Die Gartenlaube (1855)/Heft 49

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[643]

No. 49. 1855.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die schöne Kathi.
Novelle von August Schrader.


1.
Die Apotheke.

In einer der lebhaftesten Straßen Semlins prangte an einem freundlichen zweistöckigen Hause ein blaues Schild, auf dem mit großen goldenen Buchstaben die Worte standen: „Drachenapotheke.“ Neben der großen Glasthür, die in das Innere des Hauses führte, stand auf einem weißen Piedestale von Holz die Illustration zu dem Texte im blauen Schilde, ein gelber Drache nämlich, der seinen Schweif um eine Säule wand und den Rachen weit aufriß.

Das Erdgeschoß dieses Hauses enthielt außer dem Verkaufslokale und den Wohnzimmern des Besitzers noch die Küche und die Speisekammern. Die Haustür ging nach dem Hofe hinaus und in dem Hofe befand sich das Laboratorium.

Der erste Stock ward von einem jungen Advokaten bewohnt. Die Fenster desselben schmückten saubere Gardinen, und ein Flor ausgewählter Blumen prangte hinter zierlichen Eisengeländern auf den reinlichen Brüstungen.

Der Besitzer dieser Niederlage von Heilmitteln war ein Mann von fünfzig Jahren, er nannte sich Istvan Czabo. Sein Haupthaar war bereits ergraut, die Stirn war hoch und glänzend, und in dem feinen weißen Gesichte zeigten sich Furchen. Aber die Lebendigkeit seiner Bewegungen, das Feuer der großen schwarzen Augen und die mäßige Corpulenz seiner hochgewachsenen Gestalt schienen einem kräftigen Manne von vierzig Jahren anzugehören.

Um die Zeit, wo wir Herrn Czabo kennen lernen, pflegte er einen angehenden Schnurrbart, dem er durch eine selbst erfundene Tinktur die schönste schwarze Farbe zu geben wußte. Der Apotheker hatte dadurch ein martialisches Ansehen erhalten, das dazu beitrug, seine fünfzig Jahre zu verspotten. Dies war jedoch nicht der Grund dieses kriegerischen Gesichtsschmuckes, wir werden ihn bald erfahren.

Herr Czabo war seit sieben Jahren Wittwer, seine Lebensgefährtin hatte die Cholera hinweggerafft, obgleich er in seiner Apotheke ein bewährtes und untrügliches Mittel gegen diese gräßliche Seuche bereitete. Netti, seine einzige Tochter, zählte bei dem Tode der Mutter elf Jahre, so daß in ihr eine Stütze für die Wirthschaft nicht zu finden war; der betrübte Wittwer war daher gezwungen gewesen, eine Haushälterin zu nehmen, der er die Sorge für die Oekonomie unumschränkt übertrug. Die Wahl dieser Person war eine glückliche gewesen, denn Katharina, eine kinderlose Wittwe, ersetzte vollkommen die waltende Hand der geschiedenen Gattin, und half durch Sparsamkeit den Wohlstand ihres Herrn erhöhen, den man jetzt zu den begütertsten Einwohnern der Stadt zählte.

Netti reifte indeß zu einer blühenden, schönen Jungfrau heran, auf die mehr als ein Dutzend junger Leute aus dem mittlern und höhern Bürgerstande der Stadt sehnsüchtige Blicke warfen. Netti hatte auch bald gewählt: der Advokat Ferenz, der den ersten Stock des Hauses bewohnte, war der Auserkohrene. Beide liebten sich mit dem ersten Feuer der Jugend, und der Vater billigte diese Liebe, da Ferenz, obgleich er nur erst kurze Zeit prakticirte, einer der tüchtigsten und gesuchtesten Advokaten der Stadt war. Sein jährliches Einkommen erlaubte ihm, ein gutes Haus zu führen.

Schon seit einem halben Jahre hätte Herr Czabo die Verlobung seiner Tochter mit dem jungen Advokaten festgesetzt; aber die unglückliche Revolution der Ungarn, die auch Semlin, die äußerste Grenzstadt, in steter Gährung erhielt, war dem sorglichen Vater ein Stein des Anstoßes gewesen, und die Liebenden mußten sich in Geduld fügen, das Ende der Volkserhebung abzuwarten.

Ferenz liebte aus voller Seele seine junge Braut, aber er billigte die Verzögerung seiner Verbindung, da er die Absichten einiger der Anführer für eigennützig und ihre Handlungsweise für nicht zweckdienlich hielt. Er war ein Freund der Freiheit, aber der ordnungsmäßigen, auf verständige Gesetze gegründeten. Von der Revolutionsparthei hoffte er wenig Gutes, und da er außerdem die Abneigung seines künftigen Schwiegervaters gegen den Umsturz des Bestehenden kannte, sprach auch er nicht selten seinen Unmuth über die Zerrüttung aus, welche über das unglückliche Vaterland gebracht worden war. Er hatte sich mit Herrn Czabo dahin geeinigt, daß die Verheirathung stattfinden sollte, sobald Ruhe und Ordnung zurückgekehrt seien.

Oesterreich hatte die Erhebung unterdrückt, in allen Städten flatterten die kaiserlichen Fahnen von den Thürmen, und die Führer der Insurrectionspartei wurden verfolgt, und, im Falle man ihrer habhaft ward, vor ein Kriegsgericht gestellt.

Mit der Uebergabe des Görgey’schen Corps fiel eine Anzahl junger ungarischer Edelleute in die Hände der Sieger, und viele, die als höhere Offiziere in dem Heere der Ungarn gekämpft, wurden als gemeine Soldaten in die Reihen der österreichischen Armee gestellt, um sie für ihre Tollkühnheit zu bestrafen und ihren Uebermuth zu zügeln.

[644] Aber nicht allein den Männern der Revolution galt diese Strenge, sondern auch den Frauen, die durch anfeuernde Worte und Geldsummen die Revolution befördert hatten. Zu diesen Frauen gehörte vorzüglich die junge Gräfin Thekla Andrasy, die als Herrin eines großen Vermögens die hervorragendste Rolle gespielt hatte. Man hatte einen Preis auf ihre Gefangennehmung gesetzt, da sie sich durch die Flucht dem Schicksale ihrer Gesinnungsgenossen entzogen hatte. Ihre beträchtlichen Güter waren confiscirt.

In dem Hause des Apothekers ward nur oberflächlich über alle diese Dinge gesprochen, man konnte sich selbst der Freude über die endliche Unterdrückung der Revolution nicht so recht hingeben, da ein Zufall eine Störung des Hauswesens herbeigeführt, dessen regelmässigen Gang dem Apotheker nicht minder am Herzen lag, als die Regelmäßigkeit der Staatsmaschine.

Die alte Katharina, seine Haushälterin, die schon längere Zeit an einem Augenübel litt, war plötzlich blind geworden und der Arzt, der einer Augenheilanstalt vorstand, hatte erklärt, daß die Sehkraft der treuen Dienerin noch zu retten sei, wenn sie unverweilt sich einer Kur in der Anstalt unterzöge, die freilich einige Monate dauern könne.

Katharina mußte also das Haus verlassen und ein Stübchen in der Anstalt beziehen, die auf einer freundlichen Wiese vor der Stadt lag.

Ein alter Fischer der Save, Namens Lajos, erschien an diesem Tage in der Apotheke. Da er seine Fische an Frau Katharina nicht abliefern konnte, wandte er sich an Herrn Czabo, der ihm das Unglück der Alten mittheilte.

„Ich bin in großer Verlegenheit," schloß er. „Meine Netti kann den Dienst in der Küche nicht allein versehen – woher nehme ich nur eine zuverlässige Magd?“

Der alte Fischer sah den Apotheker mitleidig an.

„Sie haben Recht, Herr Czabo,“ sagte er, „ihre Verlegenheit ist wirklich groß. Eine Magd brauchen Sie, und heute noch, wenn die Wirthschaft nicht leiden soll. Aber woher nehmen? Bei den jetzigen Zeiten muß man in der Wahl der Personen, die man in sein Haus nimmt, vorsichtig sein. Hm, Hm,“ brummte er, indem er sein bärtiges Kinn in die rauhe Hand legte, „könnte ich Ihnen nur helfen!“

„Lajos, Ihr seid ein redlicher Mann, ein wackerer Bürger – Ihr kommt mit Dienstleuten mehr in Berührung als ich – schafft mir eine gute, zuverlässige Magd, und ich gestatte Euch, daß Ihr vier Wochen in dem Theile der Save fischen könnt, der hinter meinem Garten fließt, und mein Eigenthum ist. Ihr habt Euch ja lange darnach gesehnt.“

Das Gesicht des alten Fischers verzog sich zu einem freundlichen Lächeln.

„Ach, Herr Czabo,“ rief er, „der Preis ist köstlich.“

„Nun, so sucht ihn zu verdienen.“

„Aber wie, wie? Halt, da fällt mir etwas ein! Ich muß zwar ein großes Opfer bringen, aber ich bringe es, Ihnen zu Liebe, und – weil ich vier Wochen in dem fischreichsten Theile unseres Flusses meine Netze auswerfen kann. Wahrhaftig, ich glaube, ich verliere nichts bei dem Tausche. Herr Czabo, geben Sie mir sechs Wochen die Erlaubniß, zu fischen, und ich geben Ihnen heute noch meine eigene Nichte, die Tochter meines leiblichen Bruders, in den Dienst.“

„Sechs Wochen?“ murmelte der Apotheker. „Ich wollte die Fischereigerechtigkeit verpachten.“

„Ob vierzehn Tage früher oder später – was thut’s einem so wohlhabenden Manne, wie Ihnen? Wenn Sie das schmucke zweiundzwanzigjährige Mädchen sehen, werden sie sich freuen.“

„Zweiundzwanzig Jahre?“ fragte der Apotheker, indem er über seine goldene Brille hinwegsah, die er im Hause zu tragen pflegte.

„Es fehlen sogar noch drei Wochen daran.“

„Schmuck?“

„Wie ein Stieglitz.“

„Gesund?“

„Wie ein Fisch im Wasser.“

„Reinlich?“

„Wie eine Seejungfer.“

„Versteht sie die Wirthschaft?“

„Sie hat zwei Jahre bei einem Kaufmanne in Pesth gedient. Man ließ sie dort ungern gehen, aber sie kam, weil meine Alte krank war, die jetzt, Gott sei Dank, wieder auf den Strümpfen ist.“

„Ein Beweis, daß das Mädchen ein gutes Herz besitzt,“ meinte der Apotheker.

„Gewiß,“ rief Lajos mit Feuer, „ich stehe für Kathi, wie für mich selbst. Sie ist treu und fleißig, man kann sich auf sie verlassen.“

„Also Kathi heißt Eure Nichte, Lajos?“

„Ja, Herr Czabo. Meiner Treu, keinem Andern als Ihnen vertraue ich das Mädchen an. Sie ist mir lieb, wie eine Tochter!“

„Wann kann ich das Mädchen sehen, Lajos?“

„Heute noch, wenn Sie wollen!“

„Gut, bringt sie mir diesen Nachmittag. Gefällt sie mir, mag sie gleich in meinem Hause bleiben.“

„Sie wird Ihnen gefallen, Herr Czabo.“

„Und den Lohn?“

„Darüber verhandeln Sie mit ihr selbst. Ich, meinerseits, habe nur eine Bedingung zu stellen.“

„Nennt sie, alter Lajos.“

„Daß ich meine Nichte von Zeit zu Zeit besuchen und sie mit überwachen kann. Es ist dies kein Mißtrauen, Herr Czabo; aber ich habe Kathi’s Mutter versprochen – ihr Vater, mein Bruder ist ja todt – ich habe also meiner Schwägerin versprochen, das Mädchen nicht außer Acht zu lassen. Sie werden mich ganz verstehen, Herr Czabo, wenn Sie das schmucke Ding gesehen haben. Ich wiederhole es: nur Ihnen, Herr Czabo, vertraue ich Kathi an.“

Der Apotheker bezahlte dem greisen Lajos den Preis für die Fische.

„Mit diesem Gerichte,“ meinte der Fischer, „kann Kathi heute noch ihre Kochkunst beweisen.“

„Apropos, sie versteht doch zu kochen?“

„Wenigstens so viel, als für meinen Tisch nöthig war. Nun sollte sie nicht so ganz nach Ihrem Geschmacke kochen, so ist ja Mamsell Netti da – meine Nichte ist ein gelehriges Mädchen. In einigen Wochen – –“

„Geht, Lajos, und bringt mir Eure Kathi!“

Der Fischer ging. Herr Czabo theilte seiner Tochter die Ankunft einer neuen Magd mit, und bemerkte dabei, daß Lajos ihm eine große Gefälligkeit erzeigt habe.

Herr Czabo saß mit seiner Tochter beim Nachmittagskaffee, als Niklas, der Zögling des Apothekers, eintrat.

Man denke sich eine ungewöhnlich lange Gestalt mit bleichem Gesichte, dessen Backenknochen weit hervorstehen, mit einer fast durchsichtigen großen Adlernase, mit großen lichtblauen Augen, hellblonden Haaren, mit breiten und ungewöhnlich langen Händen und eben solchen Füßen – man denke sich diese Gestalt in einen grauen Frack gekleidet, der zu eng und zu kurz ist, in Hosen von derselben Farbe und demselben Stoffe, dazu eine grüne wollene Schürze, so hat man ein Bild von dem Gehülfen des Apothekers.

„Niklas,“ rief der Apotheker, „Du siehst ja so bestürzt aus – was ist geschehen?“

Der lange zwanzigjährige Mann versuchte zu lächeln.

„Ich bin nicht bestürzt, Herr Czabo!“ sagte er mit einer tiefen Baßstimme, die zu seinem hageren Körper einen komischen Kontrast bildete.

„Bist Du krank?“

„Nein.“

„Was willst Du?“

„Der Fischer Lajos ist soeben angekommen.“

„Allein?“

„Nein. Ein junges Mädchen begleitet ihn. Er sagt, ich solle Ihnen melden, daß unsere neue Köchin da wäre.“

„Ah, der gute Alte hält Wort. Laß ihn mit seiner Nichte sogleich eintreten.“

Niklas öffnete die Thür. An der Schwelle stand der Fischer, neben ihm ein junges Mädchen.

„Darf ich eintreten?“ fragte Lajos, indem er seine Mütze zog.

Der Apotheker legte seine Cigarre auf den Tisch und nickte mit dem Kopfe.

„Komm, Kathi,“ sagte der Alte, „ich will Dich Deinem neuen Herrn vorstellen. Sei nur nicht so schüchtern, Du kommst zu guten Leuten.“

Lajos trat ein, indem er Kathi an der Hand mit sich fortzog.

„Hier ist meine Nichte,“ sagte er dann mit einer Selbstgefälligkeit, [645] die seine Freude und seinen Stolz verriethen. „Es bedurfte nicht viel Zuredens, um sie zur Annahme des Dienstes zu bewegen, denn sie sieht ein, daß bei diesen schlechten Zeiten mir eine Erleichterung erwächst, wenn eine Person weniger im Hause ist.“

Herr Czabo ergriff seine goldene Brille, wischte die Gläser derselben mit seinem weißen Taschentuche ab und setzte sie bedächtig auf seine Nase, als ob er ein Recept lesen wollte. Dann erhob er sich von dem Sopha und sah lächelnd die neue Köchin an.

Kathi war wirklich ein hübsches Mädchen, der alte Lajos hatte nicht zu viel gesagt. Der kurze rothe Friesrock mit schwarzem Bande besetzt, das hellgraue wollene Mieder mit kleinen runden Zinnknöpfchen bekleideten einen wohlgewachsenen, fast üppigen Körper. Die braune Mütze vermochte das starke, glänzendschwarze Haar nicht zu bedecken, man sah einen großen Theil der Flechten, die fast bis auf die Schulter herabfielen. Ein rothes Tuch von grober Wolle bedeckte Hals und Brust. Weiße Strümpfe mit blauen Zwickeln, wie sie die Landmädchen jener Gegend tragen, bekleideten ein zierlich geformtes Bein. Zwar stak der Fuß in ziemlich plumpen Schuhen, aber nach dem Beine zu urtheilen, mußte er klein und nett sein.

Das Gesicht der Köchin hatte eine bleiche, aber nicht krankhafte Farbe. Unter starken schwarzen Brauen, die regenbogenförmig die schöne Stirn begrenzten, strahlte ein großes dunkles Auge mit langen schwarzen Wimpern, die einen Schatten warfen, wenn sie sich senkten. Feingeschweifte blühende Lippen bildeten einen kleinen, niedlichen Mund. Der Ausdruck des lieblichen Gesichts verrieth in diesem Augenblicke eine ängstliche Schüchternheit, die ihm einen unbeschreiblichen Reiz verlieh. Das weiße Bündel, das Kathi in der mit grauen Zwirnhandschuhen bekleideten Hand trug, schien leicht zu zittern, während Herr Czabo mit einer wahren Kennermiene seine Prüfung fortsetzte.

Der Apotheker sah seine Tochter an, als ob er sagen wollte: das Mädchen gefällt mir.

Netti antwortete durch ein beistimmendes Lächeln. Der Apotheker schob seine Brille auf die Stirn zurück.

„Also Kathi ist Dein Name?“ fragte er.

