Die Garrotte in London

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Autor: Unbekannt
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Titel: Die Garrotte in London
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[47] Die Garrotte in London. Die Periode des Selbstmords beginnt in England bekanntlich im Spätherbst, wenn die schweren altenglischen Nebel keinen Licht- und Hoffnungsstrahl in die vom Spleen verdüsterte Seele dringen lassen, und dauert bis Weihnachten, wo der Engländer nach guter alter Sitte so viel essen, trinken und verdauen mag, daß es ihm an Zeit und Lust zum Halsabschneiden gebricht; aber während den Monate November und December hat jeder anständige Mensch hier das Recht sich aufzuhängen, und Niemand macht ihm dasselbe streitig, denn es ist sehr natürlich und immer so gewesen. Ebenso natürlich ist es, daß Schwindel und Betrug in der Mitte des Sommers, wo die Londoner Saison auf ihrer Höhe angekommen ist und alle reichen Leute und Abenteurer der vereinigten Königreiche in und um Hydepark versammelt hat, auf der Tagesordnung stehen sollten. Der Taschendiebstahl nimmt einige Zeit später, im August und September, wo die nationalen Wettrennen immense Haufen zusammenziehen und die sonst so ängstlich von einander geschiedenen Gesellschaftsclassen unter einander mischen, den hervorragendsten Platz in den Polizei- und Gerichtsannalen ein. Auffallender dürfte es schon sein, daß gerade die Frühlingssonne die dunkelsten Instincte der menschlichen Natur zu wecken scheint. Wenn sich die Natur mit Knospen, Blüthen und Blättern belebt, die stille Frühlingssonne vom blauen Himmel ihre verjüngenden Strahlen auf alt und kalt gewordene Herzen wirft, den Vögeln neue Lieder lehrt und den Menschenkindern alte Erinnerungen zurückgiebt, wenn sich Alles des wiedergeschenken Lebens freut und mit den lauen Lüften Muth, Hoffnung und Frieden einathmet, – dann erwacht der Trieb der Zerstörung im Menschen, und das Verbrechen feiert in England seine Mord-Saison. Es scheint, als wenn der Mensch gerade diesen Gegensatz des heiteren, friedlichen Lebens in der Natur nöthig hätte, um sich vollständig zu verbittern und in Mordlust bis zum Wahnsinn zu berauschen.

So viel ist gewiß, daß die Mordthaten hier im Frühjahr am häufigsten sind und die fast elementarische Ansteckungskraft des Verbrechens beweisen. Ein Mord, der unter ungewöhnlichen Umständen und mit einem außerordentlichen Aufwand von Grausamkeit oder Berechnung begangen worden ist, kommt fast nie allein. Alle Zeitungen berichten und raisonniren darüber, und er bildet eine Zeitlang den hauptsächlichsten Gegenstand der Discussion in Wirthshaus und Familie. Plötzlich wird das Publicum durch die Nachricht von einer neuen Mordthat erschreckt, die unter ähnlichen Umständen, aus ähnlichen Beweggründen und mit ähnlichen Mitteln begangen worden ist. Die öffentliche Discussion erhitzt sich immer mehr und erhält neue Nahrung durch Neue Fälle, welche in den Fußstapfen der alten folgen. Die Zeitungen beginnen ihre betreffenden Leitartikel mit den Worten: „Der Mord ist zur Manie geworden!“ Und so ist es. Schließlich tritt er geradezu als Selbstzweck auf. Es kommen alljährlich Fälle vor, bei denen sich gar kein Motiv der That mehr entdecken läßt. Das ist freilich dann die höchste Stufe des Deliriums, das Fieber verzehrt sich in seiner eigenen Heftigkeit, und gar bald sinkt das künstlich exaltirte Verbrechen wieder auf seinen Normalzustand herab. Die Fascination, welche der Mord auf die menschliche Natur ausübt, hat De Quincey in seiner berühmt und berüchtigt gewordenen Abhandlung „über die Philosophie des Mordes“ mit bewundernswürdiger Seelen- und Lebenskenntniß geschildert; im Ganzen jedoch ist die Physiologie und Pathologie des Verbrechens noch ein zu wenig angebautes Feld, das den interessantesten Studien einen weiten Spielraum eröffnet. Für unseren Zweck genügt es, darauf hinzuweisen, daß die bloße äußerliche Beobachtung der ansteckenden Wirkung des Verbrechens noch keine genügende Erklärung für seine seuchenartige Ausbreitung abgiebt. Es müssen da tiefer liegende Gründe in den gesellschaftlichen Zuständen vorhanden sein, welche die Ansteckung propagandiren und das Publicum für dieselbe empfänglich machen. Nur wenn diese Gründe richtig erkannt und entschlossen hinweggeräumt werden, ist eine radicale Cur möglich. Geschieht das nicht, so kann eine bestimmte Krankheitsform des Verbrechens wohl zeitweilig unterdrückt und modificirt werden, der vorhandene Ansteckungsstoff wird jedoch immer wieder in dieser oder in jener Form einen Ausdruck finden.

