Die Gartenlaube (1855)/Heft 37

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 37. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Der gestohlene Brautschatz.
Eine Criminalgeschichte aus guter alter Zeit.
Vom Verfasser der schwarzen Mare
(Fortsetzung.)


II.

Dem Hause Markgrafenstraße Nummer 92 gerade gegenüber befand sich ein sogenannter Frühstückskeller. Das Frühstück in solchen berliner Kellern besteht hauptsächlich in Kümmel, und außerdem in Brot, Wurst und saueren Gurken, manchmal auch in noch sauererm weißbier, der sogenannten kühlen Blonden. Das Alles kann man auch den ganzen Tag über haben und genießen. Die Frühstückskeller sind daher vom frühen Morgen bis oft in die späte Nacht mit Gästen besetzt, zuweilen reichlich, zuweilen spärlich.

In dem genannten Keller befanden sich an jenem Abend, zu derselben Zeit, als der Lieutenant von Maxenstern mit seinem Kameraden in der Droschke vor seinem neuen Quartier vorfuhr, nur zwei Gäste. Es waren ein alter und ein junger Mann. Der alte Mann trug einen alten, zerrissenen, schweren, grünen Flausrock, was bei der herrschenden großen Hitze auffallen mußte. Der junge Mann fiel dadurch auf, daß das graue kurze Kamisol, das er trug, so sehr zu kurz für ihn war, daß die Schöße desselben kaum die Mitte seines Rückens erreichten.

Der junge Mann war eine große, stämmige, breitschultrige, aber doch gewandte Gestalt von ebenmäßigem, gefälligen Wuchse.

Er hatte ein etwas blasses, aber feingeformtes Gesicht, mit großen, schwarzen, sehr klugen und sehr lebhaften Augen, aus denen aber ein finsterer Trotz hervorblickte.

Der Alte war von kleiner Figur, mehr schwächlich als kräftig, mit gebückter Haltung. Sein Gesicht war ungesund aufgeschwollen, an manchen Stellen mit den rothen Flecken der Schnapssäufer bedeckt. Die kleinen grauen Augen schienen, wenn auch nicht so klug, doch nicht minder lebhaft zu sein als die des Jüngeren; aber ihr Blick war verschleiert, so daß man eben nur ihr fortwährendes Hin- und Herbewegen wahrnehmen konnte. Aufseinem Kopfe sah man nur noch seltene, schmutzig blonde Haare.

Die beiden Männer saßen an dem Tische, der die ganze Länge des Kellers durchzog. Sie saßen an dem oberen Ende desselben, dicht unter dem auf die Markgrafenstraße führenden Fenster. Sie hatten dort ein großes Glas mit Kümmel vor sich stehen, das zur Hälfte geleert war. Einige Teller, auf denen die übrigen Ingredienzien eines Frühstücks dieses Kellers, Brot, Wurst und sauere Gurken gewesen sein mochten, waren ganz leer.

Sie saßen schweigend. Der Alte warf zuweilen einen sehnsüchtigen Blick nach dem Kümmelglase. Der Jüngere schaute dann und wann verstohlen in die Straße hinein.

Es wurde dunkler auf der Straße, noch mehr in dem Keller. Aus einem Nebenkämmerchen trat der Wirth des Kellers ein. Er wollte eine Lampe anzünden, die schon auf dem Tische stand. Der Jüngere, der sein Vorhaben bemerkte, stieß mit dem Ellbogen den Alten an. Dieser wandte sich an den Wirth.

„Ist für uns nicht nöthig,“ sagte er mit einer schnapsheiseren Stimme.

„Aber für mich,“ antwortete der Wirth. „In die dunkelen Keller kommen die Gäste nicht.“

Die beiden Gäste sahen sich einander an. Zwei einverstandene Blicke begegneten sich.

„Wie viel?“ fragte die heisere Stimme des Alten den Wirth.

„Fünf,“ war die kurze Antwort.

Der Alte zog ein kleines ledernes Beutelchen hervor, nahm ein Fünfsilbergroschenstück heraus und legte es auf den Tisch. Der Wirth besah es genau, als ob er an der Aechtheit zweifelte, und steckte es dann zu sich. Er mochte nach dem Aeußern der beiden Gäste Grund zu seinen Zweifeln haben. Der Alte sah der Prüfung des Geldstücks mit einem höhnischen Blicke zu, während er das Kümmelglas völlig leerte. der Jüngere hatte unterdeß angelegentlicher durch die Fensterscheiben in die Straße gesehen.

In diesem Augenblicke fuhr vor dem gegenüberliegenden Hause die Droschke mit den beiden Offizieren vor.

Die beiden Gaste verlißen den Keller. Um aus diesem auf die Straße zu gelangen, mußte man eine schmale, dunkele Treppe von etwa acht Stufen hinaufsteigen. Oben, unmittelbar an der Straße, war die Thür, die zwei Flügel hatte, nur halb geöffnet. Hinter dem nicht geöffneten Flügel blieb der jüngere der beiden Männer stehen.

„Sieh nach, ob die Straße rein ist,“ sagte er leise zu dem Alten.

Er sprach in einem etwas befehlenden, beinahe hochmüthigen Tone. Der Alte ging gehorsam auf die Straße hinaus. Er kehrte nach einer halben Minute zurück.

„Alles rein,“ sagte er, mit seiner heiseren Stimme, gleichfalls leise.

Der junge Mann wollte auf die Straße hinaustreten. Der Alte hielt ihn zurück.

„Da scheint etwas zu machen zu sein,“ sagte er, nach der Droschke hinzeigend, aus welcher so eben die beiden Offiziere herausgestiegen [484] ausgestiegen waren, während der Kutscher dem herangetretenen Burschen den Koffer vom Bocke zureichte.

„Dort,“ erwiederte der junge Mann in dem zu kurzen Kamisol verächtlich.

„Nun, ja.“

„Bei zwei Lieutenants, die nicht einmal von der Garde sind?“

„Sieh Dir den Koffer an. Er ist schwer. Der plumpe Commißbengel kann kaum mit ihm die Treppe hinauf.“

„Was wird darin sein? Abgetragene Uniformen, abgerissene Stiefeln, zerrissene Hemden. Ich kenne das.“

Er trat in die Straße. Der Alte folgte ihm, noch immer nach der Droschke und nach dem Hause sich umblickend, in welchem gleich nachher die beiden Offiziere verschwunden waren.

Sie hatten nur wenige Schritte gemacht, als der Schein einer fernen Laterne ihren stets lauernden Augen einen herannahenden Gensd’armen zeigte. Sie sprangen rasch hinter eine breite Pumpe neben dem Trottoir.

Der Gensd’arm ging würdevoll drüber, ohne sie zu sehen.

„Wohin gehen wir?“ fragte, als der Gensd’arm vorbei war, der jüngere seinen Gefährten in dem grauen Flausrocke.

„Du weißt es ja. Für heute Nacht weiß ich kein anderes Quartier.“

„Als in den Scheunen dahinten?“

„In der Weberstraße.“

„Wenn es nur nicht so weit weg wäre. Man ist dahinten so entfernt von allen Geschäften. Wenn man des Nachts nicht schlafen kann, man könnte nicht einmal etwas ausführen.“

„Das möchte ich Dir ohnehin nicht rathen. Du mußt erst wieder das Terrain kennen lernen. Seitdem der Duncker da ist - “

„Bist Du wieder mit Deinem Duncker da! Ich bin drei Stunden bei Dir und habe schon zwanzig Mal den Namen hören müssen.“

„Ich wünsche Dir, daß Du ihn nicht noch öfter hören, oder gar die Bekanntschaft des Mannes machen mußt.“

„Hat das Alter oder das Zuchthaus Dich feige gemacht?“

„Du kennst ihn nicht. Du hast seit sechs Jahren auf der Festung gesessen. In dieser Zeit ist er gekommen. Und seitdem ist Alles anders geworden.“

„Laß uns gehen.“

„Warte, warte; nur noch einen Augenblick.“

„Was hast Du?“

„Sieh, die beiden Offiziere da drüben.“

Von dem Trottoir aus konnte man durch das geöffnete Fenster sehen, was in dem gegenüberliegenden erhellten Quartiere des Lieutenants von Maxenstern, namentlich in der Nähe des Fensters, vor sich ging. Der Lieutenant war gerade mit dem Untersuchen der Sicherheit des Sekretärs beschäftigt.

Auch der jüngere der beiden verdächtigen Menschen blickte jetzt angelegentlich in die Stube gegenüber.

„Zum Teufel, der Kerl versteckt da etwas.“

„In den Sekretär? Nicht wahr? Du hast es also auch gesehen?“

„Ja. Und wie vorsichtig der Mensch ist. Das muß Werth haben.“

„Es scheint also doch kein armer Lieutenant zu sein.“

„Wohin? Du willst doch jetzt nicht fort?“

„Sie machen die Fensterladen zu. Sie wollen ausgehen. Sie werden gleich kommen. Sie dürfen uns hier nicht finden. Der Bursche scheint verdammt mißtrauisch zu sein.“

„Wohin denn?“

„An die Ecke der Junkernstraße dort. Wir überschauen da die Markgrafenstraße und können sie mit den Augen verfolgen.“

Sie stellten sich an die Ecke der Markgrafen- und Junkernstraße. Gleich darauf sahen sie den Burschen des Lieutenants das Haus verlassen. Er ging nach der Lindenstraße zu. Wenige Minuten später kamen die beiden Offiziere. Sie gingen in der Richtung nach den Linden. Sie kamen an den beiden Harrenden vorbei, aber auf der entgegengesetzten Seite der Straße, so daß diese von ihnen nicht bemerkt werden konnten. Als sie, nach der leipziger Straße hin, verschwunden waren, begaben jene Beiden sich vorsichtig nach dem Hause Markgrafenstraße Nummer 92 zurück.

Die Markgrafenstraße gehört zu den belebteren Straßen Berlins, auch noch an ihrem oberen Ende in der Nähe der Lindenstraße, dort, wo das „Kammergericht“ so ernst in sie hineinschaut. Ein ernstes und zugleich eisern festes Bild der Gerechtigkeit früher, selbst dem großen Friedrich den Widerstand des Rechts entgegenstellend; von den Stürmen der neueren Zeit manchmal daniedergebeugt.

Es gingen viele Menschen in der Straße, auf den Trottoirs zu beiden Seiten derselben, hin und her, geschäftig und geschäftslos. Arbeiter, die müde von der ehrlichen Tagesarbeit heimkehrten; andere, die auf die unehrliche Abends- und Nachtarbeit aller Art ausgingen; Soldaten, die ohne alle Arbeit einher schlenderten; Köchinnen und Kindermädchen und die bekannten berliner „Mädchen für Alles,“ die theils Bestellungen für die Herrschaft machten, theils Bestellungen nicht für die Herrschaft suchten, bei den herumschlendernden Soldaten wie anderswo; junge Comptoiristen, die von den Comptoirs, junge Referendarien, die, bei den „Probeinstructionen“ verspätet, vom Kammergericht, junge Lieutenants, die aus der Kaserne in der Lindenstraße kamen; alte vertrocknete Geheim-Sekretäre und Hofräthe – Kanzlei- und Registraturräthe gab es damals in Berlin noch nicht – die noch im Gehen von den Händen den Aktenstaub abschüttelten und den Tintenschmutz abwischten; und noch manches andere preußische Gewächs, das man besonders in der ersten Haupt- und Residenzstadt des preußischen Staates antrifft.

In dem Getreibe aller dieser Leute fiel es nicht auf, wenn zwei Menschen vor einem Hause ein paar Minuten stehen blieben, und, so unbefangen wie möglich, dem Anscheine nach in irgend ein gleichgültiges Gespräch verwickelt, oder nach den blauen Augen einer Köchin schielend, scharf prüfende Blicke nach der Thür, der Treppe, den Fenstern, den Fensterladen des Hauses richteten, und sich zugleich genau die Häuser nebenan zu beiden Seiten und gegenüber besahen, dann aber, wie weiter spazierend, langsam nach der Lindenstraße zugingen. Dort traten sie, um ungestört und unbemerkt mit einander sprechen zu können, auf die um jene Zeit schon leere Rampe des Kammergerichtsgebäudes.

„Nun?“ fragte der Aeltere, die Superiorität des Jüngeren anerkennend, den Letzteren. „Was meinst Du? Es geht, nicht wahr?“

„Wenn es gehen soll, so muß es gehen,“ antwortete der Andere trocken.