Das Mädchen machte einen kurzen Knix, indem es flüsterte:

„Kathi Lajos.“

„Nun gut, Kathi, Du gefällst mir, und da meine Tochter Nichts dagegen hat, so nehme ich Dich in meinen Dienst. Die Empfehlung Deines Vetters bürgt mir dafür, daß ich eine brave, treue Person aufnehme.“

„Dessen können Sie sich versichert halten!“ fügte Lajos rasch hinzu. „Sollte sie sich in den ersten Tagen noch etwas linkisch benehmen und ihr die Arbeit nicht so recht von der Hand gehen, so halten Sie es ihrer Aengstlichkeit zu Gute, Herr Czabo, sobald sie nur einigermaßen gewöhnt ist, werden Sie an ihr die flinkste Arbeiterin haben. Fragen Sie in acht oder vierzehn Tagen bei Mamsell Netti wieder an, und Sie werden sehen, daß ich Recht habe. Die Schüchternheit ist Kathi’s einziger Fehler

„Abgemacht, Lajos!“ unterbrach ihn der Apotheker. „Bist Du mit vierzig Gulden jährlichen Lohns zufrieden, mein Kind?“

Eine leichte Röthe erschien auf den bleichen Wangen Kathi’s.

„Ja, Herr!“ flüsterte sie, indem sie sich wiederum verneigte.

„So gieb mir Deine Hand, und versprich mir, eine treue und folgsame Dienerin zu sein.“

„Ich verspreche es, Herr!“ sagte Kathi, indem sie dem Apotheker die Hand reichte.

„Mein Himmel, wie Du zitterst!“ rief lächelnd Herr Czabo. „Man möchte glauben, Du fürchtetest Dich vor mir.“

„Kathi, Kathi,“ rief Lajos wie unwillig, „habe ich Dir nicht tausendmal gesagt, daß Herr Czabo ein guter Mann ist? Lege die verdammte Schüchternheit ab, oder –“

„Laßt’s gut sein, alter Lajos!“ unterbrach ihn Netti mitleidig. „Wenn uns Kathi näher kennt, wird diese Befangenheit schon schwinden.“

„Mir scheint,“ sagte der Apotheker, „Ihr habt das arme Kind zu streng gehalten“.

„Ja, Herr, in meinem Hause führe ich ein strenges Regiment, und Kathi habe ich stets als meine leibliche Tochter betrachtet, für deren körperliches und geistiges Wohl ich verantwortlich bin. Es ist ein gar ernstes Ding, ein junges Mädchen zu erziehen – Sie verstehen mich wohl, Herr Czabo!“

Draußen an der Hausthür erklang die Glocke.

„Niklas!“ rief der Apotheker.

Der lange Gehülfe hatte wie eine Bildsäule dagestanden und die neue Magd mit weit aufgerissenen Augen angestarrt. Bei dem Rufe des Apothekers schrak er zusammen.

„Herr Czabo!“ platzte er heraus.

„Hast Du nicht gehört?“

„Was?“

„Man zog die Glocke an der Thür.“

„Nein!“

„Geh’ und bediene den Käufer.“

Niklas machte einen Riesenschritt und verschwand. Kathi stand gesenkten Blicks und zitternd in der Mitte des Zimmers.

„Komm, liebes Kind,“ sagte Netti freundlich, „ich werde Dir Deine Kammer anweisen. Du gehörst von diesem Augenblicke an zu unserer Familie.“

Kathi schlug die großen Augen auf, und sah dankend die junge Dame an, die so freundlich zu ihr gesprochen. Dann reichte sie dem Fischer die Hand.

„Lebt wohl, Vetter Lajos,“ sagte sie leise. „Grüßt mir die Base, und sagt ihr, daß ich sie besuchen würde, sobald es mir meine Herrschaft erlaubt.“

„Soll geschehen, Kathi,“ antwortete der Alte. „Deine Sachen werde ich morgen in meinem Kahne mitbringen, wenn ich hier hinter dem Hause an meine Arbeit gehe. Aber laß Dir es noch einmal gesagt sein: machst Du meiner Empfehlung keine Ehre, so darfst Du nie wieder mein Haus betreten, ich ziehe meine Hand von Dir zurück. Damit Gott befohlen!“

Netti und Kathi entfernten sich.

„Bravo Lajos!“ sagte Herr Czabo, als sich die Thür hinter den beiden Mädchen geschlossen hatte. „Das gefällt mir. Ihr seid sonst ein guter Mensch, aber es ist Schade –“

„Was ist Schade?“ fragte verwundert der alte Fischer.

„Soll ich offen sprechen?“

„Ich bitte Sie darum, Herr Czabo.“

„Daß Ihr ein so wüthender Revolutionär seid. Es ist mir unbegreiflich, wie ein so rechtlicher, unbescholtener Mann sich zu solchen Gesinnungen verirren kann. Ihr habt Euch zwar nicht thätlich an der unglückseligen Revolution, die unser armes Land dem Verderben nahe gebracht, betheiligt; aber Euere Meinungen und Ansichten haben mir nicht gefallen – ich spreche natürlich nur von Euren politischen Meinungen.“

Der alte Fischer griff mit seiner breiten schwieligen Hand in den greisen Schnurrbart, der in zwei langen Zöpfen über den Mund herabhing. Er sah einen Augenblick sinnend vor sich hin, dann sagte er:

„Sie haben Recht, Herr Czabo! Ich schäme mich nicht zu bekennen, daß ich mich von einem falschen Scheine habe verblenden lassen. Jetzt bin ich eines Bessern belehrt, darum brechen wir ab – –“

„Nein, brechen wir nicht ab,“ rief eifrig der Apotheker; „sprechen wir recht ernst und recht viel über diesen wichtigen Punkt. Sind Euch die Augen aufgegangen, Freund? Habt Ihr das Treiben der Volksbeglücker nun gesehen? He, wohin sind wir gerathen? Seht Euch unser sonst so schönes und blühendes Land heute an – es ist eine Ruine. Ihr habt Euer gutes Auskommen gehabt, so lange Ruhe und Friede, so lange das Gesetz die oberste Gewalt war – heute müßt Ihr ein schmuckes Mädchen aus dem Hause geben, um Euch eine kleine Erleichterung zu verschaffen.“

„Herr Czabo!“ –

„O, ich verstehe Euch recht gut, Alter!“ fuhr der aufgeregte Apotheker fort. „Ihr wollt es nicht merken lassen, daß es schlecht zu Hause steht, daß Ihr die ganze Wirthschaft zu allen Teufeln wünscht, und daß Ihr Euch schämt, dieser Sache je das Wort geredet zu haben – ich sage das nicht, um Euch zu kränken, Alter, ich führe es nur an, um meiner Freude darüber Luft zu machen, daß Ihr endlich den schlagendsten Beweis von Eurer Verirrung in Händen habt. Die Volksbeglücker sind ausgerissen, und Ihr armen Menschen müßt die Zeche bezahlen. Sind Euch nun die Augen geöffnet?“

„Ja, Herr Czabo.“

„Gut, Ihr sollt acht Wochen hinter meinem Garten fischen, und Euere Kathi soll es gut bei mir haben, wenn sie sich gut beträgt. Irren ist menschlich, Freund Lajos, wenn man nur zu [646] rechter Zeit wieder in das rechte Gleis geräth. Ihr gehört also zu unserer, zu der guten Partei?“

„Lieber Herr,“ sagte Lajos, indem er wie verlegen seine Mütze zwischen den Fingern drückte, „ich bin ein schlichter Fischer, der von Ränken und Kniffen nichts versteht – man hat uns goldene Berge vorgespiegelt – ist es ein Wunder, wenn man sich hinreißen läßt? Noch gestern Abend habe ich mit meinem Nachbar darüber gesprochen – Sie kennen ja den alten Bodeck – er hat zwei Söhne in dem schrecklichen Kriege verloren –“

„Zwei Söhne!“ ries Herr Czabo, und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Gott verzeihe mir die Sünde, aber fast möchte ich sagen, dem verdrehten Alten geschieht ganz recht, warum hat er seine Jungen ziehen lassen!“

„Wie gesagt, lieber Herr, wir sind davon zurückgekommen, und es ist mir lieb, daß ich keine Söhne habe. Dafür aber werde ich mich Kathi’s annehmen, sie ist ein junges, unverdorbenes Blut – –“

„Apropos, Lajos, wie ist sie gesinnt?“

„Davon wollte ich eben sprechen. Sie kennt meine Ansichten, die ich schon seit längerer Zeit hege, und sie hat einen solchen Abscheu vor der Revolution, daß sie außer sich geräth, wenn man davon spricht. Sehen Sie, Herr Czabo, deshalb ist es mir doppelt lieb, daß sie in Ihrem Hause ist, denn hier wird sie in guten Grundsätzen erhalten und bestärkt. Nicht wahr, in Ihrer Nähe ist es unmöglich, daß sie das verderbliche Gift der –“

„Unmöglich, Lajos, unmöglich! unter meinem Dache leben Aristokraten vom reinsten Wasser! Nun, ich denke, meine Gesinnungen sind so ziemlich bekannt!“ fügte Herr Czabo hinzu, indem er sich stolz in die Brust warf. „In der Zeit, wo der Pöbel regierte, habe ich deshalb viel ertragen müssen – man hat mich verspottet, fast gemißhandelt, aber ich bin mir selbst treu geblieben. Na, nun geht, guter Lajos, und nehmt die Versicherung, daß Ihr an mir einen wirklichen Freund in der Noth habt.“

Der alte Fischer nahm einen herzlichen Abschied und entfernte sich.

Herr Czabo ging in seine Apotheke.



II.
Der poetische Advokat.

Acht Tage nach der Aufnahme Kathi’s treffen wir den Advokaten Ferenz in seinem Zimmer. Der junge Mann ging sinnend auf und ab. Plötzlich griff er in die Seitentasche seines Rocks und holte ein zierlich gesticktes Taschenbuch, ein Geschenk seiner Netti, hervor. Rasch zog er den Stift, der die Blätter zusammenhielt, aus den feinen goldenen Oesen, öffnete, und las mit halblauter Stimme, aber in großer Begeisterung, folgende Verse:

„Und in den Straßen wogte das Gedränge
Des wuthentbrannten Volkes, das empört
In unabsehbar fürchterlicher Menge,
Den Tigern gleich, die Durst nach Blut verzehrt,
Das Stadthaus droh’nden Blicks umschlossen hielt –
Und Schrecken, überall, wohin man sah –
Der Ausbruch eines Bürgerkriegs war da!
Noch fehlte nur ein Führer, der mit Kraft
Den rechten Geist im rohen Volke schafft –
Da stand urplötzlich eine hohe Frau – –

„Herrlich, vortrefflich!“ unterbrach sich der Leser. „O, wenn ich in dieser Begeisterung vollenden könnte, wenn sie nur heute nicht durch Nebenumstände unterbrochen würde! Es ist wahrlich nicht leicht, die Gräfin Thekla Andrasy zu besingen, den Charakter dieser Jungfrau zu malen, die den Muth eines Heerführers zeigt, ohne die eigenthümliche Grazie ihres Geschlechts zu verletzen. Aber eben diese Schwierigkeit verdoppelt meine Kräfte und ich besinge sie. Soviel steht fest, daß mein Gedicht unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein kühnes Unternehmen ist. Wenn man entdeckte, daß ich, ein einfacher Advokat in Semlin, es wagte, den Ruhm einer Verbannten zu besingen, was würde man von mir denken? Und vor Allen mein künftiger Schwiegervater? Er ist zwar ein respektabler Apotheker, ein herzensguter Mann – aber ein Feind des Fortschritts und der geistigen Unabhängigkeit.

Ich muß indeß seine Schwachheit ehren, denn bald“ fügte er mit einem zärtlichen Blicke auf das Taschenbuch hinzu, „bald werde ich sein Schwiegersohn. Ach, Netti, Du wirst meine poetische Begeisterung würdigen und mein Werk verstehen; Du wirst stolz darauf sein, daß ich für eine so unglückliche Jungfrau meine Stimme erhebe, denn Alle scheinen sie verlassen zu haben, selbst ihr Oheim, der wirksam für sie sprechen könnte, wenn er wollte. Ihre Freunde sind theils geflüchtet, theils gefangen, und das zarte Mädchen irrt im eigenen Vaterlande flüchtig durch die Steppen. Wohlan denn, mögen Alle sie verlassen und verdammen, ich allein will es wagen, sie zu besingen. Thekla soll die Heldin meiner Verse sein! Ich kenne sie nur nach einem unvollkommenen Gemälde, das ich in der Gallerie einer ihrer Schlösser gesehen, aber noch ist mir, als ob ihr sanfter und doch so stolzer Blick auf mir ruhete, noch schwebt mir die anmuthgeschmückte Stirn vor den Blicken. Wenn der Maler das Urbild nicht erreichen konnte, soll es der Dichter. Ich will das Gemälde vollenden, beseelen!“

Der junge Mann nahm den Stift wieder zur Hand, setzte sich vor seinen Arbeitstisch, stützte den Kopf in die linke Hand, sann einige Augenblicke nach und begann zu schreiben:

„Da stand urplötzlich eine hohe Frau,
Wie einst Johanna d'Arc, im Volksgewühl,
Die Menge ward begeistert –“

Ein Klopfen an der Thür unterbrach den Dichter. Rasch verbarg er das Buch in seiner Tasche und forderte mit lauter Stimme zum Eintreten auf.

Herr Czabo erschien.

Der Apotheker trug, wie gewöhnlich, einen schwarzen Frack, eine gelbe Weste und ein weißes Halstuch. Die goldene Brille lag vor der hohen, gläuzenden Stirn.

„Guten Tag, lieber Sohn,“ sagte freundlich der Apotheker; „störe ich?“

„O nein, Herr Czabo“, antwortete Ferenz, indem er aufstand und dem Ankommenden entgegentrat. „Der Vater meiner Netti stört niemals, selbst bei den dringendsten Geschäften –“

„Ah, Geschäfte gehen Allem vor,“ antwortete der Alte im Tone des Vorwurfs, „selbst der Braut und dem Schwiegervater.“

„Sie kennen ja die allgemeine Stockung der Geschäfte,“ meinte lächelnd der Advokat. „Wenn ich mich nicht mit Privatarbeiten beschäftigte, würde ich jetzt Langeweile haben.“

„Die Langeweile ist ein fürchterlicher Wurm, der tödtet!“ rief der Apotheker. „Ich habe eine Arbeit für Sie, Ferenz.“

„Einen Prozeß?“

„O nein; ich hatte nur einen Prozeß in meinem Leben, den Sie mir so glorreich gewinnen halfen – aber trotzdem ich ihn gewonnen, möchte ich um die Welt keinen zweiten wieder erleben! Ich hasse die Prozesse wie die Langeweile.“

„Nun, was ist es denn?“

„Der lange Niklas hat seit acht Tagen eine solche Unordnung in meine Bücher gebracht, daß sie einer gründlichen Durchsicht bedürfen, wenn die Confusion nicht total werden soll. Wollen Sie sich nach Tische diesem Geschäfte unterziehen?“

„Gern, bester Vater! Wie kommt es nur, daß der sonst so pünktliche junge Mann –“

„Sie werden lächeln, Ferenz, aber ich glaube mich nicht zu täuschen.“

„Ich glaube, die Kathi hat dem armen Menschen den Kopf verdreht. Er ist ein guter Junge, weiß seine Medicamente zu präpariren – aber wahrlich, seit acht Tagen, ich habe ihn beobachtet, ist er wie umgewechselt. Sonst konnte ich mich auf ihn verlassen, jetzt nicht mehr.“

„In einer Apotheke - das ist bedenklich!“ sagte Ferenz, indem er stehen blieb.

„Ich kann von Glück sagen, daß ich ihn diesen Morgen zufällig beobachtete.“

„Was ist geschehen?“

„Anstatt vier Gran Brechpulver in ein Packet zu thun, verpackte er acht Gran. Ich zittere, wenn ich an die Wirkung denke. Der Mensch vergreift sich in den Zahlen und in den Büchsen. Gebe nur der Himmel, daß er nicht schon früher ähnliche Dummheiten begangen hat. Der Ruf meiner Apotheke steht auf dem Spiele.“

(Fortsetzung folgt.)
[647]

Karlchen.

Charles Napier als Wahlcandidat.

