Die Russen in Kissingen

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Titel: Die Russen in Kissingen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 529–531
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Schlacht bei Kissingen aus der Sicht russischer Kurgäste
Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben Nr. 6
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Scenen und Bilder aus dem Feld- und Lagerleben.
6. Die Russen in Kissingen.[1]


Die diesjährige Saison war auch in Kissingen nicht reich an Gästen; dennoch hatten sich hier gegen dreihundert ausländische Familien, vornehmlich Engländer und Russen, eingefunden. Still flossen die Tage der Curzeit dahin und die meiste Abwechselung brachten noch die Thaten der Preußen. Alle waren überzeugt, daß der Krieg das stille Asyl der Kranken verschonen werde. Anfang Juni begannen die Durchzüge bairischer Truppen, welche, auf der Straße von Schweinfurt nach Fulda und Meiningen, bis zum 27. Juni (alles nach altem Kalenderstyl) fortdauerten. Auch der König von Baiern kam nach Kissingen zur Heerschau. Man sagte uns, daß diese Truppen nach Sachsen gingen, um sich dort mit den österreichischen zu vereinigen.

Am 23. Juni wurden wir durch die Bekanntmachung des Kissinger Bademagistrats, daß die Preußen Fulda (etwa zehn Stunden Fahrt von Kissingen) besetzt hätten, in einige Unruhe versetzt. Den ganzen Tag über sprengten Baiern durch die Stadt mit der Nachricht, daß die Preußen auf Kissingen losmarschirten. Wir gedachten die Stadt zu verlassen, aber es gab fast keine Pferde, so daß es nur sehr Wenigen gelang fortzukommen; gegen Abend machte übrigens der Magistrat durch Maueranschlag bekannt, daß das Gerücht von einem Herannahen der Preußen sich als grundlos herausgestellt habe, daß die Preußen nicht einmal in Fulda sich gezeigt hätten und daß der ganze Alarm nur in Folge eines unbedeutenden Scharmützels zwischen Baiern und Preußen an der Grenze entstanden sei. Alle fühlten sich beruhigt.

Am 26. Juni kamen bairische Ulanen und Artillerie nach Kissingen; bei ihnen befand sich u. A. Prinz Ludwig von Baiern, der sich bis zum Morgen des 27.in Kissingen aufhielt und sodann fortreiste, ohne daß man wußte, wohin. Hierauf verschwanden auch Ulanen und Artillerie. In der Stadt blieben nur anderthalbtausend Mann Fußtruppen und zwei Kanonen. Niemand wußte, wie viel bairische Truppen sich in der Umgegend befanden: es war dieses ein Kriegsgeheimniß. Still und ruhig ging der Morgen des 27. Juni vorüber; Niemand hatte eine Vorstellung davon, was sich für den andern Tag vorbereitete. Um vier Uhr Nachmittags saß die ganze Gesellschaft im Curgarten am Brunnen, in Erwartung der Musik, welche um sechs Uhr zu beginnen pflegte, oder musicirte im Cursaal, spielte Karten oder trank Kaffee. Plötzlich erscheinen bairische Soldaten und stellen sich in kleinen Abtheilungen an verschiedenen Stellen des Gartens auf. Anfangs dachten wir, es seien Truppen, die, auf dem Durchmarsch begriffen, in Kissingen Halt gemacht hätten und nun, wie Aehnliches fast alle Tage geschah, den Abend im Garten zubringen wollten; aber alsbald erfuhren wir, daß die preußischen Truppen sich Kissingen näherten und daß nach einigen Stunden in der Stadt selbst eine Schlacht geliefert werden sollte. Man denke sich den allgemeinen Schreck und die Verwirrung bei dieser unerwarteten Nachricht! Alle eilten ihren Wohnungen zu, um einzupacken, abzureisen, aber, o weh! es waren weder Pferde noch Wagen zu bekommen; es gab keine. Diejenigen Curgäste, deren Wohnungen sich jenseits des Flusses, der die Stadt in zwei Theile theilt, befanden, hatten nicht einmal die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren, weil die Baiern die über den Fluß führenden kleinen Brücken abgebrochen und Barricaden gebaut hatten. Die Hauptbrücke hatte man befestigt, es standen Kanonen darauf; Niemand durfte hinüber. Man mußte in der Stadt bleiben, sich mit dem, was man anhatte und mit sich trug, begnügen und alle andern Effecten ihrem Schicksal überlassen. Noch immer tröstete der Bademagistrat die Curgäste, es werde keine Schlacht geben, es würden nur einige Vorsichtsmaßregeln für den Fall getroffen, daß irgend ein kleiner Trupp Preußen etwa plötzlich in die Stadt käme. Diejenigen, welche ihre Wohnungen erreichen durften, wurden gebeten, nur ganz ruhig dazubleiben, die andern, die obdachlos geworden waren, ersuchte man, sich ein Unterkommen in den Gasthöfen zu suchen.