„Wenn wir nur Handwerkszeug hätten! Nur etwas! Aber ich bin erst seit gestern wieder hier, Du erst seit ein paar Stunden! Wir sind nackt und kahl wie die Kirchenmäuse.“

„Schwatze nicht. Wir müssen zunächst wissen, wie es inwendig im Hause aussieht.“

„Da hast Du wahrhaftig Recht, mein Junge. Ich hätte es im Eifer beinahe vergessen.“

„Gehe hin und siehe nach.“

„Warum gehen wir nicht Beide?“

„Fürchtest Du Dich wieder?“

„Fürchten?“ Du kennst mich, Fritz. Den Teufel fürchte ich nicht.“

„Aber den Duncker.“

„Aber vier Augen sehen mehr als zwei.“

„Aber, wenn ich abgefaßt werde, so kostet es mich zehn Jahre Festungsarbeit; Dich können sie höchstens auf drei Monate in den Ochsenkopf sperren.“

Das berliner Arbeitshaus heißt unter den betheiligten Personen der Ochsenkopf.

Der Alte im grauen Flausch kehrte nach dem Hause Markgrafenstraße Nummer 92 zurück, während sein Gefährte in der Lindenstraße vor dem Kammergerichte auf und abging. In der unmittelbaren Nähe des Centralpalastes der Gerechtigkeit in Preußen schien er sich am Sichersten zu fühlen. In der That war er damals dort am sichersten vor der Polizei.

Der Alte betrachtete vorsichtig noch einmal das Haus; dann stieg er keck, als wenn ihn ein Geschäft in das Haus führe, die steinerne Treppe hinan und drückte an dem Schlosse der Hausthür, um zu versuchen, ob diese von außen zu öffnen sei, oder ob er klingeln müsse. Die Thür ging auf. Der Alte schmunzelte vergnügt. Er trat in das Haus. Das Haus war nach gewöhnlicher berliner Art gebaut. Ein etwas schmaler Hausflur, zu beiden Seiten desselben Thüren, am Ende eine Treppe, die in die oberen Etagen führte. Unter der Treppe brannte eine Laterne, die den Flur schwach erhellte. Der Alte besah Alles genau, las die Namen auf den Schildern an den Thüren, und entfernte sich dann wieder. Niemand hatte ihn gestört.

Sein Gefährte wartete seiner am Kammergerichte.

[485] „Nun?“

Der Alte war freundlicher und noch geschwätziger geworden.

„Alles gut, Alles vortrefflich, mein Junge. Heute werden wir einen Fang machen! Schon sobald nach unserer Rückkehr in diese liebe Residenz. Du hast doch Glück, Junge, daß Du mich hier gleich getroffen hast. Ohne mich – “

Der Andere war finster und einsylbig geblieben.

„Schwatze nicht, Kerl! Wie ist es inwendig!“

„Ein ordinärer Flur. Rechts die Stube des Offiziers; die Thüre gleich vorn im Flur.“

„Doppelthür?“

„Eine einfache. Es ist die einzige auf der Seite. Auf der andern Seite sind zwei Thüren. Auf dem Schilde an der ersten stand der Name eines Geheimenkanzleisecretärs, auf dem an der zweiten der Name eines prinzlichen Kammerlakaien.“

„Warst Du oben?“

„Ich hielt es nicht für nöthig.“

„Gut.“

Der Alte wurde plötzlich ernst.

„Gut, sagst Du. Und jetzt fängt unsere Noth an.- “

„Welche?“

„Hast Du Handwerkszeug? Hast Du einen Centrumbohrer?“

„Nur ein einfaches Stemmeisen?“

„Schweig. Wie viel Geld hast Du noch?“

„Einen halben Thaler.“

„Gieb her.“

„Was, Alles? Meinen ganzen Nebenverdienst?“

„Warum warst Du das Jahr über in dem Zuchthause nicht fleißiger? Gieb her.“

„Was willst Du mit dem Gelde?“

„Du wirst es erfahren.“

Der Alte zog sein ledernes Beutelchen wieder hervor und schüttete den Inhalt in die Hand seines Gefährten. Es waren drei Fünfsilbergroschenstücke.

„Du bleibst hier,“ sagte dann der Jüngere zu ihm. „Ich hole mein Sperrzeug.“

Der Alte fuhr bei dem Worte vor freudigem Schreck in die Höhe.

„Sperrzeug! Du hast welches, Herzensjunge? Wie bist Du dazu gekommen? Erst gestern hier angekommen? Von der Festung entsprungen? Wo hast Du es?“

„Schrei nicht so, Bursche, sondern höre aufmerksam zu. Die Offiziere können spät in der Nacht, sie können aber auch früh zurückkommen. Vor halb zehn Uhr muß Alles vorbei sein. Jetzt ist es schon sieben durch. Mein Sperrzeug liegt wohlvergraben , draußen am Windmühlenberge, schon seit sechs Jahren, so lange als ich sitze. Von hier bis zum Windmühlenberge ist eine halbe Meile. Wollte ich den Weg hin und zurück zu Fuße machen, so würde es zu spät. Darum mußte ich Dein Geld zu einer Droschke haben. Ich fahre gleich hin. Du bleibst unterdeß hier und behältst das Haus im Auge. Gieb wohl Acht, auf Alles, was rein und ausgeht.“

Unter der Rampe des Kammergerichts ist ein Haltplatz für Droschken. Der junge Mann begab sich dahin, stieg in eine Droschke, rief dem Kutscher zu. „Nach dem rosenthaler Thor, rasch!“ – und fuhr davon.

Der Alte begab sich in die Markgrafenstraße zurück und ging darin auf und ab, bald auf der einen, bald auf der andern Seite, bald in der Mitte der Straße, aber das Haus Nummer 92 immer im Auge behaltend.

Mit dem Glockenschlage halb neun kam in raschem Trabe von der Commandantenstraße her eine Droschke nach dem Kammergerichte zu herangefahren. Sie hielt an dem Haltplatze dort. Eine halbe Minute später waren die beiden Diebsgefährten wieder vereinigt.

Der Alte war dem Zurückkehrenden ungeduldig entgegengeeilt.

„Hast Du?“ fragte er.

„Ja.“

„Alles? Auch Bohrer und Stemmeisen?“

„Für den Nothfall auch die. Vorerst werden Dietriche und Haken ausreichen.“

„Du hast die auch? Du bist ein prächtiger Junge. Ich werde stolz darauf, daß ich Dich angelehrt habe. Ich habe es immer gesagt, aus Dir würde etwas werden, Du würdest Deinen Lehrmeister übertreffen. Ich bin nicht neidisch auf Dich.“

„Ist Nichts vorgefallen?“

„Nichts. Ein paar Mägde gingen ein und aus; das ist Alles.“

„Ist auch der Bursche nicht zurück?“

„“Nein.“

„Komm. Aber zuerst folge mir dorthin.“ Er zeigte nach der Lindenstraße.

„Was willst Du da?“

„Du wirst es sehen.“

Der Jüngere führte den Alten in die Lindenstraße, und dort in eines der nächstgelegenen Häuser, das einen nicht verschlossenen und nicht erleuchteten Hausflur hatte. Der Flur war leer. Die beiden Diebe stellten sich in den dunkelsten Raum hinter der Hausthür.

„Du hast doch meine Soldatenjacke noch?“ flüsterte der Jüngere seinem Gefährten zu.

„Zusammengedrehet in meiner Rocktasche.“

„Gieb her.“

„Was willst Du damit?“

„Sie anziehen.“

„Du bist ja darin entsprungen. Du gabst sie mir, um durch sie nicht verrathen zu werden, wenn sie bei Dir gefunden würde.“

„Jetzt muß sie mir helfen. Wenn ich drüben bei der Arbeit bin, und es käme Jemand, so muß man mich für den Burschen des Offiziers halten.“

„Weiß Gott, Junge, Du machst meiner Erziehung Ehre.“

Der Alte zog die zusammengewickelt Soldatenjacke aus der Tasche und steckte das zu kurze Kamisol seines Gefährten dafür wieder ein. Dieser zog die Jacke an. Sie gingen zu der Markgrafenstraße und zu dem Hause Nummer 92 zurück.

„Ich gehe zuerst allein in das Haus,“ sagte der Jüngere. „Du passest draußen auf. Kommt etwas Verdächtiges, kehren die Offiziere zurück, so giebst Du mir sofort Bescheid. Sobald ich die Thüre offen habe, rufe ich Dich.“

Er erstieg die Treppe, öffnete die Hausthür und trat in den Flur, dreist und unbefangen, als wenn er in das Haus gehöre. Die Thür lehnte er hinter sich nur an. Der Flur war leer.

Er hatte sich mit einem raschen Blicke darin umhergesehen. Er wandte sich zu der Thür des Offziers. Er horchte einen Augenblick davor. Er hörte nichts. Auch sonst war Alles still im Hause. Nur in einem der obern Stockwerke hörte man Stimmen. Kinder und Erwachsene sprachen mit einander. Jene schienen zu Bett gebracht zu werden.

Der Dieb zog aus seiner Hosentasche vorsichtig ein Bund Nachschlüssel hervor. Er versuchte den ersten an dem Schlosse der Thür. Der Schlüssel wollte nicht öffnen. Er nahm einen zweiten.

In diesem Augenblicke öffnete sich oben eine Thür. Schritte naheten sich der Treppe. Es schienen Schritte eines Frauenzimmers zu sein. Der Dieb wurde unentschlossen. Sollte er bleiben oder fliehen? Er blieb und versuchte weiter an dem Schlosse.

Eine Magd kam die Treppe herunter; sie trug ein Licht in der Hand, sie schien in den Keller zu wollen.

Sie stutzte, als sie den jungen Mann in der Soldatenjacke sah. Der junge Mann wandte ihr unbefangen sein volles Gesicht zu. Es war ein schönes Gesicht; die Magd ging nicht nach dem Keller, sondern zu dem hübschen jungen Mann.

„Sie sind wohl der Bursch von dem Herrn Lieutenant, der hier heute Abend eingezogen ist.“

„Ich wollte dem Herrn Lieutenant frisches Wasser besorgen. Der verdammte Schlüssel will nicht öffnen.“

„Soll ich Ihnen leuchten?“

„Ich danke Ihnen; Sie werden keine Zeit haben.“

„O, die da oben können warten.“

Von der Treppe erscholl eine spitzige Stimme herunter.

„So, Fräulein Rieke, schon Bekanntschaft gemacht?“

Fräulein Rieke antwortete nicht minder spitz:

„Wie Sie sehen, Fräulein Dorte.“

Fräulein Dorte, die Magd einer zweiten, oben wohnenden Herrschaft, kam vollends die Treppe herunter.

„Das muß ich sagen, Fräulein Rieke –“

„Was müssen Sie sagen, Fräulein Dorte? Daß sie eifersüchtig auf mich sind? Sie hatten Ursache dazu.“

„Was Sie sich einbilden! Was ist denn das?“

Fräulein Dorte war näher getreten und hatte sich den vermeintlichen Burschen des Offiziers näher angesehen, der freilich ihr nicht voll sein Gesicht zuwandte.

[486] „Das ist so nicht der Bursch des Herrn Lieutenants!“ fuhr sie erschrocken fort. Der junge Mann erschrak nicht.

„Darin könnten Sie Recht haben!" sagte er ruhig.

„Und wer sid Sie denn?“

„Ich bin der Bursche des Offiziers, mit dem der Lieutenant gekommen ist.“

Fräulein Dorte war noch mißtrauisch.

„Und wie heißt denn Ihr Lieutenant?“

„Müssen Sie seinen Namen so genau wissen?“

„Ich möchte doch wohl.“

„So warten Sie einen Augenblick. Sobald ich dem Herrn frisches Wasser gebracht habe, führe ich Sie Beide zu unserm Quartier; da werden Sie auch meinen Kameraden treffen, und noch ein Paar andere Freunde. Grog und Karten haben wir schon, es fehlen nur noch hübsche Mädchen.“

Die beiden Fräulein sahen einander versöhnt an.

„Was meinen Sie, Rieke?“

„Und Sie, Dorte?“

„Rieke, wo bleibt Sie denn? Will Sie den Augenblick heraufkommen!“ rief oben auf dem Flur eine kreischende Stimme.

Eine andere, nicht minder kreischende rief gleich hinterher: „Ist die liederliche Dorte auch schon da unten? Ich will Sie Mores lehren. Das hat man davon, wenn Soldaten in's Haus kommen.“

Die beiden Mägde eilten die Treppe hinauf.

Der Dietrich des Diebs paßte; die Thür zu der Stube des Lieutenants von Maxenstern öffnete sich. Der Dieb kehrte an die Hausthür zurück, öffnete sie halb und flüsterte hindurch: „Lude!“

Sein Gefährte in dem grünen Flausch sprang die steinerne Dreppe hinauf.

Die beiden Diebe gingen in das Zimmer des Lieutenants. Einen Augenblick lang ließen sie die Thür noch offen, um vermöge der Helle des Flurlichtes sich orientiren zu können. Sie sahen auf dem kleinen Tische unter dem Spiegel in einem messingenen Leuchter eine Kerze und daneben Zündhölzer. Einer machte die Thür zu, der Andere zündete die Kerze an.

Jetzt besichtigten sie zuerst rasch Zimmer und Alkoven.