Das ist „Karlchen“ wie er leibt und lebt, Karlchen, der im vorigen Jahre als baltisch-antirussisch-englischer Seeheld so viel komische Berühmtheit erwarb, da man ihn für die Instruktionen zum Schein- und Nichtsthun, die ihm von den Aberdeener, Peeliten und Knownothingern des Ministeriums zugesteckt wurden, – da man ihn für diesen Humbug der englischen Regierer verantwortlich machte. Aber er war und ist noch ein gesunder Knabe, rund und ungeschickt, wie ein Bierfaß, mit jedem Schritt wankend und latschend, wie dies den Seeleuten zur andern Natur wird. Und er war ein Mann der See vom 13ten Jahre an. Im Jahre 1876, den 6. März geboren, kletterte er schon 1799 in den Masten und Tauen der Schaluppe Martin auf der Nordsee herum, dann im mittelländischen Meere, wo er im 18. Jahre schon Marinelieutenant ward; 1809 half er Martinique nehmen, später in Portugal „constitutionelle Freiheit“ unterstützen, 1812 und 13 mehrere „Prisen“ nehmen und als Commandeur im amerikanischen Kriege Lorbeeren für den Feind pflücken. Dann stieg er zu Hause an’s Land, baute Kohl und Wasserkresse bis 1829, commandirte dann wieder ein äußerlich schmutziges, aber von Innen wirksames Schiff „Galatea“, dann gar im portugiesischen Erbfolgekriege (1833) die ganze Flotte Dom Pedro’s, bis er bei St. Vincent die ganze Flotte Dom Miguels gefangen nahm. Im syrischen Kriege (1840) war er der Hauptheld. Wellington sagte einmal: „Alles, was die Engländer Großes gethan, geschah durch Insubordination.“ So wirthschaftete auch Napier besonders hier stets gegen die Befehle der Minister zu Hause, aber nicht so viel, um das Spiel Lord Palmerston’s zu Gunsten des Rebellen Mehemet Ali’s und Rußlands gegen die Türkei zu durchbrechen. Er schloß mit Mehemet Ali einen Vertrag aus seinem eigenen Kopfe, den alle Vorgesetzten wegen Formen- und Stilfehlern tadelten, verwarfen, aber doch zuletzt – annahmen. Als der populärste Held kehrte er nach England zurück und ward von einem liberalen Theile Londons (Marylebone) in’s Parlament gewählt. Sein Buch über den „syrischen Krieg“ ist eins der interessantesten in der englischen Marineliteratur. Ueber seine Admiralität der Kanalflotte ließe sich Vieles sagen, doch nicht hier. Wir führen den merkwürdigsten Mann der englischen Flotte auch nur deshalb wieder vor die Oeffentlichkeit, weil er neulich gerade so, wie wir ihn hier sehen, auf einer Tonne unter dem Volke von Southwark (südlicher, liberaler Theil Londons) stand, um sich als Nachfolger des verstorbenen Vertreters und Ministers Molesworth zu empfehlen und er auf diese Weise einen Wahlkampf hervorrief, der sich schließlich zu seinem Vortheile entschied. Der Mann ist zu popular, zu altmodisch, zu geradeaus, zu originell, als daß ihn die „regierenden Klassen“ nicht fürchten und Alles aufbieten sollten, ihn vom Parlamente fern zu halten. Alle Manipulationen haben nichts genutzt, er ist gewählt! Was wird der alte Junge nun alles für Regierungsgeheimnisse aus dem Dienste und Nichtdienste der blatischen Flotte in seiner derben, unverblümten Weise ausplaudern! Er ist ein alter, trotziger Seekönig, die jetzigen Admirale meist seine Intriguanten und kluge Humbuger. Man wird alle Künste anwenden, um den alten Knaben vor der ihm noch zugemessenen Lebenszeit wenigstens moralisch, parlamentarisch und literarisch todt zu machen. Er paßt nicht mehr zu diesem Geschlechte der jetzt zu Wasser und zu Lande unter doppelt ausländischem Einflusse regierenden Klassen. Und doch spricht man bereits davon, daß ihm nächstes Jahr wieder das Commando der Ostseeflotte übertragen werden müßte.

[648]

Populäre Briefe über Musik.

Von J. C. Lobe.
Zweiter Brief.
Von der Melodie oder dem musikalischen Gedanken.

Lieber Herr Musikkennerwerdenwollender – es geht nicht! – ganz ohne Noten! Lassen wir also die armen Typen zu; sie sollen selten erscheinen, und dann auch dem Nichtnotenkenner das Verständniß erleichtern helfen.

Betrachten Sie also folgende Melodie, die Sie gar oft in der Weber’schen Freischütz-Ouvertüre gehört haben.

Die kleinen durch senkrechte Striche abgetheilten Räume sind Takte; die darüber stehenden Zahlen sagen Ihnen, daß diese Melodie, aus sechzehn aneinander gereihten Takten zusammengesetzt ist.

Den Noteninhalt jedes Taktes, auch die Pausen mit gerechnet, nenne ich Motiv. (Man bezeichnet mit diesem Wort freilich oft auch eine ganze Melodie; dann aber auch wieder bald nur einen Takt, bald zwei, drei, vier u. s. w., dadurch wird der Sinn unsicher und es können Mißverständnisse herbeigeführt werden.)

Aber warum Motiv? Motiv heißt Ursache? Eben darum. – Solche kleine Dinger werden Ursache zu sehr großen Dingen, zu ganzen Tonstücken.

Zwei Motive verbunden, geben einen Abschnitt; also machen 1–2 den ersten, 3–4 den zweiten, 5–6 den dritten Abschnitt u. s. w. Zwei Abschnitte oder vier Motive bilden einen Satz; also 1–2–3–4 erster Satz, 5–6–7–8 zweiter Satz u. s. w. Zwei Sätze geben eine einfache Periode, zwei einfache Perioden eine zusammengesetzte Periode oder Periodengruppe.

Wir können die vorstehende Melodie vom Ganzen zum Einzelnen gehend nun auch so erklären: sie besteht aus zwei einfachen Perioden, oder vier Sätzen, oder acht Abschnitten, oder sechzehn Motiven.

Hat ein Motiv (der Inhalt eines Taktes) nur eine, die größte Note der bezüglichen Taktart, so ist es ein einfaches Motiv; alle Motive, die mehr als eine Note haben, sind zusammengesetzte. Alle zusammengesetzten Motive kann man wieder theilen; daraus entstehen Motivglieder. Sie werden in der Folge sehen, daß auch diese kleinsten oft ganz unscheinbar aussehenden Tongedanken Ursachen zu ganzen Melodien werden.

Wenn Sie einen Trommelmarsch hören, so vernehmen Sie nur in Takte eingetheilte Schalle mit Längen und Kürzen, keine verschiedenen, nach Höhe und Tiefe unterscheidbaren Töne. Die Takte enthalten nur rhythmische Motive. So können Sie z. B. jede Melodie blos rhythmisch mit den Fingern auf dem Tische trommeln. In der ordentlichen Musik hören Sie neben der Rhythmik auch steigende oder fallende Töne dazu, und das ist der tonische Theil der Motive.

Nun folgen Sie mir zunächst bei der Betrachtnug der Weber’schen Melodie in Hinsicht auf die rhythmische Gestalt der Motive. Da bemerken Sie sogleich, daß das 3te, 5te, 6ste, 9te, 11te, 13te, und 14te dem ersten ganz gleich sind. Und ebenso 4, 10 und 12 dem Zweiten. Nur das 7te, 8te, 15te und 16te haben keine ihres Gleichen in dieser Melodie.

Fassen Sie das siebente Motiv noch einmal besonders in’s Auge und blicken Sie auf die beiden darunter stehenden größeren Bogen, so sehen Sie, daß sich die beiden Motivglieder gleich sind. Endlich wenn wir recht subtil beobachten wollen, können wir noch eine sehr oft wiederkehrende Gleichheit des kleinsten Motivgliedes unter den kleineren Bogen von a, b, c bis k bemerken.

Vergleichen Sie die Abschnitte untereinander, so sehen Sie, daß der erste (1–2), der zweite (3–4), der fünfte (9–10) und der sechste (11–12) sich rhythmisch ganz gleich sind, ferner der dritte (5–6) und siebente (13–14), und daß wieder der dritte und der siebente das erste Motiv des ersten Abschnittes enthalten.

Vergleichen Sie endlich beide Perioden in ihren rhythmischen Figuren mit einander, so sehen Sie, daß die ersten sechs Takte der ersten Periode in den ersten sechs Takten der zweiten Periode in ganz gleicher Weise wieder erscheinen! Sie begreifen nun, daß diese Melodie, durch die öftere Wiederkehr gleicher rhythmischer Motive, Abschnitte, Sätze und durch die beinahe ganz gleiche rhythmische Gestalt beider Perioden einen sehr festen, einfachen geordneten und klaren rhythmischen Organismus erhalten hat. Und das ist die erste Ursache, warum Sie diese Melodie leicht auffassen und leicht im Gedächtniß behalten.

Sehen wir nun von der rhythmischen Gestalt und Gliederung ab und richten unsere Beobachtung auf das tonische Aussehen (auf das Steigen und Fallen der Töne) dieser Melodie, so entdecken wir darin dasselbe Gesetz, wenn auch nicht in so strenger Weise der öftern Gleichheit, doch der mehr oder weniger hervortretenden Aehnlichkeit. Das erste, sechste, neunte und vierzehnte Motiv sind sich auch tonisch ganz gleich; das dreizehnte ist dasselbe wie das fünfte. Diese Beiden sind auch wieder im Steigen und Fallen der Töne dem ersten ganz gleich, nur daß sie in einer höhern Tonregion liegen.

Ferner ist das dritte dem ersten sehr ähnlich, denn die beiden ersten Noten desselben fallen eben so wie in jenem, aber in tieferer Region, und nur die beiden letzten Achtel steigen, anstatt daß sie fallen sollten.

Suchen Sie die tonische Gleichheit und Aehnlichkeit nun weiter selbst in den Abschnitten, Sätzen und Perioden auf, und Sie werden dieselbe Bezüglichkeit, Gleichheit und Aehnlichkeit wieder finden. Also auch in tonischer Hinsicht, Einfachheit, Klarheit und Faßlichkeit der Bildung.

Nun wollen wir, um ein anderes Merkmal an dieser Melodie zu erkennen, ein Experiment machen. Singen Sie von derselben nur den ersten Takt und halten Sie mit der Fortsetzung ein. – Was empfinden Sie? – Nichtbefriedigung. Es ist Ihnen, als begönne einer: „Wie traulich“ – zu recitiren und bräche dann ab. – Es wird durch diese beiden Worte ein Sinn begonnen, aber nicht vollendet. Singen Sie zu dem ersten Motiv noch das zweite, also den ersten Abschnitt, so kommt zwar noch keine Befriedigung, aber doch schon etwas mehr Sinn zum Vorschein, etwa als wenn wir an die beiden obigen Worte das weitere fügten: „Wie traulich hier.“ Singen Sie zu dem ersten Abschnitt der Melodie den zweiten, also einen Satz, so wird die Sache wieder um etwas bestimmter, ähnlich: „Wie traulich hier im schatt’gen Wald.“

In dieser Weise fortfahrend, stellt sich mit dem achten Takt, am Ende der ersten Periode, das Gefühl einer bedeutenderen Abtheilung, einer Art Ruhepunktes ein, und endlich, beim Vortrag der ganzen Melodie, empfinden Sie beim Eintritt des letzten Tones das vollkommene Aussein des Tongedankens.

Die Musik hat nämlich einige melodische und harmonische Formeln, deren Wirkung Aehnlichkeit mit der Interpunktion in der Rede hat; vom siebenten zum achten Takte erscheint eine etwa dem Semikolon vergleichbare Folge, welche man Halbschluß (Halbkadenz) nennt; die Tonformel am Ende der ganzen Melodie entspricht dem Punkte am Ende der Redeperiode und heißt Ganzschluß (Hauptkadenz). Jener bildet Ruhepunkte, läßt aber das Gefühl, daß die Musik hier aufhören könnte, nicht zu. Dieser dagegen beruhigt ganz, und man kann das Stück damit schließen.

[649] Ein viertes Merkmal ist dem Harmonieunkundigen schwer zu verdeutlichen. Vielleicht geht es auf folgende Weise. Denken Sie sich den Begriff „Mensch,“ so stellen Sie sich eine Mannigfaltigkeit von Gliedern vor, die, zusammengenommen, die menschliche Figur (eine Einheit) ausmachen.

Die Einheit „Mensch“ wollen wir uns in der Musik unter der Einheit „Tonleiter“ (Skala), die Mannigfaltigkeit der menschlichen Glieder durch die in der Skala liegenden, stufenweise auf einander folgenden Töne vorstellen.

Nun unterscheiden sich aber die Menschen in zwei Geschlechter, Mann und Weib. Ebenso haben wir in der Musik zwei Tongeschlechter, das harte und das weiche, oder die Dur-Skala und die Moll-Skala.

Sie unterscheiden sich durch einige andere Intervallenschritte von einander, wodurch der männliche und weibliche Charakter entsteht. Die männliche, harte Tonleiter ist unmittelbar aus der Natur der mitschwingenden Töne geschaffen worden, sie ist ursprünglich und consequent, der Adam; die weibliche, die Eva, ist aus der männlichen gebildet, hat in einem Intervall einen weichern, in einem andern Intervall einen herbern Zug, ist aufsteigend anders wie absteigend, also unconsequenter und launischer als die von Dur, aber nichts destoweniger höchst liebenswürdig.

Diese beiden Tonleitern können von jedem vorhandenen Tone ausgehend, nachgebildet werden; da wir nun zwölf verschiedene[WS 1] Töne haben, so giebt es zwölf harte und zwölf weiche Tonleitern, welche sich zwar in ihrem Wesen ganz gleich sind, aber sich durch höhere Lagen von einander unterscheiden, etwa wie die verschiedenen Racen der Menschen. Also. Mensch – Tonleiter. Geschlecht – Dur und Moll. Menschenracen – Tonarten. Die Melodie kann nur in einer Tonleiter liegen, dann ist sie eine leitereigen modulirende, oder sie kann mit anderen Tonleitern wechseln und wird dadurch eine ausweichend modulirende.

Jene hat die größte modulatorische Einheit, diese weniger, und kann durch immerwährendes Ausschweifen in andere Tonarten die Einheit in dieser Beziehung ganz verlieren. Es giebt viele der schönsten Melodien, die entweder ganz in einer Tonart bleiben oder nur sehr kurze Ausweichungen machen und gleich wieder in die vorige Tonart (Haupttonart) zurückgehen. Die Weber’sche Melodie liegt in C-dur, macht nur im zwölften Takt eine kleine Ausweichung nach F-dur – und wendet sich wieder nach C-dur zurück.

Nehmen wir nun zu den angegebenen Merkmalen das hinzu, was im ersten Briefe über Takt und Tempo gesagt worden, so ist die Weber’sche Melodie in ihrer einstimmigen Gestalt so zu erklären:

Sie ist eine Einheit, indem sie 1) eine Taktart, 2) ein Tempo, 3) eine Haupttonart, 4) am Ende einen vollständigen Abschluß, 5) rhythmisch gleiche und ähnliche, 6) tonisch gleiche und ähnliche Motive, Abschnitte, Sätze und Perioden hat.

Sie ist eine Mannigfaltigkeit, indem 1) in derselben Takt- und Tempoart verschiedene rhythmische und tonische Figuren, 2) in derselben Tonart verschiedene Akkordarten, und 3) verschiedene Ruhepunkte vorkommen. Durch alle diese Momente erhält sie eine einfache, wohlgeordnete faßliche und darum wohlgefällige Gestalt.

Nun merken Sie wohl auf! Die Momente, welche ich an der Weber’schen Melodie entwickelt habe, finden Sie im Allgemeinen in allen Melodien und musikalischen Gedanken unserer Musik wieder.

Namentlich giebt es keine einzige musikalische Periode, welche nicht wiederholte gleiche oder ähnliche rhythmische Motive in sich enthielte. Sollte einmal höchst ausnahmsweise eine Melodie von acht Takten, eine einfache Periode ganz ohne gleiche und ähnliche Motive erscheinen, so wird die ganze Periode wiederholt, oder die Wiederholungen erscheinen im Akkompagnement, d. h. in den begleitenden Stimmen, wie Ihnen später bewiesen werden soll. Kommen nun aber die genannten Merkmale in jeder Melodie vor, so ist die Verwendung und Mischung derselben einer unendlichen Mannigfaltigkeit fähig.

Es giebt Volkslieder, die mit einer achttaktigen einfachen oder sechzehntaktigen (Doppelperiode) zum Aussein, zum Schluß gebracht werden. Es giebt aber auch Musikstücke, Ouvertüren z. B., die zwei-, dreihundert Takte lang sind, zwei- dreihundert Motive haben, und also aus sehr vielen aneinander gehängten musikalischen Perioden oder einzelnen musikalischen Gedanken bestehen.

Wäre nun jede einfache Periode genau nur an die achttaktige, jede Doppelperiode genau nur an die sechzehntaktige Gestalt gebunden, so würde eine zu starre, mechanische und damit zu monotone Ordnung entstehen, die uns eben so unangenehm wie die Unordnung ist.

Um jene zu vermeiden, bildet man die Periode auf mehrfache Weise um, man zieht sie zusammen bis zu sechs Takten, und man dehnt sie aus bis zu 9, 10, 11, 12, 13 Takten etc. Dadurch, daß man nun Doppel-, wohl auch Tripelperioden von der einen oder andern gleichen Taktenzahl, z. B. von zweimal sechs, oder zweimal zehn Takten u. s. w., oder von verschiedener Taktenzahl, die eine z. B. von acht, die andere von zwölf Takten etwa bildet, kommt eine große Mannigfaltigkeit in den Perioden- und Gruppenbau der Tonstücke. Die musikalischen Gedanken werden in dieser Hinsicht ganz so wie die Gedanken der Rede behandelt. Die letztere hat auch verschiedene längere und kürzere Perioden, ja, zuweilen auch blos Sätze, wie die Musik auch.

Ebenso würden längere Musikstücke, welche durchaus nur in einer Tonart sich hielten, in dieser Hinsicht monoton erscheinen. Je größer daher das Tonstück ist, in desto mehr andere Tonarten wird zeitweise ausgewichen, um auch hier die Mannigfaltigkeit zu gewinnen, ohne die wir veränderungssüchtige Menschen uns nun einmal nicht zufrieden geben können.