Woher kam es, daß die „Garrotte“ drei Monate lang eine Bevölkerung von drei Millionen zu terrorisiren und eine Gewalt zu werden vermochte, vor welcher die mit Recht gerühmte Londoner Sicherheitspolizei, die ganze Criminalrechtspflege, ja wir können sagen die ganze Civilisation der übercivilisirten Weltstadt machtlos zusammenbrach? Der sociale Krieg, der unter dem Namen „Garotte“ so lange in den volkreichen Straßen Londons geführt wurde, hat zwar noch nicht ausgetobt, aber er ist zu Gunsten der Ordnung entschieden, und die Plänkeleien, die noch allnächtlich vorkommen, beweisen, daß die geschlagene Armee des Verbrechens auf dem Rückzuge begriffen und entmuthigt ist. Das Publicum hat sich daher von seinem Schrecken so weit erholt, daß es Gemüthsruhe und Selbstvertrauen genug besitzt, um jene Frage ernsthaft zu untersuchen und zu discutiren. Die Regierung hat eine „Königliche Commission“ von Staatsmännern und Sachverständigen aller Parteien niedergesetzt, welche das bisherige Strafsystem einer genauen Prüfung unterziehen und dem Parlament bezügliche Reformvorschläge machen soll; die Polizei ist um 300 Mann vermehrt worden, und verschiedene Bills zum wirksameren Schutze von Person und Eigenthum werden in der bevorstehenden Parlamentssession eingebracht werden. Diese gründlicheren Untersuchungen wollen wir den Sachverständigen überlassen und uns hier darauf beschränken, den Lesern ein übersichtliches Bild von dem sogen. „Garrotte-panic“, von dem sich London eben zu erholen beginnt, zu entwerfen.

Von jeher hat es in London unsichere Straßen gegeben, ja ganze Quartiere, in die sich kein wohlgekleideter Mensch wagen konnte, ohne seine Börse und seine Haut zu riskiren. Aber sie waren und sind bekannt. Jeder, der das Labyrinth schmutziger Beistraßen nördlich und südlich von Highstreet, Whitechapel, betrat, that es mit dem vollen Bewußtsein der Gefahr, welcher er sich aussetzte. Bei Tag oder bei Nacht gewisse Gassen „über dem Wasser“, in denen das Verbrechen liederlich und die Liederlichkeit verbrecherisch wird, mit Uhr und Kette durchwandern, hieß der menschlichen Schwachheit eine stärkere Verführung darbieten, als sie zu ertragen vermochte. Im Mittelpunkte des Westends, zwischen Oxfordstreet und Strand, von der classischen Drurylane aus laufen einige lange, schmale Gassen nach Osten, welche am hellen Tag kein Polizeimann allein zu betreten wagt. Die hohen, zerfallenen Häuser, fast ohne Fenster und Thüren, lassen keinen Sonnenstrahl durch die mit stinkenden Dünsten erfüllte Atmosphäre dringen. Große Schmutzhaufen, aus Lumpen, zerbrochenen Geschirren und Gemüseabfällen gebildet, liegen in der Mitte der Gasse und beweisen, daß diese versteckte Welt primitiver Barbarei vom modernen Straßenverkehr unberührt bleibt. Haufen zerlumpter Kinder tummeln sich auf dem Schmutze herum; in Laster und Verbrechen ergraute und verknöcherte Weiber waschen, kochen, nähen, zanken, fluchen und prügeln sich vor den Hausthüren; finstere Männergestalten erscheinen zuweilen an den mit Papier und Lumpen verhüllten Fenstern, aber selten auf der Straße. Der bloße Augenschein muß Dich belehren, daß kein guter und glücklicher Mensch in diesen der Barbarei verfallenen Straßen wohnen kann. Der Hunger liegt den Insassen bleich auf den schmalen Lippen, und das Laster lauert unheimlich in ihren eingefallenen Augenhöhlen. Wer in diese inmitten des hauptstädtischen Luxus und Gewerbeverkehrs extemporirte Welt der Barbarei eintritt, muß die Vortheile des civilisirten Lebens hinter sich lassen. Die Aus- und Eingänge dieser Gassen oder „Courts“ werden den ganzen Tag über von der Polizei bewacht, und mit Eintritt der Dunkelheit postiren sich zwei handfeste Constabler an jedes Ende der berüchtigten und verpesteten Verbrecherhöhlen, mehr um die Ausgehenden zu beobachten, als um die Eintretenden zu warnen oder sich in die lärmenden Straßenkämpfe der Inwohner zu mischen. Wie gesagt, der Charakter dieser Straßen ist hinlänglich bekannt. Die Polizei sucht sie so viel wie möglich von der Außenwelt zu isoliren und findet hierbei um so weniger Schwierigkeiten, da sich das Verbrechen selbst zu isoliren strebt.

