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Die Ermordung des Justizrats Levy.

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Textdaten
Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Die Ermordung des Justizrats Levy.
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 9, Seite 214-232
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Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
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Die Ermordung des Justizrats Levy.

Die Weltgeschichte berichtet über so viele Mordtaten, daß es fast den Anschein gewinnt, als sei sie mit Blut geschrieben. Selbst die Bibel beginnt mit der Erzählung eines Brudermordes. Mit dem Fortschritt der Kultur haben zweifellos die schwersten Verbrechen, die das Strafgesetzbuch kennt, bei allen Kulturvölkern eine wesentliche Verringerung erfahren. Menschenleben werden im allgemeinen höher geschätzt als in der Vorzeit. Nur Leuten, die auf der Stufe tiefster sittlicher Verworfenheit stehen, ist das Verbrechen des Mordes zuzutrauen. Der Berichterstatter, dessen Beruf es erfordert, jahraus, jahrein in den Gerichtssälen zu verkehren, ist, wie ich schon einige Male ausgesprochen habe, selbst gegen die ärgsten Verbrechen etwas abgestumpft. Ich habe während meiner langjährigen Berufstätigkeit so vielen Mordprozessen beigewohnt, daß mich selbst die

Taten des Raubmörders Sternickel

kaum außer Fassung gebracht haben. Als jedoch am Sonntag, den 18. Oktober 1896 die Welt die Schreckenskunde durcheilte:

Justizrat Levy sei am frühen Morgen in seiner Wohnung ermordet

worden, da durchzuckte selbst den abgestumpftesten Kriminalisten ein panischer Schrecken. — Justizrat Levy war 1833 in Wollstein, Provinz Posen geboren. Er war zunächst Rechtsanwalt in Fraustadt. 1872 siedelte er nach Berlin über und wurde nach einigen Jahren Rechtsanwalt und Notar am Kammergericht. Er gehörte zum Vorstand der Anwaltskammer der Provinz Brandenburg, war Mitglied der ständigen Deputation des Deutschen Juristentages und Vorsitzender des Berliner Anwaltvereins. Seine Klientel schätzten den sachkundigen und erfolgreichen Mandatar, dessen Praxis eine der glänzendsten Berlins war, ungemein hoch. Auf dem Deutschen Juristentage nahm Levy durch seine zahlreichen Outachten und Referate eine hervorragende Stellung ein.

Er beabsichtigte einen Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu schreiben, an dessen Entstehen er den lebendigsten Anteil genommen hatte. Er veröffentlichte eine Anzahl populärer Artikel über diese Materie in der „Nation“, während fachwissenschaftliche Abhandlungen kleineren Umfangs häufig in der „Deutschen Juristenzeitung" von ihm erschienen.

Justizrat Levy genoß eine außerordentliche persönliche Beliebtheit. Wo der schlanke, kleine Herr mit dem geistreichen freundlichen Gesicht erschien, wurde er schnell zum Mittelpunkt der Unterhaltung und in liebenswürdiger Art liebte er es besonders, mit jüngeren Kollegen, deren Förderung nach jeder Richtung er sich besonders angelegen sein ließ, zu scherzen. Seine Passion war das Schachspiel, dem er sich aktiv oder als Zuschauer in dem damaligen Cafe „Kaiserhof" häufig widmete. Dort traf er noch am Freitag vor dem Morde, nach der Feierlichkeit zu Ehren des fünfzigjährigen Dienstjubiläums des Kammergerichtspräsidenten Drenkmann, mit einer größeren Zahl von Kollegen zusammen, und seiner Art getreu hatte er bald ein humoristisches Gespräch in Gang gebracht. „In sieben Jahren feiere ich mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum," sagte er bei dieser Gelegenheit zu einem jüngeren Anwalt, der ebenso als geistreicher Festredner, wie als erfolgreicher Mandatar bekannt war, „da müssen Sie für eine schöne Rede sorgen." Daran knüpfte sich eine ernste Erörterung der Ziele, die sich Justizrat Levy in seiner literarischen Tätigkeit noch gesteckt hatte, und er versprach den anwesenden Freunden, ihnen schon in den nächsten Monaten die erste Lieferung seines beabsichtigten Kommentars zum Bürgerlichen Gesetzbuch zu übersenden. „Denn Montag fange ich wieder einmal tüchtig zu arbeiten an.“

Diese Absicht des trefflichen Mannes, deren Verwirklichung zweifellos sowohl der wissenschaftlich wie der praktisch tätigen Juristenwelt von größtem Nutzen gewesen wäre, war durch ein ruchloses Bubenstück in entsetzlicher Weise vereitelt worden.

