Der große Geburtstag
Vor dreizehn oder vierzehn Jahren war es, als wir mal wieder zur Silvesterfeier auf der „Kneipe“ beisammen saßen, die in solchen Stunden häuslicher Feierstimmung dem heimatfernen Studenten, manchmal auch dem ortsansässigen, noch unbeweibten „Alten Herrn“ das Familienzimmer ersetzen muß. Das neue Jahr hatte soeben unter einem donnernden „Salamander“ seinen Einzug gehalten, die ersten Glückwünsche waren auch erledigt, und über der zuvor so lauten „Corona“ lag das verlegene Schweigen, das auf den Ausbruch einer allgemeinen fröhlichen Rührung manchmal folgt. In diese fast commentwidrige Stille schlug plötzlich eine wunderliche Frage herein …
Wir hatten damals unter den älteren Aktiven unserer Korporation einen prächtigen blonden Hünen aus einem der allernördlichsten Gaue des Reiches, tüchtig, treu und trinkfest, aber ein wenig mit dem behaftet, was man in der Studentensprache eine lange Leitung nennt, das heißt, sein Denken ging einen etwas langsamen, bedächtigen Schritt. Er ließ zuweilen den besten Witz gelassen an sich vorüberlaufen, um ihn etwa nach einer halben Stunde einzuholen und mit einem verspäteten Gelächter zu begrüßen, wenn die anderen schon gar nicht mehr daran dachten. Seine eigenen Einfälle verarbeitete er ganz im stillen, mit einer gewissenhaften Gründlichkeit; das Ergebnis kam dann um so plötzlicher und durch Wortkargheit eindrucksvoller heraus. Aber selten hatte er einen so verblüffenden Eindruck erzielt, wie in jener Silvesternacht, als er mitten in das große Rührungsschweigen, mit einem ganz ernsthaften Rundblick aus seinen blauen Sachsenaugen, die Frage hineinwarf: „Warum feiert man eigentlich Silvester?“
Etliche lachten, andere starrten ihn ganz erschrocken an. Ehe aber von uns Aelteren einer sich auf eine Antwort besonnen, scholl vom unteren Ende der Tafel eine sehr helle und frische Stimme: „Weil dann die Menschheit ihren großen Geburtstag hat.“
Der das rief, war ein blutjunger Fuchs, aus der Gegend, wo man den besten Pfälzer Wein baut. Dieser Fuchs wurde darauf hin vom Fuchsmajor in die Kanne geschickt, „wegen Vorspiegelung von Intelligenz“, und das allgemeine Gelächter begrub ihn wie eine Meereswoge. Ich sehe ihn im Geiste noch, wie er unter diesem Sturzbad mit seinen quicken Pfälzeraugen hervorguckte, zugleich beschämt und befriedigt über den ungeahnten Heiterkeitserfolg. Wenn er mir aber jetzt leibhaft gegenüber säße, würde ich sehr gern mit dem gestrengen Herrn Oberlehrer ein Glas Punsch auf seine damalige Fuchsweisheit trinken und ihr bei einigen weiteren Gläsern auf den Grund zu kommen suchen.
Thatsächlich giebt es für beinahe jeden unter uns in einem Kalenderjahr zwei Tage, an denen sich für ihn ein neuer Jahresring an die Kette schließt. Den einen Tag teilt er mit einer Anzahl von Mitmenschen, von denen er aber doch im besten Falle nur einen oder einige näher kennt. Den andern teilt und feiert er mit der Gesamtheit aller, die nach demselben Kalender rechnen wie er – das heißt also in unserem Falle: mit dem weitaus größten Teile der civilisierten Menschheit. Am Geburtstag heißt es: „Jetzt bin ich wieder ein Jahr älter!“ In der Silvesternacht begrüßen wir einander: „Jetzt sind wir wieder ein Jahr älter!“ In diesem „wir“ liegt der moralische Berechtigungsbrief für die gemeinsame Feier der Neujahrsnacht, als notwendiges und löbliches Gegengewicht zu der egoistischen Geburtstagsfeier. Ein erwachsener und civilisierter Mensch, der nur sich zum Geburtstag Gutes wünscht und nicht auch der Menschheit zum neuen Jahr, wäre zu bedauern und auch einigermaßen zu beargwöhnen. Ich glaube aber, daß dieser Mensch verhältnismäßig selten vorkommt; denn die allgemeine Rührung wirkt wenigstens auf ein Weilchen erwärmend auch auf kalte Herzen, zumal wenn man ihr mit heißem Punsch und anderen guten Sachen nachhilft.