Die Nacht verging ruhig. Ein, zwei Schüsse hörte man in den Bergen fallen – das war Alles. Um sieben Uhr Morgens am 28. Juni wußten die Baiern noch nicht, wo die Preußen waren und in welcher Entfernung oder Nähe. Um acht Uhr gedachte der Anführer der bairischen Truppen eine Abtheilung Soldaten zur Recognoscirung auszusenden (dies sagte mir der Badecommissar um acht ein Viertel Uhr selbst), aber nach Verlauf von fünf Minuten schon erschallten die ersten Schüsse. Von halb neun Uhr an begann das Schießen stärker zu werden; häufiger und häufiger erschallten Kanonensalven, der Donner der Geschütze krachte, die Kugeln pfiffen; es begann Granaten und Kartätschen zu hageln, mit einem Wort, es begann ein heißer Kampf. Ich unterlasse es, die Einzelnheiten des Gefechts zu erzählen, weil ich mit dem Kriegswesen durchaus nicht vertraut bin und auch, aufrichtig gesagt, bei dem Sausen der Kugeln keineswegs Lust verspürte, dem Verlaufe der Sache zu folgen; ich bemerke nur, daß der Kampf zuerst jenseits des Flusses stattfand, sodann auf der Brücke und endlich in der Stadt selbst und besonders im Curgarten. Auf dem Berge hinter der Stadt waren von den Baiern drei Batterien errichtet worden (wir wußten davon nichts) und achtzehn Geschütze schleuderten ihre Kugeln, Granaten und Kartätschen über die ganze Stadt hinweg nach der Seite hin, von welcher die Preußen kamen, so daß in dem jenseit des Flusses gelegenen Theile der Stadt alle Häuser mit bairischen Mörsergeschossen wie besäet, einige stark beschädigt, ja halb zerstört wurden. In der Stadt selbst nahmen die Baiern viele Häuser ein, darunter mehrere, in denen sich Wohnungen von Curgästen befanden. Von hier aus ward aus den Fenstern geschossen. Der Kampf dauerte bis halb zwei Uhr. Da begann das Feuern in der Stadt aufzuhören. Die Baiern, total geschlagen, verließen die Stadt und die Preußen zogen als Sieger ein. Das Handgemenge dauerte übrigens auch noch hinter der Stadt, in den Bergen und auf der Straße nach Schweinfurt bis in die Nacht hinein fort.

Nicht etwa eine Abtheilung preußischer Truppen kam nach [530] Kissingen, sondern ein preußisches Heer von fünfzigtausend Mann, und eine Stunde vor Ankunft dieses Heeres wußten die Baiern noch nichts davon!