Die Nothwendigkeit, mit dem Gange der modernen Nationalökonomie gleichen Schritt zu halten, hat hier, wo das Diebsgewerbe handwerksmäßig erlernt und geschäftlich betrieben wird, zu Associationen geführt, die auch räumlich in sich abgeschlossen und verbunden sind. Der Londoner Dieb arbeitet mit Capital und nach dem Principe der Arbeitstheilung, auf welchem zum großen Theile die wunderbaren Erfolge der englischen Industrie beruhen. Die Associationen, zu denen er sich genöthigt gesehen hat, um sein Capital zu verstärken und seine Arbeitskraft zu ergänzen, haben zu einer kastenartigen Absonderung geführt, die auch ein charakteristisches Merkmal des gesellschaftlichen und geschäftlichen Lebens in England ist. Der Hauseinbrecher lebt und verkehrt mit dem Hauseinbrecher, der Taschendieb mit dem Taschendieb, der Ladendieb mit dem Ladendieb, der Falschmünzer mit dem Falschmünzer, der Fälscher mit dem Fälscher etc., und die Polizei weiß genau, wo sie verkehren und leben, und wo vorkommenden Falls nach ihnen gesucht werden muß. Diese Ueberwachung schließt jedoch nicht aus, daß ein professionirter Dieb alt und grau in seinem Geschäfte wird, oder sich auch in seltenen Fällen mit Capital in’s respectable Leben zurückzieht. Der Corpsgeist, der die Mitglieder einer bestimmten Diebszunft belebt, ist so stark, daß der Taschendieb auf den Hauseinbrecher, der Falschmünzer auf den Ladendieb mit Stolz und Verachtung herabsieht. Neulich stand ein junger Mann vor dem Polizeigerichtshofe von Bowstreet, der Mitwirkung bei einer Garrotte-Räuberei verdächtig. Mit Entrüstung erklärte der Angeklagte, er sei, wie allgemein bekannt (generally known), ein „sharper“, und brauche sich daher auf das rohe und halsbrechende Geschäft des Garrottirens nicht einzulassen. Das war mit so viel aufrichtigem Stolze und beleidigter Unschuld gesagt, daß der Angeklagte, welcher kein Garrotter, sondern ein sharper zu sein behauptete, wirklich freigelassen wurde. Unter sharpers versteht man falsche Spieler, welche Fremde, am liebsten Pächter vom Lande, cordial auf der Straße aufzugreifen, in ein benachbartes Wirthshaus zu locken, durch eine Getränkmischung bewußtlos zu machen und durch Kartenspiel oder Wetten auszuplündern pflegen. Da diese Operation schon sehr oft exponirt worden ist, so haben sie allerdings viel Gewandtheit und Geschick nöthig, um ihr Handwerk zu betreiben, das sich im Falle des Gelingens gewöhnlich sehr vortheilhaft erweist. Daß ein sharper nicht nöthig habe, zum gewaltsamen Straßenraub zu greifen, begriff der Polizeirichter sofort.

