Der letzte Menschenfresser

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Autor: Rudolf Kleinpaul
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Titel: Der letzte Menschenfresser
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 706–707
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[706] Der letzte Menschenfresser. Berka heißt ein kleines Bad bei Weimar an der Ilm. Der Ort selbst ist nach den Birken, von denen auf der Schloßseite manche hundertjährige Exemplare stehn; eine prächtige Pappelallee nach Goethe, der sie pflanzte; eine Stahlquelle nach dem Herzog Karl August benannt.

An diesen idyllischen lieblichen Ort, dieses „Meran Thüringens“, das alle Jahre angenehmer und reicher an bequemen Schlössern, Burgen und Villen für die Fremden wird, knüpft sich eine merkwürdige Erinnerung. Vor einem Jahrhundert ereignete sich hier der letzte unzweifelhaft beglaubigte Fall, daß in Deutschland jemand aus Geschmack für Menschenfleisch wiederholt mordete. Vor einem Jahrhundert gab es hier einen Kannibalen, einen Oger, gleich den Menschenfressern, wie sie in unseren Märchen, in Klein Däumling, Rapunzel mit dem langen Haar und Riquet mit dem Schopf, als ein dumpfer Nachklang der vorhistorischen Menschenfresserei fortleben.

In einer alten Innungslade findet man unter den „Exekutionen, so allhier in Berka geschehen“ (nach der Verbrennung der alten Glasern auf dem sogenannten Hexenberge im Jahre 1673) folgende schaurige Notiz: „A. D. 1772, den 3. April ist Joh. Nikol. Goldschmidt, ein Kühhirt aus Eichelborn allhier zur gefänglichen Haft gebracht worden, weil er einem Mädchen von 11 Jahren, einzige Tochter einer Witfrau zu Eichelborn, in seinem Hause die Kehle abgeschnitten und mit dem Beile vollends todtgeschlagen, den Körper entkleidet und in lauter Kochstücke zerhackt, sich auch ein Stück davon gekocht und gegessen. Selbiger hat im Verhör gestanden, wie er auch einen Handwerksburschen auf dem Felde erschlagen, ins Holz geschleppt und des Abends in einer Berre Holz stückweise nach Hause getragen. Es wurde ihm nach eingeholtem Urtheil das Rad zuerkannt, welches auch den 24. Juli 1772 unter Zuschauung vieler tausend Menschen an ihm vollzogen worden. Gott behüte alle und jede Christen vor bösen Thaten, damit sie nicht den gleichen Lohn bekommen! –“

Noch etwas ausführlicher meldet eine Chronik von Berka: „In eben diesm Jahr (1772) erlebten wir ein sehr trauriges Exempel. Joh. Nikolaus Goldschmidt, der in Eichelborn Hutmann war, erschlug an einem Bußtag einen Handwerksburschen, als er ihm auf dem Felde begegnete, theilte ihn und nahm jeden Tag bei dem Eintreiben des Viehs ein Stück davon in einer Welle Holz mit sich nach Hause, welches er kochte und davon aß. Da es aber zu riechen begann, fütterte er damit seinen Hund, schlachtete alsdann denselben und fraß ihn auch. Einige Zeit darauf bekommt er Appetit nach jungem Menschenfleisch; er wählte also, seinen grausamen Hunger zu stillen, ein artig Kind, wie er mir selbst gesagt, daß er vor anderen dieses (10–11jährige) Mägdlein immer lieb gehabt hätte. Dieses locket er, indem es aus der Schule geht, zu sich, zeigt ihm unter anderem auch seine Stubenuhr, und indem das Mägdlein darnach sieht, nimmt er [707] es bei den Haaren und schneidet ihm den Hals entzwei, schlachtet es hierauf ordentlich aus, wie ein Fleischer sein Fleisch in Stücken haut, und nachdem er diese schreckliche That verrichtet, so kocht er davon und ißt. Allein wie konnte die Rache Gottes hierzu stillschweigen? Das Mägdlein wurde gesucht, aber nicht gefunden. Endlich sieht eine ihm gegenüberwohnende Bauersfrau, daß sich Goldschmidt unter (während) der Kirche gar sehr beschäftigt und immer etwas verdeckt aus seinem Hause in einen daran liegenden Keller trägt, dabei sie auch gewahr wird, wie ein Zipfel von des ermordeten Mägdleins Rock unter dem seinigen hervorguckt; da sie denn solches anzeigt, worauf der Mörder sogleich eingesetzt wurde. Man fand nun das zerhackte Mägdlein, welches in einem Sacke hiehergebracht wurde, und sahe es fast nicht für Menschenfleisch an, so reinlich und kochstückenartig hatte es der Mörder zerhackt. Der Mörder gestand bald seine bösen Thaten und wurde darauf lebendig von unten hinauf gerädert.“