Um zwei Uhr entschlossen wir uns, unsere Schlupfwinkel zu verlassen, und wagten uns auf die Straße hinaus. O Gott, welch’ furchtbaren Anblick die Stadt darbot! Die Häuser von oben bis unten mit Kartätschen besäet, durchlöchert von Kugeln und Granaten, die hier und da selbst steinerne Wände gesprengt hatten. Auf den Straßen und im Garten eine Menge Todter und Verwundeter, Lachen von Blut, umhergeworfene Waffen, Patronen, Munition. Der Cursaal im Garten und die Galerien verwandelten sich in ein Lazareth und füllten sich im Verlauf weniger Minuten mit einigen hundert Verwundeten; unaufhörlich trug man sie von allen Seiten auf den Händen und auf Tragbahren herbei. Ein trübes, trauriges Bild!

Stattlich schritten die preußischen Truppen mit wehenden Fahnen, unter klingendem Spiel und Trommelwirbel durch die Stadt. Die Begleitung zur Musik lieferten die Geschützsalven und der Kanonendonner in den Bergen. Im Garten waren die Bivouaks der preußischen Kürassiere und Husaren. Dorthin brachte man auch die gefangenen Baiern, von denen ich eine Stunde nach der Schlacht bis vierhundert zählte; aber auch später noch den ganzen Tag hindurch und sogar noch am folgenden Tage wurden truppweise Gefangene eingebracht, deren man sich in der Umgegend der Stadt und auf den Straßen bemächtigt hatte. Bisher habe ich keine genauen Angaben über die Zahl der Todten und Verwundeten sammeln können. Soviel ich herausbrachte, liegen jetzt im Cursaale und in fünfzehn Privathäusern, welche in Lazarethe umgewandelt wurden, über fünfhundert Mann verwundeter Preußen und Baiern. Ueber dreihundert Todte wurden auf dem Kissinger Friedhofe bestattet, darunter ein Major aus Lippe-Detmold und zwei preußische Officiere. Man sagt, es seien im Ganzen beiderseits zweitausend Todte und Verwundete.

Niemand von den Russen oder Ausländern ist, Gott Lob, getödtet oder auch nur verwundet worden. Von den Bewohnern des Ortes ist der Provisor einer hiesigen Apotheke zum Opfer gefallen, wie man sagt, ein Preuße. Während des Gefechts war er im Laboratorium und bereitete eine Arzenei. Eine baierische Granate schlug in die Wand des Hauses ein, durch diese hindurch und ein Splitter traf den Unglücklichen gerade in die Brust.

Den ganzen Rest des 28., sodann am 29. und 30. Juni zogen fortwährend preußische Truppen über Kissingen nach Schweinfurt und nach Gmünden. Heute, am 1. Juli, ist die Stadt ruhig, nur giebt es keinen Telegraphen, keine Post, keine Pferde. Auch macht sich ein bedeutender Mangel an Lebensmitteln bemerklich; es giebt kein Brod, keinen Wein, kein Bier, keinen Kaffee, keinen Tabak; Alles hat das Heer aufgezehrt.

Zur Ehre der preußischen Truppen muß man bekennen, daß Niemand unter den fremden Curgästen irgendwie gekränkt wurde. Es ist keinerlei Unordnung oder Gewaltthat vorgekommen. Die Privathäuser blieben unangetastet; nur Küchen und Keller wurden völlig ausgeleert. Eine Ausnahme machte das „Hotel de Bavière“, welches gänzlich zerstört wurde; alles Glas, alle Spiegel zerbrochen, alle Vorräthe vernichtet, das Hausgeräth demolirt, Wäsche und Kleider verschleppt und verdorben. Als Ursache dieser Verwüstung, welche am Morgen nach der Schlacht angerichtet wurde, giebt man den Umstand an, daß, während preußische Soldaten in dem Hause einquartiert waren, von Seiten des Wirths und seiner Bedienung (Baiern) drei Schüsse gegen die Preußen abgefeuert worden sein sollen.