Justizrat Levy wohnte in der Mohrenstraße 53, kaum zwei Minuten von der Friedrichstraße, in der das Brausen der Weltstadt auch damals schon zu keiner Tages- oder Nachtzeit verstummte. Am Morgen des 18. Oktober 1896, eines Sonntags, etwa gegen fünf Uhr lag der alte Justizrat und seine Gattin noch im tiefen Schlaf. Da plötzlich drangen zwei Mordbuben in das unverschlossene Schlafzimmer. Einer dieser Mordbuben stieß mit einem Dolchmesser sofort auf den schlafenden Justizrat los und verwundete ihn im Genick, am Kopfe und an der Brust. Der alte Herr fuhr in die Höhe. Das Geräusch, das hierbei entstand, weckte auch seine Frau. Diese sprang, während fast zu gleicher Zeit auch der Mann aus seinem Bette halb herausfiel und halb herausstieg, auf und eilte, um Hilfe schreiend, an dem Bette des Mannes vorbei, nach dem Zimmer zu, in dem das eine Dienstmädchen schlief. Dabei erhielt sie von dem einen Mordgesellen zwei Messerstiche in Schulter und Hand, die glücklicherweise nicht gefährlich waren. Justizrat Levy schleppte sich seiner Frau nach zu dem Schlafzimmer des Dienstmädchens und brach hier zusammen. Das Mädchen, das unterdessen wach geworden war und sich halb angekleidet hatte, brachte den alten Herrn in das Schlafzimmer zurück und legte ihn in das Bett seiner Frau, weil sein eigenes mit Blut über und über besuldet war. Dann eilte es auf die Straße den Mördern nach, die inzwischen geflüchtet waren. Gegenüber dem Levyschen Hause hielten in der Mohrenstraße vier Droschken. Der Kutscher der letzten nahm das halbnackte Dienstmädchen, das bald nach den Mördern auf die Straße kam, wickelte es in Decken, setzte es in seine Droschke und suchte nun von ihm zu erfahren, was vorgefallen sei. Das Mädchen war aber vom Schrecken so gelähmt, daß es eine verständliche Mitteilung nicht machen konnte. So kam es, daß man sich nicht sofort an die Verfolgung der Verbrecher machte, die man sonst mit einer Droschke wohl hätte einholen können. Ehe man recht wußte, um was es sich handelte, waren die Verbrecher entkommen. Vier Ärzte aus der Nachbarschaft wurden herbeigerufen, sie vermochten jedoch das Leben des alten Herrn nicht mehr zu retten. Ein Stich, der von der Achselhöhle aus in die Brust eingedrungen war, war tödlich gewesen; um 83/4 Uhr starb der Verwundete, ohne daß er imstande gewesen wäre, über die Mörder und ihre Tat noch etwas mitzuteilen. Die Verletzungen der Frau erwiesen sich als ungefährlich.

Von der Familie Levy wurden 500 Mark, vom Berliner Anwaltverein 5000 Mark Belohnung für Ergreifung der Täter ausgeschrieben. Die Polizei entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit. Schon nach wenigen Tagen gelang es die Mörder, den am 16. Februar 1880 in Berlin geborenen Arbeitsburschen Bruno Werner und den am 6. Juli 1880 in Berlin geborenen Schlosserlehrling Willy Max Grosse zu verhaften. Die Familien der beiden jugendlichen Mörder, die den Justizrat und dessen Gattin ermorden wollten, um alsdann den Geldschrank aufzubrechen und zu plündern, wohnten in der Georgenkirchstraße 53. Die beiden Unholde waren Schulkameraden und nach ihrer Einsegnung Schreiber bei Berliner Rechtsanwälten.

Werner war vom 15. April 1894 bis 4. Januar 1896 beim Justizrat Levy, dann bis Anfang Mai beim Rechtsanwalt Golde beschäftigt, während Grosse nacheinander bei den Rechtsanwälten Feilchenfeld, Auerbach und Kurnicke beschäftigt war. Anfang Mai gaben beide ihre Stellungen auf. Werner wurde stelivertretender Bureaudiener bei der Firma Naglo, während Grosse Laufbursche wurde. Zuletzt war er als solcher in der Buchdruckerei von Hendebett in der Lindenstraße tätig, und Werner in dem ganz in der Nähe belegenen Drogengeschäft von Martin. Während seiner Tätigkeit beim Justizrat Levy hatte Werner einmal dessen Schwiegersohne, Rechtsanwalt Koffka, die Gummischuhe vom Korridor gestohlen und war deshalb entlassen worden. Als er später bei Gebrüder Naglo in der Ausstellung beschäftigt war, führte er in Gemeinschaft mit Grosse einen Diebstahl in folgender Weise aus: Die automatischen Kassetten der elektrischen Rundbahn wurden abends nach Schluß des Betriebes von dazu angestellten Knaben nach einer Zentralstelle und von dort nach der Fabrik gebracht. Werner, der sich zum Mittransport erboten, gelang es, eine der Kassetten verschwinden zu lassen und dem Grosse zuzustecken, der sich mit ihr entfernte. Der Inhalt im Betrage von etwa 100 Mark wurde geteilt.

Hierauf faßte Werner den Plan, den Rechtsanwalt Golde, bei dem er früher beschäftigt war, zu bestehlen. Er wußte, daß dort die Haus- und Korridorschlüssel auf dem Telephonkasten zu liegen pflegten, und der Bureauvorsteher die Einnahmen nur einmal wöchentlich, und zwar des Sonnabends, an Frau Rechtsanwalt Golde ablieferte. Darauf baute er seinen Plan: Sein Freund Grosse sollte die Schlüssel stehlen, und Werner wollte dann mit deren Hilfe sich der Kasse bemächtigen. Am 1. Oktober 1896 klingelte Grosse an der Wohnung des Rechtsanwalts Golde und bat das ihm öffnende Dienstmädchen um die Erlaubnis, das Telephon benutzen zu dürfen. Dies wurde gestattet, Grosse simulierte ein telephonisches Gespräch und entwendete dabei die Schlüssel. Als Frau Rechtsanwalt Golde hinzukam, entfernte er sich schnell und übergab die Schlüssel dem wartenden Werner. Der Schlüsseldiebstahl war aber bemerkt worden. Frau Rechtsanwalt Golde ließ noch an demselben Tage sämtliche Schlösser ändern. Beide Angeklagte begaben sich in der Zeit vom 1. bis 9. Oktober zweimal zu der Goldeschen Wohnung; das erstemal mußten sie unverrichteter Sache abziehen, weil die Wohnung bis spät nachts erleuchtet war, das zweitemal brach bei den Versuchen, die Haustür zu öffnen, der Bart des gestohlenen Schlüssels ab. — Am Sonnabend, 10. Oktober, schlich sich Werner in aller Frühe auf den Hof des Goldeschen Hauses, um allein den Diebstahl auszuführen. Unter dem Vorgeben, er sei Glaser und solle die Fenster der Goldeschen Wohnung verkitten, bat er einen Stallmann um eine Leiter. Er erhielt diese auch und gelangte so auf die an der Wohnung entlang führende Galerie und von dort in das Bureau. Hier erbrach er den Tischkasten des Bureauvorstehers, es fielen ihm jedoch nur 2,60 Mark bares Geld und für eine Mark Paketfahrtmarken zur Beute.