„Von innen wäre keine Gefahr,“ sagte der Jüngere. „wir müssen uns auch nach außen sichern. Mach einen Fensterladen halb auf und dann das Fenster, damit Du die Strasse beobachten kannst.“

Der Alte verfuhr nach der Anweisung. Der Jüngere machte sich an den Schreibsekretair. Er besah das Schloß der Klappe, er suchte unter seinen Nachschlüsseln. Schnell hatte er einen gefunden, der ihm zu passen schien. Zu dem fabrikmäßig gearbeiteten Schlosse paßte das Instrument in den Händen des erfahrenen und gewandten Diebes in der That. Die geöffnete Klappe des Sekretairs fiel herunter. Der Dieb lächelte still höhnisch, als er im Innern des Sekretairs das kleine verschlossene Thürchen erblickte.

„Reiß es aus, oder laß mich das Puppenschloß aufreißen!“ rief eifrig der Alte, der, als er die Klappe fallen hörte, neugierig und ungeduldig seinen Posten am Fenster verlassen hatte, und zu dem Sekretair gesprungen war.

„Ruhig, zurück auf Deinen Posten!“ befahl ruhig der Andere.

Er zog aus seinem Bund einen anderen, feinern Haken hervor; nach einigen Sekunden war auch das kleine Thürchen im Innern des Sekretair geöffnet. Der Alte sprang wieder von dem Fenster zurück. Der Jüngere langte aus dem Behälter des Sekretairs ein Päckchen hvervor. Er besah es, er wog es in der Hand. Es war sorgfältig in Papier eingewickelt und mit einem rothen Bändchen umwunden; es wog leicht.

„Die Liebesbriefe des Herrn Lieutenants,“ sagte er halb ärgerlich, halb verächtlich.

„Oeffne es!“ rief der Alte ungeduldig, während seine Augen sich entschleierten und mit einem unheimlichen Feuer stachen, und sein Körper zitterte.

„Oeffne, Junge!“

Der Jüngere öffnete. Auch seine Augen fingen an zu leuchten von einem heftigen, wilden Feuer. Er hielt das Päckchen Kassenanweisungen in der Händ, uneröffnet und unversehrt, wohl versiegelt und überschrieben, wie es aus der Regierungshauptkasse gekommen war. Das Heirathsgut, das Glück des armen Lieutenants!

„Zwölftausend Thaler in königlich preußischen Kassenanweisungen,“ las er.

Auch der Alte las es. Der Anblick machte einen fast wunderbaren Eindruck auf den ergrauten Dieb.

„Fritz, Junge!“ rief er. „Zwölftausend Thaler! Ich erbärmlicher Kerl! O, ich elender Lump! Da bin ich fast sechzig Jahre alt, und habe seit länger als fünfzig Jahren gestohlen, und mein ganzes Leben hat mir keine zweitausend Thaler eingebracht!“

„Aber,“ versetzte spöttisch der Andere, „dafür mehr als dreimal zwölf Jahre Zuchthaus. Doch, alter Kerl, ich glaube wahrhaftig, du weinst.“

„Ja, Fritz, ich weine, und ich schäme mich meiner Thränen nicht. Ich habe ein weiches Herz. Zwölftausend Thaler! Und mit einem Male! Sieh, ich habe niemals geträumt, daß ich noch einmal ein reicher Kerl würde.“ Auf einmal unterbrach er sich. „Gieb das Geld her. Ich habe noch nie so viel Geld in der Hand gehabt. Ich muß wissen, wie das ist.“

Der junge Mann war ruhig geblieben, wie immer.

„Das Glück hat Dich närrich gemacht, alter Thor,“ sagte er. „Komm, laß uns fortmachen, ehe man uns hier trifft.“

Der Andere wurde heftig.

„Gieb mir das Gold. Du traust mir nicht?“

„Komm, Narr!“

„Wenigstens meine Hälfte will ich. Wir wollen theilen, auf der Stelle.“

Die Augen des jungen Mannes funkelten zornig.

„Höre, alter Narr,“ sagte er, „sprichst Du noch ein Wort, so schmeiße ich Dich aus dem Fenster, daß Du da unten im Rinnstein die Knochen zerbrichst.“

Er hatte dem Alten imponirt. Dieser wurde still; aber mit leeren Händen das Zimmer zu verlassen, das schien dem alten Gewohnheitsdiebe unmöglich. Er blickte um sich her. Er sah den Kleiderschrank. Er flog darauf zu. Der Schlüssel steckte darin. Er öffnete ihn.

„Laß die Kleider hängen!“ rief ihm sein Gefährte zu. „Sie können uns verrathen.“

Der Alte war eigensinnig geworden.

„Bekümmere Dich um Dich,“ antwortete er trotzig.

Er bepackte seinen Arm mit den Uniformstücken des Offiziers. So wollte er forststürzen.

„Mach erst den Schrank zu!“ befahl ihm der Jüngere.

„Warum das?“

„Ich habe es von Dir selber gelernt. Ein Diebstahl muß so spät entdeckt werden, wie möglich.“

Der Alte verschloß gehorsam den Schrank. Der Andere hatte bereits sorgfältig den Sekretair wieder verschlossen. Er löschte vorsichtig das Licht aus. Beide verließen die Stube. Draußen verschloß er nicht minder vorsichtig die Thür der Stube.

Es war Mitternacht, als der Lieutenant von Maxenstern in sein Quartier zurückkehrte. Von seiner Braut hat er sich noch zu Jagor begeben müssen, wo seine Freunde zu seiner Bewillkommung in Berlin ein kleines Abendessen veranstaltet hatten.

Der Lieutenant kehrte in der heitersten und glücklichsten Stimmung von der Welt zurück. Seine Braut hatte bei Mittheilung seines und ihres Glücks vor Freuden geweint. Erst jetzt, da es bald zu Ende sein sollte, hatte sie ihm alles das Leiden vertraut, das sie seit Jahren in dem Hause des Freundes ihres Vaters erduldet hatte. Sie hatten tausend Pläne des neuen Glücks und der Freude gemacht.

Die Freude der Kameraden und der Jagor’sche Wein hatten den Offizier noch fröhlicher gestimmt.

Er hatte den Schlüssel seines Zimmers mit sich genommen. Die Thür öffnete sich damit. Er fand das Licht an der Stelle, an der er es zurückgelassen hatte, daneben die Zündhölzer. Er zündete es an. In dem Zimmer war Alles an seinem Platze. Er warf einen Blick nach dem Sekretair, in dem er seinen Schatz verwahrt hatte. Er fand ihn verschlossen. An ein weiteres Nachsehen dachte er nicht. Auch seine bisherigen Blicke waren wohl nur mehr instinktmäßig, als von einem Verdachte geleitet gewesen. Er gab sich ganz seinem Glücke hin. So legte er sich zu Bette, schlief bald ein, und träumte vielleicht süß.

Der arme Lieutenant!

(Fortsetzung folgt.)
[487]

Jagd- und Lebensbilder aus Amerika.

Nr. 7. Eine Bärenmutter.

Wir hatten zwar unter freiem Himmel, aber recht gut geschlafen; der Morgen dämmerte in dem Walde, und wir wollten das Frühstück bereiten, als wir etwa hundert Schritte von uns drei Gestalten erblickten, eine größere mit zwei kleinen. Die erstere streckte zwei starke Arme aus und bewegte sie in eigenthümlicher Weise. Lauerten Indianer auf uns? Wir hatten noch keine Gewißheit erlangt, als es plötzlich um Vieles heller wurde. Jetzt konnten wir nicht mehr im Zweifel sein: die größere Gestalt war eine aufrechtstehende Bärenmutter und zwei Junge befanden sich bei ihr.

Eine Bärenmutter.

Freund M. griff sofort nach seinem Gewehre, und ehe ich ihn abhalten konnte zu schießen, hatte er der Bärenmutter eine Kugel zugesandt. Kaum knallte der Schuß, so ließ sich die Bärin auf alle Viere nieder und sie schnaubte gewaltig. M. hatte in dem noch zweifelhaften Lichte nicht scharf zielen können, und das Thier nur leicht vorn an der Schnauze getroffen. Die Schnauze aber ist bei dem Bär sehr empfindlich, und die leichteste Wunde daran bringt ihn in den heftigsten Zorn. Unsere Bärenmutter schüttelte eine Zeit lang stark brummend den dicken Kopf und kam dann in schnellem Laufe auf uns zu. Die schon ziemlich herangewachsenen beiden Jungen folgten.

Es blieb uns kein Ausweg, als schnell Jeder auf einen Baum zu klettern. Wir befanden uns in einem Walde von Eichen, und das war ein Glück, denn die Eichen strecken hier schon wenig Fuß vom Boden Aeste aus, die also ohne große Mühe zu erreichen sind.

K. kletterte an der dicken Eiche hinauf, unter welcher wir die Nacht verbracht hatten und die auch das Ziel der Bärin war. Bald hatte diese sie erreicht und sie beschnoberte die daliegenden Decken und Felle. Dann ging sie um den Baum herum, während sie an ihm hinaufsah. K. hatte Zeit gehabt, den dritten oder vierten Ast zu erreichen. Er hätte noch höher steigen können, glaubte aber, der Bär sei ein sogenannter grauer, und da er wohl wußte, daß der graue Bär im Klettern ungeschickt ist, hielt er es nicht für nöthig, sich höher zu flüchten, er setzte sich vielmehr bequem auf seinen Ast und sah aufmerksam herunter. Da leider mußte er sich überzeugen, daß er einen braunen Bär vor oder vielmehr unter sich hatte, welcher bekanntlich ein höchst gewandter Kletterer ist.

Das zeigte sich denn auch bald, denn die Bärin richtete sich an dem Baumstamm empor, umfaßte ihn mit den Vordertatzen und fing an, daran hinaufzusteigen.

Es war ein schrecklicher Augenblick.

Wir, M. und ich, kletterten von den Bäumen eilig herunter, auf die wir uns geflüchtet hatten. Ich griff sofort nach meinem Gewehr, und sandte der Bärin zwei Kugeln in das zottige Fell. Leider waren sie von so kleinem Kaliber, daß sie kaum durch die dicke Haarmasse durchgingen, die Bärin aber nur noch mehr reizten, was ihre Brummtöne verriethen, die nichts weniger als freundlich klangen. Einen Augenblick hielt sie sogar im Klettern an, als überlege sie, ob sie wieder herabsteige und den züchtige, der sie [488] neuerdings angegriffen hatte, oder ob sie den ersten Feind weiter verfolge. Sie entschloß sich zu dem Letztern.

K. blieb auf dem Baume, wie sich denken läßt, nicht ruhig sitzen, er kletterte vielmehr unter den Zweigen fast so schnell und geschickt wie ein Eichhörnchen höher und höher hinauf. Als er sich etwa sechzig Fuß vom Boden befand, rutschte er auf einen Ast vor, der sich horizontal von dem Stamm hinausstreckte. Er hatte seinen guten Grund dazu; er bemerkte nämlich, daß sich gerade über diesem Ast ein zweiter befand, und er glaubte diesen erreichen und auf ihn sich hinaufschwingen zu können, sobald die Bärin ihm auf den ersten folge; auf diese Weise hoffte er den Stamm wieder zu erlangen und daran heruntersteigen zu können, so lange die Bärin noch draußen auf dem Aste sei. Der Plan war ganz gut erdacht, leider aber zeigte es sich bald, daß der erste Ast unter der Schwere seines Körpers sich bog, und dabei sich von dem obern so weit entfernte, daß er denselben nicht einmal mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Er wollte also umkehren und einen andern Ast suchen, als – Entsetzen! – die Bärin bereits von dem Stamm her auf denselben Ast trat und sich anschickte, unsern Freund K. da zu holen.

Umkehren und der schrecklichen Bärin entgegentreten, konnte er unmöglich; weder unter noch über sich vermochte er andere Zweige zu erreichen und weiter vor auf dem Aste durfte er sich auch nicht wagen, denn da trug er ihn nicht mehr, und – man vergesse es nicht – er befand sich in einer Höhe von mindestens sechzig Fuß. Er konnte also dem wüthenden Thiere in keiner andern Weise entkommen, als wenn er aus dieser Höhe hinunter sprang, aber dies war gewisser Tod.

Die Bärin kletterte unterdeß auf dem Aste weiter und weiter vor. Wir standen athemlos unten, luden unsere Gewehre von Neuem, fürchteten aber nicht schnell genug damit zu Stande zu kommen.

Es war eine grauenhafte Minute, die ich in meinem Leben nicht vergessen werde, in welcher K. aber bewundernswürdige Geistesgegenwart und Charakterstärke zeigte. Statt sich der Angst und Verzweiflung zu überlassen, behielt er seine Kaltblütigkeit vollständig, um über seine Rettung nachdenken zu können.

