni, allbekannter Publizist und Politiker, Parlamentsmitglied; Zartarian, Redakteur des Azatamart; Chajak, Heratsch, führende Daschnakzagan; Schahbas, Jurist; Schahmil, Jurist; Mowses Pedrosian, Jurist; Scharikian, Advokat; Kalfajan, Bürgermeister von Makriköj; Dr. Daghavarian, Arzt, Vizepräsident der armenischen Nationalversammlung; Dr. Torkomian, Präsident der Ärztegesellschaft, einer der ersten Ärzte von Konstantinopel; Dr. Paschajan, Arzt; Dr. Mirza Gendjian, Arzt; Dr. Nergiledschian, Arzt; Jirair, Verleger; Stepan Kürkdjian, Verleger; Adom Schahin, Druckereibesitzer; Diran Kelekian, Redakteur von „Sabah“; Ketschian, Redakteur von „Byzantion“ (Konservatives armenisches Organ); Gigo und Gawrosch, bekannte Herausgeber humoristischer Blätter; Hamparzumian, Journalist; Djavuschian, Schriftsteller; Tigran Tschögürian, Schriftsteller; Aram Andonian, Publizist: Artasches Harutunian, Kritiker; Jerwand Odian, bekannter Humorist; Siamanto, Dichter: Warujan, Schuldirektor und Dichter; Marsbeduni, Pädagoge[WS 2] (österreichischer Untertan) ; Dr. Barseghian, Gelehrter; Leon Larenz, Novellist; Melkom Gürdjian, Armenist und Schriftsteller (Pseudonym Herant); Aram Tscharek, Dichter; Erzbischof Hemajak; Wartabed Valakian; Wartabed Komitas (beide haben in Deutschland studiert); Wartabed Hovnan; Priester Hussik; Kerowsaljan, protestantischer Pfarrer; Nerses Sakarian, Aram Aschott, bekannte Intellektuelle, des weiteren alle Mitglieder der Klubs von Skutari und Kumkapu. Viele Doktoren, Apotheker, bekannte Priester, kurz alle im Vordergrund stehenden Männer.

Von diesen wurden später 8 wieder freigelassen, darunter der Jurist Pedrosian als bulgarischer Untertan, die Ärzte Dr. Torkomian und Dr. Nergiledschian, der Redakteur Kelekian, der Pfarrer Kerowsaljan und die beiden Wartabeds Balakian und Komitas. Der letztere, ein bekannter Musikgelehrter, soll auf Fürsprache des † Thronfolgers Prinz Jussuf Izzeddin frei gekommen sein. Die Sultanfamilie ist bekanntlich sehr musikalisch.

In der nächsten Zeit folgten methodisch weitere Verhaftungen, so daß im Ganzen gegen 600 armenische Intellektuelle von Konstantinopel ins Gefängnis wanderten. Nur sehr wenige wurden davon auf besondere Fürsprache nachträglich wieder freigelassen und aus dem Verbannungsort zurückgeschickt.

Zugleich mit den Verhaftungen begannen die peinlichsten Nachforschungen und Haussuchungen, die noch geraume Zeit fortgesetzt wurden, in der Hoffnung, irgendwelche Schuldbeweise zu finden, durch die die Verhaftungen nachträglich begründet werden konnten. Sogar in den Schulen von Gedik Pascha, Kumkapu, Jenikapu, Psamatia, in den Kirchen und im Patriarchat wurde alles durchwühlt, in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, woraus man einen Schuldbeweis für die Armenier konstruieren konnte. Aber es fand sich nichts. Das Resultat aller Nachforschungen war gleich Null. Wenn man den Maßstab eines Rechtsstaates anlegen will, ein beschämender Beweis für die Grundlosigkeit der Verhaftungen.