Nach diesem Mißerfolge reifte in den beiden Burschen der entsetzliche Plan, einen Diebstahl bei dem Justizrat Levy, Mohrenstraße 53, auszuführen und die Levyschen Ehefeute zu töten. Werner wußte, daß der Justizrat sein Geld in einem eisernen Geldschranke verwahrte, die Schlüssel dazu am Tage bei sich trug und nachts in nächster Nähe seines Lagers aufbewahrte. Die Schlüssel waren also nur zu erlangen, wenn dem Justizrat Gewalt angetan wurde. Am 14. Oktober legten beide Angeklagten ihre Arbeit nieder. Werner erhielt 6 Mark Lohn und besaß außerdem noch 1,50 Mark. Von diesem Gelde kauften sie für 5 Mark zwei gleiche schwedische Dolchmesser. Der Plan der Mordbuben ging zunächst dahin, am 16. Oktober in der Frühe an dem vorderen Wohnungseingang der Levyschen Wohnung zu klingeln, das öffnende Dienstmädchen niederzuschlagen, dann in das Schlafzimmer zu dringen und das Levysche Ehepaar zu töten. Am Abend des 15. Oktober wurde die Örtlichkeit rekognosziert, die Ausführung der Tat am 16. wurde aber vereitelt, ebenso am 17. Als sie an diesem Tage an der Levyschen Wohnung klingelten, hörten sie das Geräusch von zuklappenden Türen, sie verloren deshalb den Mut und gingen hinab, um von der Hintertreppe einzudringen. Beim Passieren des Hofes bemerkten sie auf der Galerie, die an der Levyschen Wohnung entlang führte, drei Personen. Sie gaben deshalb den Plan für diesen Tag auf und antworteten auf die an sie gerichtete Frage nach ihrem Begehr, sie brächten Papier, wollten aber des Trinkgeldes wegen wiederkommen, wenn der Justizrat da wäre.

Am 18. Oktober 1896 sind sie in aller Frühe durch das Flurfenster über die Galerie in das Schlafzimmer des Levyschen Ehepaares eingedrungen und haben kalten Blutes die furchtbare Tat begangen, deren Opfer der alte Justizrat wurde, während Frau Justizrat gleichfalls bedenklich verwundet, aber durch ärztliche Kunst wiederhergestellt ward. Durch das Geschrei der Frau Justizrat wurden die beiden Mörder in die Flucht getrieben. Grosse lief nach der Friedrichstraße zu, Werner in der Richtung nach dem Kaiserhof. Da er Grosse hier vergeblich erwartete, kehrte er noch einmal um, um sich nach diesem umzusehen. Werner traf vor dem Levyschen Hause das Dienstmädchen laut um Hilfe rufend; er fragte es, was passiert sei, worauf das Mädchen erklärte, es seien Spitzbuben im Hause gewesen, er möge einen Schutzmann holen. Werner ging darauf zur Friedrichstraße zu und traf nach kurzer Zeit mit Grosse, wie verabredet, an der Löwengruppe im Tiergarten zusammen. Grosse ließ sich in der Sanitätswache in der Steglitzerstraße seine bei der Tat verletzte Hand verbinden, dann gingen beide in den Grunewald, von dort nach Spandau, dann zurück über Wilmersdorf und Potsdam. Hier trennten sie sich. Grosse ging nach Berlin zurück, Werner war über Potsdam, Brandenburg, Genthin, Halberstadt nach Zellerfeld gewandert. Dort wurde er am 29. Oktober verhaftet, während Grosse schon am 22. Oktober in Berlin von seinem Bruder eingeliefert worden war.

Am 1. Dezember 1896 hatten sich beide Mörder vor der neunten Strafkammer des Landgerichts Berlin I wegen Mordes, Mordversuchs und wegen mehrerer, zum Teil schwerer, mittelst Einbruchs begangener, Diebstähle zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Hoppe. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Müller II. Zu Verteidigern waren vom Gericht bestellt die Rechtsanwälte Dr. Paul Ivers und Hoffstädt. Da die Angeklagten zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren, konnten sie nicht vor die Geschworenen gestellt und weder zum Tode noch zu Zuchthaus verurteilt werden.

Der Andrang des Publikums nach dem kleinen Schwurgerichtssaal des alten Moabiter Gerichtsgebäudes, in dem die Verhandlung stattfand, war enorm. Mehrere Gerichtsdiener und Schutzleute, unter dem Kommando eines Polizeioffiziers, sorgten für Aufrechterhaltung der Ordnung.

Als die beiden Angeklagten von zwei Schutzleuten auf die Anklagebank geführt wurden, ging eine lebhafte Bewegung durch das Publikum. Der Angeklagte Werner war weit kleiner als Grosse. Beide machten den Eindruck ganz unreifer Burschen. Grosse trug noch einen Verband um einen Finger der linken Hand. Er hatte sich bei der Mordtat verletzt. Bei dem Betreten des Anklageraumes bedeckte brennende Röte sein Gesicht, er stierte zu Boden und begann zu weinen. Werner war vollständig ruhig, er verfolgte ganz genau die Vorgänge, die sich vor ihm abspielten, namentlich, als die Zeugen aufgerufen wurden. Als Sachverständige waren die Gerichtsphysici Dr. Long und Dr. Störmer und die Ärzte Dr. Opfer, Dr. Hadra und Professor Israel zur Stelle. Zwecks Begutachtung des Geisteszustandes des Angeklagten Grosse wohnte Medizinalrat Dr. Menger der Verhandlung bei.