Eine fernere Mannigfaltigkeit ist erreichbar durch die geringere oder größere Anzahl neuer oder schon dagewesener Motive und Motivglieder innerhalb der Periode. Es giebt Melodien, die nur aus einem einzigen Motivgliede, andere die nur aus einem Motive fortgesponnen sind, aber auch welche, die zwei, drei, vier, fünf, sechs – vielleicht wohl auch einmal sieben neue, von einander verschiedene Motive enthalten.

Und was im Kleinen, der Periode sich zeigt, zeigt sich im Großen in allen Tonstücken. Es giebt keines, dessen Perioden alle durchaus neue wären, deren einzelne Melodien sich alle durchaus von einander unterschieden. In jedem größern Tonstücke kommen Wiederholungen ganzer Perioden, oder doch von Sätzen, Abschnitten u. s. w. aus früheren Perioden vor. Diese gleichen und ähnlichen Wiederholungen nennt man „thematische Arbeit,“ und sie ist wieder das Mittel, dem ganzen Tonstücke eine Einheit und damit die Faßlichkeit zu geben. Man hat sie, und mit vollem Recht, die Logik der musikalischen Sprache genannt. Wie eine Rede einen Hauptsatz hat, welchen der Titel ankündigt, z. B.: „Von der Melodie oder dem musikalischen Gedanken,“ und alle einzelnen Sätze und Gedanken sich nun über diesen Hauptsatz auslassen, ihn von seinen verschiedenen Seiten betrachten und erklären, so hat jedes gute Musikstück ein Hauptthema, eine Hauptmelodie, welche gleichsam den Titel des Gefühls und Charakters angiebt, und den nun alle folgenden Perioden weiter entwickeln.

Hat die Melodie einfache Figuren und einfache Gliederung, so daß ihre Gestalt allen Hörern gleich verständlich und faßlich ist, so nennen wir sie eine populäre Melodie, dergleichen alle Volkslieder, viele Melodien in den Mozart’schen, Weber’schen etc. Opern, Haydn’schen und selbst Beethoven’schen Werken mehr oder weniger enthalten. Sie werden von allen Musikliebhabern als einzelne besonders ansprechende Stellen freundlich aufgenommen. Nun ziehen aber in den größern Tonstücken auch viele musikalische Gedanken an Ihnen vorüber, denen Sie den Namen Melodie nicht zugestehen mögen, weil sie Ihnen nicht so deutlich in ihrer Konstruktion erscheinen.

Mit dem Urtheil über solche Gedanken waren Sie bisher schnell fertig, indem Sie dieselben melodielos, im tolerantesten Falle, gelehrte Musik nannten. So wollen wir sie denn im Gegensatz zu der vorigen populären Melodie die Gelehrtenmelodie nennen, aber sie damit keineswegs als eine unbedingt verwerfliche bezeichnen. Denn die Faßlichkeit der Musik ist sehr relativ, und Manches oder Vieles, was dem Laien unfaßlich und unverständlich erscheint, ist es für den Kenner ganz und gar nicht. Das wird Ihnen jetzt schon anfangen, einzuleuchten.

Nachdem Sie, früher ein Stocklaie, nun wissen, daß gleiche und ähnliche kleine Theile (Motivglieder, Motive, Abschnitte u. s. w.) in jeder Melodie vorkommen und sie daher mit Ihrer Aufmerksamkeit beim Beginn jeder Melodie schon solche erwarten, wird Ihnen das Bemerken derselben, wo und wann sie erscheinen, gewiß [650] schon leichter werden. Sie können denken, daß der gebildete Musiker, der das von Jugend auf gelernt und geübt hat, eine große Fertigkeit im Erkennen derselben, daß er sich eine große Hörkunst erworben haben muß.

Daraus wird Ihnen die tiefe und weite Kluft im Urtheil und Genuß, welche bisher zwischen Kennern und Laien in der Musik bestand, erklärlich sein. Viele musikalische Gedanken also, immer nur erst in der Einstimmigkeit betrachtet, sind, wenn gleich künstlicher konstruirt und mit verstecktern Aehnlichkeiten ausgestattet, dem Kenner doch eben so faßbar und deutlich, wie die einfachste und populärste Melodie dem Laien nur immer sein kann.

Aber freilich ist diese unleugbare Wahrheit auch leider zugleich ein Zufluchtsort, in welchem sich der Irrthum, das Ungeschick des Komponisten mit jeder, auch der unfaßlichstett Musik, zurückziehen kann.

Von dort aus wird dann wohl dem armen Publikum zugerufen: „Du verstehtst mich nicht, aber Deine Nachkommen werden mich schon zu schätzen wissen, und Dich ob Deiner Schwäche verachten und auslachen!“ Und freilich finden dann solche Irrthümler immer eine Anzahl besonderer Kennerseinwoller, die nicht allein das musikalische Gras der Gegenwart, sondern auch das der Zukunft wachsen hören und die jenem beistimmend ausrufen: „Ja, wir begreifen ihn, und wir – anerkennen ihn!“

Aber, liebe Leser der Gartenlaube, Ihr, hoffe ich, sollt Euch in der Folge dadurch nicht mehr irre führen und verblüffen lassen, denn so dehnbar die Dinge dieser Welt, also auch die Kunstbildungsgesetze sein mögen und in der That sind, daß es Schranken für dieselben giebt, weil die menschlichen Sinne ihre Schranken haben, und daß, wenn diese Schranken überschritten werden, es mit dem so gerühmten Fortschritt nichts mehr ist, will ich in Bezug auf musikalische Gedanken noch durch ein Beispiel erläutern.

Wenn Goethe schreibt:

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.

so kann man den Ausdruck dieses Gedankens einen populären nennen, denn er ist jedem nur halbweg gebildeten Menschen durchaus klar und verständlich.

Einer Gelehrtenmelodie schon näher kommt folgende Strophe von Klopstock:

„Zwo tisiphonische Töchter hat der Eroberungskrieg, er
Nennt sie: Nimm, behalt! Versklavung! die jüngere. Oft deckt
Dieser Günstling des Vaters die Bande durch lilienweiße
Blumen, von Schlangenschaum getränkt.“

Die Konstruktion ist gesuchter, künstlicher, und es kommen Ausdrücke darin vor, zu deren Verständniß schon besondere Kenntnisse gehören.

Immerhin geht dieser Gedanke nicht über die Fassungskraft des Menschen hinaus, und ist deshalb nicht als überhaupt unzulässig zu bezeichnen. Was sagen Sie aber zu folgenden Zeilen:

„Da ist wie auch o Wetter bringen gelten
Und schnell das Schloss es regnet abseits Welten!“

Darf irgend ein vernünftiger Mensch sagen: in diesen Worten liegt ein Gedanke von solcher Tiefe, wie ihn die jetzige Generation noch nicht, erst eine in der Zukunft kommende verstehen und sich an ihm erfreuen wird?

In der Musik tauchen aber in der That jetzt zuweilen musikalische Gedanken auf, die nicht viel verständlicher sind, als der letzte Wortgedanke, und deren Unsinn von den Laien bisher nicht klar eingesehen werden konnte. Jetzt werden Sie schon begreifen, daß solche Tongedanken keiner Zukunft sinnig vorkommen können, weil sie absolut unsinnig sind.

Sie fragen vielleicht, wie es möglich sei, daß Erfahrungen, welche jeder gebildete Mensch macht, gerade von den Künstlern übersehen werden sollten, die doch das hellste Einsehen in das Wesen, die Gesetze, Wirkungszwecke und möglichen Grenzen der Kunst haben müssen, da sie sich mehr als alle anderen Menschen damit beschäftigen?

Die Zahl der Künstler, welche gegen die unwandelbaren Gesetze der Tonkunst verstoßen, ist verhältnismäßig zu allen Zeiten gering gewesen. Die vorzugsweise Beschäftigung mit der Kunst schützt aber nicht alle vor Fehlern. Die Uebung stärkt die Kräfte, das Bewußtsein dieser Kräfte führt zuweilen auf Ueberschätzung derselben, und dann sind Ueberschreitungen in’s Ungeheuerliche und Maßlose nichts Unerhörtes. Ein Hauptverführungsmittel liegt auch vorzüglich in der langen und wiederholten Beschäftigung mit einem Kunstwerke. Eine Sinfonie z. B. verlangt gar viele Wiederholungen verschiedener Prozeduren vom ersten rohen Gedanken an bis zur letzten Note der Ausführung. Was ist natürlicher, als daß dem Schöpfer derselben alle Gedanken bis in die kleinsten Theile hinein bekannt und geläufig werden. Für ihn ist nichts darin zu künstlich, zu verwickelt konstruirt, nichts nur im Geringsten dunkel und unverständlich. Aber daß er glaubt, es müsse Anderen eben so verständlich wie ihm werden, darin liegt sein Irrthum.

Noch eine Art von Komponisten bringt dunkele und unverständliche Dinge zu Tage aus Ungeschick. Man möchte gern bedeutende und bewundernswürdige Dinge schaffen, hat aber die strenge Schule nicht durchgemacht, welche erst befähigt, eine gefaßte Idee deutlich, anmuthig, jedermann faßlich und wohlgefällig aus sich herauszugestalten und zum Ausdruck bringen zu können.

Die Bemerkungen in diesem Briefe bezogen sich nur auf den Leib, auf den technischen Organismus der Melodie und der musikalischen Gedanken. Und in derselben Weise muß ich noch in manchem folgenden Briefe von andern musikalischen Dingen reden. Dann aber werden Sie auch gehörig vorbereitet und befähigt sein, das Nöthige über den geistigen Inhalt, die Seele der Musik, zu verstehen und aus den ächten Tonwerken heraushören und nachfühlen zu können.




Reise über die Landenge von Panama

mit Eisenbahn.[1]

Vor einigen Jahren (1849) tauchte in Berlin das Projekt eines Eisenbahnbaues über die Landenge von Panama auf. Einzelne Volks-Expeditionen sollten sich der Reihe nach querüber ansiedeln, den Boden urbar machen, sich so Lebensunterhalt verschaffen und dann die Eisenbahn bauen. Viele werden sich nun wundern, daß diese Eisenbahn längst gebaut ist und Nationen aller Art von und nach Californien u. s. w., von und nach dem stillen und atlantischen Oceane täglich massenweise hin- und wieder dampfen. Wir in der alten Welt wissen kaum, wie sie fertig geworden, und ahnen noch gar nicht, was für ein neues, frisches und musculöses Leben sich auf der andern Halbkugel entwickelt.

Wir selbst staunten, als wir einen Brief von einem deutschen Civilisations-Pionier der Antipoden-Halbkugel erhielten und lasen, datirt: „Aspinwall, den 19. März 1855.“ Da er uns mit der neuen Weltstraße zwischen den beiden Haupt-Oceanen ziemlich drastisch bekannt macht, theilen wir den Brief in seinem wesentlichen Inhalte mit.

„Nach einer angenehmen Reise von dreizehn Tagen im Dampfschiffe California von San Franzisko liefen wir Anfangs März in die große Bucht ein, welche nach der Stadt Panama führt. Der tägliche Anblick der erhabenen stillen Meeresscheibe, war in den letzten Tagen ziemlich langweilig geworden, so daß wir unsere Augen herzlich an den Inseln weideten, zwischen denen wir hindurchfuhren, so einförmig sie auch sind. Steile Hügel und Berge, bedeckt mit karger, bräunlicher Vegetation, unten eingefaßt von schlanken Cacaonuß-Palmen, die unmittelbar vom Wasserrande emporschießen. Gleich nach der Einfahrt zur Panama-Bucht erhebt sich [651] die Schlangeninsel mit einer großen Menge Wasserschlangen, von denen wir auch mehrere um unser Schiff herumkreisen sahen. Wir legten zwei (englische) Meilen von Panama auf einer kleinen Insel an, da die Seichtigkeit des Wassers keine größere Annäherung für Seeschiffe erlaubt. Die Eisenbahn-Gesellschaft hat diese Insel bereits für eine schwere Summe gekauft, um ihren „Stillenmeereisenbahnhof“ über Pfähle und Brücken bis hierher auszudehnen, so daß man auf dem Weltmeerschiffe direct in den Eisenbahnwagen steigen und bis in’s atlantische Meer hineinfahren können wird.

In einem der vielen umherschwärmenden Boote fuhren wir über eine stürmische See bis an das Gestade der engen Taille, durch welche sich der nordamerikanische Continent vom südlichen abschnürt; aber die beiden Weltmeere kann er nun nicht mehr trennen. Welche Hexen-Blocksbergscene stürmte uns hier entgegen! Wohl ein Schock schwarze und braune Teufel stürzten über uns und unser Gepäck her und schleppten es unter gellendem Geschrei in allen möglichen Sprachen fort nach der Stadt hinauf. Ich schimpfte und fluchte erst auf die Räuber mit allem Spanisch, das ich gelernt hatte, beginnend mit. „Valgame Dios!“ (Gott stehe mir bei!) und endigend mit! „Carambo“ (Hallunke oder ähnlicher Schmeichelei); aber sie lächelten breitmäulig mit weißen Zähnen von einem Ohre bis zum andern quer durch die Physiognomie – und Einige schielten dazu so fürchterlich mit ungeheuer viel Weiß in den Augen, daß man nie erfuhr, wo sie eigentlich hinsahen. Im Englischen wußte ich mehr Schimpfworte und Kraftausdrücke, so daß ich sie mit „ruffians, blackguards, rascals, felons, bloody, highwaymen“ u. s. w. bearbeitete; aber auch diese Beschwörungsformeln blieben ohne Wirkung. So drängte es mich, meinen Unmuth „in mein geliebtes Deutsch zu übertragen,“ aber jede, auch die stärkste Verbalinjurie unserer reichen Muttersprache prallte machtlos ab von den schwarzen, braunen, rothen und gelben, schmierigen Fellen dieser Bastardlaunen der Natur. Als nun gar ein Kerl, der wie eine gebackene Birne oder ein Rosinenmann am Weihnachtsbaum aussah, einer jungen Dame die Reisetasche vom Arme riß, um sie zuvorkommend für sie zu tragen, fühlte ich mich plötzlich berufen, als Ritter und Rächer beleidigter Schönheit aufzutreten. Ich schlug dem Kerle mit dem Kolben meines colt’schen Revolvers (der nothwendigen „Paßkarte“ in diesen muntern Gegenden) die Reisetasche aus den Tatzen und kehrte ihm dann die Läufe zu. Diese abgerundeten Perioden von kosmopolitischer Beredsamkeit verstand er sofort vollkommen, er duckte sich zusammen und kroch und lief dann davon. Jetzt wußten wir Alle, wie man sich hier verständlich machen müsse. Sofort erschienen ganze Dutzende von Drehpistolen vor den Augen der gefälligen Träger. Durch Puffe mit Kolben und einige Schüsse hinter Andern her, die schon dienstfertig mit Gepäck voraus geeilt waren, sammelten wir unsere Lieben von Koffern und Schachteln wieder und bewiesen unsere Eigenthumsrechte. Unsere octroyirenden Dienstboten ließen locker und los und strolchten schimpfend und gellend davon. Sie waren heute vernünftiger als sonst, wie man uns hernach sagte. Waren doch schon zwei Dampfschiffe von San Franzisko gelandet und drei auf der andern Seite von New-York, die schon gegen 2000 Passagiere bis Panama geeisenbahnt hatten, so daß es viel zu verdienen gab und die große Stadt von allen möglichen Formen und Farben Fremder wimmelte. Wir brachten unser Gepäck auf einen Haufen, setzten ein Dutzend Schildwachen mit offen spielenden Revolvern darauf (darunter auch die junge Dame mit den feinen aprikosenfarbigen Wangen und den mandelkernförmigen braunen Augen) und holten uns aus der Stadt nach vielem Suchen und Schachern (für ein Achtel des erst geforderten Preises) rothbraune indische, eingeborene Lastträger. Wagen und Maulesel waren um keinen Preis zu bekommen.