Von seiten des Patriarchats und aller Instanzen, die etwa in Frage kamen, wurden Schritte getan, um womöglich noch der Verschickung Einhalt zu tun und Sicherheiten zu erwirken, die einer weiteren Ausdehnung der Maßregel Schranken setzen könnten. Die Verschickung aber nahm unbehindert und ungestört ihren Verlauf. Von führenden Persönlichkeiten waren Sohrab und Wartkes zurückgeblieben.

Der Abgeordnete Sohrab gehörte nicht zu den Daschnakzagan. Er war Parlamentsmitglied für Konstantinopel und stand in nahen persönlichen Beziehungen zu den führenden Männern der türkischen Regierung. Als im März 1909 die jungtürkische Regierung gestürzt worden war und Abdul Hamid wieder das Heft in die Hand bekam, war das Leben der jungtürkischen Führer keinen Pfennig Wert. Damals flüchteten sich die Männer, die gegenwärtig an der Macht sind, in die Häuser ihrer armenischen Freunde. Halil Bey, Minister des Auswärtigen,[2] der heute neben Talaat Bey und Enver Pascha den größten Einfluß besitzt, floh damals in die Wohnung seines Freundes Sohrab, der ihn mit eigner Lebensgefahr 14 Tage bei sich versteckt hielt, bis die Reaktion niedergeworfen und Sultan Abdul Hamid entthront war. Mahmud Schewket Pascha und Talaat Bey hatten sich ebenfalls bei ihren armenischen Freunden versteckt, andere Jungtürken waren in die Redaktion des Azatamart geflüchtet. Auch in den Provinzen fanden die Jungtürken bei den Armeniern Schutz vor ihren reaktionären Feinden. In Erzerum brachten die Daschnakzagan die jungtürkischen Führer in die Konsulate und in ihre Häuser, und als ein Teil von ihnen gefangen nach Baiburt transportiert wurde, eskortierten die Daschnakzagan den Transport, um ihre politischen Freunde vor einem Überfall zu schützen. Obwohl sich inzwischen in den freundschaftlichen Beziehungen zwischen Jungtürken und Daschnakzagan nichts geändert hatte, waren jetzt alle diese Dienste vergessen und die damaligen Lebensretter wurden gleich allen andern führenden Armeniern in die Verbannung geschickt. Der Abgeordnete Sohrab hatte auch sonst sich als wertvoller[WS 3] Mitarbeiter der jungtürkischen Regierung erwiesen. Als hervorragender Jurist wurde er von den Führern der Regierung um die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen gebeten, auch in der Kammer war er unermüdlich in den Kommissionen tätig. Auch Wartkes[3], Parlamentsmitglied für Erzerum, der unter Abdul Hamid 7½ Jahre im Gefängnis war, war ein persönlicher Freund der führenden Männer. Ihren persönlichen Beziehungen zu Talaat Bey dankten es die Abgeordneten Sohrab und Wartkes, daß sie zunächst noch nicht verschickt wurden.

Bei der Schließung des Redaktionslokales der Zeitung Azatamart war der Kassenbestand von 450 türkischen Pfund und alles vorrätige Papier beschlagnahmt worden. Da nicht nur die Redakteure, sondern auch alle Setzer, der Portier und alle Leute, die zufällig im Hause waren, verhaftet und verschickt worden waren, wünschte man wenigstens so viel zu erreichen, daß das beschlagnahmte Geld zu Gunsten der Familien der Redakteure und Angestellten der Zeitung verwendet werden möchte. Talaat Bey versprach, die Sache zu regeln. Wegen dieser und ähnlicher Verhandlungen blieben Sohrab und Wartkes noch mit den Männern der Regierung in Verbindung. Sie versuchten auch das Los der Verschickten zu erleichtern.