Da plötzlich kam ihm ein Gedanke und er rief uns zu:

„Einen Strick! Einen Lasso! Werft ihn mir zu, aber um Gottes willen rasch, sonst bin ich verloren!“

Zum Glück lag ein Lasso, ein langer schmaler Lederriemen mit einer Bleikugel an dem einen Ende, unter dem Baume bereit. Ich warf sogleich mein halbgeladenes Gewehr hin, stürzte nach dem Lasso und faßte ihn kunstgerecht. Ich darf wohl sagen, daß ich eine ziemliche Geschicklichkeit im Lassowerfen erlangt hatte, und in dieser Kunst es mit jedem Südamerikaner aufnehmen kann.

Ich stellte mich dann gerade unter den Ast, auf dem der Freund oben nicht weit mehr von der Bärin schwankte, ließ ihn erst mir um den Kopf sausen, zielte gut und schleuderte ihn in die Höhe. K. war, um Zeit zu gewinnen, auf dem Aste so weit vorgegangen als es nur möglich war. Die Bärin folgte ihm weiter und weiter. Unter der doppelten Last aber bog sich der Ast wie ein Bogen, und es war ein Wunder, daß er nicht brach.

K. saß rücklings auf dem Aste mit dem Gesichte nach dem Stamme und folglich nach der Bärin zu. Diese war kaum noch zwei Schritte von ihm entfernt, so daß er gewiß ihren heißen Athem bereits in dem Gesichte fühlte. Es war die höchste Zeit. Zum Glück sauste da das Ende des Lasso herauf, gerade zwischen K. und die Bärin, und schlang sich um den Ast. Blitzschnell faßte ihn K. und eben als die Bärin die große Tatze ausstreckte, um ihren Feind zu packen, ließ dieser den Ast los und glitt an dem Lasso hinunter.

Leider aber war der Lasso zu kurz, denn es fehlten mindestens zwanzig Fuß zwischen seinem Ende und dem Boden unten. Wir selbst hatten mit Entsetzen dies bemerkt, doch gab es ein Mittel, den herabspringenden Freund aufzufangen. Wir hatten ja die Haut eines erlegten Büffels bei uns; diese nahmen wir und hielten sie unter dem Lasso ausgebreitet. K. sprang herunter darauf, und im nächsten Augenblicke stand er wohlbehalten neben uns.

Es war ein Augenblick des Triumphs. Der Ast, welchen die Last unseres Freundes tief niedergezogen hatte, schnellte, als er den Lasso losließ, mit Macht empor; die Gewalt dieser Bewegung kam so unerwartet und war so stark, daß die Bärin losließ, mehrere Fuß hoch emporgeschleudert wurde und dann aus der Höhe herunter dumpf aufschlagend an den Boden fiel. Eine Zeit lang blieb sie bewegungslos liegen; aber sie war nicht todt, nur betäubt, und sie würde sich bald genug wieder aufgerichtet und den Kampf von Neuem begonnen haben, wenn wir die Zeit nicht gut benutzt hätten. Wir jagten ihr jeder eine Kugel in den Leib, ich schoß sie namentlich in das Auge, und so streckten wir sie bald leblos nieder.

Die Jungen hatten sich aus dem Staube gemacht, und wir suchten auch nicht lange nach ihnen; von der Alten aber schnitten wir einige fette Rippen ab, und wer in seinem Leben jemals Bär-Coteletten gegessen hat, wird sich vorstellen können, wie vortrefflich sie uns diesen Morgen nach bestandenem Abenteuer schmeckten.




Ueber Frauenbestimmung.

Von Professor Biedermann.
IV.
Die Frauen in der Politik.
[1]


Am Häufigsten haben sich die Frauen versucht, und den verhängnißvollsten Einfluß haben sie geübt auf einem Gebiete, welchem sie für immer hätten fern bleiben sollen, auf dem Gebiete der Politik. Die Erklärung dafür ist leicht zu finden. Die Politik war die längste Zeit hindurch ausschließlich in den Händen der Machthaber und ihrer Umgebungen. Die Kunst, auf die Menschen und durch sie auf die Verhältnisse einzuwirken, die Gewandtheit persönlicher Leitung und Ueberredung, auch die Intrigue in ihren mannigfachsten Wendungen war dabei ganz am Platze.

Für diese Art persönlicher Wirksamkeit aber haben die Frauen ganz besondere Neigung und ein ganz besonderes Talent, und sie haben dieses, bisweilen zum Guten, öfter jedoch leider zum Schlimmen, vielfach benutzt. Die ältere und neuere Geschichte, selbst die neueste kaum ausgenommen, weiß von weiblichen Einflüssen, von weiblichen Intriguen in großen und kleinen Staatsangelegenheiten, auf dem Felde der äußern wie der innern Politik, Allerlei zu erzählen. Um nur einige der hervorragendsten Beispiele zu nennen, wo Frauen in die Geschicke ganzer Völker eingriffen, erinnere ich an jene Katharina von Medici, die Mutter Karl’s IX. von Frankreich, die Hauptanstifterin der gräßlichen Ermordung der Protestanten (der sogenannten pariser Bluthochzeit oder Bartholomäusnacht) im Jahre 1572; an jene Henriette von Frankreich, deren leichtfertiges Wesen nicht wenig zu dem unglücklichen Schicksale ihres Gemahls, Karl’s II. von England, beitrug; an jene Marie Antoinette, Ludwig’s XVI. Gemahlin, welcher die Geschichte eine ähnliche Schuld bei dem großen Drama der französischen Revolution, wohl nicht ganz mit Unrecht, beimißt; ich erinnere ferner an die bekannten Geliebten Ludwig’s XIV. und XV., Madame Maintenon, deren bigotte Frömmigkeit (eine verspätete und schlechte Buße für ihr früheres sehr unfrommes Leben), den, gegen Weibereinfluß nur zu schwachen König zu harten Maßregeln wider seine protestantischen Unterthanen verleitete, welche Frankreich vieler Tausende seiner gewerbfleißigsten Bürger beraubten und französische Industrie, französische Bildung, aber auch ein gut Theil französischer Leichtfertigkeit nach Deutschland herüber verpflanzten; Madame Pompadour, die, um sich an Friedrich II. von Preußen wegen eines Witzwortes, das er über sie gesprochen, zu rächen, den Beitritt Frankreichs zu dem Bündniß gegen diesen König durchsetzte, aus welchem der siebenjährige Krieg hervorging.

[489] Nirgends so sehr, als in Frankreich, ist weiblicher Einfluß in der Politik thätig und mächtig gewesen, weil nirgends die Politik von jeher einen so persönlichen Charakter gehabt hat, und so wie dort, mehr von den Launen und Leidenschaften der Herrscher, als von den Interessen des Volkes bestimmt worden ist. Doch haben auch anderwärts nicht selten Frauenhände bedeutsam in das Rad der Geschichte eingegriffen. Jenes „Glas Wasser“, welches einen hochberühmten Feldherrn (Marlborough) und seine kriegerisch gesinnte Partei am Hofe von England in Ungnade stürzte, dadurch England von der Allianz gegen Ludwig XIV. losreißen half, und also unmittelbar wenigstens dazu beitrug, die ganze Gestalt der europäischen Verhältnisse zu ändern, ist mehr als eine bloße dramatische Erfindung; ebenso jenes „Mädchen von Marienburg“, Katharina, Peter’s des Großen Gattin, die durch ihre Geistesgegenwart, ihre Unterhandlungsgabe und die Aufopferung ihrer Kostbarkeiten ihren Gemahl aus der gefährlichen Lage, in welche er im Türkenkrieg gerathen war, befreit, und ein schweres Verhängniß von ihm und seinem jungen Reiche abwandte.

In Deutschland gab es leider auch eine Zeit, wo, wie alles Französische nachgeahmt ward, so auch weiblicher Einfluß, noch dazu der unberechtigsten und niedrigsten Art, an den meisten deutschen Höfen herrschte. Beinahe nirgends trieb man’s darin so schamlos, als in Würtemberg, wo zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Fräulein von Grävenitz, die Geliebte des Herzogs Eberhard Ludwig, förmlich im Geheimen Rathe den Vorsitz führte, Stellen und Gnadenbezeigungen austheilte und die ersten Aemter mit ihren Verwandten und Günstlingen besetzte. Auch unter Karl Eugen von Würtemberg, bei jenen Scenen des Despotismus, in denen fürstliche Geistesbeschränktheit den aufstrebenden Genius eines der größten Dichter, Schiller’s, zu unterdrücken, fürstliche Rachgier das freimüthige Erkühnen eines andern Dichters, Schubart, grausam zu strafen sich unterfing, spielte ein Weib, die unter dem Namen Francisca bekannte und u. A. in den „Karlsschülern“ auf die Bühne gebrachte Geliebte des Herzogs, keine unbedeutende Rolle. Auch in Sachsen, besonders unter August dem Starken, in Preußen unter dem ersten König Friedrich und dann wieder unter Friedrich Wilhelm II., in Baiern unter Karl Theodor, ja selber an den Höfen geistlicher Fürsten übten Frauen lange Zeit eine Macht, die sich, wenn nicht weiter, doch wenistens fast immer auf einen unverantwortlichen Mißbrauch der Landeseinnahmen, eine Bedrückung der Unterthanen und eine Zurücksetzung des wahren Verdienstes durch ein System der Gunstbuhlerei oder der Bestechung erstreckte. Wie diese fürstlichen Maitressen in einem Glanze schwelgten, zu welchem oft das Elend der Länder, die sie aussaugen halfen, einen tiefschmerzlichen Kontrast bildete, wie sie sich mit Perlen und Juwelen schmückten, an denen der Schweiß und das Blut des armen Volkes klebte, das hat unser Schiller in seiner „Lady Milford“ (in „Kabale und Liebe“) mit furchtbarer Wahrheit geschildert – nur daß die Geschichte von keiner fürstlichen Geliebten weiß, die, gleich jener Lady, aus eigener besserer Herzensregung ihre schmach- und fluchbeladene Lebensstellung aufgegeben hätte.

Wo solches Weiberregiment herrscht, da müssen wohl die Männer selber weibisch sein, oder weibisch werden. Ein ächter, ein männlicher Charakter bleibt gegen solche Verführungen kalt. – Darum scheiterten auch an einem Karl XII. von Schweden alle Reize der schönen Aurora von Königsmark, welche August der Starke diesem, als den besten Unterhändler, wie er meinte, entgegengesandt hatte. Die schöne Gräfin, die einen August, bei der ersten Begegnung zu ihren Füßen gesehen hatte, mußte die Beschämung erleben, daß der rauhe schwedische Kriegsheld auf die ungalanteste Weise mit ihr von nichts als von der Vortrefflichkeit seiner großen Stiefel sprach, und sie mit ihrer diplomatischen[WS 1] Mission unverrichteter Sache wieder abziehen ließ.

Um die Unwürdigkeiten, welche ein Menschenalter hindurch mehr oder weniger fast alle deutsche Völkerschaften durch die schnödeste Maitressenherrschaft erduldet haben, zu vergessen und zu verschmerzen, wenden wir gern unsere Blicke nach einer anderen, wohlthuenderen Seite unserer vaterländischen Geschichte, wo wir, wie durch eine eigenthümliche Schickung (als sollte das Andenken an jenen verderblichen Fraueneinfluß auch wieder durch eine Frauenwirksamkeit der edelsten Art ausgelöscht und gesühnt werden), in mehreren deutschen Ländern gerade Fürstinnen eine segensreiche, kraftvolle und umsichtige Thätigkeit entfalten sehen. Nur zu nennen brauche ich die edle und geistvolle Amalie von Weimar, die feinsinnige Freundin Wieland’s, die Bildnerin des ihrer würdigen Sohnes, und mit ihm die Begründerin von „Weimars Musenhof“, dieser unvergänglichen Zierde jenes kleinen Ländchens und des ganzen Deutschlands.[2] Weniger allgemein bekannt, aber gleichfalls unvergessen in der Geschichte der Länder, denen zum Segen sie wirkten, sind die Fürstin Pauline zu Lippe, welche achtzehn Jahre lang (1802–20) als Vormünderin ihres Sohnes das kleine Ländchen musterhaft regierte, und selber Napoleon so viel Achtung abgewann, daß er ihr Gebiet verschonte,[3] und jene Landgräfin Karoline von Darmstadt, von welcher Wieland wünschte, daß sie über Europa herrschen möchte. Und wie könnte ich aus der neuesten Zeit die edle Königin Louise von Preußen unerwähnt lassen, deren entschlossene Begeisterung für die Wiedererhebung des niedergeworfenen Vaterlandes die Unentschlossenheit manches männlichen Geistes beschämte und überwand?