Ich gehe jetzt dazu über, zu erzählen, wie Gott an diesem schrecklichen Morgen uns beschützte und was sich mit einigen der russischen Curgäste begeben hat. Ich will von mir anfangen. Mit meiner Familie war ich in der Zahl derjenigen, welche nicht in ihre Wohnung gelangt waren, ihre Habe dem Schicksal überlassen und in einem Gasthofe ein Unterkommen suchen mußten. Ich wählte das Hotel zum Curhause gegenüber dem Curgarten, in der Hoffnung, daß die auf demselben wehenden weißen und mit rothen Kreuzen versehenen Flaggen die Unantastbarkeit des Hauses verbürgen würden. Die Fenster meiner Stube waren der Richtung, wo die Schlacht stattfand, entgegengesetzt; so hielt ich uns für geborgen. In demselben Hause befand sich die Familie eines russischen Gutsbesitzers, die kranke Frau eines russischen Consuls, ein Kosaken-Stabsofficier mit seiner Frau, einige Beamte aus Petersburg und fünf oder sechs englische Familien. Anfangs saßen wir bei geschlossenen Läden in unsern Stuben, als aber die Kugeln in die Laden einzuschlagen begannen, da gingen wir in die Corridore inmitten des Hauses. Die Frauen und Kinder hielten sich in der Nähe der Hauptmauern. Die Männer gingen in den Corridoren umher und stiegen von Zeit zu Zeit auf den Boden, um aus den Bodenfensterchen hinauszuschauen. Man muß dem Muthe und der Geistesgegenwart aller Damen in der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren lassen: keiner wurde schlimm, keine ward ohnmächtig. Selbst die Kranke, welche aus ihrer Stube in einem Bette herausgebracht worden, weil eine Kugel neben ihr auf den Boden gefallen war, hielt sich so tapfer, wie ihre Krankheit es zuließ. Die Kinder weinten nicht, sondern saßen still und zupften Charpie. Und doch war Grund zur Aengstlichkeit vorhanden: oft klirrten in den Stuben die Scheiben, von Kugeln zertrümmert; noch öfter hörte man das Pfeifen und Sausen der Granaten und Kanonenkugeln, die über das Haus hinwegflogen. Vor unsern Augen flog eine Kugel in ein Fenster des Corridors, in welchem wir uns befanden, zu uns herein; eine andere Kugel pfiff, nachdem sie ein Fenster zertrümmert hatte, so dicht an einer Dame vorüber, daß diese eine leichte Contusion in der Hand verspürte. Uebrigens traf keine Kanonenladung unser Haus. Ich wage es nicht, zu entscheiden, ob dieses den an dem Hause angebrachten Flaggen oder einfach dem Zufalle zuzuschreiben ist. Wir verließen unsern Zufluchtsort nicht bis zum Ende des Gefechts. Die ersten Preußen sahen wir bereits als Sieger in der Küche des Gasthofs, wie sie eifrig der Vertilgung unseres Mittagessens oblagen.

Nicht so sicher war die Lage, in der sich andere unserer Landsleute befanden. Hier folgen ihre eigenen Berichte von ihren Erlebnissen an diesem Morgen.

Der Generalmajor Preradowitsch war mit seiner Gemahlin in dem jenseit des Flusses gelegenen Theile der Stadt geblieben und zwar in dem Hotel Couronne de Rose, das hart an der Straße steht, auf welcher die Preußen daherzogen. Unglücklicherweise stand dieser Gasthof gerade gegenüber den auf den Bergen errichteten baierischen Batterien, so daß er dem Feuer der letztern in höchstem Grade ausgesetzt war. Einhundert dreiundsiebenzig Kanonenschüsse schlugen in das Haus ein, welches mit Kanonenkugeln, Granaten und Kartätschen förmlich besäet war. Der General hielt sich mit seiner Gemahlin in einem nach der andern Seite des Hauses gelegenen Zimmer auf, welches durch eine Capitalmauer geschützt war. Die vorderen Stuben erscheinen ganz bunt von Kugeln und Kartätschen. Einige Granaten schlugen durch die Wände des Hauses und platzten in den Corridoren. Granatensplitter fielen in die Stube, wo sich der Generalmajor befand, zum Glück, ohne ihn oder seine Gemahlin zu verletzen. Sogleich beim Beginn des Kampfes nahmen die Preußen seine Wohnung ein und schossen vom Balcon oder aus den Fenstern.