Als Verschickungsort der 600 Notabeln von Konstantinopel waren drei nur von Muhammedanern bewohnte Plätze in der Nähe von Angora bestimmt worden. Die Männer, die bisher politisch tätig gewesen waren, wurden nach dem Dorf Ajasch bei Angora geschickt, die mehr unpolitischen Intellektuellen nach Tschangri (einem Städtchen zwischen Angora und Kastamuni) und nach Tschorum (zwischen Tschangri und Amasia). In Angora sollte ein Kriegsgericht gebildet werden, um über die Verschickten abzuurteilen. Später scheint man, da sich kein Material zu Anklagen fand, von einem Rechtsverfahren Abstand genommen zu haben. Dagegen beschloß man, die hauptsächlichsten Führer noch weiter ins Innere zu transportieren, über Adana und Aleppo bis nach Diarbekir.

Wartkes und Sohrab blieben zunächst noch in Konstantinopel. Kam Wartkes zu seinen jungtürkischen Freunden, so hieß es: „Warum kommen Sie nicht öfter?“ Es schien, als ob man auf freundschaftlichem Wege noch etwas erreichen könnte. Vielleicht war die Verschickung der Intellektuellen nur eine Vorsichtsmaßregel gewesen. Die jungtürkischen Führer hatten Grund, ein schlechtes Gewisien gegenüber ihren armenischen Freunden zu haben. Versprechungen, die sie in der Zeit der Not gemacht hatten, waren nicht gehalten worden, und die Reformen wurden in dem Augenblick, wo sie verwirklicht werden sollten, wieder rückgängig gemacht. Vielleicht schlossen die Jungtürken von sich auf ihre armenischen Freunde und dachten, daß sie in solchem Falle ihren politischen Kameraden die Treue nicht gehalten, sondern auf Rache gesonnen hätten. So mochte das Vorgehen gegen die Daschnakzagan aus dem schlechten Gewissen der jungtürkischen Führer erklärbar sein. Da aber die Daschnakzagan ein gutes Gewissen hatten, versuchten sie immer noch, die Männer der Regierung von ihrem Irrtum zu überzeugen, ohne zu verhehlen, wie sehr sie sich durch das Vorgehen ihrer Freunde gegen sie persönlich verletzt fühlten. Noch am 1. Mai schrieb Wartkes an seine Parteifreunde: „Das Unglück unserer Kameraden hat uns gelehrt, daß unsere loyale Haltung der Regierung gegenüber völlig vergeblich gewesen ist. Vielleicht kann man die Maßregel, wenn auch nicht verhindern, so doch wenigstens mäßigen. Wir bemühen uns, die Regierung davon zu überzeugen, daß wir keine separatistischen Bestrebungen haben und keine andere Souveränität als die des Sultans wünschen. Wir sehen deutlich, daß die Regierung nicht davon überzeugt ist, wir hätten eine revolutionäre Bewegung gegen sie organisiert und seien ihre Gegner. Sie ist beinahe vom Gegenteil überzeugt, denn die Haussuchungen und Nachforschungen, bei denen nichts gefunden wurde, waren ein vollständiges Fiasko. Nur die Ereignisse in Wan und Siwas (Schabin-Karahissar) haben sie irre gemacht, so daß sie eine allgemeine Bewegung zu fürchten schien. In den Provinzen wird die Lage immer schlimmer. Wir können ihnen auf keine Weise begreiflich machen, daß alles, was im Innern vorgeht, das Ergebnis der schlechten Aufführung ihrer Beamten ist. Die Erklärung des Belagerungszustandes hat die Bedingungen dafür geschaffen, und der allgemeine Kriegszustand hat die Beamten in die Lage gesetzt, straflos alles zu tun, was ihnen beliebt.“

Am 12. Mai besuchte Wartkes Talaat Bey in seinem Hause. Talaat Bey war nicht imstande, irgendwelche revolutionären Pläne der Daschnakzagan als Ursache der Verschickung geltend zu machen. Bezeichnenderweise griff er auf die früheren Reformbestrebungen der Armenier, die ja auch die Ursache der Massakers unter Abdul Hamid gewesen waren, zurück.[4]