Die kastenartige Absonderung in Diebszünfte hat zwar viel dazu beigetragen, um die Leistungen in den einzelnen Zweigen des Handwerks zu einer erstaunlichen Vollkommenheit auszubilden, aber auch im feindlichen Heerlager eine Zersplitterung hervorgerufen, welche der Gesellschaft eine wirksame Garantie gegen große, combinirte Angriffe bietet. Nur dann, wenn eine solche Combination der feindlichen Kräfte stattfindet, wie bei den Garrotteräubereien der letzten Wochen, nimmt der Kampf Proportionen an, vor denen die Organe des Gesetzes und das plötzlich von allen Seiten angegriffene Publicum erschrecken, die alten Polizeibarrieren in Trümmer fallen und eine neue Organisation des Widerstandes erforderlich wird.

Der gewaltsame Straßenraub, der unter dem Namen „Garrotte“ eine so große Rolle in den neuesten Gerichtsannalen Londons gespielt hat, ist nicht englischen, sondern französischen Ursprungs, wie das zu seiner Bezeichnung verwandte französische Wort schon zeigt; es ist sogar wahrscheinlich, daß das von der Weltausstellung hierher gezogene continentale Diebsgesindel die erste Anregung zu dieser neuen Form des Straßenraubes gegeben hat. Aber seine systematische Vervollkommnung verdankt er der Erfahrung und dem Organisationstalente der englischen Diebe, und zu seinem Erfolge gehörte eine Stadt wie London. Wie auf Verabredung wurde London zu Anfang des Herbstes plötzlich an allen Ecken und Enden von den Garotters angegriffen. Gute und schlechte Stadtviertel, die [48] hauptsächlichsten Verkehrswege der inneren Stadt und die stillsten Straßen der Vorstädte, die dicht bevölkerten Arbeiterviertel des Südens und die aristokratischen Squares des Westens wurden zugleich überfallen. Die Garrotte war allenthalben und die Polizei eben deshalb nirgends. Das Parlamentsmitglied Mr. Pilkington wurde inmitten seiner aus dem Unterhause heimkehrenden Collegen, gerade unter der Nelsonstatue auf Trafalgar-Square, also im eigentlichen Knotenpunkte des hauptstädtischen Verkehrs, wo zu keiner Zeit der Nacht das Straßenleben schläft, überfallen, niedergeworfen, beraubt und bewußtlos heimgetragen. Mehrere seiner Collegen sahen die Attaque vor ihren Augen vor sich gehen, aber so plötzlich, ungestüm und verwegen war der Ueberfall, daß in wenigen Secunden das strangulirte Opfer blutend zu Boden lag und die Räuber sich selbst und ihre Beute in Sicherheit gebracht hatten, noch ehe die Zuschauer sich von ihrem Erstaunen erholen und zu einer energischen Verfolgung entschließen konnten. Dieser Vorfall erhob die Garrotte zur Ehre einer Frage, die in den Schlußsitzungen des Parlaments discutirt, in der Presse beleitartikelt und auf den Bierbänken verhandelt wurde. Je mehr sich das Publicum durch diese Discussionen erhitzte, desto allgemeiner wurde die Operation der Räuberbanden, welche allnächtlich ihre oben erwähnten Sammelplätze verließen und sich über das ungeheure Areal von London verbreiteten, desto vollkommener wurde ihre Organisation, desto verwegener ihre Kühnheit und desto eclatanter ihr Erfolg.

