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Der unartige Knabe

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Der unartige Knabe
Untertitel:
aus: Chinesische Volksmärchen, S. 206–208
Herausgeber: Richard Wilhelm
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Eugen Diederichs
Drucker: Spamer, Leipzig
Erscheinungsort: Jena
Übersetzer: Richard Wilhelm
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
E-Text nach Digitale Bibliothek Band 157: Märchen der Welt
Eintrag in der GND: [1]
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Bearbeitungsstand
fertig
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[206]
69. Der unartige Knabe

In der Nähe von Kiautschou lebte ein Gelehrter. Der war einige Meilen von seinem Heimatsort entfernt als Hauslehrer bei einem reichen Manne angestellt. Er hatte einen fünfzehnjährigen Sohn, den er zu Hause zurückließ. Der Knabe hatte die heiligen Schriften schon gelernt und war eben daran, sich im Aufsatzmachen zu üben. Sein Vater befahl ihm, fleißig zu arbeiten. Er gab ihm zwölf Aufsatzthemen und hundert Blätter mit alten Schriftzeichen, die er nachmalen sollte. Nach dem Laternenfest ging er weg, am Frühlingsfest wollte er wiederkommen. Bis dahin sollte der Knabe mit allem fertig sein, und sein Vater wollte die gemachten Arbeiten prüfen. Er schärfte ihm noch ein, daß er die Zeit nicht vertrödeln dürfe, und bestellte seinen Oheim, der ebenfalls ein großer Gelehrter war, ihn zu beaufsichtigen.

Kaum war der Vater weg, so tat der Knabe nichts anderes, als sich draußen herumzutreiben, und ließ seine Aufgaben unberührt liegen. Es war ein sehr begabter [207] Junge, und er meinte, die zwölf Aufsätze und die hundert Seiten Schriftzeichen seien schnell gemacht. Er hatte eine Freude am ungebundenen Umherstreifen und dachte, in den letzten Tagen vor seines Vaters Heimkehr die Arbeiten rasch noch fertig zu bringen.

Allein sein Oheim kam dazu, und als er des Knaben Faulheit sah, da wurde er böse und sagte zu ihm: „Ich werde deinem Vater alles erzählen, was du getan hast.“

Da bekam der Knabe Angst; denn sein Vater war unerbittlich streng und hatte ihn schon oft halbtot geschlagen. In seiner Verblendung nahm er Opium und vergiftete sich. Man legte ihn in den Sarg und bestattete ihn vorläufig vor dem Dorfe.

Als sein Vater die Nachricht erhielt, nahm er sich vor, am andern Tag heimzukehren. Um die zweite Nachtwache stand sein Sohn plötzlich da. Er fragte ihn; aber er gab keine Antwort. Der Vater lag schon im Bett, und ehe er sich’s versah, schlüpfte der Knabe zu ihm unter die Decke. Sein Leib war kalt wie Eis. Erschrocken stand der Vater auf. Der Knabe hielt ihn fest und weinte. Der Vater, dem es unheimlich wurde, rief die Leute herbei. Man kam, um nachzusehen, doch der Knabe war nur dem Vater sichtbar; die andern Leute sahen nichts. Es dauerte bis gegen Morgen, da verschwand der Knabe.

Der Vater gab nun seine Stelle auf und kehrte eilig heim. Als es Abend wurde, erschien der Knabe wieder im väterlichen Hause. Als er seinen Vater erblickte, trat er ihm zornig entgegen. Die Mutter aber sah und hörte nichts. Der Vater wurde schließlich krank und sah ihn selbst am lichten Tage.

Einst ging sein Oheim vor das Dorf. Als er einige Schritte von dem Grab entfernt war, da kam der Knabe plötzlich aus dem Grab hervor, warf mit beiden Händen Steine nach ihm und rief scheltend hinter ihm her. Da bekam der Oheim Angst und lief eilig heim, legte sich nieder und wurde auch krank.

[208] Der Knabe war schon frühe mit einem Mädchen aus dem Nachbardorf verlobt worden, und es war auch schon ein Tag für die Hochzeit bestimmt gewesen. In jener Nacht sah das Mädchen plötzlich einen Schüler an ihr Bett treten, der weinend ihre Hand ergriff und sprach: „Ich bin dein Bräutigam. Durch ein Unglück bin ich gestorben. Es tut mir leid, daß unsere Heirat nicht zustande gekommen ist. Heute komme ich, um Abschied von dir zu nehmen. Halte dich immer wert und vergiß mich nicht!“ Unter Tränen ging er weg. Von jener Zeit an sahen ihn auch andere Leute als Gespenst umgehen.

So war ein Monat vergangen. Da versammelten sich die Bauern zur Beratung. Sie sprachen: „Das darf man nicht länger mit ansehen.“ So beriefen sie denn einen Zauberer, um den Spuk zu bannen. Der Zauberer kam an das Grab und suchte sorgfältig die ganze Umgebung ab. Dann sprach er: „Dieser Knabe ist im Begriff, ein Geist der Dürre zu werden. Er hätte noch schlimmen Schaden getan. Zum Glück ist’s noch an der Zeit, und er läßt sich noch leicht bannen.“ Dann schnitzte er aus Pfirsichzweigen Nägel, die er an den vier Ecken des Grabes einschlug. Er schrieb mit roter Tusche Zaubersprüche und heftete sie an die Pfirsichnägel, so daß das Gespenst nicht heraus konnte. Dann ließ man einige Dutzend starke Männer kommen, die mit Spießen und Prügeln das Grab umstanden. Acht mutige Leute mußten dann das Grab öffnen. Als der Sarg ans Licht kam, war das vordere Brett aufgerissen. Durch die Öffnung sah man in den Sarg hinein, doch erblickte man den Leichnam nicht. Nur die beiden Schuhe sah man auf dem Boden des Sarges stehen. Der Leichnam selber hing an den Deckel des Sarges gedrückt in der Luft. Die Kleider hatte er ausgezogen, und sie lagen zusammengerollt auf dem Boden. Am ganzen Leibe waren weiße Härchen gewachsen. Man verbrannte nun den Leichnam. Und von jener Zeit an hörte der Spuk auf. Auch der Vater erholte sich wieder von seiner Krankheit.

Anmerkungen des Übersetzers

[400] 69. Der unartige Knabe. Quelle: mündliche Überlieferung.

Das Laternenfest wird am 15. des ersten Monats gefeiert. Es ist der Abschluß der Neujahrsfestlichkeiten. Nachher beginnt die Arbeit wieder. Frühlingsfest, Tsing Ming, etwa um die Zeit vor Ostern.