Talaat sagte zu Wartkes: „In den Tagen unserer Schwäche“ (nach der Rückeroberung von Adrianopel!) „seid ihr uns an die Kehle gefahren und habt die armenische Reformfrage aufgeworfen. Darum werden wir die Gunst der Lage in der wir uns jetzt befinden, dazu benutzen, euer Volk derart zu zerstreuen, daß ihr euch für fünfzig Jahre den Gedanken an Reformen aus dem Kopf schlagt!“ Wartkes erwiderte darauf: „Also beabsichtigt man das Werk Abdul Hamids fortzusetzen?“ Talaat antwortete: „Ja.“.

Am 21. Mai besuchte Wartkes den Chef der Polizei Bedri Bey, um die in der Redaktion der Zeitung Azatamart beschlagnahmten Gelder in Empfang zu nehmen und ein Wort für die Kranken unter den Verschickten einzulegen. In seiner Abwesenheit drangen 15 Polizisten in sein Haus ein, um dort eine Haussuchung vorzunehmen. Zur selben Zeit wurde der Abgeordnete Sohrab in seinem Hause verhaftet.

Weder Wartkes noch Sohrab kamen zu den Ihrigen zurück. Sie wurden in der Nacht nach Konia abtransportiert.

Von Ajasch richteten die verhafteten Führer der Daschnakzagan an Talaat Bey folgendes Schreiben:

„Die Organisation (der Daschnakzagan), die alle ihre Bemühungen mit den Ihrigen vereinigt hatte, um an der Wohlfahrt und dem Fortschritt des Reiches zu arbeiten, befindet sich heute in einer so befremdlichen und unbegreiflichen Lage, daß diese Tatsache allein für Sie hätte genügen müssen, um diesem beschämenden Zustande ein Ende zumachen. Man sollte bedenken, daß ein derartiges Verhalten der türkischen Regierung gegenüber der Vertretung des armenischen Volkes die Beziehungen zwischen den beiden Nationen stören und die beiden Volkselemente einander entfremden muß. Wir hätten uns nie träumen lassen, daß wir nach unserer gemeinsamen Arbeit eines Tages gezwungen sein würden, von hieraus telegraphisch mit Ihnen zu verhandeln.

Aknuni.     Zartarian.     Dr. Paschajan.“

Die Führer der Daschnakzagan waren immer noch der irrigen Meinung, daß es sich bei all dem, was vorgegangen war, um etwas wie einen Irrtum handeln müsse. Aber die Gründe, mit denen die Daschnakzagan die Regierung von der Unnatürlichkeit und der Unvernunft ihres Vorgehens zu überzeugen suchten, konnten keinerlei Eindruck mehr erzielen. Die Vorstellung, daß „die Beziehungen“ zwischen Türken und Armeniern „gestört“ werden würden, konnte die Regierung wirklich nicht rühren, da sie ja die Absicht hatte, das ganze armenische Volk zu zerstören, so daß von Beziehungen überhaupt nicht mehr die Rede sein konnte. Es war aber begreiflich, daß die Armenier, da sie sich keiner Illoyalität gegen die Regierung bewußt waren, erst aus ihren Illusionen herausgerissen wurden, als durch die allgemeine Deportation klar geworden war, welchen Sinn die Verschickung der Intellektuellen von Konstantinopel und die gleichzeitigen Verhaftungen von Notabeln in allen Zentren des Innern hatte.

Da man sich von verschiedenen Seiten für Wartkes und Sohrab verwendete, wurde ihren Angehörigen versprochen, beide wieder zurückzurufen. Die Verwendung hatte aber nur die Folge, daß Wartkes und Sohrab von Konia nach Adana, von Adana nach Aleppo und von Aleppo nach Diarbekir weitertransportiert wurden. Eines Tages wurde der Frau von Sohrab telephonisch von der Pforte mitgeteilt, ihr Mann sei gestorben. Von Wartkes wurde behauptet, er habe sich das Leben genommen.12) Über das Schicksal der übrigen Intellektuellen von Konstantinopel hat man nichts mehr gehört.