In einer merkwürdigen Ausnahmslage befinden sich nur diejenigen, deren Wiegenfest mit dem Anfang eines neuen, bezw. dem Ende eines alten Menschheitsjahres zusammenfällt. Denen bleibt nichts übrig, als sich und der Menschheit in einer Sitzung Glück zu wünschen. Sollten sie dabei des Guten zu viel thun, so wird man ihnen doch mildernde Umstände zuerkennen müssen. Ich habe einen von dieser Sekte gekannt, bei dem der Fall noch besonders verwickelt lag. Er war nämlich in einer Silvesternacht geboren, ob aber vor oder nach Mitternacht, darüber bestand in seiner Verwandtschaft ein nie beglichener Glaubenszwist. Schule und Staat stützten die eine der beiden Auslegungen, aber die häusliche Gegenpartei ließ sich selbst dadurch nicht herumkriegen, sie behauptete, der junge Mann gehöre erst in die nächste Jahresklasse, und enthielt ihm ihre Glückwünsche mit Vorliebe bis in die späteren Nachmittagsstunden des 1. Januar vor. Er wurde dadurch mit der Zeit selber ganz irre, und als er mir nach Jahr und Tag wieder begegnete – als Studiosus der Medizin –, war es schon so weit mit ihm, daß er seine Geburtstagsfeier mit [876] einem Frühschoppen am 29. Dezember anfing und mit einem Grogabend am 2. Januar beschloß, um nur ja keinen vor den Kopf zu stoßen. Während dieser Zeit war er ausnehmend weich und philosophisch gestimmt, gewiß ein Beweis, daß er über seinem eigenen nicht den „Geburtstag der Menschheit“ vergaß.
Um aber darauf zurückzukommen: daß diese Bezeichnung wirklich noch lange nicht das Dümmste war, was ein Fuchs vorbringen kann, erhellt ganz deutlich aus der Art, wie man Silvester feiert – nämlich nach Möglichkeit gerade so wie einen Geburtstag. Der mehr oder minder redlichen „Rückschau, Einschau und Umschau“, die der einzelne am Schlusse des Lebensjahres hält, entsprechen am Schluß des „bürgerlichen Jahres“ die „Rückblicke“ der Zeitungen und Zeitschriften. Auch sie dienen einem wirklichen Bedürfnis des Gewissens. Die Neuzeit hat den bewußten Anteil des einzelnen an Wohl und Weh, an Leben und Weben der Allgemeinheit in allen ihren Formen, von der Dorfgemeinde bis zum Ganzen der Menschheit, ganz unvergleichlich gesteigert. Das bleibt unbestritten, auch wenn man bereitwillig auf der anderen Seite einen recht hohen Posten von gedankenloser Neuigkeitssucht in Rechnung stellt. Denn diese Sucht gab es gerade so reichlich, als statt der Zeitungsweiber der fahrende Spielmann herumzog und seine Nachrichten von der Welt Begebenheiten in schlechten Reimen herunterorgelte. Wenn aber heutzutage z. B. die erste Nachricht von einer großen Erfindung, oder vom Tode eines hervorragenden Mannes sogleich rund um die Erde auch die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen findet, für die der Mann unmittelbar gar nichts gethan hat oder die von der Erfindung zunächst gar nichts haben, so spielt dabei eine sehr ernsthafte „Neugier“ mit. Das öffentliche Wissen oder Ahnen von der Bedeutung des einzelnen Ereignisses für die Allgemeinheit ist lebendiger geworden, und damit auch das öffentliche Gewissen. Die Allgemeinheit fängt an zu merken, daß sie ebensowenig wie der einzelne Erwachsene ein Recht hat, gedankenlos ins neue Lebensjahr hinüberzubummeln. Sie hält Zwiesprach mit ihrem Gewissen, das ja, ob mehr, ob minder vollkommen, durch die Presse zu ihr spricht, und läßt sich noch mal Gewinn und Verlust, Täuschungen und Lehren des abgelaufenen Jahres durch den Kopf gehen – am „großen Geburtstag“, wie es der einzelne an dem seinen thut oder doch thun sollte.