Auch in noch weit größeren Verhältnissen, als Selbstherrscherinnen auf den mächtigsten Thronen, haben sich Frauen ihrer hohen Aufgabe gewachsen gezeigt, und in der Geschichte einen ebenbürtigen Platz neben den Männern, ja vor vielen dieser, behauptet. Die Regierungen einer Elisabeth von England und einer Katharina II. von Rußland ließen männliche Kraft, Umsicht und Entschlossenheit nicht vermissen, und gehören in vielen Beziehungen zu den glänzendsten Blättern in den Annalen jener Länder. Dennoch verleugnete sich die Schwäche des weiblichen Naturells in keiner jener beiden Fürstinnen – und freilich rechnet auch die Geschichte mit Frauen strenger, als mit Männern, mit den gekrönten so gut wie mit den ungekrönten. Ungern mag sie schon die Liebesintriguen, denen sich auf das Rücksichtsloseste die russische Selbstherrscherin, mit etwas mehr Zurückhaltung die jungfräuliche Königin von England hingab, sowie die Grausamkeit übersehen, womit Beide ihre ungetreuen oder lästig gewordenen Liebhaber behandelten (obgleich Männer auf Thronen sich vielfach noch Schlimmeres gestattet haben); auf häßlichere Flecken in dem Bilde jener beiden fürstlichen Frauen sind der von der einen unter den mißbrauchten Formen des Rechts an einer Nebenbuhlerin (Maria Stuart) verübte Mord, und die von der anderen durch Intriguen der unwürdigsten Art herbeigeführte Zerrüttung des Nachbarreichs Polen.

Die[WS 2] Dritte in der Zahl der berühmten großen Selbstherrscherinnen, Maria Theresia, hat sich weder durch so glänzende Eigenschaften, wie Elisabeth und Katharina, ausgezeichnet, noch mit ähnlichen Verirrungen und Verbrechen, wie jene, befleckt. Den Anfang ihrer Regentenlaufbahn bezeichnete sie durch eine ächt weibliche Heldenthat, indem sie, die junge, kaum auf den Thron gelangte Herrscherin, ringsum von Feinden bedrängt, welche ihr das Erbe ihrer Väter und ihrem kleinen Sohn den Thron, für den sie ihn geboren, rauben oder doch schmälern wollten, sich in die Mitte ihrer getreuen Ungarn begab und diese durch ihren Anblick, durch die entschlossenen Worte, die sie zu ihnen sprach, und durch die Hinweisung auf das Kind, das sie auf ihren Armen trug, zu allgemeiner Begeisterung für ihre Sache entflammte. In der Regierung ihrer Staaten zeigte sie zwar nicht die geniale Schöpferkraft einer Elisabeth oder Katharina, aber mit sorglicher Umsicht und gestützt auf den Rath wohlgewählter Minister, suchte sie wenigstens die materiellen Kräfte ihrer Länder möglichst zu entwickeln, die Gesetzgebung zu ordnen, Wohlstand und Zufriedenheit zu verbreiten. Leider vereitelte die Erfüllung dieser wohlmeinenden Absichten zum großen Theil der schädliche Einfluß ihrer bigotten geistlichen Rathgeber, der Jesuiten, gegen die sie eine Schwäche bewies, welche wir als einen Ausfluß ihres weiblichen Naturells bezeichnen würden, wenn nicht auch männliche Throninhaber sich einer gleichen Schwäche vielfach schuldig gemacht hätten. Eher möchte als weiblicher Eigensinn an ihr zu tadeln sein, daß sie ihrem großen Sohn Joseph, dessen aufgeklärte Ideen freilich mit den ihrigen nicht sehr im Einklange standen, bis in sein reifstes Alter hinauf, und selbst noch dann, als er schon längst die Kaiserkrone des deutschen Reichs trug, [490] von der Theilnahme an der Regierung seiner Erbstaaten eifersüchtig und herrisch ausschloß. Als Frau und Gattin steht Maria Theresia tadellos und um so glänzender da, als der Geist ihrer Zeit und das Beispiel ihrer gekrönten Genossinnen, namentlich der gleichzeitigen Katharina, auch ein minder strenges sittliches Verhalten an ihr entschuldbar würden erscheinen lassen. Wir haben darüber ein unverwerfliches Zeugniß in den Aufzeichnungen der bekannten Romanschriftstellerin Caroline Pichler, deren Mutter Kammerdame der Kaiserin war und welche selbst als Kind sich viel in der Umgebung jener hohen Frau befand. Dieselbe versichert in ihren „Denkwürdigkeiten“ (im 1. Band), daß Maria Theresia, obschon eine der schönsten Frauen ihrer Zeit, doch von Eitelkeit, Gefallsucht und Galanterie gegen andere Männer als ihren Gemahl durchaus fern gewesen sei. Sie hatte diesen, einen Prinzen aus einem weder reichen noch mächtigen Hause, rein aus Neigung gewählt und blieb ihm unwandelbar treu, obgleich er diese Liebe und Treue nicht durch die gleiche Beharrlichkeit lohnte, sondern durch mehrfache Galanterien ihr Kränkungen bereitete, die sie eben so würdig als sanft ertrug[4].

Leider hat, neben jenen durch Geist und Charakter ausgezeichneten Herrscherinnen, die, wenn schon von Fehlern nicht frei, doch auch durch große Eigenschaften ihre Throne zierten und den glänzenden Beweis lieferten, daß, bei günstiger Naturanlage und kräftigem Willen, Frauen mit den Männern selbst in der Erfüllung der schwersten Regentenpflichten und der Ausführung der größten Thaten wetteifern können, die Geschichte auch von solchen zu erzählen, welche auf den Thron, den das Schicksal ihnen bestimmte, weit mehr die Schwächen, als die Tugenden, des weiblichen Charakters mitbrachten und selber die bedeutenden Kräfte ihres Geistes oder Willens entweder ungenutzt für ihre Völker vergeudeten oder zu falschen und verbrecherischen Absichten verwendeten. Dahin gehört z. B. jene Christine von Schweden, Gustav Adolph’s Tochter, die das herrliche Erbe, welches ihr großer Vater ihr in einem zu Ruhm und Macht erhobenen Reiche und einem Glauben, den er mit seinem Blute besiegelt hatte, hinterließ, mit kindischem Trotze und Leichtsinn verzettelte und von sich warf, ihre Krone aufgab, um unbeschränkter ihren Launen leben zu können, und ihren väterlichen Glauben abschwor, um in dem Prunke und der Ueppigkeit römischen Wesens zu schwelgen. Die häßlichsten Seiten weiblichen Charakters, die verblendete Leidenschaftlichkeit der Eifersucht, die kleinliche Rachgier und die eigensinnige Verschmähung jedes besseren Rathes – zeigte sie bei dem grausamen Morde ihres ehemaligen Günstlings Monaldeschi, dessen blutiges Schicksal Geschichte und Poesie aufbewahrt haben[5], ihr zur unvergänglichen Schande. Was half es, daß sie gelehrte Studien trieb und sich mit Gelehrten umgab, wenn die Bildung des Geistes nicht einmal an ihrem Frauenherzen den veredelnden Einfluß zu entfalten vermochte, den sie, nach dem Ausspruche des alten Dichters, selber bei Männern bewähren muß: „Die Sitten zu mildern und die Grausamkeit zu verbannen?“

Die allerneueste Zeit hat uns von Fraueneinfluß auf oder neben dem Throne sehr widersprechende Beispiele kennen gelehrt. Wir haben durch weibliche Leidenschaften und Schwächen ein von Natur vielfach begünstigtes Land in Verwirrung gestürzt und an den Rand eines blutigen Bürgerkrieges gebracht gesehen; wir sehen aber auch auf dem Throne des glücklichen britischen Inselreiches eine Königin, mit allen Tugenden einer solchen und allen Liebenswürdigkeiten einer Frau geschmückt, nicht so hervorragend vielleicht in den künftigen Annalen der Geschichte, als ihre große Vorgängerin Elisabeth, weil die Zeit und die Verfassung ihres Landes ihr ein ähnliches persönliches Eingreifen in den Gang der Ereignisse nicht nahelegt, ja nicht einmal gestattet, allein in anderer Weise ein ebenso merkwürdiges, in gewisser Hinsicht noch seltneres Beispiel weiblicher Größe gebend, indem sie[WS 3] das, was dem Weibe in so ausgezeichneter Stellung wohl noch schwerer fällt, als die Entwickelung männlicher Entschlossenheit und Selbstständigkeit, die Verleugnung jedes Eigenwillens, der gegen die Gesetze und die Wohlfahrt ihres Landes verstoßen würde, mit bewundernswürdiger Entsagung und Selbstbeherrschung leistet, dabei ein Muster für ihr Volk in Einfachheit der Sitten, treuester Gattenliebe und sorglichster Erfüllung ihrer Mutterpflichten.




Aus der Kinderstube.

Sie waren der Meinung, Herr Redakteur, daß die Ihnen zur Einsicht von der Hand einer Freundin mitgetheilten Aufzeichnungen aus meinem pädagogischen Tagebuche nicht ohne einiges Interesse für die Oeffentlichkeit sein, ja sogar vielleicht hier und da einer Mutter, einem Lehrer, einer Erzieherin willkommenen Stoff zum Nachdenken oder selbst zur Nachahmung bieten würden. Wie gerne genüge ich bei einem so günstigen Vorurtheile Ihrer Aufforderung und sende Ihnen, was und wie ich es eben habe. Sind die Leser und Leserinnen Ihres Blattes in ihrem Urtheile so nachsichtig wie Sie, dann bin ich wohl eines kleinen Erfolges meiner Worte gewiß, denn ich habe diese ja ganz durchdrungen von guten Absichten und Wünschen niedergeschrieben.

I.

Meine Wirksamkeit als Erzieherin beginnt sehr frühe, ja ich könnte den Anfang derselben in meine Mädchenjahre setzen, wenn ich dazu den Verkehr mit kleinen Kindern rechnen wollte, der immer meine liebste Erholung war; aber nur mit Kindern, die meiner Hülfe in irgend welcher Beziehung bedurften, mit armen, elenden, kranken, die ich waschen, ankleiden, führen konnte, oder die Geduld genug hatten, sich Geschichten von mir erzählen zu lassen, Lehren und guten Rath von mir anzunehmen. Ich habe auch aus jener frühsten Periode noch manches freundliche Bild mir erhalten, aber zu Betrachtung eines solchen dürfte ein fremdes Auge kaum Reiz genug finden, die Gestalten und Farben sind eben nur für mich erkennbar und verständlich, weil die Phantasie hier Alles in Allem ist und die Wirklichkeit nur Nebensache.

So übergehe ich diese Zeit und komme zu der, wo ich mit Erziehungsversuchen in etwas größerem Maßstabe begann. Wie früher, so zog mich auch in reiferen Jahren und nach Begründung eines eigenen Hausstandes meine Neigung vorzüglich zu armen Kindern. Sah ich auch wohl für Kinder bemittelter Familien nicht immer Alles recht geschehen, Vieles sogar sehr falsch und gegen die einfachsten Lehren der Natur und gesunden Vernunft, so wußte ich doch, daß hier mindestens alle Mittel für das Bessere geboten seien, und daß überdies mein Rath beim Mangel einer äußeren Autorität meiner Person nicht beachtet werden würde. Dazu sah ich, daß, soviel auch immer für die Armen, für die Erlösung derselben aus ihrem materiellen Nothstande gethan werde, doch noch sehr viel zu thun übrig bleibe für die Erhebung derselben aus dem noch gefährlicheren sittlichen Nothstande. Und so beschloß ich, mich solcher Familien zu nähern, wo die Aeltern, von unablässiger Sorge um Leben und Erhaltung bedrängt, zu Erziehung und sittlicher Pflege ihrer Kinder nicht Zeit und Gelegenheit finden könnten, oder wo über dem Jammer um das häusliche Elend, das Gefühl für das Gute abgestumpft, die Lust zur Erziehung der Kinder erstorben sei. Hier wollte ich den Versuch wagen, ob nach Abhülfe der äußersten Noth es gelingen würde, den Sinn für innere Veredlung und sittliche Erhebung zu erwecken und im Vortheil der Kinder thätig zu machen.