Das Damoklesschwert der Verschickung hing über den Armeniern der Hauptstadt.

Am 29. April wurde die armenische Bevölkerung von Konstantinopel aufgefordert, alle Waffen abzuliefern, was ohne Zwischenfall oder Störung der Ordnung innerhalb zehn Tagen geschah. Während des Balkankrieges hatte man nur Gewehre und Revolver abverlangt, jetzt auch alle harmlosen Antiquitäten und Raritäten, Yatagans, Messer und dergleichen. Die Waffen wurden registriert und Quittung dafür erteilt. Trotz gründlichster Haussuchungen wurden nirgends kompromittierende Papiere gefunden und ebensowenig die eifrig gesuchten Bomben. Doch nein, bei einem Krämer fand man alte Eisenkugeln aus der Zeit Muhammeds des Eroberers, die er als Gewichte für seine Wage gebrauchte. Er wurde sofort wegen des Besitzes von Bomben verhaftet.

Da von seiten der Botschaften wiederholt der Pforte die ernstesten Vorstellungen wegen der Maßregeln gegen die Armenier gemacht worden waren, nahm man von einer Ausdehnung der Deportationsmaßregel auf die armenische Bevölkerung von Konstantinopel und Smyrna Abstand. In der Stille aber wurde auch die Verschickung von Konstantinopeler Armeniern fortgesetzt. Im ganzen sollen gegen 10 000 abgeschoben worden sein, von deren Verbleib man nichts erfahren hat.

Auch die Bemühungen, nachträglich Schuldbeweise für die verhafteten Daschnakzagan zu entdecken, wurden fortgesetzt. Man wollte die Führer der Daschnakzagan, da man ihnen sonst nichts vorwerfen konnte, mit den Vorgängen in Wan in Verbindung bringen, von denen sie überhaupt nichts wußten. Da Beweise nicht vorhanden waren, wurde ein armenischer Kaufmann, Aghadjanian aus Erzerum, Protestant, der als Importeur in Konstantinopel lebte und mit nach Ajasch gebracht worden war, nach Konstantinopel zurücktransportiert. Im Gefängnis legte man ihm ein Dokument vor, in dem er aussagen sollte, daß die deportierten Abgeordneten und Daschnakzaganführer Sohrab, Wartkes, Aknuni, Hajak, Minassian, Daghavarian, Djanguljan eine Revolution vorbereitet, Aufstände in Wan und Zeitun organisiert und alle Fäden in ihrer Hand gehabt hätten. Durch die Folter versuchte man ihn zu zwingen, das Dokument zu unterschreiben. Als er sich standhaft weigerte, Aussagen zu unterschreiben, die, wie er wußte, vollständig erlogen waren, wurde die Folterung mehrere Tage fortgesetzt. Endlich soll er nach drei Wochen, nachdem er durch die Qualen halb um seinen Verstand gekommen war, ein anderes Schriftstück unterschrieben haben, das Aussagen gegen Sohrab und Wartkes enthielt.


4. Nachträge.


1) Die letzte Phase der Verfolgungsgeschichte spielte sich im Kaukasus ab, als nach dem Frieden von Brest-Litowsk die russische Armee sich zurückzog und den Kaukasus der Invasion der türkischen Truppen preisgab. Über die Vorgänge im Kaukasus vgl. „Deutschland und Armenien 1914–1918“. Sammlung diplomatischer Aktenstücke, hersg. und eingel. von Dr. Johannes Lepsius. Der Tempelverlag in Potsdam 1919. Einl. S. XLV und die Aktenstücke d. Js. 1918, S. 365 ff.

2) Über Nazareth Tschauch und die Entstehung der Unruhen in Zeitun vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. IX ff. und die Berichte von Konsul Roeßler, Aleppo, Aktenstücke Nr. 11 und 25.