Hier ist also noch etwas mehr als die Schandthaten des Mörders Raskolnikow, dessen unheimliche, von Dostojewskij erzählte Geschichte jetzt in Leipzig als Drama aufgeführt ward, und dabei ein Verbrechen, das nicht bloß der Phantasie eines Romanschriftstellers angehört; die Akten (aus denen übrigens hervorgeht, daß der Mord keine anderen Beweggründe gehabt hat) sind noch vorhanden und wurden bisher von dem Amtsgericht zu Blankenhain (Vieselbach) zu näherer Kenntnißnahme mehrmals, zum Beispiel dem Herrn Oberforstmeister Schatter, der einen Vortrag über die Sache halten wollte, ausgefolgt.

In dichten und abgelegenen Wäldern, in solchen Winkeln der Erde scheint die Weltgeschichte stillzustehen: hier halten sich mitunter seltsame Originale und Ueberlebsel längst vergangener Zeiten. Daß in vorgeschichtlichen Perioden die Menschenfresserei allgemeiner gewesen ist, wird durch Knochenfunde in Höhlen Italiens, Belgiens und Frankreichs höchst wahrscheinlich; sämmtliche menschliche markhaltige Knochen der Höhle von Chauvaux bei Namur waren künstlich geöffnet – „Und sogen als Kraftsaft das Mark.“ Nicht bloß auf den Westindischen Inseln, auch in unserem Europa lebten Kannibalen. – Bekanntlich sollen die ersten Kannibalen die Bewohner der Karibischen Inseln gewesen sein, welche ihre getödteten Feinde zu verzehren pflegten (angeblich spanisch Canibal = Caribal); in Ungarn wie auch in den deutschen Forsten gab es menschenfressende Ungeheuer oder Oger – dieses Wort, französisch Ogre, vielleicht eher mit dem lateinischen Orcus (Unterwelt) zusammenhängend, ist lange auf die Ungarn bezogen worden, welche im Mittelalter den Westen verwüsteten (angeblich französisch Ogres = Hongres, Hongrois, Oigours). Die Erinnerung an diese dunkeln Zeiten klingt noch heute in den Weihnachtsvorstellungen der Leipziger Kinder nach, wenn im dritten Akt ein finstrer Wald erscheint und eine erste Verwandlung die Graue Frau, eine zweite den Menschenfresser bringt. Einzelne Menschenfresser fanden sich übrigens von jeher auch in civilisierten Staaten – in Italien und Deutschland läuft eine und dieselbe Schauergeschichte von einem Fleischer um, der in seinem Keller Menschen verwurstete. Civilisation! Wir müssen nicht allzu stolz sein auf unsere Civilisation; etwas Barbarei ragt am Ende heute noch hinein. In Quedlinburg wurde noch 1750 ein Zauberer geviertheilt, in Würzburg 1780 eine Hexe verbrannt, 1772 in Berka an der Ilm, wo man jetzt mit Liebe behandelt, aber keineswegs aufgegessen wird, in den herrlichen Wäldern Gesundheit und edle Pilze sucht und (bei Schloß Rodberg) in Waldschlafstätten ruhig schläft, der letzte Menschenfresser gerädert. Rudolf Kleinpaul.