Wenn aber der Mensch solchermaßen Einkehr in sich gehalten, die allerbesten Vorsätze gefaßt und sich in seinen eigenen Augen moralisch veredelt hat, so erwartet er auch, daß man ihm zum neuen Lebensjahre Glück wünscht und womöglich recht viel Nettes schenkt. Die Menschheit empfindet für ihren großen Geburtstag den gleichen Wunsch und erfüllt ihn nach Möglichkeit, indem sie diesen Tag zur Würde eines allgemeinen Geschenkfestes erhebt. Darauf ist sie sogar sehr früh und überall gekommen; schon bei den antiken Völkern so gut wie bei Chinesen und Indern war die Jahreswende, was sie noch heute z. B. bei den Franzosen ist, die Zeit der allgemeinen „Gebelaune“. In der deutschen Familie hat sich diese Bedeutung, im Verfolg einer sehr schönen und wahrhaft frommen Auffassung, allmählich auf den Christabend übertragen. Außerhalb der Familie aber erwartet und erhält auch bei uns der „dienende Geist“ in allen Verkörperungen, vom Stammtischkellner bis zum Laternenanzünder, noch heute sein „Neujöhrchen“, wie man bei uns am Rhein sagt. Umgekehrt war es und ist es noch vielfach am Rhein – und auch wohl in anderen deutschen Gauen – Brauch, daß Wirte, Bäcker, Metzger, Krämer etc. zur Jahreswende ihren Kunden etwas Gutes umsonst zukommen lassen. Diese Sitte finde ich besonders sinnig, weil sie vor den Neujahrsrechnungen herwandelt wie ein milder Oktobertag vor den Novemberstürmen.
Das beliebteste Geburtstagsgeschenk – wenigstens seitens der Geber – sind bekanntlich fromme Wünsche. Sie machen sich gut, kosten kein Geld und können dennoch für den Empfänger mehr als Geldeswert haben, je nachdem er zu dem Geber steht. Sie sind auch das üblichste Geschenk am „großen Geburtstag“ – ja, es ist dies vielleicht der einzige Fall, wo alle Welt wetteifert, eher zu geben als zu nehmen und in dem Vorrang beim Geben einen Lohn zu sehen, den man dem andern „abgewinnt“. Man beschränkt sich dabei auch nicht auf den Kreis der eigenen Lieben, Freunde und Bekannten. Durchaus im Sinne eines Festes der Menschheit, beseelt von dem Schillerschen „Diesen Kuß der ganzen Welt!“, ruft man auf Gassen und aus Fenstern seinen Glückwunsch allen unbekannten und unsichtbaren Ohren zu, sobald der bedeutsame Augenblick da ist, und manchmal noch früher – es ist merkwürdig, wie verschieden, selbst innerhalb eines Hauses, die Uhren in der Silvesternacht gehen! Indes kommt am Ende nicht so viel darauf an, wenn man bedenkt, daß die deutschen Uhren ja erst seit einigen Jahren verpflichtet sind, sämtlich zugleich ihre beiden Zeiger auf der Zwölf zu vereinigen, und daß z. B. ihre belgischen Kolleginnen dasselbe erst eine knappe Stunde später thun dürfen. In Neutral-Moresnet, das Belgien und Preußen gemeinsam gehört, gelten beide Zeiten, und es hat mich dort sehr angesprochen, wie sinnig die Eingeborenen diesen Umstand benutzen: sie gehen nach der deutschen Uhr ins Wirtshaus und nach der belgischen heim, und das steht ihnen merkwürdig solid. Gleicherweise dauert dort unter Verwendung zweier Uhren verschiedener Staatsangehörigkeit der vielberufene „Augenblick“ zwischen zwei Jahren eine kleine Stunde, und man kann sich dort im leeren Zeitraum zwischen zwei Jahrhunderten verloben, was sich in der Erinnerung gewiß romantisch genug ausnehmen wird.
Wann diese Verlobung stattzufinden hätte, ob in der Silvesternacht 1900 oder 1901, darüber hat sich die Menschheit ja nachgerade genug herumgezankt. Die Mathemattk spricht für 1901, aber die schönere Rundung der Zahl für 1900. Nach meiner ketzerischen Meinung kommt am Ende auch darauf nicht viel an. Für die deutsche Welt giebt es allerdings einen ganz besonders ernsten und „großen Geburtstag“, aber der liegt noch ziemlich fern und mitten im Kalenderjahrhundert – nämlich, wenn das Jahr 1970 anhebt.
In so ferne Zeiten ist der Ausblick verwehrt und selbst das Träumen Vermessenheit. Wohl aber sollen wir heuer und alljährlich am „großen Geburtstag“ auch dem Vaterlande unsere besten Vorsätze weihen. Dann dürfen wir ihm auch zum neuen Jahre wünschen, wie es in einem der Silvestergedichte des alten Nürnberger Meistersingers Hans Folz treuherzig heißt:
„Got wol Dir geben als vil er’n,
Als der himel hat manig stern,
Und so vil gute zeit,
Als vil sandkörnlein im mere leit!“