Der gegenwärtige Stand der Hilfssprachenbewegung

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Textdaten
Autor: Adolf Schmidt (1860–1944)
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Titel: Der gegenwärtige Stand der Hilfssprachenbewegung
Untertitel:
aus: Die Umschau, Band 14, Nr. 2, Seite 21–25
Herausgeber: J. H. Bechhold
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Erscheinungsdatum: 1910
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Erscheinungsort: Frankfurt am Main
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Der gegenwärtige Stand der Hilfssprachenbewegung.[Bearbeiten]

Von Univ.- Prof. Dr. Adolf Schmidt.

Vor wenigen Tagen, am 15. Dezember, hat der Schöpfer des Esperanto, Dr. Zamenhof, sein 50. Lebensjahr vollendet. Allüberall auf der Erde haben seine jetzt schon nach Hunderttausenden zählenden Anhänger diesen Tag festlich begangen; aus allen Ländern nah und fern sind ungezählte Glückwünsche und Kundgebungen dankbarer Verehrung in das Heim des genialen Pfadfinders der Menschheit zusammengeströmt, in dem er als Augenarzt der stillen Arbeit seines Berufes lebt. Er hat sich dieses Ehrentages aufrichtig freuen können, denn, soweit menschliche Voraussicht reicht, darf er sein Lebenswerk heute als gesichert ansehen, nachdem es soeben noch in der spielenden Überwindung der verhängnis vollen Gefahr innerer Zersplitterung, in die gelehrter Doktrinarismus es zu stürzen drohte, seine volle Kraft und Gesundheit erwiesen hat.

Gewiß steht noch immer die Mehrzahl auch der Gebildeten den Bestrebungen auf Einführung einer neutralen Hilfssprache als allgemeinen internationalen Verständigungsmittels gleichgültig, zweifelnd oder ablehnend gegen über. Aber der Spott und die aus bloßer Unkenntnis entspringende grundsätzliche Verurteilung, mit denen vor kaum fünf Jahren das Auftreten der Frage in der breiteren Öffentlichkeit empfangen wurde, sind geschwunden; die Aufgabe wird, wie man sich auch zu ihr stellen mag, ernst genommen und ernst behandelt; die oberflächlichen Redensarten, mit denen gedankenlose Voreingenommenheit das Problem anfangs abzutun pflegte, sind verstummt. Zugleich hat sich die Frage auch im allgemeinen Bewußtsein geklärt und vereinfacht; es wird kaum noch bestritten, daß alle andern früher vorgeschlagenen Wege — wie die Wahl des Lateinischen oder einer lebenden Nationalsprache — tatsächlich ungangbar sind, und daß nur die Einführung einer vereinbarten künstlichen Sprache möglich bleibt, wenn man nicht den jetzigen un befriedigenden Zustand dauernd erhalten will.

Der Fortschritt zeigt sich nicht nur bei dem Vergleich des jetzigen Standes mit den ersten Anfängen der Bewegung; auch wenn wir nur kürzere Zeit zurückblicken, tritt er deutlich hervor. Dies gilt besonders für Deutschland, das gegenüber Frankreich und England merklich zurückgeblieben war, und das eigentlich erst durch den IV. internationalen Esperantokongreß in Dresden im August 1908 aus seiner Rückständigkeit aufgerüttelt wurde. Es genügt daher und empfiehlt sich, bei der Schilderung der Entwicklung von der Sachlage auszugehen, die vor zwei Jahren bestand und die seinerzeit in diesen Blättern eine vorltreffliche Darstellung gefunden hat.1)