Die Operationsweise ist in allen Fällen gleich und verräth so viel Einheit in Plan und Leitung, daß sie wohl geeignet ist, Entsetzen zu verbreiten. Gewöhnlich operiren die Garrotters in Trupps von drei Mann, die sich entweder am Eingang einer Seitenstraße postiren, oder auch auf den Trottoirs auf- und abwandern. Die Zeit der Handlung beginnt vor Mitternacht und erstreckt sich über die ganze Nacht. Wenn ein Vorübergehender, der durch Kleidung und Uhrkette gute Beute verspricht, sich dem Versteck der Garrotters nähert, oder arglos die drei verbündeten Spaziergänger passirt, so wird er von dem stärksten und vierschrötigsten Räuber, der in diesem Theile der Arbeit seine Specialität besitzt, mit beiden Händen von hinten am Halse gefaßt. Während dieser dem unversehens überfallenen Opfer mit eisernen Fingern die Gurgel zuschnürt und jeden Hülfeschrei in seinem mächtigen Griffe erstickt, fällt der Zweite dem Betäubten in die Arme, oder schlägt ihn mit einem Todtschläger vollends zu Boden. Der Dritte leert dem niedergeworfenen Manne die Taschen. Noch ein paar nachträgliche Fußtritte oder Schläge mit dem Todtschläger, der hier sehr uneigentlich Lebensretter genannt wird, um die allzufrühe Wiederbelebung des strangulirten Mannes zu verhüten, und das Werk ist vollbracht. Das Opfer liegt so lange bewußtlos auf dem Boden, bis es von der Polizei oder von Vorübergehenden aufgelesen und in’s nächste Hospital gebracht wird, und die Räuber sind mit ihrer Beute verschwunden. Alles das ist das Werk weniger Augenblicke. Das Gelingen des Ueberfalls hängt hauptsächlich vom ersten Griff ab; ist dieser so vollständig und wirksam, daß er den Angegriffenen durch Strangulation sofort betäubt und am Aufschreien hindert, so ist die Garotte fast immer erfolgreich und wird nur in seltenen Fällen durch das Dazwischenkommen der Polizei gestört. Wenn es jedoch dem Ueberfallenen gelingt, aufzuschreien und sich zur Wehr zu stellen, so nimmt der Kampf eine andere Gestalt an. Im Augenblicke füllt sich die Straße mit einem Haufen Gesindels, das wie auf ein gegebenes Signal von allen Seiten herbeiströmt, Männer, Weiber und Kinder. Es kommt zu einem regulären „row“; der Haufe versperrt den herbeieilenden Constablern den Weg, insultirt und attakirt sie. Diese haben ihrerseits die Todtschläger aus ihren Rocktaschen zu ziehen und sich mit hartem Kampfe Schritt für Schritt durch den Haufen Bahn zu brechen. Zuweilen gelingt es ihnen, den einen oder den andern der Garrotters nach verzweifelter Gegenwehr festzunehmen und trotz des unaufhörlich zur Befreiung anstürmenden Gesindels bis zur nächsten Station zu bringen, selten werden alle betheiligte Räuber eingefangen, und fast nie wird die Beute, welche sofort ihre Abnehmer unter den Verbündeten des Haufens findet, entrissen.

Mit Recht wurde das Publicum durch die grauenhafte Ausdehnung, zu der dieser sociale Kampf allmählich gedieh, und durch die Verwegenheit und Barbarei, womit die Angriffe ausgeführt wurden, alarmirt. Eine Zeit lang fanden allnächtlich durchschnittlich zwölf Garrotteräubereien in London statt, von denen nur etwa drei durch die Dazwischenkunft der Polizei an die Oeffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen gezogen wurden. Die Polizei bewies sich also ebenso unzureichend zum Schutze der Gesellschaft, als die Criminalrechtspflege. Achtzehn Garotters, welche im Verlaufe des Monats November festgenommen worden waren, wurden vom Central-Criminalgerichtshofe auf einmal verurtheilt und mit dem höchsten Strafmaße belegt; aber das abschreckende Beispiel diente nur dazu, um das Uebel zu vergrößern und John Bull noch mehr zu erhitzen. Mit dem Untergange der Sonne hörte die Civilisation in London auf, und Niemand war in den belebtesten Straßen der Weltstadt seines Lebens und Eigenthums sicherer, als in den Abruzzen oder in den Katakomben von Rom. Diese Räuberromantik im Centralpunkte der Civilisation hatte weniger Reiz für die friedlichen Bewohner Londons, als für phantasiereiche Zeitungsleser. Das Fieber wuchs auf beiden Seiten bis zum Delirium. Rigoristische Maßregeln wurden in Vorschlag gebracht und in der Presse besprochen. Einige verlangten, daß die Prügelstrafe wieder eingeführt werde, Andere bestanden auf Todesstrafe für überwiesene Garrotters, noch Andere verlangten eine Deportation des verdächtigen Gesindels im Ganzen und Großen. Dieses Verlangen wurde zum Theil erfüllt. Die Polizei wurde plötzlich sehr eifrig und griff auf den bloßen Verdacht hin Individuen auf. Es genügte, daß ein Constabler erklärte, daß er die aufgegriffenen Individuen in Verdacht habe, auf Garrotteräubereien auszugehen, um diese vor die Assisen zu bringen, und die unter dem herrschenden Terrorismus stehende Jury sprach Alles „schuldig“, was mit Garrotte in Beziehung gebracht wurde. Gar mancher Unschuldige mag auf diese Weise der öffentlichen Entrüstung zum Opfer gefallen sein.