Ein Gutsbesitzer aus dem Wladimirschen, Herr Protassjew, wohnte mit Frau und Tochter im „Hotel Sanner“, dem letzten Hause an der Straße nach Schweinfurt. Als das Treffen begann, nahm Herr Protassjew gerade ein Bad; eine Kugel flog, als er aus der Wanne stieg, nahe an ihm vorüber, nachdem sie das Fenster zertrümmert hatte. Die Fenster der Wohnung waren nach der Straße gerichtet, auf welcher der Kampf wogte. Herr Protassjew nahm seine Zuflucht zur Nachbarswohnung. Nachdem die Preußen ihre Gegner von der Brücke verdrängt hatten, nahmen sie die Wohnung des Herrn Protassjew ein und schossen aus den Fenstern des Schlafzimmers. Seine Wohnung ist an vielen Stellen beschädigt; in dem Schlafzimmer ward ein Baier getödtet; dicht am Bett ist eine große Blutlache.

Der Sänger unserer russischen Opernbühne, Herr Komissarshewskij, der mit seiner Frau und seinem kleinen Kinde vor wenigen Tagen erst nach Kissingen gekommen war, wohnte inmitten der Stadt, am Markt, im „Hotel Wittelsbach“. Der Gastwirth hatte seine Gäste in dem Kellergeschoß seines Hauses geborgen, wo sie vor Kugeln und Kartätschen sicher waren. Als die Preußen sich der Stadt bemächtigt hatten, hörte man plötzlich laute Schläge an die verschlossene Thür und den Befehl zu öffnen. Der erschrockene Wirth hatte sich versteckt. Die Schläge wurden mit der Drohung wiederholt, daß, wenn man nicht öffnete, die Thür erbrochen und alle in dem Raume verborgenen Personen getödtet werden würden. Herr Komissarshewskij entschloß sich, selbst die Thür zu öffnen. Sobald dies geschehen war, stürzten die Preußen herein und warfen [531] sich mit Scheltworten auf Herrn Komissarshewskij. Einer der Soldaten schlug ihn mit dem Flintenkolben auf die Schulter. Herr Komissarshewskij sagte, er sei ein Ausländer, Russe; wo der Gastwirth sei, wisse man nicht. Die Preußen glaubten ihm nicht; er zeigte seinen Paß vor, den sie zerrissen und fortwarfen. Die Soldaten schleppten Herrn Komissarshewskij mit gefälltem Bajonnet in die Wohnungen des Hauses. Oben befahl man ihm, die Thüren der Wohnungen zu öffnen. „Ich habe keine Schlüssel,“ sagte Herr Komissarshewskij; „ich habe schon erklärt, daß ich nicht der Wirth bin, brecht die Thür ein.“ Mit diesen Worten stieß er selbst mit dem Fuße die Thür ein. Die Preußen traten ein und untersuchten alle Wohnungen des Hauses. Sodann stiegen sie bis zu den Dachkammern hinauf. An der Thür des Bodenraumes richteten sie ihre Flinten gegen Herrn Komissarshewskij und sagten ihm: „Finden wir auch nur einen einzigen Baiern, so tödten wir ihn und Dich.“ Zum Glück für Herrn Komissarshewskij war Niemand im Bodenraume, die Preußen beruhigten sich und sagten zu der Gemahlin des Sängers, daß sie demselben kein Leid hätten zufügen wollen, daß sie aber überzeugt gewesen seien, in diesem Hause seien Baiern verborgen. Man vergegenwärtige sich die Lage der Dame, während man ihren Gemahl im Hause umherführte!