Was zunächst die äußerliche Ausbreitung der Bewegung betrifft, so hat sie mit steigen der Geschwindigkeit zugenommen, und alle Anzeichen deuten auf eine künftige weitere Beschleunigung ihres Wachstums hin. Die Zahl der Vereine und Ortsgruppen hat sich im Laufe der letzten zwei Jahre auf der ganzen Erde verdoppelt, in Deutschland mehr als verdreifacht; sie beträgt hier jetzt nahezu 200 (Ende 1903: 2, 1905: 32, 1907: 58) und hat insgesamt das erste Tausend längst überschritten. Gleichzeitig ist in den älteren Vereinen die Mitgliederzahl fast überall stark gestiegen. In noch höherem Maße gewachsen ist anscheinend die Zahl der keiner Organisation angeschlossenen Esperantisten. Bei den Zeitschriften zeigt sich eine entsprechende Zunahme; es gibt deren jetzt mehr als 80 gegen 40 am Ende des Jahres 1907. In steigendem Maße finden sich darunter bezeichnenderweise neben den nationalen Propagandablättern internationale literarische und Fachzeitschriften, und Hand in Hand damit geht die zunehmende Bildung von esperantistischen Fachvereinigungen. Von diesen ist nächst der schon länger bestehenden allgemeinen Scienca Asocio vor allem der im vorigen Jahre begründete internationale Ärztebund (Tutmonda Esperanta Kuracista Asocio) zu nennen, der schon nach wenigen Monaten 400 Mitglieder zählte, und der es erreicht hat, daß auf dem diesjährigen internationalen medizinischen Kongreß in Budapest bereits Berichte in Esperanto zugelassen wur den und tatsächlich erstattet worden sind. Überhaupt beginnt gerade die besondere Bedeutung, die das Esperanto als Kongreßsprache besitzt, mehr und mehr erkannt zu werden. Seiner hervorragenden Brauchbarkeit als solcher ist unzweifelhaft in erster Linie die Aufmerksamkeit zu danken, die ihm von der organisierten Arbeiterschaft zugewendet wird, und die sich in der bereits verschiedentlich erfolgten Begründung esperantistischer Arbeitervereine ausspricht.

Von besonders hoher Bedeutung ist die gleichfalls 1908 begründete Universala Esperanto Asocio, die sich die Einführung des Esperanto in das praktische Leben, in den Reiseverkehr, in Handel und Industrie, zur Aufgabe stellt, und die dazu eine schon recht weit ausgebaute Organisation geschaffen hat. Gerade diese Seite der Esperantobewegung verdiente wegen ihres allgemeinen Interesses und ihrer großen praktischen Bedeutung eine eigene, ausführliche Schilderung, die bereits eine stattliche Reihe von erzielten Erfolgen namhaft machen könnte. In Esperanto geschriebene Städte und Reiseführer, sowie Waren- und Preisverzeichnisse großer industrieller Firmen sind keine Seltenheit mehr. Es muß bei der hier gebotenen Kürze, die eine selbst nur an nähernde Vollständigkeit auch bei Beschränkung auf die wichtigsten Punkte unmöglich macht, von jeder Anführung von Einzelheiten abgesehen werden. Nur auf die durch praktische Vorführungen sowohl in Dresden wie in Barcelona erprobte Anwendung für die Zwecke des »Roten Kreuzes« und auf die Begründung des sächsischen Esperanto-Instituts durch Großindustrielle und Kaufleute des Königreichs Sachsen mag noch hingewiesen werden.

Etwas weiteres und sehr .Wichtiges hat die Entwicklung der letzten zwei Jahre der Esperantobewegung gebracht: die offizielle Anerkennung. Daß die Staatsbehörden eine so kräftig vorwärtsstrebende Bewegung nicht dauernd unbeachtet lassen können, ist selbstver ständlich; aber es ist nicht weniger natürlich und verständlich, daß sie nicht voreilig bestimmte Stellung dazu nehmen können, sondern sich zunächst darauf beschränken müssen, die Entwicklung zu beobachten, um ein sicheres Urteil über die Sache zu gewinnen. Es würde wahrscheinlich falsch sein, aus der jetzt noch an den meisten Stellen, so auch bei der Mehrzahl der deutschen Regierungen, geübten Zurückhaltung schließen zu wollen, daß eine so wichtige, vielleicht schon in naher Zukunft weltbewegende Frage dort noch gar keine Beachtung gefunden habe. Daher wäre es durchaus nicht verwunderlich und für die Esperantisten keineswegs entmutigend gewesen, wenn noch kein Anzeichen solcher Beachtung aus der Stille der Aktenschränke in die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Um so erfreulicher und wertvoller, muß es eingeschätzt werden, daß dies doch bereits und daß es sogar in über raschend weitgehendem Maße geschehen ist.