3) Die Gesamtzahl der Deserteure, die, aus Christen und Muhammedanern bestehend, schon vor dem Kriege seit 1913 sich in die Berge geflüchtet hatten, betrug zu der Zeit nach Mitteilung von Herrn Konsul Roeßler etwa 150. Der Verlust der Toten und Verwundeten bei dem Angriff auf das Kloster wird von ihm auf „eine Anzahl Toter und Verwundeter“ angegeben.

4) Die Zahl von 20 000 Seelen umfaßt auch die Dörfer in der Umgegend von Zeitun.

5) Über die Vorgänge in Dörtjol sind nähere Berichte in dem deutschen Konsularbericht aus Adana vom 13. März 1915 gegeben. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 19.

6) Über die Vorgänge in Urfa siehe die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Roeßler von Aleppo, Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 193, 202 und 226 Anl. 1. Am 19. und 20. August fanden Massakers statt, bei denen etwa 200 Armenier getötet wurden. Am 29. September setzten sich die Armenier, um der drohenden Deportation zu entgehen, in Verteidigungszustand in ihrem Stadtviertel. Vom 4. bis zum 15. Oktober währte die Belagerung des Viertels durch türkische Truppen, wobei diese 50 Tote und 120 bis 130 Verwundete hatten. Die männliche armenische Bevölkerung der Stadt wurde, nachdem der Widerstand gebrochen war, zum größten Teil getötet, die Frauen und Kinder deportiert. Die Stadt zählte vor der Deportation etwa 20 000 Armenier.

7) Dazu schrieb Prediger J. Spörri, Leiter der Station Wan des deutschen Hilfsbundes für Christliches Liebeswerk im Orient, am 7. 10. 1916 aus Zürich an den Verfassen

„Als am 20. 4. 15 die Feindseligkeiten vor meinen Augen ausgebrochen waren und in schauerlicher Weise auf uns geschossen wurde, war ich gedrungen, an den Wali zu schreiben. Ich erzählte den Anfang der Feindseligkeiten, teilte mit, daß wir dem Kugelregen ausgesetzt seien, ersuchte, da ich annehmen mußte, daß solches unmöglich nach dem Wollen des Walis sein könne, um weitere Vermeidung solcher Handlungen und bat, die Streitigkeiten friedlich zu ordnen. Mit meinem Schreiben ging ich zu Dr. Usher (es war das ein gefährlicher Weg, da unaufhörlich geschossen wurde), las ihm den Inhalt vor und veranlaßte ihn, von seiner Seite ein Gleiches zu tun. Der Brief vom 23. 4. von Djevdet Bey war die Antwort auf unser Schreiben. Übrigens hatte ich die Verteidiger gebeten, sie möchten sich von der Front unserer Station zurückziehen, da sie das Feuer auf uns zögen. Ich hatte die Genugtuung, daß mein Wunsch erfüllt wurde. Freilich war auch so von einem Aufhören des Feuers gegen uns nicht die Rede.“

8) Auch der Wali Rachmi Bei wurde schließlich, wenn auch erst ein Jahr nach der allgemeinen Deportation, durch den Befehl der Regierung von Konstantinopel gezwungen, den Befehl zur Deportation zu geben. Lediglich dem Einschreiten des Oberbefehlshabers General Liman von Sanders, der mit militärischem Widerstand drohte, ist es zu danken, daß die Deportation der Armenier von Smyrna nicht zur Ausführung kam. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LIX und die Aktenstücke Nr. 306, 307, 308.


9) Vgl. den fesselnden Bericht über die Flucht der Armenier von Suedije von Pastor Digran Andreasjan, der im Anhang von Lepsius, Dtschl. und Arm. abgedruckt, auch im Tempelverlag in Potsdam separat erschienen ist, „Suedije, eine Episode aus den Armenierverfolgungen des Jahres 1915.“ M. 0,50.