Ich habe einige Fälle angeführt, um zu zeigen, daß die baierischen Behörden auch nicht im Entferntesten auf unsere Sicherheit bedacht waren, und wenn Niemand von uns getödtet oder verwundet wurde, so verdanken wir dies lediglich dem Zufall und der Vorsehung.

Gegenwärtig kommen alle die erschreckten, verwirrten Ausländer allmählich zu sich. Einige haben Mittel und Wege gefunden, die Stadt zu verlassen. Andere – darunter auch ich – nahmen die unterbrochene Wassercur wieder auf. Fast alle Damen haben sich in barmherzige Schwestern verwandelt und sind vom Morgen bis zum Abend mit der Pflege der Verwundeten beschäftigt, indem sie den Wundärzten hülfreich an die Hand gehen, Verbände anlegen und diejenigen speisen und tränken, die solcher Hülfe bedürfen. Aus den Häusern wird Wäsche, Bettzeug, Essen und Trinken gebracht.

Ich bin, wie erwähnt, durchaus nicht vertraut mit dem Militärwesen und maße mir nicht an, zu beurtheilen, in welchem Grade die Baiern nöthig hatten, gerade Kissingen zum Schlachtfelde zu wählen; aber im Namen der Nächstenliebe wage ich es, die Frage zu stellen: haben die bairischen Behörden uns gegenüber recht gehandelt, indem sie unser Leben, das Leben unserer Frauen und Kinder einer solchen Gefahr aussetzten? Hatten die Baiern einmal den Entschluß gefaßt, Kissingen zum Kampfplatze zu bestimmen, warum haben sie uns nicht davon in Kenntniß gesetzt und uns aufgefordert, abzureisen oder in der Umgegend in sichern Orten eine Zuflucht zu suchen? Warum täuschte man uns bis zum letzten Augenblick mit der Angabe, es sei keine Gefahr; wir sollten unbesorgt sein? Als die Baiern auf den Bergen heimlich drei Batterien mit achtzehn Geschützen auffuhren, deren Mündungen gegen die Häuser gerichtet waren, konnten sie da wohl glauben, daß ihre Kugeln, Granaten und Kartätschen nur Preußen treffen würden?

Führen die Baiern mit den Preußen Krieg, so müssen nur diese und jene unter den Schrecknissen des Krieges leiden; macht man aber friedliche Ausländer, die in eine nicht im Kriegszustand befindliche Stadt, sondern an einen Curort kamen, zu unfreiwilligen Theilhabern an diesen Schrecknissen des Krieges, so ist dieses eine directe Verletzung der internationalen Beziehungen. War die Stadt in Gefahr, so hätte man sogleich es verkünden, die Cursaison schließen, die Kranken zur Abreise auffordern sollen, statt so ohne alle Umstände zu verfahren. Oder haben vielleicht die Baiern auf die Anwesenheit von Ausländern in der Stadt als auf ein Mittel zum Erfolg gerechnet, in der Hoffnung, daß die Preußen eine von Ausländern angefüllte Stadt nicht zu beschießen wagen würden?

In der That muß man sich bei der ungeheuren Artillerie, über welche die Preußen verfügten, darüber wundern, daß sie die Stadt nicht zerstörten, daß sie dieselbe ganz unversehrt ließen. Es fand sich keine einzige preußische Kugel, keine einzige preußische Kartätsche in der Stadt!

Die Baiern werden vielleicht ihre Handlungsweise mit der Plötzlichkeit des Ueberfalles zu rechtfertigen suchen. Es ist nicht wahr: ein plötzlicher Ueberfall kann von einer kleinen fliegenden Colonne gemacht werden; von der Annäherung eines Heeres von fünfzigtausend Mann nicht vorher unterrichtet zu sein, ist unverzeihlich und undenkbar. Oder führen die Baiern mit verbundenen Augen Krieg? Wozu aber die Batterien? Wozu achtzehntausend Mann Truppen? Also sie wußten davon und rüsteten sich.




  1. Aus dem in einer russischen Zeitung veröffentlichten Briefe eines Russen.