Der Vorsitzende erörterte zunächst die Vergangenheit der beiden Angeklagten, nachdem er sie in eindringlichster Weise zur Wahrheit ermahnt hatte. Werner gab an, daß er der Sohn eines Kürschners sei. Sein Vater sei 1894 gestorben. — Vors: Waren Sie damals schon eingesegnet? — Angekl.: Nein. — Vors.: Haben Sie die Schule alle Klassen hindurch besucht? — Angekl.: Ich kam bis zur ersten Klasse. — Vors.: Was wurde aus Ihnen nach Ihrer Einsegnung? — Angekl.: Ich kam als Schreiberlehrling zum Justizrat Levy. — Vors.: Wie lange blieben Sie dort? — Angekl.: Bis Anfang 1896. — Vors.: Und warum kamen Sie dort fort? — Angekl.: Weil ich die Gummischuhe gestohlen hatte. — Vors.: Wo fanden Sie dann Stellung? — Angekl.: Beim Rechtsanwalt Golde — Vors.: Wie lange blieben Sie dort? — Angekl.: Bis Mai dieses Jahres. — Vors.: Wurden Sie dann entlassen? — Angekl.: Nein, ich ging. — Vors.: Warum? — Angekl.: Ich verdiente nur 30 Mark monatlich. — Vors.: Mußten Sie dies Geld Ihrer Mutter abgeben? — Angekl.: Jawohl, ich behielt gar nichts für mich. — Vors.: Sie wurden alsdann Laufbursche in verschiedenen Geschäften, bis Sie Anfangs September außer Stellung kamen? — Angekl.: Ja.

Vors.: Angeklagter Grosse, Sie sind der Sohn eines Postschaffners? — Angekl.: Ja. — Vors.: Wann starb Ihr Vater? — Angekl.: Als ich 10 Jahre alt war. — Vors.: Sie haben einen schlechten Gang? — Angekl.: Ja, ich hatte als Kind die englische Krankheit. — Vors.: Sie kamen, ebenso wie Werner, nach Ihrer Einsegnung zu einem Rechtsanwalt? — Angekl.: Ja. — Vors.: Sie nahmen alsdann Stellung als Laufbursche? — Angekl.: Jawohl. —

Werner gab sodann zu, eines Tages von dem Korridor der Wohnung des Justizrats Levy ein Paar Gummischuhe gestohlen zu haben.

Auch den Diebstahl gegen die Firma gaben beide Angeklagte zu. Werner hatte gehört, daß einmal ein Diebstahl an einer Kassette der elektrischen Rundbahn vorgekommen kommen war. Beide hatten sich verabredet, auch einen solchen Diebstahl zu begehen, und haben ihn ausgeführt, als Werner bei dem Transport der Kassetten nach der Fabrik beschäftigt war. Dabei entwendete Grosse eine Kassette und verschwand damit. Werner behauptete, daß etwa 100 Mark in Zehnpfennigstücken in der Kassette enthalten gewesen seien, und sie sich beide den Raub „nach ungefährem Gewicht‘ geteilt hätten. —

Die übrigen Diebstähle gaben beide Angeklagte zu. Werner wendete sich gegen die Behauptung der Anklage, daß Grosse sich zu den Diebstählen bei dem Rechtsanwalt Golde erst durch Zureden habe bewegen lassen. Er versicherte, daß Grosse sich ohne weiteres dazu bereit erklärt habe. Grosse behauptete, daß er aus freien Stücken von der Tat Abstand genommen habe.

Vors.: Wir kommen nun zu dem Hauptpunkt, der Ermordung des Justizrats Levy. Wie sind Sie zu diesem furchtbaren Plan gekommen? — Werner: Da wir bei Golde nicht recht etwas gefunden hatten, wollten wir bei Justizrat Levy einen Diebstahl ausführen. — Vors.: Wer ist zuerst auf den Gedanken gekommen? Doch wohl Sie, Sie wußten mit den Verhältnissen Bescheid. — Werner: Ich habe einmal leichthin davon gesprochen, durch vieles Hin- und Herreden ist es wirklich dahin gekommen. — Vors.: Grosse, Sie waren einverstanden? — Angekl. Grosse: Jawohl, ich habe mich dazu bereit erklärt. — Vors.: Angeklagter Werner, Sie haben früher einmal gesagt, daß Grosse Geld unterschlagen habe und dieses ersetzen mußte. Haben Sie aus diesem Grunde den verbrecherischen Plan gefaßt? — Angekl.: Das hat den Plan beschleunigt. — Vors.: Sie haben früher behauptet, daß, als Sie einmal zusammen die Mohrenstraße entlang gingen, der Plan, bei dem Justizrat Levy zu stehlen, in Ihnen gereift sei. — Angekl. Werner: Das ist richtig. — Vors.: Wie wollten Sie denn den Diebstahl ausführen? — Angekl. Werner: So, wie er ausgeführt wurde, durch Klettern auf die Galerie. — Vors.: Sie haben früher einmal angegeben, daß der Plan zunächst dahin gegangen sei, an der Wohnung des Justizrats Levy zu klingeln, das Mädchen niederzustechen und den Diebstahl auszuführen. Sie wußten, wo der Justizrat sein Geld bewahrte? — Werner: Ich vermutete es wenigstens. — Vors.: Sie behaupteten, daß Sie zunächst nicht die Absicht hatten, zu morden, sondern Ihr Plan ging ursprünglich dahin, die Frau Justizrätin zu knebeln. Sie haben sich sogar für fünf Pfennig Bindfaden dazu gekauft. — Angekl.: Ja. — Vors.: Sie vermuteten, daß im Bette rechts Herr Justizrat Levy und im Bette links die Frau Justizrätin schlief. — Angekl.: Ja. — Vors.: Tatsächlich war es aber umgekehrt. Sie, Werner, sollten als der Schwächere sich auf den schwächlichen Mann, Sie, Grosse, als der Stärkere, sich auf die kräftigere Frau werfen. — Vors: Ja! — Vors.: Ursprünglich war die Mordtat auf den 16. Oktober geplant. Sie hatten sich Dolche gekauft. Sie, Werner, hatten das letzte Geld, was Sie besaßen, dazu verwendet? — Werner: Ja. — Vors.: Einer dieser Dolche liegt vor. Werner hat seinen Dolch im Grunewald vergraben.