10) Durch Gesetz vom 1. August 1916 wurde ein Jahr darauf die alte Kirchenverfassung der gregorianischen Kirche zerstört und das Patriarchat von Konstantinopel in das Kloster Mar Jakub in Jerusalem verlegt. Erst nach dem Sturz der jungtürkischen Regierung und dem Zusammenbruch der Türkei wurde das Gesetz wieder aufgehoben.

11) Nach dem Zusammenbruch der Türkei ist das ursprüngliche Programm der Daschnagzagan natürlich gegenstandslos geworden. Auf den Glücksfall, daß die beiden Feinde der Armenier, die Türkei und Russland, gleichzeitig zusammenbrechen würden, so daß für ein völlig unabhängiges Groß-Armenien Raum wurde, konnte kein politisches Programm im voraus rechnen.

12) Wartkes wurde zusammen mit Sohrab auf dem Wege von Urfa nach Diarbekir durch die begleitenden Gendarmen auf Befehl der Regierung ermordet. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. 109.

13) Die Polizei in Konstantinopel hat nachträglich zwei Bilderbücher mit Haufen von Gewehren, Bomben, Fahnen und dergl. veröffentlicht, die nur Unkundige über den Wert solcher Machwerke täuschen können. Eine Charakteristik dieser Publikation hat die Deutsch-Armenische Gesellschaft veröffentlicht.

14) Vgl. den Bericht des deutschen Botschafters Freiherrn von Wangenheim in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 38. „Die Behauptung, es lägen Beweise vor, daß für den Tag des Thronbesteigungsfestes ein Putsch beabsichtigt gewesen sei, erklärte Talaat Bey für unzutreffend.“ Die Pforte selbst erklärte offiziell die Verschickung der Konstantinopler Intellektuellen nur für eine Vorbeugungsmaßregel.

15) Die letzte türkische Lesung lautete, daß alle 180 000 Muselmanen von den Armeniern massakriert worden seien. Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXIII f.

16) Vgl. dazu die Berichte des deutschen Konsuls Herrn Anders in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 5, 6 und 10.

17) Das später erschienene Communiqué der türkischen Regierung über die Vorgänge in Urfa wird von dem deutschen Konsul Herrn Roeßler in Aleppo in seinem Bericht vom 16. November 1915 einer Kritik unterzogen. Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 202.

18) Vgl. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl Kap. V, 5: Die offizielle Motivierung. S. LXVI ff.

19) Vgl. die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln ebenda S. LXXVI ff.

20) Vgl. das Urteil des deutschen Botschafters Graf Wolff-Metternich in Lepsius, Dtschl. und. Arm. Nr. 287.

21) Vgl. die Urteile deutscher Konsuln in Lepsius, Dtschl. und Arm. S. LXXVI ff.

22) Wäre die Türkei siegreich aus dem Krieg hervorgegangen, so wäre allerdings nicht daran zu denken gewesen, daß der Raub des gesamten Nationalgutes des armenischen Volkes wieder rückgängig gemacht worden wäre. Auch jetzt wird es schwer sein, auch nur einen beträchtlichen Teil der beweglichen Habe den Dieben und Räubern, die daß Gut schon längst verschleudert haben werden, zu entreißen.

23) Vgl. den Bericht über die Verhandlungen im türkischen Senat vom Oktober und November 1915 in Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 223.

24) Vgl. zu diesem Kapitel den Abschnitt: Zwangsbekehrungen zum Islam, in der Einleitung von Lepsius, Dtschl. und Arm. und ebenda die Konsularberichte laut Sachregister unter Zwangsbekehrungen.

25) Vgl. den Bericht des deutschen Vizekonsuls Herrn Kuckhoff vom 4. Juli 1915 aus Samsun, Lepsius, Dtschl. und Arm. Nr. 116 Anlage.