Es wird für immer ein Ruhmestitel für Sachsen sein, daß seine Regierung in dieser Richtung kühn und entschieden vorangegangen ist. Ihre lebhafte und verständnisvolle Anteilnahme an dem bereits erwähnten internationalen Kongresse in Dresden, die in der Annahme des Protektorats über den Kongreß durch den König eine eindrucksvolle Bekundung erfuhr und die sich in vielfacher Förderung seiner Veranstaltungen wertvoll betätigte, ist nicht vereinzelt geblieben. Der diesjährige deutsche Esperantistentag hat in Gotha die gleiche Aufnahme gefunden, und dasselbe hat sich vor wenigen Monaten auf dem V. internationalen Kongreß wiederholt, der in Barcelona — kaum vier Wochen nach den dortigen beklagenswerten Ereignissen dieses Sommers — getagt hat. Hier war ein weiterer Fortschritt zu verzeichnen. Die spanische Regierung hatte durch ihre Gesandten die andern Regierungen eingeladen, offizielle Vertreter auf den Kongreß zu entsenden, was aus eigenem Antriebe Belgien schon 1907 und die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Japan 1908 getan hatten. Der Einladung ist von Belgien, Norwegen, den Vereinigten Staaten und Mexiko entsprochen worden. Im Zusammenhange hiermit darf daran erinnert wer den, daß nach der Dresdener Tagung eine aus angesehenen Vertretern zahlreicher Nationen gebildete Abordnung des Kongresses von dem preußischen Kultusminister offiziell empfangen worden ist.

Alle diese Vorgänge und die Erklärungen, die dabei von den Vertretern der genannten Regierungen wie übrigens auch von denen der beteiligten Städte und andrer öffentlicher Institutionen abgegeben worden sind, enthalten zum mindesten die Anerkennung, daß die Weltsprachenbewegung eine ernste, der vollen Aufmerksamkeit der leitenden Kreise würdige Angelegenheit sei, und sie gehen in ihrer Mehrzahl über dieses Zugeständnis wesentlich hinaus. Wiederum steht auch hier die sächsische Regierung voran, die dem bereits er wähnten Esperanto-Institut einen amtlichen Charakter verliehen und damit selbst in die Bewegung einzugreifen begonnen hat. Das Institut hat dadurch u. a. die Berechtigung er halten, auf Grund der an ihm eingerichteten Prüfungen öffentlich anerkannte Zeugnisse, vor allem für Esperantolehrer, auszustellen.

Von sonstigen Vorgängen offizieller Natur ist einerseits die Einführung eines, zunächst wahlfreien, Esperanto-Unterrichts in einzelnen Handelsschulen, anderseits das Bestreben zu erwähnen, Esperanto dem internationalen Verkehr der Polizeibehörden untereinander dienstbar zu machen. Soweit darüber etwas in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist, sind bis jetzt die Polizeiverwaltungen in Dresden, Paris, Budapest und Barcelona der Frage näher getreten. In Dresden, das durch seinen reichen Fremdenverkehr besonders darauf hingewiesen wird, tragen außerdem mehr als fünfzig Schutzleute im Dienst den grünen Stern, der sie als esperantokundig kennzeichnet.