Alle diese bis zur Ungerechtigkeit gesteigerte Strenge genügte jedoch nicht, um dem Wachsen der Manie Einhalt zu thun. Daß die Ansteckung und der Trieb der Nachahmung wirksam gewesen ist, läßt sich nicht leugnen. Die detaillirten Schilderungen in den Zeitungen, die übertriebenen Gerüchte, mit denen sich die erschreckte Phantasie des Publicums herumtrug, mögen viel dazu beigetragen haben, um die verbrecherischen Kräfte gerade auf diese fashionable Form des Verbrechens hinzulenken. In Whitechapel fielen zwei Knaben von zehn und zwölf Jahren über eine siebzigjährige alte Frau her, garrottirten sie, warfen sie nieder und beraubten sie ihrer fünf Kupferpfennige, die sie bei sich trug. Die Kinder auf der Straße und in den Parks spielten „Garottiren“, so wie man bei uns zur Blüthe der Räuberromane „Räuber“ spielte.

John Bull verlor endlich die Geduld und griff zur Selbsthülfe. Von allen Seiten ertönte der Ruf: „Zu den Waffen!“ In den Waffenläden wurden alle möglichen Mordinstrumente als „gut gegen die Garrotter“ ausgeboten. Speculative Waffenschmiede erfanden „Gurgelpanzer“, menschenfreundliche Apotheker priesen „Balsam zur Belebung der gehemmten Blutcirculation“ in ihren Schaufenstern an. Ein besonders entrüstetes Mitglied der respectablen Gesellschaft erklärte in einer Zuschrift an ein hiesiges Tagesblatt, daß er einen Strick in der Tasche mit sich herumführe, um jeden Garrotter, der ihm in die Hände falle, am nächsten Baume aufzuhängen, und jedem guten Bürger rathe, ein Gleiches zu thun. Ein angesehener Kaufmann in King William Street ließ sich Riesenplacate drucken und in seinen Fenstern ausstellen, um seinen Mitmenschen den Rath zu geben: „Wenn du am Halse gefaßt wirst, so stich mit dem Dolche nach hinten!“ Das Delirium wurde Wahnsinn und fixe Idee. Leute glaubten sich garrottirt, wenn sie am steifen Hals litten. Aber London bewaffnete sich. Revolver, Stockdegen, Dolche fanden reißenden Absatz. Die Garrotters erfuhren durch einige blutige Rencontres, daß sie keinen Menschen mehr auf der Straße angreifen könnten, der nicht die Mittel besitze, sie in die andere Welt zu befördern. Sie wurden vorsichtiger, und John Bull, der sich auf seine persönliche Kraft und auf das primitive Mittel der Selbstvertheidigung angewiesen sah, gewann Vertrauen in seine eigene Kraft. Die Krankheit war auf ihrem Höhepunkte angekommen und ist jetzt im Abnehmen begriffen. Noch in jeder Nacht kommen Garotteräubereien vor, aber wir fühlen uns leichter um’s Herz und um die Gurgel. Es war die Energie des Publicums und nicht die Macht der Polizei- und Sicherheitsbehörden, welche diesen merkwürdigen Kampf aufnahm und siegreich zu Ende führte.