Wir waren in der Stadt, aber nun kam das Schlimmste. Ein Dach über den Kopf für die Nacht war nirgends zu haben, geschweige eine Decke. In den Hotels waren selbst Hausflure, Corridore, Treppenabsätze und Tische als Schlafstellen bis auf den letzten Winkel vermiethet worden. Nachdem wir drei Stunden umher gesucht und gefragt und die feuchte Nacht schon eifrig ihren schwarzen Mantel über die Straßen ausbreitete, standen wir obdachlos und freundlos, und ich in ganz ausgesuchter Verzweiflung, da sich die aprikosenfarbige junge Dame ermüdet und vertrauensvoll auf meinen Arm stützte, so daß mir trotz dieser erotischen Bevorzugung die Hühneraugen nur noch mehr drückten und der verhungerte und verdurstete Magen inwendig brannte, wie eine verschluckte afrikanische Sandwüste. Ich dachte: Wenn man sehr müde und sehr hungrig ist und sehr vom Schuh gedrückt wird, hilft doch alle Schönheit und Liebe nichts, und ich besinne mich noch deutlich auf den in meiner Seele anfangenden schwarzen Gedanken. „Wäre ich Dich doch los, kleine Mulattin oder Mestize!“

Aus unserer trostlosen Situation befreite uns ein Deutscher, ein geborner Preuße und Jude, mit Namen Jacobi, obgleich er selber obdachlos umher irrte, wie wir. Er besann sich auf einen deutschen Doctor, der ihn vor zwölf Jahren in New-Orleans vom gelben Fieber curirt und sich seit einigen Monaten in Panama niedergelassen hatte. Aber, wie ihn finden? Auch hier half uns ein Deutscher, ein Apotheker, der uns des Doctors Adresse mittheilte. Das Haus war bald gefunden, groß, alterthümlich mit einer breiten Treppe. Wir wurden in ein großes Besuchzimmer geführt und als Fremde (ich ein Deutscher mit der braunen Unbekannten, ein Engländer und dessen Frau, und ein lustiger, branuer Herr, dessen Nationalität aus Weiß und Schwarz gemischt zu sein schien) sofort herzlich empfangen und bewillkommnet, und zwar mit Speise und Trank eben so substantionell, als durch Worte und Benehmen aufrichtig. Die Frau Doctorin bewillkommnete uns im vollendetsten Ballstaate; doch obgleich der Wagen unten schon wartete, hielt sie sich doch noch ziemlich lange damit auf, uns Nachtlager zu besorgen und sonstige Fürsorge für unsere Bequemlichkeit zu zeigen. Um mit der Eisenbahn fortzukommen, mußten wir früh um vier Uhr aufstehen. Und wer war früh um vier Uhr zu unsern Diensten? Dieselbe Frau Doctorin, die erst um zwei Uhr vom Balle zurückkehrt war. Das ist Güte und Menschenfreundlichkeit ohne Phrase und Schein, für welche man nicht Verehrung und Dankbarkeit genug zeigen könnte. Aber so ist der Mensch: ich für meinen Theil habe selbst den Namen dieser herrlichen, herzlichen, deutschen Doctorfamilie vergessen und kann mich mit aller Qual nicht wieder darauf besinnen. Hoffentlich finden wir ihn mit einem würdigen Denkmale in dem nächsten Bande der Reisen Madame Pfeiffer’s, welche kurz vorher die herzliche Gastfreundschaft dieser Familie[WS 2] genossen hatte, ehe sie sich aufmachte, um unter Anderem als einzelne Frau und erste Repräsentantin der Civilisation im Innern Borneo’s mitten unter die wildesten Menschenfresser zu gehen und freundlich aufgenommen zu werden, weil sie das erste menschliche Wesen war, das nicht mit Flinte und Säbel und gebildeter Habgier, sondern mit dem Ausdruck vertraulicher, ächter Herzensgüte in ihrem alten, treuen Gesichte erschien.

Auf dem Mauleselplatze von Panama mußten wir uns mit ausgehungerten Thieren versehen, welche die jetzt noch fehlende Strecke Eisenbahn zwischen Panama und Gorgona ausfüllen, zum Theil wörtlich, da sie zu Tausenden todt getrieben werden. Eine Reise hin und her bezahlt den Maulesel und läßt noch einen Profit übrig, so daß sie ohne Fütterung getrieben werden und oft unterwegs niederstürzen, und der Reisende, der schon vorher bezahlt hat, mit seinem Gepäck daneben liegen bleiben oder ein Mittel ausfindig machen muß, aus den räubervollen Hohlwegen davon zu kommen. Ich mußte nicht weniger als 26 Dollar für meinen Maulesel bezahlen, außerdem noch 15 Cents (7 Sgr.) für jedes Pfund Gepäck. Die spanischen Amerikaner, ein scheußliches, brutales, häßliches Geschlecht, verfallend und untergehend, wie ihre düstern, engen Städte machen jetzt noch kurz vor dem Ende ihrer Periode in ihrer unerträglichen Weise Geld. Die englische Eisenbahn wird nach ihrer Vollendung diese Halsabschneider entweder zum Hungertode oder zu einem anständigen Leben zwingen.

Die Vorstädte Panama’s sehen trotz ihrer Strohhütten malerisch aus, da sie sich an der Straße entlang hinter Ananas- und Agavehecken, zwischen Orangengärten, Cacaonuß- und andern Palmen verstecken. Vor den Thüren bemerkten wir nach Tagesanbruch überall häßliche, gelbe, trockne Weiber, beschäftigt mit Zubereitung des Frühstücks, das in getrocknetem Cacaonußsaft u. s. w. besteht, der in großen hölzernen Mörsern zerstoßen wird.

Endlich verlor sich die Vorstadt in eine vielfach gewundene, hügelige, steinige, enge Hohlstraße, zwischen deren Felsen, und oben oft schließenden üppigen, tropischen Bäumen und Schlingpflanzen nur ein Esel auf einmal Raum hat und auch dies nicht immer, so daß die Kisten und Kasten, die an ihm hängen, bald links, bald rechts anstoßen. Zwischen Klüften an steilen Abhängen hin die matten Thiere, auf denen man saß, stolpern zu sehen, war kein sehr gemüthliches Gefühl. Auch die Lebensscenen, die uns nun entgegenzogen, Auswanderer nach Californien, die von New-York [652] in Aspinwall auf der andern Seite der Landenge angekommen waren und sich nun nach Panama herüberschleppten, waren nicht selten herzzerreißend. Zwar sahen die Frauen und Mädchen (fast lauter weibliches Geschlecht), wie ordentliche Ritter auf ihren Eseln reitend, mit dem breiten Strohhute, dessen vordere Krämpe durch einen unter der Nase festgebundenen Riemen gehalten ward, recht herzhaft aus; aber wie vielem armen Gesindel begegneten wir auch, das sich mit lumpigen Bündeln und Kindern bettelnd zu Fuße hinschleppte! Zum Beispiel einer Frau mit vier Kindern, welche ihren Mann unterwegs verloren hatte, die erschöpft am Wege lag und um Hülfe jammerte. Sie war seit dem Morgen des vorigen Tages unterwegs mit 75 (englischen) Meilen hinter sich, ohne Schutz und Lebensmittel, als was ihr seltenes Erbarmen zugeworfen. Zwar hat man je fünf Meilen von einander auf dieser Strecke „Obdächer“ gebaut, d. h. Strohdächer auf Säulen, vor denen sich der groß auf Calico gemalte Name „Hotel“ sehr komisch ausnimmt, aber außer dem Dache findet man ohne Geld keine Erquickung. Doch muß ich gestehen, daß ich in einem dieser Hotels den besten „Stout“ getrunken, der mir je vorgekommen. Außer diesen Hotels findet man durch diese ganze schauerliche Wildniß hin noch keine Spur von menschlicher Kultur. Man hat selten eine Aussicht, man sieht thatsächlich die Berge vor Gebirgen, den Wald vor Bäumen nicht.

Gequetscht und gestoßen und blos zwei Mal von meinem Esel heruntergerissen von vorbei passirenden Reisenden, kam ich endlich gegen drei Uhr Nachmittags in Gorgona an, dem bis jetzt ersten oder letzten Eisenbahnhofe, d. h. ebenfalls einem bloßen, säulengetragenen Dache, unter welchem sich’s ganz vortrefflich aß und trank. Der Eisenbahnzug lief anfangs ganz gut, obgleich es um uns herum oft fürchterlich genug aussah. Ein zwanzig Fuß hoher Damm (der über dreißig Fuß eingesunken war, so daß funfzig Fuß hoch aufgefüllt werden mußte) führte uns über einen gräßlichen Sumpf. Hier lagen also Millionen Wagen voll Schutt und Füllung, aber man versicherte uns, daß der Sumpf eben so gut mit den Leichnamen der Ireländer, die bei diesem Stück Arbeit umgekommen waren, ausgefüllt werden könnte. Niemand nennt sie Helden, obgleich sie für einen großen, welthistorischen Kulturzweck gefallen sind, nicht wie die hunderttausend Russen, Türken, Engländer, Franzosen u. s. w. im jetzigen Kriege, der die Länder und Leute außerdem verdirbt und ruinirt, zu deren Wohl er „angeblich“ geführt wird.

Bei Barbacoa, einem schlechten spanisch-amerikanischen Neste, kam uns der berüchtigte Fluß Chagres zu Gesicht, auf dessen trägen, sumpfigen, tödtlichen Rücken die Passagiere vor Vollendung der Eisenbahn bis hierher in Booten und kleinen Dampfschiffen befördert wurden. Die Mündung des Flusses bei der Stadt gleiches Namens ist, im Gegensatz zu den meisten Flußmündungen, ungemein malerisch, auf der einen Seite waldige Hügel in den mannigfaltigsten Wellenlinien und tropischen Tinten, auf der andern Chagres mit einem Fort am Eingange, ungemein reizend durch tropische Vegetation hin in verschiedenen Höhen sich zerstreuend und aufdachend.

Es hieß, die Eisenbahn würde uns in zwei Stunden bis Aspinwall bringen; aber nicht weit von umgeworfenen Waggons und einer zertrümmerten Locomotive, flogen auch wir mit den Köpfen sehr unsanft gegen einander. Der Zug war von den Schienen gekommen und stand, Gott sei Dank, still, ehe wir umgestürzt und zerquetscht waren.

Nun saßen wir auf dem hohen Rücken des Bahnweges und mit einbrechender Dunkelheit in unsern Waggons, von Langeweile, Durst, Hunger und dem wüthenden Gebrüll wilder Thiere geplagt, die uns grimmig umkreisten, um Jeden zu verschlingen, der sich etwa heraus wagte. Besonders entsetzlich brüllten und geberdeten sich mehrere Ungeheuer von Puma’s, die ganz dicht an den Waggons donnerten, daß die Fenster klirrten und mit den Schweifen schlugen, daß Staub und Steine flogen. Nach etwa vier Stunden hörten wir die rettende Locomotive pfeifen, deren Geheul unsern Königen des Thierreichs aber solchen Schreck einjagte, daß sie den Schwanz zwischen die Beine klemmten und mit aller Macht in Dunkel und Dickicht verschwanden.

Nach Mitternacht fanden wir in Aspinwall nach gutem Nachtmahl zum Theil abenteuerliche Schlafstellen. –

Ich hatte die Landenge von Panama unter den günstigen Verhältnissen hinter mich gebracht, zu Dreivierteln mit der Eisenbahn, während der gesunden, trocknen, kühlen Jahreszeit. Und doch welche Qualen und Lebensgefahren! Da kann man sich nun eine Vorstellung von dem unsäglichen Elende machen, unter welchem sich früher während der nassen Fieberzeit 3, 4, 5 Tage lang die Auswanderer nach Californien über diese furchtbare Landenge von 12 deutschen Meilen Wald und Fels und Sumpf und Räuber und Raubthiere und Klüfte und Abgründe und Fiebergeister hindurchschleppten oder auch liegen blieben, um unbegraben zu verfaulen oder Raubthieren zum Mahle zu dienen.

Welch ein Unternehmen ist diese Panama-Eisenbahn! Tausende und aber Tausende fielen, weil sie nicht gebaut war. Tausende und aber Tausende fielen beim Bau derselben. Aber das furchtbare Gebot der Kulturnothwendigkeit frägt nicht darnach. Sie sagt: Ich muß diese Verbindung der beiden großen Oceane, des Westens und des Ostens Amerika’s, Europa’s mit Californien, Australien und China und unzähligen Inseln, die jetzt in die Kultur heraufsteigen, haben. Sie gebeut und die früher unmögliche Eisenbahn haut und bricht und brückt sich durch Tod und Verderben hindurch von einem Ocean zum andern.“[2]




Die Panama-Eisenbahn ist ein englisches Unternehmen, der „direkten Dampfschiffverbindungs-Compagnie mit Australien,“ incorporirt durch königliche Kabinetsordre vom 24. Juni 1853 mit einem Kapital von 1 Million Pfund Sterling in 40,000 Actien und dem Rechte, dasselbe nach Bedürfniß zu vermehren. Die Compagnie hat ihre direkte Verbindung mit Australien in die drei natürlichen Theile getheilt: Milfordhaven (der größte und beste Hafen Englands in Pembrokeshire, Süd-Wales) und Navy-Bay (Aspin-Wall), Eisenbahn zwischen Aspinwall und Panama, Panama Sydney, die Hauptstadt Australiens, und Melbourne, mit Kohlenstationen auf Otaheiti und andern Inseln. Dieser Weg verbindet Europa und Australien und Neu-Seeland, die vereinigten Staaten von Nordamerika mit Central- und Südamerika, Californien und den Südseeinseln, mit Indien und China auf eine Weise, daß die 12,437 englischen Seemeilen,[3] welche zwischen Milfordhaven und Sydney sich strecken, in 56 Tagen zurückgelegt werden können, wozu man früher 180 bis 200 Tage brauchte. Dies wirkt, um etwas Naheliegendes zu erwähnen, wohlthätig auf die Menge und Güte unserer Tasse Thee, unserer Gewürze, womit wir die Mittagsschüssel schmackhaft machen, auf die Preise unserer Röcke und Beinkleider, auf die Verbindung zwischen den Deutschen im Mutterlande und bei den Antipoden, die bisher so ziemlich von uns abgeschnitten waren, wirkt auf eine Weise zur Verbreitung und Abrundung der Menschheits-Kultur, von der wir wohl jetzt kaum eine annähernde Vorstellung fassen können.

Der legislative Rath von Neu-Süd-Wales hat auf diese Verbindung einen Preis von 6000 Pfund Sterling jährlich ausgesetzt, so daß die Compagnie außer auf ihren Gewinn noch sicher auf dieses jährliche Fixum rechnen kann, auf jährlich 40,000 Thlr. Taschengeld.

Die Dampfschiffe, welche sie bauen läßt, sind für den atlantischen, wie für den stillen Ocean von gleicher Größe und Bequemlichkeit, von 3000 Tonnen Gehalt jedes und großem „Comfort“ in den Kajüten, für Reiche auch mit besondern Privatwohnungen, so daß die innere Struktur und Architektur in jedem Schiffe einer ganzen Stadt gleicht. In ihnen wird zugleich zum ersten Male eine Einrichtung angebracht, durch welche täglich 6 Tonnen frisches Trinkwasser erzeugt werden, worüber wir wohl ein ander Mal berichten.

Wir begnügen uns hier mit dem Totaleindrucke, daß man vielleicht schon binnen Jahr und Tag von jeder Eisenbahnstation in Deutschland oder Europa überhaupt ununterbrochen auf den Flügeln des Dampfes direkt nach und von Australien, Californien [653] u. s. w., kurz, um die ganze Erde herumfliegen kann, ohne kaum mehr Zeit und Geld zu brauchen, als vor 50 Jahren etwa zu einer Reise von Dresden nach Paris.

Die Konkurrenz, welche die Amerikaner bereits mit ihren Dampfschiffen auf beiden Seiten der Landenge von Panama für New-York und Californien oder Australien fertig haben, wird die Compagie ohnehin nöthigen, die wohlfeilsten Preise zu stellen.

So wird es vielleicht schon in einigen Jahren Mode, statt in ein Bad zu reisen und sich da auf vornehme Weise zu ennuyiren, ein Bischen um die kleine Mutter Erde herumzufahren, und zum Herbste oder spätestens zum Anputzen des Weihnachtsbaumes wieder zu Hause zu sein, und etwas Hübsches daran zu hängen vom krösusreichen Onkel in San Franzisko, von der glücklich verheiratheten Cousine in Sydney, dem Schwager in Shanghai, der Tante in Jeddo oder Rangasaki und dem davongelaufenen Enkel, der inzwischen Kultusminister beim Sultan der Menschenfresser von Borneo geworden ist. Findet man jetzt schon überall auf der Erde deutsche Brüder, so sehe ich nicht ein, warum wir später nicht auch überall auf der Erde, Jeder wo anders, Onkeln, Tanten, Cousinen, Enkel und Schwiegermütter finden sollten.




Die Säugethiere Deutschlands in früherer Schöpfungsperiode.

Von C. Giebel.

Deutschland bietet uns gegenwärtig fast in allen seinen Theilen das Bild eines völlig kultivirten Landes. Alles Bewegliche und Lebendige in seiner natürlichen Staffage hat der Mensch im Verlaufe von zweitausend Jahren gewaltsam umgestaltet. Flüsse und Ströme sind in ihr schmales Bett gezwängt und durch schützende Dämme ihre drohenden Fluthen gefesselt, Teiche und Seen trocken gelegt, die dichtesten Waldungen entwurzelt, wüste Strecken in fruchtbare Gefilde verwandelt und die gefährlichen Thiere ausgerottet oder verdrängt. Wo zu Cäsar’s Zeiten noch der riesige Auerochs und das stattliche Elenn in weiten Wäldern weideten, wo Wolf und Luchs und Bär ungestört ihrer Beute auflauerten, wo Sümpfe und Moräste den Verkehr hemmten und öde Sandwüsten eine kümmerliche Vegetation nährten: da breiten sich jetzt üppige Wiesen und Auen von friedlichen Heerden bevölkert aus, unabsehbare Kornfelder wogen ihre fruchtreichen Aehren, Häusergruppen fesseln in Feld und Wald, in Berg und Thal den Blick, Landstraßen und Schienenwege, kein Hinderniß achtend, durchziehen nach allen Richtungen das Land.