Es war im Jahre 1847 als ich den ersten Versuch in der eben erwähnten Weise wagte. – Die von mir zu diesem Zweck erwählte Familie war die eines Handarbeiters. Häufig aufeinander folgende Krankheitsfälle, so wie der Tod einiger Kinder, und Arbeitsmangel hatten die äußeren Verhältnisse dieser Familie immer drückender und peinigender werden lassen und sie tief in Schulden gebracht. Schwer empfand der gewissenhafte und sorgsame Vater das Traurige seiner Lage, und die drückende Ueberzeugung, seine [491] Arbeitskraft allein reiche nicht aus, die Schulden wieder zu decken und in eine sorgenfreiere Lage zu kommen, machte ihn muthlos, bis er endlich von dem Bestreben geleitet, seine Sorgen und seinen Kummer zu vergessen oder zu betäuben, dem Laster des Trunkes sich ergab. Natürlich daß dadurch die Noth und das Unglück der Familie sich von Tag zu Tag nur noch vergrößerte. – Soweit war es mir gelungen, in die Verhältnisse der Familie einzudringen, bevor ich noch selbst derselben mich näherte. – Schon drohte der materielle Nothstand auch moralisches Elend über diese Armen zu bringen. Sollten sie vor diesem bewahrt werden, so mußte es das Erste sein, die Quelle ihrer Nahrungssorgen zu verstopfen. Mein Bestreben ging daher auch zunächst dahin, den Aeltern lohnendere Arbeit zu verschaffen. Und nur erst als mir dies gelungen war, trat ich persönlich, doch ohne mir merken zu lassen, daß ich schon vorher von ihren Verhältnissen mich unterrichtet und mit ihrem Geschick mich beschäftigt habe, der Familie selbst näher. Ebenso aber hütete ich mich auch, ihnen meine Sorge um ihre Existenz wie eine von mir absichtlich ihnen ertheilte Wohlthat vorzuführen, und somit zu einem moralischen Zwange für sie werden zu lassen. Gerade dies geschieht so häufig, und man gründet auf gewährte Wohlthaten die Berechtigung, gute Lehren geben zu können, erkauft sich damit gleichsam ein Recht der Bevormundung. Wohl mag bei einem solchen, nach meiner Ansicht falschen Verfahren, in vielen Fällen scheinbar die gehabte Absicht erreicht werden, d. h. die betreffenden Personen fühlen sich verpflichtet, das, was ihnen gerathen wird, zu befolgen, nur mit dem großen Unterschiede, daß sie das Gute und Rechte nicht um seiner selbst, sondern um des Nutzens willen thun, der ihnen dadurch von den Rathenden zu Theil wird. Somit ist denn dieses Verfahren nur geeignet, die Menschen systematisch zur Lohntugend heranzubilden. Ich hatte gar bald die Freude, das Gefühl der Anerkennung und Dankbarkeit in den Herzen jener Aeltern erwachen zu sehen, und dieses Gefühl brachte ungesucht und natürlich uns gegenseitig einander näher.

Als ich so meinen Einfluß in der Familie wachsen sah, so benutzte ich diesen nun weiter zum Vortheil der Kinder. Ich suchte mir die Liebe derselben immer mehr und mehr zu erwerben, aber nicht durch Geschenke, sondern dadurch, daß ich, so zu sagen, zu ihnen herabstieg und in ihrer kindlichen Weise mit ihnen verkehrte. Bald waren mir die Herzen der Kleinen so zugethan, daß sie keine höhere und größere Freude kannten, als wenn ich ihnen erlaubte, mich zu besuchen und mehrere Stunden bei mir zu sein. Als ich nun der Zuneigung und Anhänglichkeit meiner kleinen Pfleglinge gewiß war, begann ich, wiederum unter Vermeidung des Scheines der Absichtlichkeit entschiedener als bisher auf sie erziehend einzuwirken.

Als Mittel für meinen Zweck benutzte ich die Erzählung. Ich erzählte meinen Schützlingen eine Geschichte von armen Kindern, in welcher sie sich selbst wie in einem Spiegel erkennen konnten. Mit den lebhaftesten Farben schilderte ich den Sinn für Reinlichkeit, Ordnung und Thätigkeit, der die Kinder meiner Erzählung beseelt habe, welches Glück, welchen schönen Frieden sie nach erfüllter Pflicht empfunden hätten. Am Schlusse der Geschichte vermied ich vor meinen kleinen Zuhörern die Nutzanwendung auf sie selbst auszusprechen; denn meine Ueberzengung war schon damals, daß eine selbst gefundene und empfundene Lehre zur Nacheiferung viel sichrer die eigne Thatkraft anzuzuregen vermöge, als eine ausdrückliche Hinweisung auf den lehrreichen Inhalt unserer Worte, vorgetragen wie ein Theil der Geschichte selbst und im ernst mahnenden Tone. Wir benehmen ihnen dadurch die Gelegenheit selbst zu denken und nach eigener Empfindung das Gehörte auf sich anzuwenden. – Wenn alle drei Kinder meiner Erzählung mit großer Aufmerksamkeit gefolgt, so hatte doch die elfjährige Marie, die älteste der Kinder, die meiste Theilnahme dabei an den Tag gelegt.

Als am andern Tage die Mutter der Kinder zu mir kam, da erzählte sie mir, wie sie am vergangenen Abende bei ihrer Rückkehr von der Arbeit die Kinder noch ganz ergriffen von einer Geschichte gefunden habe, die ich ihnen erzählt, und daß Marie ganz bestimmt erklärt habe, sie wolle wie Bertha in der Geschichte von nun an die Wirthschaft besorgen, während die beiden Knaben, der achtjährige Wilhelm und der siebenjährige Karl gebeten hätten, ihnen doch stricken zu lehren, damit sie auch fleißig sein könnten! Welche große Freude empfand ich bei diesen Mittheilungen der Mutter! Mein erster Versuch war somit ein glücklicher zu nennen, – ich hatte wirklich erziehend gewirkt, nicht durch ein nur unterrichtendes Wort, ein nacktes Gebot, sondern dadurch, daß ich das Selbsterkennen des Guten, und den Trieb, es auszuführen in den Kindern hervorgerufen hatte.

Als nun die Kinder wieder zu mir kamen, sprach ich zu ihnen von der Freude, die ich empfunden, als mir ihre Mutter von ihren guten Entschlüssen erzählt habe, und wie gern ich bereit sei, ihnen bei der Ausführung derselben hülfreich die Hand zu reichen. Von Stund an ließ ich mir den Unterricht und die Belehrung meiner Kleinen in verschiedenen Dingen angelegen sein. Wie reich wurde ich durch meine geringen Bemühungen belohnt! Marie wurde gar bald die fleißige Martha im Hause, und Reinlichkeit und Ordnung schmückten binnen Kurzem die kleinen Räume der armen Familie. Mit Verwundern bemerkten die Aeltern, die mit ihren eigenen Kindern vorgegangenen glücklichen Veränderungen, vorzüglich die Mutter sprach oft mit recht warmem Herzen mir ihre Freude hierüber aus. Diese Anerkennung benutzte ich wieder, um auf die Mutter selbst für meine Zwecke einzuwirken, dadurch, daß ich sie über die Art und Weise meines Verkehres mit Kindern unterrichtete und einige Belehrungen über die kindliche Natur im Allgemeinen mit einfließen ließ. Auch sie bewieß mir bald durch ihr Thun und Lassen unter den Kindern, daß sie die gegebenen Winke verstanden habe und ihnen gemäß zu handeln bemüht sei. So ward mir bald die freudige Genugthuung, zu sehen, daß in dem Kreis dieser Familie nach und nach ein anderer, besserer Geist einzog, und daß jedes Familienglied, Aeltern wie Kinder, mit Ernst nach Selbstveredlung strebten. – Aber noch eine andere große und unerwartete Freude ward mir zu derselben Zeit durch eine, meinen bisherigen Schützlingen benachbarte Familie zu Theil. Diese Familie befand sich in ähnlichen unglücklichen Verhältnissen wie jene erstere, hatte aber, veranlaßt durch das gute Beispiel ihrer Nachbarn im Stillen wetteifernd mit dieser nach Selbstveredlung gestrebt, und Reinlichkeit, Ordnung und Frieden war auch in ihren Familienkreis eingekehrt. Vorzüglich liebenswürdig waren die Kinder dieser Nachbarsleute, die, so zu sagen, um meine Gunst buhlten, indem sie auf alle nur mögliche Weise sich mir zu nähern suchten. Wie reinlich hielten sie von da ab ihre Hände und Gesicht, wie geordnet und glatt gestrichen ihr Haar; aber auch wie viel Mühe ließen es sich die Kleinen kosten, daß ich sie doch endlich bemerken sollte! Und diese Beweise von Fleiß und Ordnungsliebe und Anhänglichkeit an mich waren für mich um so werthvoller, als ich ja die Gewißheit haben konnte, daß nicht kleinlicher Eigennutz es war, der die Kinder um meine Liebe werben ließ. Ich hatte ihnen so wenig wie meinen ersten Pfleglingen Geld oder andere werthvolle Geschenke gegeben, und gab auch grundsätzlich in der Folge nie geschenkweise Geld an die Kinder oder Aeltern. Wohl aber sorgte ich für manche unentbehrliche Bedürfnisse im Hause oder für den Unterricht. – Durch diese gewiß in jeder Beziehung nützliche Zurückhaltung wurde es mir möglich, binnen Kurzem meine Thätigkeit in der oben geschilderten Weise auf vier Familien mit zwölf Kindern zu erstrecken, und betrugen doch die Geldausgaben für Alle in dem Zeitraume eines Jahres noch nicht ganz neun Thaler! – Ich fühlte in dem erwählten Berufe mich ganz glücklich, sah ich doch allenthalben glückliche Erfolge. Wöchentlich zweimal versammelte ich alle Kinder meiner Armen um mich in meiner Wohnung. Hier lehrte ich den Knaben wie Mädchen ihre Kleidungsstücke ausbessern und in Stand erhalten und sonst andere für das Haus nützliche Beschäftigungen. Ihren Fleiß belohnte ich durch lehrreiche Unterhaltung oder Gesang, oft auch vereinigte uns am Schlusse der Arbeitszeit ein gemeinsamem Spiel, ausgezeichnet durch den reinsten kindlichen Frohsinn. Mit den Ausdrücken innerster Zufriedenheit schied dann immer die kleine Schaar von mir, und mit stets wachsender Freude und Liebe sah ich sie zu mir wiederkehren.

II.
Die Geschichte eines Mädchens.

War bisher mein Streben in meinem Wirkungskreise immer nur von recht erfreulichen Erfolgen begleitet gewesen, so machte doch ein Fall, bei dem meine Hülfe leider zu spät kam, eine recht traurige Ausnahme in meiner Erfahrung. Es ist, was ich hier erlebte, nach meiner Ueberzeugung für die Erziehung von hoher Wichtigkeit, und darum wohl werth, ausführlicher mitgetheilt zu werden. Es ist die Geschichte eines Mädchens, welches, – ein [492] trauriges Beispiel sittlicher Verwahrlosung! – in dem kurzen Zeitraume von kaum einem Jahre, die Bahn der Verbrechen so schnell durchlief, daß man sagen konnte, das Kind trat nur aus der Schule, um in das Zuchthaus überzugehen!

Ich hatte unter meinen Schützlingen eine Mutter mit vier Kindern. Der Vater der Familie war den Seinen frühe durch den Tod entrissen worden, und der Mutter blieb so die Sorge für die Ihrigen allein überlassen. Da dieselbe von Morgen bis Abend und meist auch des Nachts vom Hause fern war (sie versah das Geschäft einer Aufwäscherin in einer öffentlichen Wirthschaft), so waren auch die Kinder bis zu meinem Bekanntwerden mit ihnen in Absicht auf ihre Pflege und Entwicklung ganz sich selbst und dem Zufall überlassen. – Das älteste Kind war zwölf, das jüngste sechs Jahre alt, als ich in die Familie eintrat. Alle Kinder trugen das Gepräge der Verwahrlosung an sich, am Meisten aber zeichnete sich hierinnen Anna, die Aelteste, aus.

