Der zweite Juni in Berlin

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Textdaten
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Autor: F. M.
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Titel: Der zweite Juni in Berlin.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 403
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Bericht über das Attentat vom 2. Juni 1878 auf Kaiser Wilhelm I.
Siehe auch Der Mordversuch gegen den deutschen Kaiser Wilhelm I. am 2. Juni 1878
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[403]
Der zweite Juni in Berlin.

Ein Volk in Waffen mag erhebender sein: das Ergreifendste, was ich im Leben sah, es ist ein Volk in Thränen. Wer den 2. Juni 1878 in Berlin miterlebt hat, für den ist dieses Wort keine Uebertreibung. Selbst dann, wenn es der Kunst der Aerzte, wie Europa hofft, gelingen wird, die Gesundheit des Kaisers wieder herzustellen, selbst dann wird der 2. Juni 1878 ein Trauertag bleiben für die deutsche Nation. Nach dem bübischen Schurkenstreiche vom 11. Mai hatte Kaiser Wilhelm mit großmüthigem Vertrauen die Schuld selbst von seinem Volke gewälzt, hatte das Verbrechen zur Unthat eines Einzelnen gestempelt und legte sein geweihtes Haupt lächelnd wieder nieder, von der Liebe der Nation allein bewacht. Mit Rührung nahmen die Berliner es wahr, daß ihr greiser Fürst nach wie vor seine Spazierfahrten unternahm und zur bestimmten Stunde in seinem schlichten Wagen unbeschützt an der Stelle vorüberfuhr, an welcher Hödel’s mörderische Hand nach ihm gezielt hatte. Und die Berliner grüßten mit verdoppelter Liebe, und der Kaiser dankte mit mildem Lächeln. Und wieder knallen die Schüsse, diesmal aber sinkt der Kaiser halb ohnmächtig zurück. Er ist verwundet.

Es war die zweite Nachmittagsstunde des Sonntags. Ich befand mich eben im Bureau des „Montagsblattes“, um einen Artikel zu corrigiren, der – ja, wer weiß noch, was er unmittelbar vor der Schreckensnachricht that – da stürzt ein alter Mann herein. Schweiß trieft von seiner Stirn, und aus seinen Augen fließen Thränen. Er kann nicht sprechen. Auf dem Sopha bricht er zusammen und blickt auf uns, als wollte er sagen: „Ihr Glücklichen, Ihr wißt es noch nicht!“

Wir waren seit einigen Stunden durch manchen traurigen Anblick abgestumpft; die Verwandten der Mannschaft des „Großen Kurfürsten“, welche von der Zeitung Gewißheit über das Loos ihrer Lieben verlangten, hatten uns die Qualen des Menschenherzens schmecken lassen. Aber solche Verzweiflung hatten wir noch nicht gesehen. Da rang es sich los von den Lippen des alten Mannes: „Kaiser …. geschossen.“ Und wieder sank er schluchzend zurück. Wir waren entsetzt, aber wir glaubten es nicht. Da öffnet sich die Thür und ein Freund tritt herein, der uns stets durch seinen Gleichmuth in Erstaunen setzt. Sein Auge ist trocken, aber seine Kniee schwanken. Er hat von Augenzeugen gehört, daß ein zweites Attentat auf den Kaiser verübt worden sei. Er halte es nicht für möglich, sagt er, aber aus seinem Antlitze ist der letzte Blutstropfen gewichen. Und neue Boten kommen. Unten sammeln sich Leute. Sie haben Mühe, ein Kind zu beruhigen, das entsetzlich weint, weil man, wie es sich ausdrückt, dem Kaiser weh gethan hat. Sie sagen zu dem Kinde, wie zu sich selber: „Es ist nicht wahr!“ Aber ihre Mienen sind verstört.

Die letzte Hoffnung dahin. Ein Augenzeuge ist da. Von heftigen Frostanfällen unterbrochen, erzählt der junge Mann bruchstückweise, was er sah. Seine Finger zittern. Bald flüstert er kaum hörbar; bald schreit er auf, wie in einem wüsten Traume. Er war der Nächste beim Kaiser, als die That erfolgte. Er war in den Wagen gesprungen, um den Kaiser zu unterstützen. Und der Kaiser hatte ihm – ihm noch gedankt und befohlen, nach Hause zu fahren. Da entdecken wir Blut an der Hand und an der Manschette des Erzählers. „Sind Sie auch getroffen?“

– „Das Blut des Kaisers,“ stammelt der junge Mann. Wir weichen erschüttert zurück. –

Unten wird der Volkshaufen immer dichter. Lärmend verlangen sie Nachrichten über das Befinden des Kaisers. Man vertröstet sie auf das Extrablatt, das demnächst erscheinen soll. Da kehrt ein Mitarbeiter auf raschem Wagen aus dem kaiserlichen Palais zurück, wohin er entsendet worden war, um Erkundigungen einzuziehen. Schon ist er vom Volke umdrängt. „Wie geht’s dem Kaiser?“ „Dem Kaiser?“ Der Arme ringt nach Worten. Man sieht es ihm an, seine Nachrichten sind tröstlich. Endlich beginnt er: „Der Kaiser leidet große Schmerzen …“ Ein Weinkrampf macht seinem Bericht ein Ende. Und Alle, die ihn hören, weinen mit ihm.