Vors.: Nun kommen wir zum 18. Oktober. Werner, Sie wußten, daß man sich durch das Flurfenster auf die Galerie hinaufschwingen konnte. Sie hatten dies schon zweimal getan, um ins Bureau zu gelangen, als Sie den Schlüssel vergessen hatten. — Werner: Jawohl. — Vors.: Am Morgen des 18. Oktober warteten Sie den Zeitpunkt ab, als der Bäckerjunge das Haus verlassen hatte. — Werner: Ja. — Vors.: Dann schwangen Sie sich beide durch das Fenster auf die Galerie und gingen bis zur Tür des Speisezimmers, welche, wie Sie wußten, offenzustehen pflegte. An das Speisezimmer stieß das Schlafzimmer, dessen Tür ebenfalls auf war. Sie öffneten die Tür. War es noch dunkel? — Werner: Ja. — Vors.: Konnten Sie die Personen sehen, die sich im Schlafzimmer befanden? — Werner: Nein, es war zu dunkel. — Vors.: Nun, Werner, erzählen Sie, was Sie taten, als Sie die Tür geöffnet hatten. — Werner: Eine Stimme fragte: Wer ist da? — Vors.: War es die Stimme des Justizrats oder seiner Frau? — Werner: Es war die Stimme der Frau. — Vors.: Lag sie in dem Bette rechts oder links? — Angekl.: Ich hatte geglaubt, daß der Herr Justizrat im Bette rechts lag, aber ich sah, daß wir uns geirrt hatten, im Bette rechts lag die Frau Justizrätin. Ich stürzte sofort mit gehobenem Messer auf sie los und stieß gegen sie. Wohin ich traf, weiß ich nicht. Sie sank ins Bett zurück, ich stieß noch mehrere Male nach ihr, dann ergriff ich die Flucht, da sie um Hilfe rief.— Vors.: Was machte nun Grosse während dieser Zeit? — Angekl.: Das habe ich nicht gesehen. — Vors.: Dem Richter in Zellerfeld gegenüber haben Sie sich aber viel bestimmter ausgedrückt. Sie haben damals gesagt, daß Sie gesehen hätten, wie Grosse auf den Justizrat Levy losgestochen habe. — Angekl.: Nein, so bestimmt habe ich mich nicht ausgedrückt, ich habe nur gesagt, daß ich annehmen müsse, Grosse habe auf den Justizrat eingestochen, während ich mit der Frau Justizrätin zu tun hatte. — Vors.: Haben Sie den Herrn Justizrat nicht auch gestochen? — Werner: Nein, vorsätzlich nicht. — Vors.: Ja, was soll das heißen? — Werner: Als ich den ersten Stich gegen die die Frau Justizrat geführt hatte, rief sie um Hilfe, während der Justizrat von seinem Bette sich nach dem Bette seiner Frau beugte, um ihr zu Hilfe zu kommen. Es kann sein, daß ich in die Nähe ihres Kopfes und ihres Oberkörpers gekommen bin, und dabei ist denn auch möglich, daß einige Stiche, welche ich gegen die Frau Justizrat richtete, den Mann trafen. Aber ich bleibe dabei, daß ich es nicht weiß. — Vors.: Nun kommen wir zu Ihrer Tätigkeit, Angeklagter Grosse. Was taten Sie, als die Frage: „Wer ist da?“ aus dem Schlafzimmer ertönte? — Grosse: Wie verabredet war, sollte ich in das linke Bett stechen, in dem wir die Frau Justizrätin vermuteten. Ich stürzte in der Dunkelheit darauf zu, ich weiß nicht, ob ich den Herra Justizrat gestochen habe, ich bin der Meinung, daß ich auf die Frau Justizrätin gestochen habe. In der Aufregung mag es geschehen sein, aber ich weiß es nicht. — Vors.: Sie sind augenscheinlich bestrebt, die Stiche, die dem Justizrat zugefügt sind, einer dem anderen in die Schuhe zu schieben, aber ich kann Ihnen sagen, daß das für die Strafabmessung ganz gleichgültig ist. Sie haben beide gemeinschaftlich gehandelt, Sie mußten und wollten geplanterweise das Ehepaar ermorden, um in den Besitz der Schlüssel zu gelangen und alsdann den Diebstahl ausführen zu können. Werner, sehen Sie das nicht ein? — Angeklagter Werner: Ja. — Vors.: Und Sie, Grosse, wollen Sie nicht lieber einräumen, daß Sie bewußterweise gegen den Herrn Justizrat die Stiche führten? — Grosse: Ich muß dabei bleiben, daß ich glaubte, die Frau Justizrat vor mir zu haben. — Vors.: Faßten Sie nicht früher den Plan, sich bei der Tat mit Revolvern zu versehen? — Werner: Ja, aber wir wollten sie nur zur Verteidigung benutzen. Erst wollten wir das Dienstmädchen, das uns öffnen sollte, niederstoßen, aber dann kamen wir zu der Ansicht, daß wir uns den Mord des Dienstmädchens ersparen könnten. Wir nahmen dann den Weg durch das Fenster über die Galerie und flohen auf demselben Wege.

