Der geschichtliche Attinghausen
[799] Der geschichtliche Attinghausen. Eine der edelsten Gestalten in Schiller’s Tell ist der alte Freiherr Werner von Attinghausen, der, den Bund der Eidgenossen segnend, stirbt. Wie bei anderen Charakteren des großen Schauspiels hat Schiller auch bei diesem einen geschichtlichen Namen, eine wirkliche Person benutzt. Der Werner von Attinghausen seines Tell hat gelebt und ist ein wackerer Mithelfer bei der Grundsteinlegung des stolzen Bundes der Eidgenossenschaft gewesen. Sein Geschlecht aber ist ausgestorben und vom „Edelhof zu Attinghausen“ sind blos noch Trümmer vorhanden. Sie liegen nicht weit vom Ufer der Reuß, etwas oberhalb der Stelle (doch am andern Ufer), wo der Schächen einmündet, auf einer Anhöhe, die von Ahorn, Ulmen, Linden, Buchen und Walnußbäumen beschattet wird. Die Ringmauer ist an der Ostseite noch zwölf Fuß hoch, ein Thurm der Nordseite erhebt sich zu etwa hundert Fuß, im Innern sieht man überall Mauerblöcke, um die man rings Obstbäume gepflanzt hat. Wie der Edelhof zu Grunde gegangen, weiß Niemand; wahrscheinlich ist er in den friedlicheren Zeiten zu Ausgang den Mittelalters von den Eigenthümern verlassen worden. Der Bau der Burg dürfte weit über das zwölfte Jahrhundert hinaufreichen. Eine Sage der Kreuzfahrer erzählt, daß König Balduin von Jerusalem in einer Krankheit einen Traum hatte, der ihm Genesung versprach, wenn er in einer Gegend, welche der Traum ihm mit wunderbarer Genauigkeit zeigt, ein Kloster gründe. Keiner erkannte die Gegend, wenn der König sie beschrieb, aber als ein Ritter aus dem Urner Land von einem wilden Gebirg hörte, dessen Höhe auch im Sommer mit Schnee bedeckt sei, von einem schmalen Pfad am Felsen, von Brücken über Abgründe, aus denen das tobende Wasser wieder in eitel Staub gen Himmel steige, [800] und von einem Kloster und Schloß an einem hohen See, der auch zwischen hohem Gebirg gelegen sei, da rief er freudig: „Herr, das ist der St. Gotthardsberg, das ist Attinghausen, das ist Seedorf, das ist mein Heimathland!“
Die Attinghausen wohnten ursprünglich im baierischen Hochlande in der Gegend von Tegernsee und waren Freiherrn von Schweinsberg. Wie Theodor von Liebenau, der Verfasser einer urkundlichen Geschichte der Freiherren von Attinghausen (Aarau, Sauerländer), vermuthet, ist ein Schweinsberg mit Friedrich dem Rothbart nach Uri gekommen und dort mit einem Besitzthum, dessen Namen Attinghausen seine Nachkommen angenommen haben, belehnt worden.
Der Attinghausen Schiller’s war der vierte Eigenthümer des Edelhofes. In der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts geboren, war er als ältester Sohn der Gutserbe und trat früh in’s öffentliche Leben ein. Seine Gattin Margaretha, mit der er sich in jugendlichem Alter verband, wird nur in einer einzigen Urkunde genannt, die einen Verkauf betrifft, zu welchem sie ihre Einwilligung geben mußte, weil er sich auf ihr Leibgedinge bezog. Sie beschenkte ihren Mann mit sieben Kindern, unter denen eine Tochter Anna war, die sich mit Johannes von Rudenz verheirathete. König Albrecht setzte ihn zum Landammann in Uri ein, aber als die Conflicte mit dem Hause Habsburg eintraten, hielt Werner von Attinghausen zum Volke und blieb der einmal ergriffenen Sache unwandelbar treu. Es ist kaum einem Zweifel unterworfen, daß er den ersten Bund mit schloß, durch den Uri, Schwyz und Nidwalden sich eidlich und auf ewige Zeilen zu gegenseitigem Schutz und zur Erhaltung ihrer Freiheit verbanden (1. August 1291). Unter der Urkunde des am 16. October desselben Jahren mit Zürich abgeschlossenen Vertrags steht sein Name: Her Wernher von Attingenhusen. Schiller läßt dem sterbenden Attinghausen die Schlacht von Morgarten prophetisch im Geiste erblicken (Act 4, Scene 2), der geschichtliche Attinghausen hat sie erlebt und wahrscheinlich die mitkämpfenden Urner befehligt. Unter seinen Gehülfen und Gesinnungsgenossen tritt besonders Walther Fürst hervor, auch eine Person des Dramas. Bis an seinen Tod wurde Werner von Attinghausen immer zu den wichtigsten Geschäften berufen und sorgte stets für das Wohl der Waldstätte und insbesondere für sein Uri, dem er das Urseren- und Livinerthal und damit den Besitz des Gotthard-Passes verschafft hat. Ob er den Tag von Ampfing und die Gefangenschaft Friedrich’s von Oesterreich noch erlebt hat, ist zweifelhaft. Zum letzten Male wird seiner unter dem 31. October 1321 erwähnt. Zwei seiner Söhne sind die letzten Attinghausen. Johannes folgte dem Vater als Landammann von Uri und wirkte ganz in seinem Sinne; Thüring, Abt von Dissentis, bewährte sich als versöhnlicher und volksfreundlicher Mann. Mit Johannes erlosch das Geschlecht, und der Edelhof gelangte auf einige Zeit an die Rudenz, die vor dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts ausgestorben sind.