26) Nur unter den syrischen Nestorianern gab es eine kleine hochkirchliche Mission, die am Sitz des nestorianischen Patriarchen in Kodschannes bei Djulamerg im oberen Zabtal und in Urmia auf persischem Gebiet eine Vertretung hatte und eine Art Nuntiatur des Erzbischofs von Canterbury bei dem nestorianischen Patriarchat bildete. Diese hochkirchlichen Herren haben niemals mit Armenien oder der armenischen Frage zu tun gehabt und sich ausschließlich auf die syrischen Nestorianer beschränkt.

27) Dies war Anfang 1916 geschrieben. Nach der Vernichtung ihres Volkstums in der Türkei würden es jetzt natürlich alle noch Überlebenden Armenier ablehnen, unter türkische Herrschaft zurückzukehren.

28) Vielleicht wird Herr Bratter nach der Veröffentlichung der diplomatischen Aktenstücke über den Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier durch die Urteile der deutschen Botschafter und Konsuln jetzt eines Besseren belehrt werden.

29) Den genannten Städten ist noch Aleppo hinzuzufügen, wo dank der rastlosen Bemühungen des deutschen Konsuls wenigstens die ortsansässige Bevölkerung von der Deportation verschont blieb. Die Armenier von Bagdad waren zunächst nach Mossul deportiert worden und sollten von dort weitergeschafft werden. Der Einspruch des Feldmarschalls Freiherrn von der Goltz, der den Weitertransport untersagte, wurde von der Regierung in Konstantinopel erst respektiert, als der Feldmarschall wegen dieser Sache telegraphisch um seine sofortige Abberufung bat. S. Lepsius, Dtschl. und Arm. Einl. S. LIX und Aktenstück Nr. 224.


30) Über den Gesamtverlust an Ermordeten und Verhungerten, der auf eine Million geschätzt wird, vgl. Lepsius Dtschl. und Arm. Einleitung V, 4, S. LXIII, das Kapitel: Opfer.




Anmerkungen

  1. Die Parteikorrespondenz der Bureaus von Konstantinopel, der die obigen Auszüge entnommen sind, war für die verschiedenen Zentralkomitees im Inland und Ausland bestimmt. Sie enthält alle Nachrichten, die das Bureau aus dem Inneren erhielt, und berichtet über die Vorgänge in Konstantinopel. Der intime Charakter der Korrespondenz bringt es mit sich, daß man die Stimmungen, Urteile, Sorgen und Überlegungen, wie sie unter dem wechselnden Eindruck der Ereignisse entstehen, mit voller Deutlichkeit und Unbefangenheit verfolgen kann und einen unmittelbaren Eindruck von der Wahrhaftigkeit des Berichteten gewinnt.
  2. Bis vor kurzem war er Kammerpräsident.
  3. Wartkes (Rosenpferd) ist der Schriftstellername des Abgeordneten Ohannes Seringülian. Die Armenier nennen sich gern untereinander bei Zunamen, die sie sich geben, und die so allgemein gebraucht werden, daß bekanntere Armenier auch in der Öffentlichkeit meist nur mit ihren Zunamen genannt werden.
  4. Diese Reformbestrebungen hatten für die Armenier niemals etwas anderes zu erreichen gehofft, als Sicherheit von Leben und Eigentum und Schutz vor räuberischen Kurden. Wenn die Großmächte wiederholt auf diese Reformen zurückkamen und die Wünsche der Armenier unterstützten, so war die durch den Berliner Vertrag (§ 81) von 1878 begründet. Auch Deutschland hatte sich im Jahr 1913 In hervorragender Weise an den Reformverhandlungen beteiligt und die Pforte zur Annahme des in der Note vom 26. Januar/8. Februar 1913 formulierten Reformprogrammes bewogen. Aus den Verhandlungen der Mächte und den Zugeständnissen der Pforte wurde jetzt den Armeniern ein Verbrechen gemacht. Vgl. S. 179.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jaunar
  2. Vorlage: Pädagog
  3. Vorlage: wertvollen