Vert. Rechtsanwalt Hoffstädt: Ich frage, ob es richtig ist, daß Werner durch seine Tätigkeit bei Rechtsanwälten ganz genau darüber informiert war, daß beide infolge ihrer Jugend nicht zum Tode verurteilt werden können. Er soll erst nach der Tat den Grosse in dieser Beziehung unterrichtet haben. — Vors.: Werner, Sie haben doch ganz genau gewußt, daß Sie bei Verübung eines Mordes nicht vor die Geschworenen gestellt und nicht zum Tode verurteilt werden können? — Werner: Das war mir bekannt, Grosse wußte es auch ganz genau. — Grosse: Das ist nicht wahr. — Werner: Gewiß. Grosse sagte: geköpft werden wir nicht. Wir sind in jugendlichem Alter, und da wird es heißen, es gibt mildernde Umstände und höchstens 15 Jahre Gefängnis. — Grosse: Das ist nicht wahr. — Vors.: Werner, Sie haben einmal in der Voruntersuchung gesagt, daß Sie den Mord nicht ausgeführt haben würden, wenn für Sie Todesstrafe in Betracht käme. — Werner: Das lasse ich dahingestellt.

Rechtsanwalt Dr. Ivers: Ich möchte den Herrn Vorsitzenden bitten, an den Angekl. Werner die Frage zu richten, ob er selbst irgendein Moment geltend machen will, welches die Schwere der Tat mildern könnte. — Vors.: Sie hören, Werner, Sie waren doch nicht in Not, Sie hatten Ihr Brot, was können Sie zu Ihrer Entschuldigung angeben? — Werner: Grosse war immer in Geldverlegenheit. Er brauchte immer Geld, und ich mußte es anschaffen. Dadurch bin ich zu der Tat gekommen. — Grosse: Ich habe niemals Werner gedrängt, mir Geld anzuschaffen, wenigstens nicht so, daß er zu dieser Tat hätte bestimmt werden können. — Vors.: Das widerspricht einigermaßen Ihrem früheren Zugeständnis, nach welchem Sie bei Hendebett Geld unterschlagen und Werner aufgefordert haben, Ihnen zu helfen. — Grosse: Das habe ich ihm nur einmal gesagt, aber nicht öfter. — Werner blieb dabei, daß Grosse schon bei dem Rechtsanwalt Auerbach Diebstähle ausgeführt und schon in der Schule Bücher gestohlen habe. Dabei habe er ihn auch hineinziehen wollen. — Grosse: Daß ich in der Schule Bücher gestohlen habe, ist richtig; meine Mutter hat damals den Schaden wieder gut gemacht. — Vors.: Es ist von geringem Interesse, ob Grosse sich früher mehrere Veruntreuungen hat zuschulden kommen lassen. Ich will aber Grosse noch fragen: Sind Sie in Ihrer Jugend krank gewesen? — Grosse: Ja, ich habe die Diphtheritis gehabt. — Vors.: Sonst noch etwas? — Grosse: Ich habe Krämpfe gehabt. — Vors.: Was für Krämpfe? — Grosse: Es waren Wutkrämpfe. Ich fiel dabei zu Boden und habe wohl eine Stunde dort gelegen. — Vors.: Wann war das? — Grosse: In meinem zwölften Lebensjahre. — Vors.: Kopfleidend sind Sie doch wohl nie gewesen? — Angekl.: Ich habe öfter Kopfschmerzen gehabt.

Das Verhör der Angeklagten war damit beendet. Auf sämtliche Tatzeugen wurde verzichtet, und nur die medizinischen Sachverständigen vernommen.

Dr. med Opfer, der als erster an das Schmerzenslager des Justizrats Levy gerufen worden war, hatte fünf größere Verletzungen gefunden, namentlich eine sehr tiefe Wunde links am Halse und eine tiefe Wunde an der linken Seite des Unterleibs. Nach den Mengen Blutes, die auf den Betten sich zeigten, hatte der Sachverständige den Eindruck, daß die Hauptverletzungen dem Justizrat in dem Augenblick beigebracht worden sein müssen, als er in das Bett seiner Frau hinüberkroch, um dieser zu helfen. Der Justizrat lebte noch, war noch bei Besinnung, verlangte nach seinen Kindern, kannte seine Söhne und bat nur, man solle ihn nicht lange quälen, sondern sterben lassen.

Dr. med. Hadra äußerte sich über die Verletzungen, welche die Frau Justizrat erlitten hatte. Sie war von diesen wiederhergestellt worden. — Vors.: Bei der Frau Justizrätin ist nur eine starke Erschütterung des Nervensystems zurückgeblieben, dies ist auch der Grund gewesen, weshalb die Frau Justizrätin hier nicht als Zeugin erscheinen konnte. -

Geh. Sanitätsrat Dr. Israel war erst bei dem Justizrat Levy erschienen, als dieser schon in den letzten Zügen lag.

Medizinalrat Dr. Long schilderte die Ergebnisse der Obduktion. Auf der rechten Schulter war eine knopflochartige in der Längsrichtung des Körpers verlaufene Wunde vorhanden, die den Deltamuskel durchbohrte, an dem inneren Rande des Oberarmknochens hineinging und dort den Gefäß- und Nerven-Plexus scharfrandig durchtrennt hatte. Dann ist von der großen Schlagader eine zwei Millimeter breite Brücke an der Hinterwand stehen geblieben. Links zwischen der fünften und sechsten Rippe ist der Brustkorb durch knopflochartige Trennungen durchbohrt. Ferner ging vom rechten Schlüsselbein ein Kanal in die Tiefe und hat die erste Rippe gesprengt, zu gleicher Zeit auch das an die Rippe angrenzende Rippenfell durchbohrt. Der Tod ist durch Verblutung und Eindringen von Luft in den Brustkorb erfolgt. Gerichtsarzt Dr. Störmer schloß sich diesem Gutachten an und erwähnte noch, die Meinung der Angeklagten, daß der Justizrat der schwächere Teil der beiden Opfer war, sei ein Irrtum. Tatsachlich hatte der Verstorbene eine starke Muskulatur.