So hat sich die lingvo internacia in anfänglich langsamer, aber ununterbrochen stetiger Entwicklung und zuletzt in glänzendem Siegeslauf bereits ein weites Feld mannigfachster praktischer Betätigung erobert. Auf allen Gebieten, vom Verkehr des täglichen Lebens bis zur Wissenschaft und Kunst, im schrift lichen wie im mündlichen Gebrauch, hat sie sich als ein zweckmäßiges, jeder vernünftigen Anforderung voll genügendes Hilfsmittel er wiesen. Sie hat unter den verschiedenartigsten Verhältnissen immer und immer wieder so umfassende, unzweifelhafte Proben ihrer allseitigen Leistungsfähigkeit abgelegt, daß nur noch Unkenntnis (die sich des Urteils enthalten sollte) oder böser Wille ihre Eignung zur internatio nalen Hilfssprache leugnen kann. Anderseits hat sie bereits eine solche Verbreitung, selbst außerhalb des europäischen Kultur- und Sprachenkreises, erlangt, daß jeder, der sie erlernt, hoffen darf, verhältnismäßig leicht Gelegenheit zu ihrer praktischen Verwertung zu finden. Mit jedem neuen Anhänger aber steigert sich wiederum das Feld möglicher Anwendung und damit für jeden Kenner der Hilfssprache ihr Gebrauchswert. Und doch ist die Bedeutung des Esperanto mit dem Gesagten nicht erschöpfend bezeichnet. Was ihm von Anfang an gerade geistig hoch stehende Anhänger in verhältnismäßig großer Zahl gewonnen hat, ist vielleicht zum wenigsten der praktische Nutzen gewesen, den es versprach; sicherlich auch nicht allein das humanitäre Interesse an der von ihm erhofften Verringerung kulturhemmender, chauvinistischer Anschauungen und Gegensätze im Völkerleben; es war vielmehr in hervorragendem Maße auch sein unmittelbarer sprachlicher Wert. Zahlreiche Zeugnisse in der esperantistischen Literatur beweisen, wie hoch dieser von berufenen Kennern des Idioms einge schätzt worden ist; überzeugender noch wir ken einzelne anerkennende Äußerungen grund sätzlicher Gegner jeder künstlichen Sprachschöpfung. So ist es kein Wunder, daß auch in der jetzt schon vielfach erörterten Frage seiner Einführung in die Schule (unter Einschränkung des Unterrichts in andern Sprachen) die Abwägung der bloßen Nützlichkeit gegen Erwägungen rein pädagogischer Natur zurücktritt. Eine Reihe von Schulmännern und andern Freunden der Schule hat während des Zeitraums, dem dieser Bericht gilt, in Aufsätzen und Schulprogrammen darzulegen unternommen, daß das Esperanto vermöge seiner Einfachheit, seines logischen Aufbaus, seiner Wortbildung die andern Sprachen (d. h. natür lich als solche, abgesehen von ihrer Literatur) als geistiges Bildungsmittel wesentlich übertreffe, daß es vor allem verdiene, im Unterricht als erste Fremdsprache eingeführt zu werden, und daß sich mit seiner Hilfe die Möglichkeit zu einer befriedigenden Lösung der so viel erörterten Überbürdungsfrage er öffne.

Nur mit wenigen Worten kann nach dieser gedrängten Schilderung der äußeren Fortschritte der Esperantobewegung ihrer inneren Entwicklung gedacht werden. Das wichtigste Ereignis in dieser Hinsicht ist der weitere Ausbau des bereits 1905 in Boulogne begründeten Sprachkomitees (des Lingva Komitato) durch die Einsetzung eines besonderen Arbeits- und Vollziehungsausschusses, der sogen. Akademie. Diese Akademie hat, ähnlich wie die Academie francaise, vornehmlich die Aufgabe, den sich entwickelnden Sprachgebrauch festzustellen und das Ergebnis nach Zustimmung des Lingva Komitato von Zeit zu Zeit als nicht verpflichtende, aber vorbildliche Sprachnorm zu veröffentlichen. Nur in beschränktem Maße tritt, besonders bei der Bearbeitung der wissen schaftlichen und technischen Fachwörterbücher, hierzu die Aufgabe einer systematischen Erweiterung des Sprachschatzes, doch immer nur in empfehlendem, nicht in anordnendem Sinne. Es zeigt sich in diesem Sachverhalt die Tatsache, daß sich das Esperanto wie jede natürliche Sprache ohne den Einfluß einer äußeren Autorität durch die Tätigkeit aller derjenigen, die sich seiner als Mittel bedienen, erhält und weiterbildet, was keineswegs eine gelegentliche mittelbare Beeinflussung der Entwicklung durch bewußte Einwirkung auszuschließen braucht.