„Der Kaiser leidet große Schmerzen.“

Endlich beginnt die Maschine zu arbeiten. Binnen wenigen Minuten verlassen ganze Stöße von den leichten Blättern der Extranummer das Haus und tragen das Entsetzen in den fernsten Winkel von Berlin. Und zugleich spielt der Telegraph nach allen Richtungen und verkündet das Hallunkenstück. Und überall auf Erden, wo Deutsche wohnen, da fühlen sie, daß Deutschland geschändet ist, und überall, wo Menschen wohnen, da antwortet man ihnen, daß die Menschheit geschändet ist.

Es ist der Nachmittag eines Sonntags. Die Berliner haben die freie Natur oder doch die grünen Plätze vor der Stadt aufgesucht. Noch ahnen sie nicht, was hinter ihnen geschah. Da kommt auch zu ihnen das Gerücht, immer bestimmter und zuverlässiger, bis sie es glauben müssen. Da brechen sie auf und kehren in die Stadt zurück. Wie auf Verabredung leeren sich alle Vergnügungslocale im Umkreise Berlins. Die Pferdebahnwagen, die Omnibusse, sie fahren leer aus der Stadt hinaus – an einem Sonntagnachmittag! – und kehren überfüllt zurück. Am mächtigsten ist der Eindruck im Zoologischen Garten. Es ist der erste Sonntag im Monat, der sogenannte „Fünfundzwanzigpfennigtag“. Wohl an fünfzigtausend Menschen treiben sich in den reizenden Anlagen umher, bewundern die seltenen Thiere und freuen sich der schönen Musik. Da plötzlich bemächtigt sich eine unerhörte Aufregung der Menge. Schon theilt der Director von der Tribüne herab die Schreckensthat mit. Die Musikcapelle verstummt; das Publicum flieht aus dem Garten, als hätte jeder Einzelne die Nachricht, sein Liebstes läge krank daheim und verlange nach ihm.

Was die Leute mit einander reden, läßt sich mit Worten nicht wiedergeben. Sie lechzen nach dem Blute des Mörders. Wenn er jetzt unter sie träte, Niemand könnte ihn vor dem Zerrissenwerden schützen. – Die Todesstrafe sei zu gering für ihn; neue Martern müsse man erfinden. Und wie die Phantasie nach neuen unerhörten Qualen sucht, mit denen das unerhörte Verbrechen zu ahnden wäre, so sucht der Mund nach einem Namen für den Schuft, der das deutsche Volk vor dem Auslande in so unauslöschlicher Weise gedemüthigt hat. Man schaudert, wenn man die Schmähreden hört, aber man beneidet die urwüchsigen Leute um die Freiheit ihrer Sprache. Wie gern würde auch die gebildete Feder dieses Geschöpf so benennen, wie es verdient – den Hund!

Plötzlich ein Schrei! Ein Arbeiter hat den Mörder mit der allgemeinen Noth zu entschuldigen versucht. Sofort wird Lynchjustiz geübt, und das energische Einschreiten Besonnener kann ihm kaum das nackte Leben retten.

Endlich ist die heranfluthende Schaar vor dem Palais des Kaisers angelangt. Welch ein Bild!

Als am 11. Mai der hohe Herr, unberührt von Hödel’s Kugeln, in seinen Palast zurückkehrte, war das ein Jubeln! „Es ist ein Tag wie nach Sedan,“ sagten die Berliner. Fahnen flatterten von allen Dächern. Ununterbrochen, stundenlang standen hunderttausend Männer und Frauen aus allen Ständen da und winkten mit den Tüchern und riefen Hurrah, bis der Kaiser auf dem Balcon erschien und ihnen dankte. Heute stehen ihrer wieder Hunderttausend vor dem Palais, aber kein Laut wird hörbar, keine Fahne wird sichtbar. „Der Kaiser braucht Ruhe,“ flüstern sie einander zu und ziehen sich auf viele hundert Schritte vom Hause des Kranken zurück. Kaum braucht es des Winkes eines der zahlreichen Schutzleute. „Heute krakehlen wir nicht,“ sagt ein graubärtiger Maurer und wischt sich die Augen.

Der Unterschied von Hoch und Niedrig ist verschwunden. Ein General tritt aus dem Palais; sofort ist er vom Volke umringt und wird nicht eher frei gelassen, als bis er erzählt hat, was er Neues vom Befinden des wunden Kaisers weiß. Mit militärischer Klarheit beschreibt er den zuhörenden Dienstmädchen den Weg, den das Schrot genommen. Dort erzählt mit mühsam zurückgehaltener Stimme ein Dienstmann zum fünfzigsten Male, wie er den Mörder gepackt hat, und Geheimräthe horchen auf seine Worte.

Spät Nachts ist es geworden. Noch immer rufen die Jungen mit heiserer Stimme die neuesten Extrablätter aus, doch man kann sie nicht mehr lesen. „Der Kaiser schläft,“ ist der neueste Bericht. „So gehen wir nach Hause!“ Ruhig zerstreut sich die Menge. Ein Wunsch beseelt sie Alle: „Möge der Kaiser von seinen Wunden genesen!“

„Aber der Mörder auch!“ Und die Fäuste ballen sich.

F. M.