Geh. Sanitätsrat Dr. Hildebrandt, der in früheren Jahren den AngeklagtenGrosse behandelte, hatte von Krämpfen bei ihm nichts bemerkt. Als Grosse fünf Jahre alt war, hat er an einem entzündlichen Zustand des Gehirns gelitten, der längere Zeit anhielt. Von Neigungen des Grosse zur Epilepsie hatte der Zeuge nichts wahrgenommen. Er habe ihn damals für geistig intakt gehalten. — Rechtsanwalt Hoffstädt: Kann der Herr Zeuge und Sachverständige aber vielleicht sagen, ob Grosse „geistig zurückgeblieben" ist? — Zeuge: Ich habe keine Veranlassung, dies anzunehmen.

Auf die Vernehmung des Medizinalrats Dr. Menger wurde verzichtet.

Es nahm darauf das Wort Staatsanwalt Müller II: Es ist eine ganz außerordentliche Tat, die heute dem Urteile des Gerichtshofes unterbreitet worden ist. So kurz die Verhandlung gewesen ist, so hat sie doch ein Bild außerordentlicher sittlicher Verkommenheit zweier kaum dem Knabenalter entwachsenen Burschen entrollt. Es ist ein trostloses Bild, zu sehen, wie Leute in diesem jugendlichen Alter im Strudel der Großstadt von Fehl zu Fehl getrieben werden, lediglich aus Geldsucht, lediglich in dem Hange, auf jeden Fall sich Geld zu verschaffen. Die beiden Angeklagten sind Menschen, die nirgends bei ehrlicher und ruhiger Arbeit ausharrten, sondern nur die Erwägung mit sich herumschleppten, was und wie sie wohl mehr verdienen könnten. Neben diesem Bild der Verwahrlosung ist es auch tieftraurig, zu sehen, wie diese halbwüchsigen Burschen kalt und gefühllos in ein glückliches Familienleben eingriffen. Die Angeklagten haben wie die Bestien gehandelt. Sie haben einer Frau ihr ganzes Glück geraubt und einen Mann hingeschlachtet, der eine Zierde seines Standes war, auf der höchsten, glänzendsten Höhe der Wissenschaft stand und gerade zur Zeit der Tat wieder eine wissenschaftliche Arbeit vor hatte. Die beiden Angeklagten haben die Ruhe und den Frieden des Hauses nutzlos gestört und sind mit höchster Frivolität eingebrochen in das Glück einer ganzen Familie. Die Tat, um die es sich heute handelt, hat in allen Kreisen die ungeheuerste Aufregung verursacht, welche noch bedeutend wachsen mußte, als man sah, daß so jugendliche Leute fähig waren, eine solche entsetzliche Tat kalten Blutes zu begehen. In der Öffentlichkeit ist im Anschluß hieran die Frage diskutiert worden, ob die gesetzliche Sühne der Schwere der Tat entspricht. Wenn man hört, daß diese jungen Burschen sich ganz klar darüber waren und diese Klarheit schon beim Ausbrüten des Planes in die Wagschale warfen, nämlich, daß ihnen höchstens 15 Jahre Gefängnis in Aussicht standen, so kann man sich in der Tat fragen, ob die Sühne genügt und ob solche Burschen nicht eine Strafe verdienen, die täglich und stündlich ihnen fühlbar zum Bewußtsein bringt, was es heißt, einen Menschen zu töten. An Gerichtsstelle dürfen aber solche Erwägungen, so berechtigt sie auch erscheinen mögen, nicht Platz greifen; hier darf nur das Gesetz gelten und die Strafe erkannt werden, welche das Gesetz bestimmt. Die Angeklagten suchen die Hauptschuld sich gegenseitig aufzubürden, aber ohne Erfolg, denn sie sind beide einander würdig! Sie sind von vornherein darin einig gewesen, auf unredliche Weise sich Geld zu verschaffen und sie haben die Konsequenzen dieser Absicht bis auf die letzte, schreckliche Höhe getrieben. Es ist schließlich ganz gleichgültig, wer den tödlichen Stich gegen den Justizrat geführt hat, es ist ganz gleichgültig, daß keiner der Täter sein will; die Ermordung des Justizrats und die Verwundung der Frau Justizrätin sind als eine Tat zu betrachten, für welche beide Angeklagte gleichmäßig verantwortlich sind. Daß sie die erforderliche Einsicht besessen haben, kann gar nicht zweifelhaft sein, ja, diese Einsicht ist sogar eine furchtbare gewesen. Mit vollständig klarer Überlegung aller Konsequenzen haben sie den Plan ausgeführt und mit einer Zähigkeit verfolgt, die erstaunlich ist. Mit welcher Frivolität sie gehandelt haben, ergibt sich daraus, daß, als sie den ersten Plan des Diebstahls aufgegeben und den zweiten gefaßt hatten, Werner mit unglaublichem Zynismus sagte: „Wir können nun das Dienstmädchen uns sparen!“ Das ist empörend und furchtbar! Mit Rücksicht hierauf gibt es nur eine Strafe: Die höchste, die das Gesetz zur Verfügung hat: 15 Jahre Gefängnis. Für die versuchten und vollendeten Diebstähle beantragte der Staatsanwalt noch gegen Werner Strafen von 14 Tagen, 3 Monaten, 6 Monaten, nochmals 6 Monaten und 1 Jahr Gefängnis, gegen Grosse 3 Monate und zweimal 6 Monate Gefängnis. Da das Gesetz bestimmt, daß eine Gefängnisstrafe nicht über 15 Jahre gehen darf, so beantragte der Staatsanwalt eine Gesamtstrafe von je 15 Jahren Gefängnis und Einziehung des dem Werner gehörenden Messers.