So gewaltig aber auch der Einfluß der menschlichen Kultur auf die Physiognomie der Landschaft ist, so vernichtend und schaffend sie auch in die natürlichen Verhältnisse eingreift: so bleibt sie doch weit, weit hinter der Gewalt der gestaltenden Naturkräfte zurück. Diese versenken ganze Ländergebiete unter den Spiegel des Meeres und legen große Strecken des Meeresgrundes trocken, sie treiben Gebirgsmassen mit himmelanstrebenden Gipfeln aus dem Schooße der Erde hervor, zerrütten die festesten Felsenzinnen und stürzen Berge zusammen. Solch’ gewaltsamen Aenderungen der starren Formen folgt eine totale Umgestaltung alles Beweglichen und Lebendigen: Ströme werden zu Teichen und Seen aufgestauet, ihr Bette in andere Richtung verlegt, Wasserbecken durchbrechen ihre Ufer und entleeren sich, die ganze Pflanzen- und Thierwelt wird vernichtet und eine neue wuchert auf ihren Gräbern hervor.

Die Forschungen unseres Jahrhunderts in dem verschlossenen Bau der Erdfeste haben uns die Reihenfolge der großartigen Erscheinungen kennen gelehrt, welche von Anbeginn durch Millionen von Jahren hindurch gestaltend auf die Erdoberfläche wirkten. Wir kennen den vielfachen Wechsel von Land und Wasser, die allmächtige Hebung der kleinen und größern Gebirgsketten, die Pflanzen- und Thierwelt in ihren wechselnden Gestalten durch alle Epochen der Schöpfung hindurch, die ganze Bildungsgeschichte der festen Erdrinde. Und diese Bilder der Vorzeit sind in ihren Hauptzügen bereits allgemein bekannt, so daß eine specielle Charakteristik einzelner Züge nicht mehr räthselhaften Hieroglyphen gleicht. Die Säugethiere unseres deutschen Vaterlandes in den letzten Epochen, so auffallend sie zum größeren Theil auch von denen abweichen, welche heute unsere Wälder und Felder bewohnen, sind für uns keine räthselhaften Ungeheuer mehr. Wir reihen sie Glied an Glied und finden immer mehr und mehr bekannte und befreundete Gestalten darunter. Sie interessiren uns mehr als die andern Thiere, da sie unmittelbar vor dem Auftreten des Menschengeschlechtes – in die secundäre Periode reicht ihre Existenz nicht zurück – die alleinige und freie Herrschaft führten und die Krone der Schöpfung bildeten.

Wir wollen unsere Revue mit den größten und auffallendsten Gestalten beginnen, mit den großen Pflanzenfressern, deren Existenz für die menschliche Oekonomie in der gegenwärtigen Schöpfung von der höchsten Wichtigkeit ist. In ihrer Organisation in mehrern wesentlichen Punkten übereinstimmend, sind diese großen Pflanzenfresser von den Zoologen in eine Hauptgruppe, die Hufthiere, vereinigt worden und zwar als Einhufer, Wiederkäuer und Vielhufer oder Pachydermen. Wir haben heute noch in Deutschland Repräsentanten dieser drei großen Familien, aber freilich nur spärliche gegen ihre Vertretung in der tertiären und der diluvialen Epoche.

Von den Pachydermen oder Dickhäutern ist jetzt nur ein einziges, der kleinste Repräsentant bei uns heimisch, das Schwein, wild in Rudeln unsere Wälder durchwühlend, gezähmt, für die Küche unentbehrlich. Das zahme Schwein, specifisch vom wilden Eber nicht verschieden, ist zugleich der einzige Dickhäuter, der sich gegenwärtig fast über die ganze Erde verbreitet, alle übrigen, groß und klein, haben sich mit Eintritt der gegenwärtigen Ordnung der Dinge in die wärmeren Klimate zurückgezogen und bewohnen auch hier nur beschränkte Gebiete. Der Elephant und das Nashorn gehören Asien und Afrika, der Tapir Asien und Südamerika, das Flußpferd nur Afrika, und die Schweine allen drei Welttheilen, aber auch in eigenthümlichen Gattungen. Alle lebten einst friedlich auf deutschem Boden beisammen und in größerer Mannigfaltigkeit als sie jetzt über Welttheile zerstreut sind.

Das Schwein ist uns aus der diluvialen Epoche in einer Art bekannt, welche sich besonders durch ihre längere und breitere Schnauze, also jedenfalls durch mehr wühlerisches Naturell und Gefräßigkeit von dem lebenden Schweine unterscheidet. Sie war jedoch viel seltener als unser Eber, der freilich auch aus manchen Jagdrevieren schon verschwunden ist, denn die Fossilreste finden sich nur sparsam in fränkischen und westphälischen Höhlen. Dieser gewöhnlichen diluvialen Art ging eine andere von robusterem Bau und größer, im übrigen Habitus aber nicht eigenthümliche Art in der tertiären Epoche voraus, und in deren Gesellschaft eine generisch eigenthümliche, welche im Zahn- und Skeletbau die Mitte zwischen unserem und dem zierlichen Hirscheber mit seinen geweihartigen Hauern auf den molluckischen Inseln hält. Dieser Prototypus bewohnte das südliche Deutschland und die Schweiz.

Das plumpe Flußpferd, in seiner äußern Erscheinung den ungeheuer voluminösen Rumpf auf den niedrigsten Beinen, plumper und unbeholfener als irgend ein anderes riesiges Landthier, bewohnte einst die Ufer der großen Gewässer Süddeutschlands und Frankreichs. Ein wahres Kind der Urwelt, denn sein Rumpf und Kopf waren noch größer, sein Beine noch kürzer und dicker als bei dem heutigen afrikanischen. Es scheint seine Existenz bis an die Schwelle der Gegenwart gefristet zu haben, denn dafür spricht das Vorkommen eines Zahnes auf dem Grunde eines Torfmoores in der Nähe von Erfurt. Es dehnte sein Vaterland über einen großen Theil Europa’s aus.

Ganz gemeine Thiere waren einst in unserem Vaterlande die Rhinoceroten und Elephanten, würdige Genossen des Flußpferdes. Das heutige Nashorn am Cap zeichnet sich durch Größe und Plumpheit, durch den Mangel an Schneidezähnen im ausgewachsenen Alter, und durch zwei Hörner, ein größeres auf der Nase, ein kleineres dahinter, zwischen den Augen vor allen übrigen Arten aus. Ihm ganz nah verwandt war das diluviale Nashorn, welches nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa bis in den höchsten Norden häufig verbreitet war. Denn ihm gehören die vollständigen Cadaver, welche im Eise des Polarmeeres entdeckt worden sind, und die mit ihrem Schicksalsgenossen, dem Mammut, lange Zeit hindurch ein tropisches Klima in der Diluvialzeit an Stelle der heutigen Alles erstarrenden Kälte sprechend beweisen sollten. [654] Als ob diese Riesen mit ihrer kugelfesten Haut und in den dichtesten Wolfspelz gehüllt nicht das heutige Klima Sibiriens hätten ertragen können, dessen Nadelholzwaldungen ihnen doch eben so reichliche Nahrung, wie dem heutigen die tropische Vegetation lieferten. Außer dem dichten und langen Pelze, der dem plumpen Coloß gewiß ein ganz wundersames Ansehen verlieh, unterschied sich das diluviale Nashorn von dem am Cap lebenden durch einen viel längeren Kopf mit ungeheuer großem Horn auf der Nase. Dieses Horn, einst für die Klaue des fabelhaften Vogel Greif gehalten, war so groß und schwer, daß die Nasenbeine einer knöchernen Stütze statt der weichen knorpeligen bei der lebenden Art bedurften, um nicht unter dessen Last zusammen zu brechen. Gehen wir über die diluviale Epoche hinaus, die tertiäre Periode: so begegnen wir zweien andern Nashornarten in Deutschland, welche den heutigen durch große Schneidezähne ausgezeichneten asiatischen näher verwandt sind. Die eine derselben hatte zwei Hörner und die andere war hornlos, ein wahres Nashorn ohne Horn, übrigens leicht und zierlich gebauet, soweit davon bei einem Mitgliede einer plumpen und unbeholfenen Familie überhaupt die Rede sein kann.

Der Zeitgenosse des diluvialen Nashornes war das Mammut, gleich häufig, gleich weit verbreitet, gleich innig mit dem heutigen Elephant verwandt, doch nicht mit dem afrikanischen, sondern mit dem asiatischen, unterschieden nur durch robusteren Knochenbau, kleineren Kopf, schwächeren Brustkasten, kürzere und dickere Beine und langen zottigen Pelz. Die riesigen Stoßzähne, die wir hier und da im Diluvialboden finden, und die aus Sibirien frisch und wohl erhalten noch als Elfenbein in den Handel gebracht werden, sind in keiner Weise von denen unseres Elephanten unterschieden. Auch bei diesem erreichen dieselben gigantische Dimensionen. Aber wie Deutschland einst afrikanische und asiatische Rhinoceroten nährte, so vereinte es in seinen engen Grenzen auch die Elephanten beider Welttheile. Auch der heutige afrikanische Elephant hatte seinen Repräsentanten bei uns in der Diluvialzeit. Die rautenförmigen Schmelzfiguren auf der Kaufläche seiner Backenzähne unterscheiden diesen kleinern, wildern Elephanten sehr leicht von dem großen gutmüthigen und gelehrten Asiaten. Vielleicht war das Naturell der Arten in der Urzeit ein umgekehrtes, wenigstens war der afrikanische Repräsentant nur in sehr geringer Anzahl vorhanden, und scheint gegen das eigentliche Mammut nirgends in Europa aufgekommen zu sein. Die Ueberreste werden nur ganz sparsam und vereinzelt gefunden.

Bevor die Elephanten Deutschland und die Erdoberfläche überhaupt bevölkerten, lebte bei uns das Mastodon, eben so riesenhaft, mit demselben Rüssel und denselben Stoßzähnen, unterschieden aber durch kleine gerade Stoßzähne im Unterkiefer, durch gewurzelte Backzähne mit zitzenförmigen Schmelzhöckern und gestreckterem Rumpf. Dieser Riese verschwand aus Europa, um mit Eintritt der Diluvialepoche in Amerika in neuer Gestalt zu erscheinen und dort dem Mammut Gesellschaft zu leisten. Er erlag der Diluvialkatastrophe.

Endlich haben wir noch des Tapirs zu gedenken, der durch seine geringe Größe, seinen kurzen Rüssel, die vier- und dreizehigen Füße, die sechs Schneidezähne, Eckzähne und sechs bis sieben Backzähne mit dachförmigen Querjochen merkwürdig von seinen riesigen Verwandten sich auszeichnet. Jetzt nach Indien und Südamerika verbannt, mischte er sich einst unter die Riesenthiere Deutschlands, denn wir kennen seine Ueberreste aus tertiären Gebilden und spärlicher aus der sundwicher Höhle. Damals scheint er die heutige Größe noch nicht erreicht zu haben.

Mit den eben aufgezählten Gestalten ist die ganze Mannigfaltigkeit der heutigen Dickhäuter erschöpft, aber nicht der antediluvianischen. Unter dieser treffen wir noch ganz fremdartige Gestalten, ausgezeichnete Typen der Urwelt, aber als Vorgänger der erwähnten, nicht als Zeitgenossen der Mammute, Mastodonten und Rhinoceroten. In der ältern Tertiärzeit lebten im südlichen Deutschland, zahlreicher und mannigfaltiger jedoch weiter nach Westen in Frankreich und England, die gerüsselten Paläotherien und langgeschwänzten Anoplotherien. Beide waren leicht gebauete, hochbeinige, schlanke Dickhäuter mit drei Hufen an jedem Fuße. Die Paläotherien schwankten in der Größe je nach den Arten von der des Kaninchens bis zur Pferdegröße, in der Organisation aber schließen sie sich den Tapiren zunächst an und vermischen dessen Eigenthümlichkeiten mit den Charakteren des Pferdes und zum Theil auch des Nashornes. In ähnlicher Weise verbinden die Anoplotherien die Charaktere der heutigen Wiederkäuer, Rhinoceroten und Tapire.

Die Anoplotherien führen uns zu der großen Familie der Wiederkäuer, unter denen wir die nützlichsten Hausthiere finden. Bei uns sind bekanntlich der Stier, das Schaf und die Ziege, die gezähmten Mitglieder dieser Gruppe, im freien Naturzustande bewohnen die deutschen Wälder und Gebirge das Reh, der Edelhirsch, das Elenn, der noch weiter zurückgedrängte Auerochs und die Gemse. Auch den Steinbock der Alpen können wir noch erwähnen, aber der Damhirsch ist von der Südseite der Alpen her erst bei uns eingeführt, und gedeihet nur in Gehegen. Die frühern Schöpfungsperioden enthalten auch hier in den engen Gränzen Deutschlands einen reicheren Formenkreis. Neben den während der Diluvialepoche in großen Heerden weidenden Vertretern des Hausstieres und Auerochsen treffen wir den nordamerikanischen Bisamstier. Dort im felsigen Lande der Eskimo’s die spärliche Weide suchend, treibt er sich freilich in Schaaren bis zu hundert und zweihundert Tausenden umher, während wir in unserm Diluvialboden nur sehr vereinzelte Schädel und Gebeine finden. Er dehnte sein Vaterland über das ganze nördliche Europa und Asien aus. Schafe, Ziegen und Antilopen scheinen nach den sparsamen Resten, die sie hinterlassen haben, keine bedeutende Rolle in Deutschland gespielt zu haben, wohl möglich, daß sie vor den gefräßigen und blutdürstigen Raubthieren nicht aufkommen konnten, da ihnen Waffen und Schutz, gegen deren Angriffe fehlten. Auch Rehe, Hirsche und das Elenn waren diesen Verfolgungen damals viel mehr als gegenwärtig ausgesetzt, dennoch finden wir ihre Ueberreste häufig. Mit ihnen, wie bei den Stieren wieder einen hochnordischen Bewohner, das Rennthier, welches heut zu Tage keinen Sommer mehr bei uns ausdauert, sondern bei aller Schonung und Pflege dem gemäßigten Klima erliegt. Einen schönern Schmuck als alle diese schön geweihten zierlichsten Zweihufer bilden, verlieh der Riesenhirsch den deutschen Wäldern der Vorzeit. Fast von der Größe des Elenn, also nicht von riesenhaftem Körperbau, war dieser Hirsch mit zwei langen und starken Geweihstangen geziert, deren äußerste Zacken an den breiten Schaufeln, bis auf vierzehn Fuß von einander sich entfernten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dieser schönste aller Hirsche die Diluvialkatastrophe überdauerte und in die gegenwärtige Schöpfung einging; der grimme Schalch der Nibelungen wird auf ihn gedeutet, und in Irland hat Hibbert seine Existenz bis in’s zwölfte Jahrhundert herauf nachgewiesen. Die Ueberreste unterstützen eine solche Deutung, indem sie noch ziemlich frisch erhalten am Häufigsten in Torfmooren lagern, deren Bildung bekanntlich noch fortschreitet. Die ältern Hirsche, deren Ueberreste in tertiären Gebirgsschichten sich finden, weichen weder in der Größe noch in der Organisation erheblich von unseren heutigen ab, aber in ihrer Gesellschaft treffen wir ebenfalls einen fremden Gast, einen Vertreter des an der Schneegränze des asiatischen Hochgebirges lebenden Moschusthieres. Ob auch er schon Moschus lieferte, läßt sich aus dem einzigen, in der rheinischen Braunkohle entdeckten Skelet nicht ersehen.

So lebten einst in Deutschland Vertreter all’ jener großen und stattlichen Landbewohner, die gegenwärtig über die ganze Erdoberfläche nach Ost und West, in die eisigen Regionen des höchsten Nordens und unter die brennenden Strahlen der tropischen Sonne zerstreut und fest gebannt sind: der Bisamochs und das Rennthier, die unserem gemäßigten Klima unrettbar erliegen, neben Elephanten, Flußpferden, Rhinoceroten und Tapiren, welche nur unter sorgsamer Pflege und auch dann nur kümmerlich unsere Winter überdauern.

Doch dürfen wir des edlen und stolzen Pferdes nicht vergessen, welches gegenwärtig, wenn auch erst eingeführt, bei uns völlig einheimisch ist. Es war während der Diluvialepoche über den größten Theil Europa’s in großer Anzahl verbreitet, ganz von demselben Bau wie heute. Auch in Amerika wo es erst seit der Entdeckung durch die Europäer wieder eingeführt worden, lebte während der Diluvialzeit ein Pferd, unterschieden von dem europäischen besonders durch kürzere und dickere Beine.

[655]

Aus dem Tagebuche eines britischen Legionärs.

Shorncliff. Im November.
II. Im Lager bei Shorncliff.