Anna war ein so eigenthümliches Mädchen, daß ich lange Zeit bedurfte, ehe ich ein recht klares Bild ihres Charakters gewinnen konnte. Ihr Aeußeres so wie ihr ganzes Wesen machte zuerst den Eindruck großer Dummheit, und ihre eigene Mutter behauptete, das Kind sei blödsinnig, was aber durchaus nicht der Fall war. Denn wurde man näher mit ihr bekannt, erfuhr man ihre große Geschicklichkeit, fast möchte ich es Talent nennen, im Lügen, so konnte man ihr einen hohen Grad von Verstandesthätigkeit nicht absprechen. Sobald es nur galt, sich durch irgend welche Lüge der Gefahr der Strafe zu entziehen, so wußte das Mädchen sofort eine ganz verwickelte Geschichte sich zusammenzustellen und darinnen die Lüge so zu verhüllen, daß man die Wahrheit oft nur mit der größten Anstrengung heraus finden konnte. Aber auch noch eine andere, weit schlimmere Eigenschaft lernte ich bald an ihr kennen, und dies war ein entschieden ausgesprochener Hang zur Grausamkeit. So hatte sie eines Tages einem Sperling die Krallen und Flügel abgeschnitten, und ich kam dazu, als sie nach dieser Handlung mit dem Ausdrucke des größten Wohlbehagens zusah, wie das so gemarterte Thier sich im Staube wand. Spielte sie mit ihrer kleinen Schwester, dann war das Spiel gewöhnlich „Köpfen“ oder „Wundarzt,“ wie sie es nannte, und auch hier war es merkwürdig, mit welcher wahren Wollust sie durch ihre Phantasie die schmerzhaftesten Operationen sich vor die Seele führte. Diese Neigung, immer in Bildern der Grausamkeit zu leben, sprach sich fast bei jeder Handlung aus. So sah ich sie einmal Kartoffeln schälen und diese in eine Reihe vor sich hinstellen. Ihr Selbstgespräch dabei verrieth mir dann, daß sie unter den Kartoffeln beseelte Wesen sich vorstellte, welche sie in der Reihenfolge, wie sie vor ihr stünden, morden müsse. Indem sie nun die Eine schälte, schilderte sie zugleich, die nächstfolgende anredend, in gräßlicher Ausführlichkeit die Qualen, die beim Geschlachtetwerden zu erleiden seien. Lange blieb mir dieser erschreckliche Hang unerklärlich, bis endlich eine noch strengere Beobachtung mich darüber aufklärte. Das Mädchen war im höchsten Grade jenem verderblichen Umgange mit sich selbst ergeben, der zum Schrecken der Familien und Schulen, in der Entwickelungsgeschichte so vieler Kinder eine geheimniß- und bedeutungsvolle Rolle spielt! Mit der hier angedeuteten, physisch und moralisch gefährlichsten Gewohnheit im engsten Zusammenhange, besser vielleicht aus dieser erst entstanden, erwies sich Anna’s Neigung zu gräßlichen und grausamen Bildern und Handlungen. Nachdem ich diese traurige Gewißheit erlangt hatte, suchte ich in dem Mädchen die Ahnung zu erwecken, daß ich um ihr Geheimniß wisse. Zu diesem Zwecke gebot ich ihr, sobald ich die Abirrung ihrer Gedanken von der Arbeit bemerkte, einige Mal im Zimmer auf- und niederzugehen, ohne ihr jedoch den Grund hiervon zu sagen. Ich erreichte damit in Kurzem meine Absicht vollkommen, Anna fühlte sich erkannt und hütete sich wohl, in meiner Gegenwart sich zu vergessen. Als ich dessen gewiß war, benutzte ich die erste Gelegenheit zu einem vertrauten Gespräch mit ihr, und auf ihre Zuneigung und Liebe vertrauend, versuchte ich in einer hier näher nicht zu erörternden Weise sie über die Folgen und die sittliche Bedeutung ihrer Gewohnheit aufzuklären. Ich schloß dann mit der freundlichen Mahnung sich mir offen zu vertrauen. Anna war durch meine Worte tief bewegt worden und erschloß mir vertrauensvoll ihr Inneres. Ich vernahm hier Bekenntnisse, die mich mit Schrecken, Furcht und Mitleid zugleich erfüllten. Unter Anderem sagte sie: „Wenn ich mich vergangen habe, dann ist mir es immer darnach als müsse ich beten oder etwas recht Böses thun.“ Ich bat sie, mir für Letzteres doch ein Beispiel zu erzählen, worauf sie erwiederte: „Einmal, wo es auch geschehen war, wollte ich dann gern meine kleine Schwester, mit der ich allein war, mit einem Messer erstechen, aber da kam gerade meine Mutter nach Haus.“

Dieses eine Beispiel genügte mir, um die Gefahr zu erkennen, in welcher in jeder Beziehung die Geschwister in der Nähe Anna’s schwebten und brachte mich zu der Ueberzeugung, es sei zum Schutze derselben dringend nothwendig, daß das Mädchen aus dem Hause entfernt werde. Da nun dies zu bewerkstelligen meine Thätigkeit allein nicht ausreichen konnte, und andere Hülfe im Hause selbst mir mangelte, so theilte ich mehreren Personen von Einfluß die mir bekannt gewordenen Thatsachen mit, knüpfte daran meine Befürchtungen für die Zukunft des Mädchens und bat, das Mädchen in irgend welche öffentliche Anstalt unterzubringen, wo sie gehörig überwacht und gebessert werden könne. Doch so viel ich mir auch Mühe gab, immer und überall ward mir die Antwort zu Theil, daß es für solche Fälle keine besonderen Anstalten gäbe, und daß nur, wenn zugleich ein Diebstahl, oder sonst ein anderes größeres Vergehen vorliege, das Mädchen in eine Besserungsanstalt gebracht werden könne.

Mit der größten Besorgniß sah ich jetzt in Anna’s Zukunft, und diese Besorgniß steigerte sich noch, als das Mädchen nun der Schule entwachsen war, und die Mutter mit Ungeduld eine Gelegenheit suchte, sie aus dem Hause unter fremde Leute zu bringen. Bald fand sich auch eine solche Gelegenheit, und Anna kam als Kindermädchen zu einem Ziegeleibesitzer. Durch diese Lebensveränderung war sie aber nun auch meiner Aufsicht und Fürsorge entzogen. Meine schlimmen Ahnungen sollten sich bald erfüllen; denn nicht lange nach ihrem Fortgange von Dresden entfernte ein trauriges Ereigniß Anna aus dem Hause ihrer Herrschaft. Wenn nicht durch ein Vergehen Ihrerseits (was nicht ermittelt werden konnte), so doch unter ihrer Aufsicht, war das ihrer Fürsorge übergebene Kind von dem Ziegelboden herabgestürzt und hatte dabei bedeutenden Schaden gelitten. Ich benutzte diesen Vorfall, um abermals an verschiedenen Orten auf die Nothwendigkeit hinzuweisen, daß dieses Mädchen, um noch größeren Unglücksfällen durch sie vorzubeugen, unter sorgfältige Aufsicht genommen werden müsse. – Doch abermals vergeblich; mir ward die Antwort, man könne ja für ihre Verschuldung an jenem Unglücksfalle keine Zeugen bringen. Anna vermiethete sich hierauf als Gänsemädchen auf’s Dorf. Aber auch hier war ihres Bleibens nicht lange. Sie legte in der Scheune ihres Herrn Feuer an, und ward nun zur Bestrafung der Obrigkeit überliefert.

Hier gestehe ich offen, daß ich fast froh war, daß endlich einmal ein Vergehen des Mädchens von der Art war, daß sie dadurch so zu sagen der Polizei selbst in die Hände lief; denn ich glaubte, es werde von nun ab ein strengeres und wachsameres Auge auf sie gerichtet, und sie nun in eine Besserungsanstalt untergebracht werden. Leider aber sollte auch diesmal meine Erwartung getäuscht werden, denn schon nach wenigen Tagen war Anna wieder in Freiheit. Auf meine deshalb eingezogenen Erkundigungen ward mir der Bescheid: „Weil Anna in den mit ihr angestellten Verhören auf die Frage nach dem Grunde oder die Absicht, die sie zum Feueranlegen bestimmt hätten, keine andere Antwort gegeben habe, als: es sei ihr nur so gewesen, als müsse sie es thun, und als sage ihr jemand, daß sie Feuer anlegen solle,“ so müsse man sie als geisteskrank erklären.“ Und so kam sie in das dresdner Stadtkrankenhaus, wurde daselbst kurze Zeit ärztlich behandelt, dann als genesen wieder entlassen. –

Nach diesem genannten Ereigniß vermiethete sich Anna abermals als Kindermädchen. Ich vernahm diese Nachricht in der Familie mit banger Besorgniß, denn ich fürchtete alles Schlimme, so lange ich das Mädchen sich selbst überlassen wußte. Wie traurig sollte sich auch diesmal meine Befürchtung bewahrheiten. Anna legte in Kurzem durch eine noch schrecklichere Handlung vor der Oeffentlichkeit selbst ein Zeugniß für ihre Gefährlichkeit ab.

Es war im Sommer 1849, als der Dresdner Anzeiger einen grauenerregenden Vorfall meldete. Durch ein Kindermädchen waren in einer Familie in der Vorstadt an zwei kleinen Kindern verschiedene Grausamkeiten verübt worden. Dem ältesten drittehalbjährigen Kinde hatte das Mädchen Blumenblätter und Insekten in Augen, Ohren und Nase gestopft, vermittelst eines Messers ihm unter die Nägel der Hände und Füße gestochen und am Nabel [493] geschnitten, und dazu noch am ganzen Körper es blau geknippen. Dem kleinen, noch nicht zweijährigen Kinde hatte aber die Unmenschliche das Bein über der Wiege zerbrochen.

Ein banges Gefühl ließ mich sofort die Thäterin ahnen. Ich ging, um mich selbst zu überzeugen, in das Haus des Unglücks, ließ mir die Kinder entkleiden, und sah hier die traurige Wahrheit des Berichteten, den Mitleid erregenden Zustand der Kinder; – und die schreckliche Thäterin war abermals keine Andere, als Anna! – So viel des Unglücks aber mußte sich erst ereignen, ehe dieses Mädchen durch Entziehung ihrer Freiheit unschädlich gemacht wurde! – Sie kam nun, wie dies nicht anders zu erwarten war, in ernste Untersuchung. Während ihrer Untersuchungshaft besuchte mich Herr Hofrath Dr. von S., um sich von mir über die Gefangene einige Notizen zu erbitten.

Nachdem ich dem Herrn Hofrath meine Ansichten über den Zustand des Mädchens entwickelt hatte, bat mich derselbe, mit ihm selbst in das Gefängniß des Mädchens zu gehen, um gemeinschaftlich ein Verhör mit ihr vorzunehmen. Und hier sei nun zum Schlusse dieses traurigen Ereignisses gesagt, daß bei jenem Verhöre meine erste Ansicht von dem Zustande des Mädchens die vollste Bestätigung fand. Nach ihren eigenen Zugeständnissen waren alle von ihr verübten grausamen Handlungen die nächsten traurigen Folgen ihrer Hingebung an jene unnatürliche beklagenswerthe Gewohnheit gewesen. So viel mir bekannt geworden, ist das Mädchen in der Korrektionsanstalt zu W. bis zu ihrer Mündigkeit untergebracht worden. Möchte sie von dort wirklich gebessert einst zurückkehren!
Auguste Herz. 




Kurden- und Kosaken-Bilder.

II. Kosaken.

Als die Engländer Kertsch, das asow’sche Meer und selbst die Mündungen des Don genommen hatten, erließ General Andrijanen, jetziger Hetman der Don-Kosaken, einen Aufruf an sämmtliche Bewohner der Donufer, worin er zu einem allgemeinen Landsturme gegen die Alliirten aufruft. Die Hauptstelle darin lautet:

„Liebe Kameraden! Die bitteren Feinde unseres geliebten Landes haben Besitz genommen von unsern Befestigungen in Kertsch, sind vorgedrungen in’s asow’sche Meer und drohen, unsere Küsten zu verwüsten. Euer Hetman rief Euch schon voriges Jahr um Euern Beistand an, um die Eindringlinge zu vertreiben. Jetzt ist die Stunde gekommen, dem Feinde die Unbezwinglichkeit Eurer Arme zu zeigen. Hat jemals ein Feind von außerhalb über Rußland gesiegt? Nein! So laßt uns denn rüsten, dem Feinde in einer Weise zu begegnen, wie sie dem Kaiser gefällt, und wie sie unsern Mitbrüdern als Muster von Tapferkeit und Selbstverleugnung dienen kann. Meine Freunde, bringt mit Euch so viel Waffen und Lebensmittel als möglich. Bei Eurer Ankunft hier (in Neu-Tscherkask) werdet Ihr mit Munition versehen und findet uns bereit, unser tapferes Corps zu verstärken.“ Nach einigen Details über Formirung von Colonnen und die Art der Märsche schließt der Aufruf: „Eilt hierher, Freunde! Eilt zu den Waffen, zur Vertheidigung Eures Landes und zum Ruhme unsers geliebten Kaisers!“

Kosaken-Offizier und Tochter.

Man sieht, daß an den freiwilligen Patriotismus der Kosaken-Bevölkerung appelirt wird, so daß es scheint, als halte man selbst in Rußland die freie Vaterlandsliebe für wirksamer, als die sonst übliche Zwangsaushebung zum Soldatendienste. In Bezug auf die Kosaken wird das auch ganz besonders richtig sein. Sie sind von Natur gar nicht so außerordentlich tapfer und russisch-patriotisch, als wofür sie gelten und wie sie’s auch geworden sind, aber Rußland hat ihnen von jeher, seitdem sie ihre Unabhängigkeit verloren, besondere Tapferkeit und romantischen Patriotismus zugetraut und nachgerühmt. Dadurch sind sie tapfer und patriotisch geworden. Von Natur sind die Kosaken ganz liebenswürdige und kreuzfidele Leute, sonst aber nichts Apartes, sondern im Gegentheil alles Mögliche, namentlich in Bezug auf Abstammung und Race: Circassier, Russen, Malo-Russen, Tartaren, Griechen, Polen, Türken, Calmücken, Armenier und (ich möchte wetten) auch deutsche Schneidergesellen, eine Verknäuelung aller möglichen türkisch-russischen, russisch-tartarischen und chinesisch-mongolischen Misch- und Grenzvölker, deren Unzufriedene und Flüchtlinge sich in den ungeheuern Steppen Südrußlands zu verschiedenen Zeiten niederließen und am Don und andern Flüssen des asow’schen und caspischen Meeres mit der Zeit zusammenfanden. Die Abgeschlossenheit von der übrigen Welt, die Gemeinsamkeit in Leiden und Freunden des Kampfes mit der Natur, die natürliche Heiterkeit und Gutmüthigkeit der meisten Zweige des mongolischen Menschenstammes (insofern sie noch nicht durch künstliche Barbarei demoralisirt wurden) ließ bald aus dieser Mischung ein eigenes nationales Kosakenthum erwachsen, dessen Hauptcharakterzüge in Geduld und Ausdauer, Schnaps oder besser Punsch und heiterer Geschwätzigkeit, Tanz- und Gesangslust bestehen. Wer sich lebhaft vorstellen kann, was eine Steppe ist, wird in derselben leicht die [494] Mutter und Erzieherin dieser nationalen Charakterzüge und Tugenden erkennen.