In diesem Umstande liegt gerade der Kernpunkt seiner Bedeutung und die Bürgschaft seiner Dauer. Daß Dr. Zamenhof die Not wendigkeit dieser freien Entwicklungsfähigkeit klar erkannt, und daß er die richtigen Mittelund Wege gefunden hat, sie zu ermöglichen und zu sichern, ist das Größte an seiner Schöpfung. Wenn man sich vorher auf der einen Seite die Aufgabe stellte, eine Sprache zu erfinden, und auf der andern Seite bewies, daß dies nicht möglich sei, weil sich eine Sprache nur organisch entwickeln könne, so fand er die Lösung für dieses Dilemma: Man gebe der Menschheit ein brauchbares Verständigungsmittel; es wird von selbst zur Sprache werden. Hierin liegt sein unsterbliches Verdienst, das bestehen bliebe, selbst wenn das Fundament des Esperanto ein verfehlter Versuch eines solchen Verständigungsmittels gewesen wäre. Daß es sich im Gegenteil als vorzüglich dazu geeignet erwiesen hat, und daß Dr. Zamenhof als esperantistischer Schriftsteller und Redner an der Entwicklung der lebendigen Sprache, die Esperanto jetzt schon ist, hervorragend beteiligt gewesen ist, erhöht sein Verdienst ; aber wenn man, wie es gewöhnlich geschieht, nur an diese Leistungen denkt, so wird man ihm nicht gerecht. Von diesen Erwägungen aus gewinnt man auch den richtigen Standpunkt zur Beurteilung der schließlich noch zu erwähnenden Reformbestrebungen, die den Lesern dieser Zeitschrift aus zwei hier kürzlich erschienenen Aufsätzen bekannt sind. Sie kommen, vorausgesetzt, daß sie überhaupt sachlich berechtigt wären, zu spät. Esperanto führt schon längst nicht mehr ein bloß papierenes Dasein, das sich in einigen grammatischen Regeln und Wörterbüchern, die man mit einem Federstrich ändern kann, erschöpfte. Es lebt in einer vielgestaltigen, reichen Literatur; es lebt als Besitz einer großen, über die ganze Erde zerstreuten Gemeinde fast ohne jede feste Organisation, gebildet von Menschen sehr verschiedener Kultur und Bildungsstufe, die insgesamt nichts als dieses gemeinsame Besitztum eint. Der Versuch, die von dem Delegationskomitee ge wünschten, grundsätzlich geringfügigen, aber das ganze äußere Bild der Sprache mit einem Schlage entstellenden Abänderungen einzuführen, wäre bei dieser Sachlage notwendig mißlungen. Er hätte jenen Besitz, das Ergebnis zwanzigjähriger Arbeit, zum größten Teile entwertet und hätte unzweifelhaft zu erbitterten Streitigkeiten, zu tiefgehenden Spaltungen und vielleicht auf lange Zeit zur vollständigen Lähmung der Hilfssprachenbewegung geführt.

Für die organisierten Esperantisten und ihre Führer war es daher ein Gebot der Selbsterhaltung, daß sie die Anträge des Delegationskomitees ablehnten. Sie durften dies um so beruhigter tun, als sie die vorgeschlagenen Abänderungen des Fundaments der Sprache in ihrer Gesamtheit nicht einmal als eine Verbesserung anerkennen konnten, während an drerseits die Möglichkeit einer Einführung von Reformen auf dem Wege der langsamen natürlichen Entwicklung gerade im Esperanto grundsätzlich gegeben ist. Während vorhin gesagt wurde, die Reformvorschläge seien (von der Frage ihrer sachlichen Berechtigung ganz abgesehen) zu spät gekommen, so könnten sie in andrer Hinsicht als verfrüht bezeichnet werden. Wenn sich die Kulturstaaten schon, ehe Esperanto allge mein durchgedrungen wäre, zur Einführung einer internationalen Hilfssprache entschlössen, so würden sie möglicherweise zunächst in eine Erwägung darüber eintreten, ob jenes unver ändert anzunehmen sei oder nicht. In der Tat wäre dieser Zeitpunkt für eine etwaige Revision der Grundlagen der allein geeignete. Die vom Delegationskomitee allen Ernstes vertretene Auffassung, seine eigene Entscheidung sei im wesentlichen endgültig und gewisser maßen für die Menschheit bindend, dürfte kaum Anerkennung finden. Anderseits würden dann die im vorhergehenden erhobenen Bedenken gegen grundlegende Abänderungen des Aufbaus der Sprache ihr Gewicht verlieren, weil die Autorität der Regierungen die Einführung der etwa beschlossenen und vereinbarten Änderungen sicher durchsetzen könnte.