Der Verteidiger des Werner, Rechtsanwalt Dr. Ivers erklärte, daß er den Antrag vorweg nehmen wolle Anständigerweise könne er sich dem Antrage des Staatsanwalts auf Anwendung des höchsten Strafmaßes nur anschließen. Es sei schwer, selbst für den Verteidiger, einen Milderungsgrund für die grause Tat zu finden, welche die jugendlichen Angeklagten begangen haben. Die Mutter des Werner habe selbst gesagt: „Meinem Jungen ist nicht zu helfen! Ich renne wie wild in den Straßen herum und bitte Gott, daß er mich eine Nacht schlafen läßt." Die sämtlichen strafbaren Handlungen, welche dem letzten schwersten Verbrechen vorangingen, geben so recht deutlich das Bild einer Verbrecherlaufbahn und zeigen, wie chronologisch einer Straftat immer eine andere schwerere folgte. Der Verteidiger sei im vorliegenden Falle in der Lage, mit dem Staatsanwalt gegen den Angeklagten das zulässig höchste Strafmaß zu beantragen. —

Der Verteidiger Rechtsanwalt Hoffstädt, der den Angeklagten Grosse zu verteidigen hatte, führte aus, daß bald nach Begehung der Tat in Anwaltskreisen die Frage erörtert worden sei, wer werden die unglücklichen Anwälte sein, die diese beiden Mordgesellen zu verteidigen haben werden? Freiwillig würde sich niemand zu der Verteidigung gemeldet haben, und so könne er das Gefühl des Neides nicht unterdrücken, daß der Vertreter der Anklagebehörde sich habe aussprechen können, wie ihm ums Herz war. Er sei Offizialverteidiger und müsse seine Pflicht tun. Übereinstimmend habe sich über die Verwerflichkeit des furchtbaren Verbrechens nur Verdammung geäußert, nur eine Feder habe sich gefunden, welche in Hardens „Zukunft“ die Tat in ein milderes Licht zu stellen versucht und unter anderem angeführt habe, daß Justizrat Levy die Arbeit des Werner nicht genügend gelohnt habe. Dies sei völlig unrichtig, denn Werner habe selbst zugegeben, daß er außer 25 Mark Monatslohn noch täglich Mittagessen erhalten habe. Es habe also zwischen dem Ermordeten und seinem Schreiberlehrling gewissermaßen ein patriarchalisches Verhältnis bestanden. Der Verteidiger suchte sodann auszuführen, daß die Angeklagten keine Berufsverbrecher seien, denn solche würden sich nicht so dumm und töricht benommen haben, wie die Angeklagten es getan. Das Verbrechen könne eigentlich als ein, allerdings von den furchtbarsten Folgen begleiteter, „Dummerjungenstreich" bezeichnet werden. Der Verteidiger meinte sodann, daß Grosse wohl derjenige gewesen sei, der unter dem Einflusse des viel gewitzteren Werner gestanden habe. Über das Strafmaß wolle er nicht sprechen, er wisse, daß er zu Richtern rede, die nicht abweichen würden von dem alten Grundsatz: „Fiat justitia!‘

Das Wort wurde alsdann dem Angeklagten Werner erteil. Mit fester Stimme erklärte er. Es sei nicht richtig, daß er den Grosse verführt habe. Umgekehrt sei es wahr. ‘Grosse habe noch verschiedene Diebstähle und Schlechtigkeiten begangen. Schon in der Schule habe er Bücher gestohlen und sie verkauft. Er habe auch ihn zu überreden versucht, mit einer größeren Summe durchzubrennen, sobald ihm eine solche einmal anvertraut werde.

Der Angeklagte Grosse bezeichnete dies als Unwahrheiten. Seine Mutter habe ihn stets vor Werner gewarnt und gesagt, er solle nicht mit ihm umgehen, denn er habe nichts Gutes im Kopfe.

Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Hoppe folgendes Urteil: Die Angeklagten sind sowohl der ihnen zur Last gelegten Diebstähle als auch des gemeinschaftlichen, teils vollendeten, teils versuchten Mordes für schuldig befunden und deshalb zu der höchsten zulässigen Strafe von je 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Gericht hat angenommen, daß die Angeklagten nach einem sorgfältig vorbereiteten Plane ihre Mordtat ausgeführt haben. Sie wollten stehlen und wußten, daß sie, um den Diebstahl ausführen zu können, morden mußten. Mit größter Sorgfalt haben sie den Plan bis in die Einzelheiten gemeinsam beraten und die Rollen verteilt. Jeder wollte die Tat des anderen als seine eigene betrachten, beide haben somit im bewußten Zusammenwirken gehandelt und deshalb die Folgen des gemeinsamen Handelns zu tragen. Unzweifelhaft hat den beiden Angeklagten die erforderliche Einsicht bei Begehung der Tat innegewohnt. Das geht 'schon daraus hervor, daß sie sich vol bewußt waren, welche Strafe ihnen im schlimmsten Falle bevorstand. Bei der Strafabmessung ist berücksichtigt worden, daß hier ein Verbrechen mit seltenem Raffinement ausgeführt worden ist und daß sich der verbrecherische Willen der Angeklagten in einer ausnahmslosen Hartnäckigkeit dokumentiert hat. Von einem „Dummenjungenstreich" kann man angesichts einer solchen wohl vorbereiteten Tat nicht sprechen. Daß die Angeklagten keine berufsmäßigen Verbrecher sind, soll zugegeben werden; dies fällt aber wenig ins Gewicht, denn die Statistik hat ergeben, daß gerade bei Mördern die Täter selten berufsmäßige Verbrecher sind. Eine schwerere Tat als die vorliegende ist kaum zu denken, es mußte deshalb das höchste Strafmaß zur Anwendung kommen. Dabei hat der Gerichtshof nicht zu fragen und zu prüfen, ob das bestehende Gesetz praktisch ist oder nicht, sondern er hat es anzuwenden. Um aber die Sühne zu erreichen, die nach dem bestehenden Gesetze möglich ist, mußte auf die höchste zulässige Strafe erkannt werden.

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie sich bei dem Urteil beruhigen wollen, erklärte Werner mit lauter und fester Stimme „Jawohl“. Grosse, der während der Ausführungen des Staatsanwalts wiederholt geweint hatte, erklärte sich gleichfalls zum Antritt der Strafe bereit. Beide wurden alsdann abgeführt.

Anmerkungen (Wikisource)