Sobald wir im Lager von Shorncliff eingetroffen waren, wurden wir vollständig bewaffnet. Von nun an ward der militärische Dienst strenge, indeß ist derselbe den Verhältnissen nach nicht drückend. Den ganzen Tag über wird der Soldat zum Theil mit Exerciren, zum Theil mit Putzen und den im Soldatenlebben unvermeidlichen Intriguen beschäftigt, die Stunden von 5 bis 9 Uhr Abends jedoch gehören ihm, wenn er nicht gerade Wachtdienst hat. Dann geht der Soldat, wenn das Wetter zu schlecht ist oder er nicht Lust hat, weiter zu gehen, in die Kantine, sonst aber nach Sandgate, Folkestone oder auch wohl nach Hythe. Folkestone ist vorzugsweise ein bei den Soldaten beliebter Ort. Alle diese Gänge können übrigens nur stattfinden, wenn der Soldat noch mindestens im Besitze einiger Pence sich befindet, was indessen nicht immer der Fall ist. In der Kantine des zweiten Regiments (jedes Regiment hat nämlich seine besondere Kantine) ist der Aufenthalt übrigens nicht sonderlich interessant. Entweder sind die Leute zu still, zu langweilig, oder das unausstehlichste Geschrei tönt aus ihren Kehlen. Nach echt deutscher Weise ist in dieser Kantine für die Unteroffiziere ein Zimmer reservirt, in welchem der gemeine Soldat nicht geduldet wird, wogegen von Seiten der Unteroffiziere auch auf diejenigen von ihnen scheel gesehen wird, welche sich einmal in das allgemeine Zimmer verlaufen. Die gebildeten Unteroffiziere beklagen sich über diese Einrichtung selbst; sie würden sich oft weit lieber mit den ihnen an Bildung oft noch überlegenen Gemeinen, als mit den ihnen an Rang zwar gleich, aber sonst oft sehr niedrig stehenden Unteroffizieren unterhalten. In der Kantine der übrigen Regimenter (das erste befindet sich freilich schon nicht mehr hier, wo ich schreibe) sitzen Unteroffiziere und Gemeine bunt durcheinander. Hier herrscht bei weitem mehr Leben. Das südlichere Blut, welches in diesen Regimentern vorherrscht, macht sich daher auch mehr geltend. Ein kurioses Kauderwelsch bekommt man oft freilich zu hören; neben den verschiedenen deutschen Dialekten das Französische der Belgier, dazwischen hier und da Englisch, und um die Sache vollständig zu machen, auch mitunter ein Wort Polnisch. Indessen verständigen sich die Leute mit einander so gut, wie es geht, je weniger die Rede sie an einander bindet, um so mehr thun es Porter und Ale.

Das Lager der Fremdenlegion bei Shorncliff.

Die Zufriedenheit, welche im Allgemeinen auf Helgoland herrschte, findet man hier nicht mehr. Es ist natürlich, weil der strengere Dienst manchen Mißvergnügten schafft. Die große Theuerung ist wohl mit das Hauptmotiv der Klagen. Dazu kommt, daß die Menage (für welche 8 Pence täglich abgezogen werden, so daß dem Mann täglich 5 Pence bleiben) hier in Wahrheit schlechter ist, als auf Helgoland. Der Mann erhält täglich nur 3/4 Pfund Fleisch, während er auf Helgoland täglich ein Pfund bekam. Sehr viele Leute vermissen hier höchst ungern das deutsche Schwarzbrot, statt dessen nur Weißbrot, das, nach vielfachen Klagen zu urtheilen, nicht in gehörigem Maße verabreicht wird. Bei dem zweiten Regimente hört man bereits auch viele Klagen über die unregelmäßige Zahlung des Soldes, worüber ich die Mannschaften der übrigen Regimenter und der Kavallerie noch nicht habe klagen hören. Es ist möglich, daß die Schuld, wenn nicht an dem Regimentszahlmeister, so doch an den einzelnen Kompagniechefs liegt. Nutzen wird durch ein solches Verfahren wahrhaftig nicht geschafft. Man rechne ferner hinzu, daß von der auf Helgoland versprochenen Gratification von einem Pfund Sterling für gutes Betragen hier gar nicht die Rede ist. So ist es wohl erklärlich, daß die Zahl der Mißvergnügten, und gerade im zweiten Regimente, dessen Disciplin [656] sonst sehr gelobt und anerkannt wird, nicht gering ist. Die neulich von der Times gemachte Aeußerung: „Raisonneure und Unzufriedene gäbe es überall; aber vielleicht seien sie in keinem Corps in so geringer Anzahl vorhanden, als in der britisch-deutschen Legion“ beruht wirklich nicht ganz auf Wahrheit. Der Unmuth macht sich sehr häufig in Witzreden Luft; als Probe davon führe ich Ihnen an, daß der Soldat die glänzenden Buchstaben B. F. L., welche auf allen Knöpfen und an Mütze und Czako prangen, nicht als das officielle „British Foreign Legion“, sondern als „Betrogene Fremde Leute“ deutet.

So ist denn leicht zu begreifen, daß die Desertionen hierorts weit häufiger vorkommen, als von Helgoland aus. Dieselben stehen wirklich in gar keinem Verhältnisse zu einander. Kurz vor meiner Ankunft war sogar eine ganze Patrouille, etwa 35 bis 40 Mann, mit einem Lieutenant vom ersten Jägerregiment an der Spitze, durchgebrannt oder ausgerückt, um mich eines soldatisch-technischen Ausdrucks zu bedienen. Wenige Tage, nachdem ich hierher gekommen, desertirten drei Lieutenants vom 3. leichten Infanterieregimente. Von Desertionen der Gemeinen hört man sehr häufig, jedoch muß ich wieder bemerken, daß bei dem zweiten Infanterieregimente die Desertionen sehr selten sind. In den benachbarten Orten treiben sich sehr viel Seelenverkäufer umher, welche die Soldaten zur Desertion verleiten, um sie für holländische Dienste anzuwerben. Bei den nahen Beziehungen, in welchen der Hof zu Haag zu dem zu Petersburg steht, könnte man versucht werden, an russischen Einfluß zu denken. Indeß muß man erwägen, daß Holland für den Dienst in Ostindien, der sehr viel Leute verschluckt, stets geworben hat. Jenen Werbern wird von hier aus natürlich eifrig nachgespürt und ihre Aufbringung wird mit Prämien honorirt. Aber es gehen weit mehr Soldaten durch, als Werber eingefangen werden. In Betreff der drei Lieutenants vom 3. Regimente, von denen ich Ihnen oben schrieb, kann ich Ihnen noch mittheilen, daß dieselben in London eingefangen sind.

Nach dem, was ich oben schrieb, wird man auch leicht begreifen, daß sehr viele Vorgesetzte bei den Soldaten nicht absonderlich gut angeschrieben sind. Wenn nun auch Verbal- oder gar Realinjurien gegen dieselben fast gar nicht vorkommen, so ging doch eines Tages die Rede, daß nach dem Feldwebel der 6. Kompagnie des 2. Infanterieregiments, Kaiser, eine als berliner Polizist früher nicht unbekannte Größe, von einem Soldaten der 6. Kompagnie geschossen worden sei. Die Sache reducirt sich nun freilich ganz einfach darauf, daß Kaiser, während die Kompagnie ein blindes Feuer unterhielt, unvorsichtig vor die Fronte derselben trat, und so ziemlich dicht vor den Gewehrmündungen durch einen Pfropfen an dem einen Arme gestreift wurde. Man kann aber aus dem Umstande, daß jenes Gerücht leicht vielseitigen Glauben fand, auf die Stimmung im Allgemeinen schließen. Uebrigens ist die Unzufriedenheit ächt deutscher Natur. Wenn die Leute eben von Klagen überfließen über den Betrug, der ihnen angeblich gespielt sein soll, und ihre Vorgesetzten zu allen Teufeln wünschen, so hallen doch im nächsten Augenblicke die Lüfte von den loyalsten Vivats wieder.

Die hölzernen Baraken, in welchen hier im Lager die Soldaten liegen, fassen je 25 Mann. Der Raum in ihnen ist ziemlich beschränkt, so schmal auch die einzelnen Bettstellen sind. Letztere waren auf Helgoland breiter und bequemer. An sonstigem Mobiliar hat jede Barake zwei bis drei Tische. Seine wenige Habe, die der Soldat nicht immer in den Tornister oder Brotbeutel stecken kann, muß er auf dem sich an beiden Längeseiten der Barake befindlichen Gesims über seinem Bette verwahren. Die Wände der Küchen wie die der Kantinen sind ganz von Eisenblech. Letztere, deren Einrichtung auf Helgoland höchst unangenehm war, muß man in Betreff der darin herrschenden Reinlichkeit und im Interesse der Sittlichkeit loben. Jedes Privet ist abgesondert für sich, was auf Helgoland nicht der Fall war.

Durch das fortwährende Regenwetter ist das Lager fast zu einer großen Pfütze geworden. Für die Instandsetzung der Wege ist namentlich, wo das 2. Regiment liegt, noch gar nichts geschehen, was für den Soldaten um so schlimmer ist, da in Betreff der Sauberkeit seines Anzuges doch immer gewisse Ansprüche an ihn gemacht werden. Die Unannehmlichkeit des Schmutzes wird noch erhöht durch die furchtbare Finsterniß, welche des Abends im Lager herrscht. Freilich befinden sich zur Befestigung von Laternen an den geeigneten Stellen längst die eisernen Arme, aber die Laternen lassen noch immer auf sich warten.

Mit dem 1. Infanterie-Regimente ist auch der Feldprediger, welcher der ersten Brigade beigegeben ist, von hier fortgegangen. Bis dahin war, wenn es das Wetter irgend erlaubte, jeden Sonntag Kirchenparade. Der Feldprediger besuchte auch wöchentlich regelmäßig die Hospitäler der einzelnen Regimenter, und gab den Kranken die Schillingsbücher des „Rauhen Hauses“ zu Hamburg, sowie, was Vielen gewiß willkommener war, auch die berliner Vossische Zeitung und die Indépendance belge zum Lesen. In jedem Hospitale befinden sich zwei deutsche Bibeln zum Gebrauch für die Kranken. Sehr viele Soldaten haben sich dabei auf eigene Kosten die Stereotypausgabe des neuen Testaments der britischen und ausländischen Bibelgesellschaft zu London angeschafft. Ein Exemplar kostet sechs Pence. Angeboten werden sie im Lager von Umherträgern, gerade wie Brot, Butter, Käse, Eier und andere Sachen, genugsam. Es macht einen eigenen Eindruck, diese Bücher oft in den Händen solcher zu sehen, deren Mund sonst von Gemeinheiten überfließt. Die praktischen Leute haben sich kleine Lehrbücher der englischen Sprache angeschafft. Leider hat man aber zum Studiren nur zu wenig Zeit, und ungestört ist man fast nie. Sonst ist hier an gute deutsche Lektüre nicht zu denken. Vielleicht würde eine deutsche Leihbibliothek von nur mäßigem Umfange in Sandgate ganz gut rentiren. Die sehr unvollkommene Leihbibliothek auf Helgoland wenigstens erfreute sich bei den Soldaten eines sehr guten Zuspruchs, und konnte durch den oft raschen Abgang mancher Leser nicht leicht zu Schaden kommen, da der Bibliothekar, so unkultivirt er sonst war, doch die Schlauheit besaß, kein Buch ohne einen Einsatz von einem Thaler Courant zu verleihen.

Die Witterung ist übrigens schon sehr empfindlich, und man muß stark heitzen, um die Baraken nur einigermaßen warm zu erhalten. Vielen wird deshalb die Uebersiedlung nach einem südlichern Klima sehr erwünscht. Soldaten sowohl als Offiziere erfahren jedoch vorher nichts Gewisses darüber. In Ermangelung positiver Nachrichten wimmelt es daher auch von Gerüchten, deren eines in der Regel noch unsinniger ist als das andere. So wurde kürzlich als ganz bestimmt versichert, daß zwischen den Alliirten und Rußland ein Waffenstillstand bis zum Mai künftigen Jahres abgeschlossen sei; dann hieß es wieder, Preußen und Oesterreich hätten den Westmächten den Krieg erklärt; zuletzt kam gar noch die Nachricht, daß in Berlin eine große Revolution ausgebrochen sei. Mancher Betheiligte wurde durch das Gerücht beunruhigt, die dänische Regierung habe diejenigen ihrer Unterthanen, welche in die Fremdenlegion getreten, reklamirt; eine allgemeine Sensation wurde aber durch das Gerede hervorgerufen, Rußland würde die Legionäre nicht als Kriegsgefangene vom englischen Heere betrachten, sondern dieselben einfach an ihre betreffenden Regierungen ausliefern. Manchem, wie z. B. mir, könnte diese Eventualität durchaus nicht in einem unangenehmen Lichte erscheinen; indessen möchte manchem Legionär das Wiedersehen ihrer Heimath vor dem Ablauf gewisser Verjährungsfristen wohl nicht gerade willkommen sein. Das letztgenannte Gerücht hat noch am Meisten einen Anstrich von Glaubwürdigkeit, der jedoch bei näherer Betrachtung verschwinden muß. Trotzdem, daß eins jener Gerüchte stets das andere verdrängt, und noch niemals eins sich als wahr erwiesen hat, findet doch die Fama hier ihre Gläubigen schaarenweis, und ich armer Teufel habe ob meiner skeptischen Natur deshalb viel zu erdulden.

Trotzdem, wie ich sagte, die Witterung jetzt schon ziemlich rauh ist, stellt sich das Verhältniß der Kranken zu den Gesunden doch durchaus nicht ungünstig heraus. Mehr als 4 bis 5 Prozent Kranke sind nicht vorhanden, Todesfälle sind, so lange ich hier bin und so viel mir bekannt ist, mit Ausnahme eines einzigen, gar nicht vorgekommen. Das Lagerleben selbst hat gewiß noch keine Krankheiten erzeugt, namentlich keine Spur von Epidemien (ich berücksichtige da bei aber nicht den verflossenen Sommer).

Eine bedenkliche Folge hat die hier herrschende Theuerung, verbunden mit der Unregelmäßigkeit in der Auszahlung des Soldes, von der ich oben sprach, bereits gehabt. Die meisten Soldaten finden durchaus nichts darin, mancherlei Gegenstände, namentlich Kartoffeln, Kohlen, Holz etc., wo sie dieselben nur antreffen, an sich zu nehmen, und in ihrem Nutzen zu verwenden. In der Soldatensprache wird dieses Verfahren „Punktiren“ genannt; die gewöhnliche Sprache wird freilich kein anderes Wort als Stehlen dafür haben. Auch hat es bei den genannten Gegenständen noch nicht [657] sein Bewenden. Unternehmende Punktirer suchen die Kantinen und Wirthshäuser der benachbarten Oerter heim, und wehe den Flaschen, Gläsern und überhaupt allen transportabeln Gegenständen, welche der Wirth nicht wie ein zweiter Argos zu bewachen versteht. Dieses Punktirsystem muß nothwendig auf die Demoralisation der Truppen hinwirken. Schon hört man vielfach über Kameradendiebstahl klagen; gebe Gott, daß es nicht noch schlimmer kommen möge!

Ich erzählte Ihnen oben von dem frühern Konstabler-Wachtmeister Kaiser. Noch eine andere berliner Pflanze ist jetzt hierher versetzt, Herr Gödsche, Postsekretär a. D., bekannt geworden als Zeuge im Prozeß Waldeck. Er ist gegenwärtig Unteroffizier bei der 7. Kompagnie des 2. Infanterie-Regiments. Auf geschehene Anrede soll indeß der hiesige Gödsche erklärt haben, daß er durchaus nicht jener berliner Gödsche sei und mit jenem nichts zu schaffen habe.

Es ist übrigens erstaunlich, nach und nach zu erfahren, wie viel Leute bei der Anwerbung ihren Namen verändert und einen falschen angenommen haben. Es kommt daher oft vor, daß wenn Jemand hört, es befinde sich noch ein Landsmann von ihm aus dem gleichen Orte, wie er, bei dem Regimente, und man nennt ihm den Namen desselben, er sich nicht erinnern kann, jemals einen Menschen mit solchem Namen gekannt zu haben; sobald er den angeblichen Landsmann aber selber erblickt, erkennt er in ihm einen alten Freund, den er schon lange, aber freilich bis jetzt immer unter einem ganz anderen Namen gekannt hat. Manche Namen der Legionäre sind gar zu kurios gewählt, als daß man es ihnen nicht auf den ersten Blick ansehen müßte, daß die jetzigen Inhaber sie nicht von ihrer Geburt an getragen haben.

Wegen des fortwährenden schlechten Wetters habe ich von den drei erlaubten Ortschaften bis jetzt nur Sandgate, dieses aber bereits verschiedene Male besucht. Sandgate ist ein Flecken, in welchem seiner angenehmen Lage wegen während des Sommers viel wohlhabende Leute wohnen, während der Ort sonst im Winter ziemlich verödet sein soll. Gegenwärtig hat Sandgate noch ein einigermaßen lebhaftes Ansehen. Der Ort ist gewiß nicht so groß als Buxtehude oder Schöppenstedt, hat aber Läden, die an Eleganz und Reichhaltigkeit hinter denen von Hannover und ähnlichen Städten nicht zurückstehen. Und Sandgate hat seine Gasbeleuchtung. Ach, wenn werden Buxtehude oder Schöppenstedt jemals von Gasflammen erhellt werden! Man merkt hier leicht den Unterschied zwischen den deutschen und den englischen Verhältnissen. Uebrigens bietet sich unsern Blicken in Sandgate ein deutsches Bierhaus dar, welches auf seinem Schilde nicht nur diese Worte trägt, sondern auch die schwarz-roth-goldene Fahne von seinem Giebel aus wehen läßt. An welchem Orte Deutschlands kann man jetzt noch diese Fahne so frei flattern sehen? Uebrigens ist in diesem deutschen Wirthshause nichts weiter deutsch, als der Kellner und die Zeitung, Speisen und Getränke sowohl als deren Preise sind vollkommen englisch. Die Zeitung, welche man hier findet, ist die kölnische. Für jede Nummer, welche man liest, muß man einen Sixpence (4 gGr.) deponiren, welchen man bei der Wiederabgabe des Blattes zurückerhält. Zu dieser Vorsicht ist der Wirth gewiß durch früheres „Punktiren“ der Soldaten gekommen.