Die neueste und beste Kunde von den Kosaken haben wir bis jetzt aus Herrn Wagner’s Reisewerke, und dieser verdankt das Beste einem Kosaken-Major, den er traf, und mit welchem er auf das Liebenswürdigste plauderte, wobei der Major so viel Punsch trank, wie kaum zehn ausgepichte deutsche Trinker zu einem Katzenjammer brauchen würden. Das alte, rohe, lustige Kosakenthum beschränkt sich nach seiner Behauptung jetzt auf die Steppen zwischen dem Don und der Manytsch und die Ufer des Sal. Im Hauptorte der Don-Kosaken, Neu-Tscherkask und südlich vom Don haben sich die Laster der Civilisation, Bankerott, Betrug, Unterschleif, Spiel, Champagner, Ehebruch und Ausschweifung eingefunden, aber nicht die Tugenden der Kultur. Nur im Innern der Steppen ist der Kosake noch Kosake: ein breitschulteriger, fast über den ganzen Körper behaarter Riese, auf dem Pferde und in Hütten von Stroh und Schilf oder unter Zelten lebend und weiterziehend, wenn Weide und Wild erschöpft sind. Die Kalmücken zwischen den Don- und Schwarze-Meer-Kosaken (am Kubanflusse herauf, der bei Anapa in’s asow’sche Meer mündet) machen jeden Herbst weite Wanderungen südlich, wie Zugvögel. Unter den Kosaken des schwarzen Meeres mit dem Hauptorte Ekoterinodar hat der benachbarte Krieg mit kaukasischen Stämmen fast alle ehemalige Ursprünglichkeit vertrieben.

Die Don-Kosaken waren und behaupteten sich lange als freie, nomadische Wilde, deren Eigenthümlichkeit sich den spätern Beimischungen mittheilte. Ungeheuere, unbegrenzte Steppen waren ihre freies, communistisch-gemeinsames Eigenthum, so daß sich keine Muschiks (leibeigene Bauern) und keine aristokratischen Grundbesitzer bilden konnten. Jeder konnte beliebig als Tscherednik oder Tabuntschik oder als Tschaban[6] durch die unaufhörliche Ebene streifen und nach seinem Willen und seiner Kraft leben. Kein Pschilt und kein Tschofokott [7] befindet sich unter den Kosaken.

Der Major erzählte besonders enthusiastisch die Heldenthaten seines Großvaters aus der Familie der Iguroffs, die als natürliche Aristokraten verehrt wurden, weil sie alle Kosakentugenden am Vollendetsten darstellten: sie waren Giganten von Gestalt und Kraft, Liebhaber schöner Pferde und Mädchen, die heroischsten Schnapstrinker, die geschicktesten Tänzer und ausgezeichnetsten Sänger. Man kann sich daraus leicht das Ideal eines Kosaken zusammenfügen. Am Eigenthümlichsten und Schönsten sind die alten Nationaltänze und Gesänge der Kosaken: erstere wahre Wunderkünste von Gymnastik, Kraft, Grazie und elastischer Geschicklichkeit, letztere mit ihren Mollaccorden, die mit wilden Passagen und Cadenzen rasch abwechseln, herzergreifend und bald wildberauschend, bald elegisch erweichend. Von gegenwärtiger Wichtigkeit wäre es, etwas Näheres über ihr Abhängigkeitsverhältniß zu Rußland zu erfahren. Doch auch ohne bestimmtere Kenntniß läßt sich denken, daß sie, im Wesentlichsten frei gelassen und als Patrioten und Helden ganz besonders geschmeichelt und russisch enthusiasmirt, weder zu den Engländern, noch zu den Franzosen übergehen werden. Erstere können Niemandem schmeicheln, ohne sich zu blamiren, letztere haben besonders durch die Plünderung von Kertsch alle Chancen verloren. Aus Allem ergiebt sich, daß die Kosaken auf anständigere Weise zur Ehre Rußlands kämpfen werden, als Palmerston und Compagnie.

Um den Lesern Gelegenheit zu einer persönlichen Bekanntschaft mit Kosaken zu verschaffen, haben wir das Portrait eines Kosaken-Offiziers und das seiner Tochter, vom Fürsten Gagarin, an Ort und Stelle aufgenommen, beigefügt, deren Physiognomien und Tracht sind im Bilde, ohne Worte verständlich.




Blätter und Blüthen.

Eine pariser Restauration. Ich will die Beschreibung von Paris, meldet man von dort, nicht abbrechen, ohne Ihren Lesern die neue Restauration in der Rue de Montesquieu, dicht am Palais Royal, zu schildern. In dieser kurzen, aber hübschen Straße existirte seit Jahren ein Tanzsaal für die Loretten und Köchinnen des Stadtviertels. Als der Miethcontrakt des Saalpächters zu Ende war, verlangte der Eigenthümer einen höheren Miethzins, und der Pächter zog sich zurück. Neben dem Saal existirt ein großes Modewaarengeschäft, „au coin des rues,“ genannt, dessen Besitzer den großartigen Entschluß faßte, diesen Saal seinem Magazine einzuverleiben und dadurch die ihm gegenüberliegende, sehr bekannte Modewaaren-Handlung, die sich mit impertinenter Ironie „au pauvre diable“ nennt, legaler Weise zu ruiniren. Aber der furchtbare Wirth des Saales verlangte, glaube ich, 30,000 Fr. jährliche Miethe, und die machten den „Straßen-Eck“ schwanken. Kaum hatte nun aber der „arme Teufel“ von der Gefahr gehört, die ihm bevorstand, als er den „Saal des Geistes der Gesetze“ à tout prix miethete, obgleich er ihm für sein auf der anderen Seite der Straße gelegenes Magazin gar nichts nützen konnte. Nun wurde in dem Saale nicht mehr getanzt, und es wurde auch kein Bazar aus ihm, wozu in aller Welt konnte er verwendet werden? Es giebt in Paris einen Fleischer, Namens Duval, der die Idee hatte, Restaurationen zu errichten, wie Paris noch keine besaß. Eine Garküche ist ein neutraler Boden, und der „arme Teufel“ nahm keinen Anstand, Herrn Duval den Saal um einen bei weit billigeren Preis zu untermiethen. Was sind auch funfzehn- bis zwanzigtausend Franks jährlicher Verluste gegen die Gefahr, von dem „Straßen-Eck“ ruinirt zu werden! Ich habe nun neulich die Restauration dieses genialen Fleischers besucht und finde, daß der Mann so gut einen Orden verdient, wie der oder jener Tuch- oder Leinwandfabrikant. Er hat wirklich ein Problem gelöst.

So wie man in die Vorhalle tritt, erhält man von einem Beamten (es ist hier Alles wie in einer großen Administration eingerichtet) eine gedruckte Speisekarte, aus welcher die zu habenden Gerichte und Getränke mit Angabe der Preise verzeichnet stehen. Man ist über die Billigkeit erstaunt und geht an ein paar Tischen, auf denen das rohe Fleisch erster Qualität ausgestellt ist, vorbei in den Speisesaal. Dieser bietet nun einen äußerst interessanten Anblick dar. Rechts und links lange Reihen kleiner Marmortische, ringsherum breite Galerien, auf denen ebenfalls gespeist wird. In der Mitte des Saales selbst stehen zwei große offene Dampfküchen, deren ökonomische Einrichtung und Sauberkeit bewundernswerth ist. Sehr anständig gekleidete Frauen von seltener Reinlichkeit holen aus den ungeheuren Töpfen die Speisen und die Stücke Fleisch heraus, schneiden ab, und man hat hier den Vortheil, der einem in Paris nicht immer zu Gebote steht: zu sehen, was man eigentlich ißt. Sobald man eine Speise bestellt hat, macht der Kellner auf die Speisekarte, die man von der Thür mitbrachte, ein Kreuz. An jedem Marmortische ist eine aufrechtstehende Röhre angebracht, an welcher sich zwei Drücker befinden. Aus diesen Röhren, die unter den Tischen fortlaufen, strömt so viel Selterwasser als man trinken will und für das Recht, diese Röhren bei Tische zu benutzen, bezahlt man bei der allgemeinen Rechnung zwei Sous (kaum einen Sgr.). Ist man mit Essen fertig, so geht man mit seiner Karte hinaus. Man kommt von selbst an den Comptoiren vorbei, an denen mehrere Damen sitzen, welche im Nu die Rechnung, die man mit der Karte ja selbst präsentirt, zusammenaddiren. Hat man gezahlt, so erhält man die Karte zurück, und giebt sie beim Herausgehen einem Controleur ab. Trinkgeld an den Kellner wird nicht verabreicht. Alle Speisen sind einfach zubereitet, aber äußerst geschmackvoll, und in keiner Restauration kann man besseres Fleisch essen, als hier. Anderthalb Francs (12 Sgr.) sind zu einem Diner genügend. Der Erfolg dieses Etablissements ist so außerordentlich groß, daß zwischen sechs und sieben Uhr in der Regel 800 Personen auf einmal in dem Saale essen, so daß man für kurze Zeit die Gitter schließen muß. Herr Duval errichtet im Ganzen zwölf Anstalten der Art in Paris, und zwei kleinere existiren bereits in andern Stadttheilen.




Pensions-Anstalt in Dresden.

Der Unterzeichnete erbietet sich, um Michaelis 1855 noch einige Söhne gebildeter Familien als Pensionäre bei sich aufzunehmen. Dieselben können zugleich in allen Realgegenständen, sowie in den wichtigsten Zweigen der Kriegswissenschaft, gegen Erlegung eines sehr mäßigen Honorars, privatim unterrichtet werden. Ueber die näheren Bedingungen wird Unterzeichneter zu jeder Zeit mündliche oder schriftliche Auskunft ertheilen. Auch haben sich wohlwollend geneigt erklärt, etwa an sie ergehende Anfragen in dieser Beziehung zu beantworten:

In Augsburg: Herr Dr. Oskar Peschel (Redaktion der Allgem. Zeitung);
In Berlin: Herr Archivrath Dr. Märcker, Königl. Haus-Archivar;
In Hamburg: Madame Elise Raynal, Vorsteherin einer weiblichen Erziehungs- und Bildungsanstalt;
In Leipzig: Herr Friedrich Bernhard Theodor Harck;
In Schwerin: Herr Oberkirchenrath Dr. Kliefoth.

Dresden, Anfang September 1855.
Karl August Müller, 
phil. Dr., Professor a. d. Königl. Sächs. Kriegsschule. 




Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. die Nummer 10, 14 und 17 d. J.
  2. Ich mache hierbei auf die interessante kleine Schrift von Wachsmuth, „Weimars Musenhof von 1772–1807“ aufmerksam.
  3. Sie legte ihre Ansichten über weiblichen und fürstlichen Beruf auch schriftlich nieder in der „Theestunde einer deutschen Fürstin“ in der Zeitschrift „Iduna“ (1805).
  4. Nach dem Tode ihres Gemahl sagte sie zu der letzten Geliebten desselben, einer Fürstin Auersperg: „Liebe Fürstin, wir haben viel verloren.“
  5. Letzteres z. B. in dem Trauerspiel gleichen Namens von Laube. In unbefangener und heiterer Gestalt hat den Eigenwillen und die leichte Entzündbarkeit des Herzens der jungen schwedischen Monarchin das Lustspiel: „Die Königin von sechzehn Jahren,“ zur Anschauung gebracht.
  6. Tscherednik = Rindviehtreiber. Tabuntschik = Pferdehirt oder Aufseher. Tschaban = friedlicher Hirt.
  7. Pschilt, der Sclave bei den Circassiern, Tschokott, der freigelassene Sclave, der aber zu den Works oder Adeligen in einem Abhängigkeitsverhältnisse bleibt, wie bei uns in der feudalistischen Zeit der Vasall und Schutzbürger zu dem Grundherrn.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: diplomalischen
  2. Vorlage: Der
  3. Vorlage: sei