Wenn jener Fall einträte, so wäre alsdann für das Delegationskomilee, wie überhaupt für jeden, der vermeintliche Verbesserungen der Hilfssprache wünscht, der passende Augenblick gekommen, seine Anträge der von den Regierungen zur Beratung der Frage einge setzten Körperschaft als Material zu überreichen. Und es könnte der Sache nur förderlich sein, wenn schon in der Zwischenzeit bis dahin alle, die an der sprachlichen Seite der Aufgabe Interesse nehmen, ihre Meinungen austauschen wollten, so daß die ganze Frage durch eine umfassende wissenschaftliche Diskussion nach Möglichkeit geklärt würde. Nichts wäre aber natürlich verkehrter, als nun etwa deswegen die weitere Ausbreitung der bereits praktisch eingeführten und wirksamen Hilfssprache zurückstellen zu wollen, bis jene theoretische Diskussion abgeschlossen wäre. Denn zum sachlichen Abschluß wird diese nie kommen; ein formelles Ende würde sie nur durch die autoritative Entscheidung der Regierungen finden. Diese aber können und werden sich nur dann ernsthaft mit der Frage beschäftigen, wenn die Bewegung durch eigene Kraft eine hinreichende, ihren Wert beweisende Bedeutung erlangt.

Wie es scheint, wünschten mehrere Mitglieder des Komitees in richtiger Würdigung der praktischen Seite der Aufgabe ein solches Vorgehen, und es wurde auch eine besondere Zeitschrift begründet, die nur jenen sprachlichen Erörterungen gewidmet sein sollte. Leider aber siegte die radikale, theoretisch doktrinäre Mehrheit, die sich nicht mit einer derartigen, rein akademischen Behandlung (wie sie in anerkennenswerter Weise seit Jahren Weltsprachenakademie übt) begnügen wollte, sondern die zuerst daneben, bald aber statt dessen eine praktische Propaganda für die ab geänderte Sprache forderte. Zur Durchführung der in diesem Sinne gefallenen Entscheidung wurde eine besondere Gesellschaft begründet, die eine rege Werbetätigkeit, vor allem in wissenschaftlichen Kreisen, begann.

Wenn sich hieraus ein ernsthafter Wettbewerb mit dem Esperanto entwickelte, so könnte man vielleicht meinen, daß dies für die Sache der internationalen Sprache nur nützlich sein könne, weil sich dann durch die Erfahrung erweisen würde, welches das bessere System sei. Daß dies eine irrtümliche Erwartung wäre, hat seinerzeit gerade Couturat, der doch die Seele der Reformbewegung ist, treffend nachgewiesen, und es genügt, an den Wettkampf der verschiedenen Stenographiesysteme zu denken, um dies zu erkennen und die Gründe dafür einzusehen.

Während aber bei diesen ihre Vielheit den Nutzen, den der einzelne von der Kenntnis des gerade von ihm erlernten Systems hat, im allgemeinen kaum beeinträchtigt, gilt für die internationale Hilfssprache als unbedingte und erste Forderung ihre Einheitlichkeit. Auch nur zwei solche nebeneinander wären eine Lächerlichkeit. Schon die bloße Möglichkeit einer derartigen Lösung nimmt der Idee ihren Wert und lähmt ihre werbende Kraft.

Deshalb ist es nicht allein vom Parteistandpunkte des Esperantisten aus, sondern noch viel mehr um der allgemeinen Idee der internationalen Hilfssprache willen zu begrüßen, daß das Esperanto gerade in diesen zwei Jahren, die ihm den Angriff der unzeitgemäßen und sachlich verfehlten Reformbewegung brachten, die zu Anfang geschilderten Fortschritte gemacht, daß es seine Stellung nicht nur behauptet, sondern innerlich gekräftigt und nach außen mehr als je zuvor erweitert und gehoben hat.