Mitte November. 

Heute beginne ich mit einigen Nachträgen. Jene Offiziere vom dritten leichten Infanterieregimente, welche desertirt und in London wieder eingefangen worden waren, hatten, als ich meinen vorigen Bericht an Sie abschickte, ihr Urtheil noch nicht empfangen. Sie wurden später gefangen in’s Lager geführt, und am 14. November wurde ihnen vor den sämmtlichen hier anwesenden in Parade aufgestellten Truppen das Urtheil gesprochen, welches der Generalmajor von Stutterheim mit einer wahren Donnerstimme verkündete. Alle drei, von Woina, Rotzol und von Proczinsky (von Geburt Preußen) wurden infam kassirt und mit Schimpf und Schande von der Legion fortgejagt. Zwei von ihnen wurden nicht nur des Verbrechens der Desertion, sondern auch des Diebstahls für schuldig erklärt (richtiger wohl der Unterschlagung), indem sie Kompagniegelder, im Betrage von etwa 80 Pfund Sterling, mit sich fortgenommen. Zwei der Inkulpaten hatten auf der Flucht ihre Degen in’s Meer geworfen, „sie mögen dort rosten,“ sagte der General; der dritte Degen wurde Angesichts seinem frühern Inhabers vom Profoß zerbrochen. Als die Unglücklichen ihr Urtheil empfangen, wurden sie von einer geringen militärischen Bedeckung bis an das Ende des Exercierplatzes in der Richtung nach Hythe zu geführt, dann aber ihrem Schicksale überlassen.

Das Verbrechen der Geächteten erscheint um so auffallender und unverzeihlicher, wenn man erwägt, daß dieselben, oder mindestens zwei von ihnen, während der kurzen Zeit ihres Hierseins das rasche Avancement von Privaten (gemeinen Soldaten) bis zum Ensigne (Fähndrich, oder nach deutschen Verhältnissen Secondelieutenant) durchgemacht hatten. Ihre Strafe muß in den Augen eines jeden Offiziers als die schlimmste erscheinen, die sie treffen konnte, aber mit dem Maße der Offiziere messen bei weitem nicht alle Soldaten. Manche von diesen beneiden geradezu die Geächteten. „Nun haben sie ja, was sie wollten,“ ist eine Aeußerung, welche in Bezug auf dieselben unzählige Male gemacht worden ist. Gewiß hätte man besser gethan, die Unwürdigen, wenn man sie mit der Todesstrafe verschonen wollte, mit einer mehrjährigen Deportation zu bestrafen.

In Betreff des angeblichen Goedsche aus Berlin, muß ich Ihnen melden, daß das fragliche Individuum, welches sich übriegens Götsch nennt, von vielen Berlinern nicht für Gödsche, sondern für dessen Geistesverwandten Ohm, der im Prozeß Waldeck eine wo möglich noch zweideutigere Rolle spielte, gehalten wird. Daß der mysteriöse Götsch übrigens eine jener beiden berüchtigten Persönlichkeiten sei, daran zweifelt bei uns fast Niemand.

Am 10. November führte ein stationirtes Transportschiff 750 Mann (71/2 Kompagnie) vom zweiten Jägerregiment nebst einigen Kavalleristen von Helgoland hierher. Mit der Bildung der noch fehlenden 21/2 Kompagnien jenes Regiments wird auf Helgoland fortgefahren. Die Bildung des dritten leichten Infanterieregiments hierselbst ist vollendet, und man hat mit der Errichtung des vierten so eben begonnen. Sobald in Helgoland das zweite Jägerregiment kompletirt ist, wird man vermuthlich mit der Bildung des fünften leichten Infanterieregiments den Anfang machen.

Der Feldkaplan für die zweite Brigade ist angelangt. Es ist ein Herr Wilmans, früher Pastor-Adjunkt in irgend einem hannoverschen Orte. Der neue Feldprediger ist ein Mann von einnehmendem Aeußern, und, wie ich gute Gründe habe anzunehmen, der pietistischen Richtung, für welche hier durch unentgeltliche Austheilung von Traktätchen und Betgesängen fleißig gewirkt wird, nicht sehr zugethan.

In Verfolg des in meinem vorigen Schreiben erwähnten Vorfalls, welcher sich mit dem frühern berliner Constabler-Wachtmeister Kaiser zugetragen, kann ich Ihnen jetzt den durch denselben veranlaßten Regimentsbefehl vom 11. October mittheilen. Derselbe lautet: „Durch einen Zufall, welcher sich bei der an diesem Nachmittag stattfindenden Uebung mit Platzpatronen ereignete, empfing der Feldwebel Kaiser eine leichte Verwundung an der Schulter. Major Bathurst fühlt sich veranlaßt, dem ganzen Regiment zu versichern, daß er nach angestellter Untersuchung überzeugt ist, daß der Vorfall ein ganz zufälliger und wahrscheinlich durch die mit Bindfaden zusammengebundene auf das Pulver festgesetzte Patronenhülse veranlaßt worden ist. Major Bathurst glaubt, daß in der sechsten Kompagnie so wenig wie im ganzen Regimente ein Mann ist, der sich einer solchen feigen Handlung, als einen Angriff auf das Leben eines non commission officier, schuldig machen wird.“

Nachstehend lasse ich den Legionsbefehl vom 6. November folgen, die Einschiffung des ersten Jägerregiments nach Skutari betreffend: „Den Truppen der Legion wird hierdurch zur Kenntniß gebracht, daß das erste Jägercorps am 2. d. M. zu Skutari gelandet und dort von dem Brigadier Wooldridge in Empfang genommen worden ist. Das Corps hat auf der Ueberfahrt einen empfindlichen und beklagenswerten Verlust erlitten durch den Tod des Major Lettgau, eines durch die glänzendsten militärischen Eigenschaften ausgezeichneten Offiziers, dem in den Herzen Aller, die ihn kannten, stets das ehrendste Andenken bewahrt bleiben wird. Auch der Hauptmann Hake ist einem Leiden, das schon länger ihn heimsuchte, auf der Seereise erlegen.“

Zu den beunruhigenden Gerüchten, mit welchen die hiesige Luft geschwängert ist, gesellte sich in diesen Tagen auch das, daß das erste leichte Infanterieregiment, welches etwas später als das erste Jägerregiment von Portsmouth eingeschifft wurde, Schiffbruch erlitten habe und mit Mann und Maus untergegangen sei. Am [658] 16. November ist jedoch eine Depesche hier angelangt, nach welcher das erste leichte Regiment in Malta gelandet sei, von dort aber nach kurzem Aufenthalt dem ersten Jägerregimente nach Skutari folgen werde.

In meinem nächsten Schreiben werde ich Ihnen die Offizierlisten der verschiedenen Regimenter mittheilen, die vielleicht nicht ohne Interesse für manchen Freund und Bekannten im Vaterlande sein dürfte.


Blätter und Blüthen.

Norddeutsch und Schwäbisch. In dem soeben erschienenen Buche: „Ideal und Kritik“ wird sehr bitter über die sogenannte schwäbische Gemüthlichkeit und Sprache geurtheilt, namentlich kommt die Universitätsstadt Tübingen schlecht weg. „Die Schwaben“, heißt es, „sind ausschließlich. Jeden, der nicht in ihrem Lande geboren ist, halten sie für norddeutsch, was bei ihnen gleichbedeutend mit arrogant, unwissend, oberflächlich ist. Am Stärksten äußert sich dies bei den Stiftsköpfen, d. h. den Zöglingen des protestantischen Seminars in Tübingen. Weil aus ihrer Anstalt in Wahrheit rasch hinter einander einige Zierden der Wissenschaft, Männer wie Schelling, Hegel, Bauer, Strauß, Vischer hervorgegangen sind, so glauben sie, man brauche nur in dem Hause zu wohnen, um ein vollendeter Weltbeglücker zu sein oder zu werden – eine Arroganz, die eben so colossal und eben so naiv ist, wie die eines jetzigen nassauischen Staatsdieners, der in früherer Zeit immer ein Dichter sein wollte und während seines Aufenthaltes in Heidelberg sich auf die Schloßbank setzte, auf der Matthisson seine bekannte Abendelegie gedichtet hatte, und nun meinte, es müsse ihm gelingen, weil er auf der Bank sitze. Er hatte einige Reime aus seinem Vorbilde abgeschrieben und brachte heraus:

„Hier stehe ich im Mondenschein
Und leide, ach, welch’ Höllenpein!“

Etwas Besseres haben die Nachkommen der Hegel und Vischer auch wohl kaum geleistet. – Es ist eigenthümlich, daß wir den Schwaben (ich spreche hier immer speciell von Tübingen) durch unsere Sprache, welche sie affectirt finden, schon zuwider sind. Ueber die Schönheit des schwäbischen Dialektes etwas sagen zu wollen, ist überflüssig. Es liegt in ihm der eigenthümlichste Zauber, was auch die Verbreitung der Dorfgeschichten ungemein begünstigt hat. Wenn in Schwaben „ä nett’s Mädele,“ das „ä herzig’s Stimmele hat,“ sagt: „Magst mi – hast mi a gern, bist mir a gut?“ so klingt das freilich süß und wie Musik. Zu vergessen ist aber nicht, daß gedruckt steht: „magst, hast, bist,“ daß es aber in Wahrheit lautet: „magscht, hascht, bischt,“ und daß ferner „die nette Mädele, mit de herzige Stimmele“ sehr selten und in Tübingen gar nicht vorhanden sind. Die Sprache des Volkes ist unbestritten schön, aber die Sprache der Gebildeten – o Graus! sie hat alles Harte und Abschreckende, ohne etwas von dem Weichen und Melodischen des Volksdialekts zu besitzen. Ach! es klingt wahrlich wie Mozart, wenn Dr. Kraft in Tübingen, der eben nicht gerade ein herzig’s Stimmele hat, in der Archäologie beginnt: „Das Gröschte, Schönschte und Erhabenschte in der Kunscht der Plaschtik ischt;“ oder, wenn er gar begeistert von dem „Bruschtkaschte“ der medicäischen Venus spricht. – Glaube nicht Auerbach und seiner sentimentalen bestechenden Mosaikarbeit! Nur einmal, als ich Abends spät etwas erleuchtet von Lustnau nach Tübingen wankte und der Mond über dem Schlosse stand und die Gipfel der Berge und Bäume versilberte, so daß das Ganze blauweiß auf dunklem Grunde erschien, sah ich mit seinen Augen, sonst aber hatte ich nur ein Wort, um Alles in Allem auszudrücken; ein Wort, das hier das dritte der Studenten, das vierte des Bürgers, und ich weiß nicht das wie vielte in dem Munde der Damen ist. Es ist das Wort „saumäßig.“ Ein Tübinger (nicht nur die Studenten allein, sondern alle) findet etwas entweder saumäßig schön oder saumäßig häßlich. Börne behauptet, daß bei Anwesenheit von Henriette Sontag in Frankfurt alle Ausdrücke erschöpft worden. Hier hätte er einen neuen hören können. Als die Sontag in Stuttgart sang, verbreitete sich alsbald die Kritik durch Tübingen, daß sie saumäßig schön gesungen. Ebenso hat Therese Milanollo, als sie an einem mir unvergeßlichen Abende hier spielte, saumäßig gespielt, saumäßig dunkle Augen und einen saumäßigen Anstand gehabt. Setze dies Wort als Motto über das Ganze, und du hast die Wahrheit. In Tübingen ist Alles saumäßig schön.“





Für stille Stunden. Alle Freunde einer sinnig-gemüthvollen Poesie bitte ich die Anzeige am Schluß der heutigen Nummer nicht zu übersehen. Die „Palmen des Frieden“ haben sich trotz der Sündfluth von Gedichten, und obwohl erst vor einigen Wochen erschienen, rasch die Gunst des Publikums gewonnen und finden täglich mehr Freunde und mit diesen steigende Verbreitung. Ein reiches weiches Gemüth spricht sich hier in einfacher Weise aus, und das ist das Schöne an diesen Poesien, daß sie überall hin versöhnend und beruhigend wirken. Wie anerkennend sich auch die Kritik über diese Sammlung ausspricht, beweist eine Besprechung des bekannten Literarhistoriker Grässe im Dresdner Journal:

„Schon sind acht Jahre verflossen,“ heißt es dort, „als der Verfasser dieser Dichtungen, Ferdinand Stolle, ein Mann, dessen Name in jedem deutschen Gau einen guten Klang hat, den armen Erzgebirgern seinen Weihnachtsbaum anzündete und durch die herrlichen Früchte seiner Muse so manche Thräne trocknen half. Jetzt bietet er uns „Palmen des Frieden“ an, denen wir schon ihrer Tendenz wegen aus vollem Herzen einen eben so freudigen Willkommen verheißen dürfen, als seiner obgedachten ersten Gedichtsammlung allenthalben zu Theil ward. Dieses vortreffliche Liederbuch zerfällt in vier Theile: Frühling, Gottvertrauen, Lieder für das Herz und Saaten, von Gott gesäet, am Tage der Garben zu reifen, und reiht sich den besten Erzeugnissen der deutschen Lyrik im Laufe des jetzigen Jahrhunderts an. Obwohl die Haltung der einzelnen Dichtungen durchaus eine ernste, würdevolle ist, sehen wir doch überall die einfach sinnige Gemüthlichkeit eines alten Freundes, des „Dorfbarbiers,“ durchschimmern. Wir empfehlen daher dieses jüngste Kind seiner Muse, die immer noch so frisch, nur noch geläuterter ist als vor acht Jahren, allen Kreisen der Gesellschaft.

Als vorzüglich gelungen dürfen wir ohne Ausnahme die Lieder der zweiten und dritten Abtheilung, Gottvertrauen und Lieder für das Herz, betrachten, da sie mit einer wahrhaften Begeisterung empfunden sind. Die äußere Ausstattung ist übrigens dem trefflichen Inhalte vollkommen angemessen.“

E. K.




Palmen des Frieden.
Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise.
Dichtungen
von
Ferdinand Stolle.
eleg. geh. 27 Ngr. – prachtvoll gebunden 1 Thlr. 4 Ngr.
Widmung.

Du Wandrer auf des Lebens Pilgerwege,
O kehr’ vertrauend bei mir ein,
Auf daß Dein Haupt ich weich in Blumen lege
Und Quellgeriesel wiege sanft Dich ein.
Den Frühlingshimmel laß ich Dir erblauen,
Und athmet bang Dein krankes Herz,
Ich heil’ es Dir durch frommes Gottvertrauen
Und richt’ es segnend himmelwärts;
Was Gott mir gab an Frühling und an Frieden,
Geliebter Wandrer, sei auch Dir beschieden.

In diesen Widmungsversen spricht sich der ganze schöne Inhalt dieser gemüthreichsten aller neuern Gedichtsammlungen treu aus. Sie ist von Anfang bis Ende durchklungen von Frühling, Liebe und Frieden.

Die Leser der Gartenlaube, welche mit so großem Beifalle die vor einiger Zeit mitgetheilten Proben dieser Sammlung – wir erinnern an die schönen Lieder:

„O könnte mir ein Lied gelingen, Wie Gott es selbst in’s Herz mir schrieb etc.“ – „Wenn eine Mutter betet für ihr Kind etc,“ – „Was ist das Herz – es ist ein Blumengarten etc.“

begrüßten, werden diesen herrlichen Blumenstrauß, in welchem sich derselbe Geist, dasselbe Gemüth in schöner Form wiederspiegeln, gewiß doppelt willkommen heißen. Diese Palmen des Frieden in ihrer prachtvollen Ausstattung dürften unter den poetischen Geschenken, die sich Freundschaft und Liebe einander darbieten, mit Recht einen der ersten Plätze einnehmen.

Leipzig, December 1855.

Magazin für Literatur.

  1. Panama, bisher Provinz Neu-Granada’s, hat sich „in Folge der neuen Eisenbahn“ als selbstständige Republik constituirt und Justo Otrosemena zu ihrem provisorischen Präsidenten erwählt. Die provisorische National-Versammlung, unter Präsidentschaft Francisco Fabrega’s, ist damit beschäftigt, die Republik zu organisiren. Unter diesen Verhältnissen gewinnt das welthistorische Faktum der Panama-Eisenbahn ein besonderes Interesse.
  2. Wir brechen hier den Brief ab, da in Schilderung der Reise von Aspinwall bis New-York nichts von allgemeinem Interesse gegeben wird.
  3. Die englische Meile enthält 1760 Yards (1 Yard = 3 Fuß), die deutsche Meile 5866 Yards. Die englische Seemeile ist etwas mehr, als die Landmeile; wir können augenblicklich nicht angeben, wie viel und erinnern uns nur, daß es für Abschätzung von großen Entfernungen im Allgemeinen nicht bedeutend ist. Die mehr als 12,000 englischen Seemeilen zwischen Australien und England kommen etwa drittehalbtausend deutschen Meilen gleich. Die Barbarei von besondern Maßen, Münzen und Gewichten in fast jedem kleinen Neste von Land wird sich mit der steigenden Kultur und Abrundung des Weltverkehrs nicht mehr halten können.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verschieden
  2. Vorlage: Famile