Die Gartenlaube (1857)/Heft 25

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 25. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine Lebens-Versicherung.
Aus den Papieren eines Berliner Advocaten.
(Fortsetzung.)

Die Vermuthung lag nahe, daß das silberne Schachspiel eingeschmolzen und auf diese Weise die Möglichkeit der Entdeckung vereitelt war. Vielleicht verhielt es sich in ähnlicher Weise mit dem brabanter Kronthaler. Was den sogenannten Sterbethaler anlangte, so konnte derselbe längst verausgabt sein und sich in zehnter Hand befinden, ohne bei einem der zeitigen Besitzer eine besondere Aufmerksamkeit zu erregen, wenn derselbe nicht zufällig ein Numismatiker war. Diese Thaler haben nämlich die Besonderheit, daß sie in einer Abbreviatur der Jahreszahl und der Münzstätte Berlin (für welche das Zeichen A. üblich ist) das Datum des Sterbetages Friedrich des Großen enthalten, nämlich in dieser Form: 17. A. 86. (17. August 1786).

Inzwischen hatten die gerichtlichen Medicinalbeamten die chemische Analyse bewirkt, und sich in einem umständlichen Gutachten, welches den Gang des beobachteten Verfahrens mit größter Genauigkeit angab, übereinstimmend dahin erklärt, daß die chemische Untersuchung keine Spuren eines im Körper vorhandenen Giftstoffes nachgewiesen habe.

So waren drei Wochen nach dem Tode des Kriegsraths verflossen, ohne daß es gelungen war, der Sache durch neue Ermittellungen näher zu treten.

Eines Sonntags saß der Agent niedergeschlagen bei mir, um mir die Erfolglosigkeit seiner Anstrengungen zu berichten, als die Thür aufging und mein alter Freund, Mr. Pirrie, zu meiner freudigen Ueberraschung in Person eintrat. Nachdem er mir mit Herzlichkeit die Hand geschüttelt, begann er sogleich, zu mir und dem Agenten gewendet:

„Es ist nichts ermittelt worden?“

Wir zuckten mit den Achseln.

„Ich kann es mir denken,“ fuhr er in seiner gelassenen Weise fort, „der alte Bursche hat die Sache fein genug eingefädelt.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte ich, einigermaßen von dieser Auffassung überrascht. Der Agent hörte mit Spannung zu.

„Die Sache ist die,“ entgegnete Mr. Pirrie mit immer gleicher Gelassenheit, „daß man nicht wie ich zwanzigjährige Erfahrungen auf diesem Gebiete gemacht haben muß, um nicht instinctmäßig zu fühlen, was für eine Bewandtniß es mit diesem Todesfalle hat.“

„Sie sind also überzeugt –?“ warf der Agent ein.

„Ueberzeugt –? Never mind – was ist da zu sagen! Wir werden sehen. Hat sich ein Prätendent zur Versicherungssumme gemeldet?“

„Niemand.“

„Giebt es nicht mehrere Gerichtsbehörden am Orte, bei denen Testamente niedergelegt werden können?“

„Allerdings; aber nirgends befindet sich ein Testament des Verstorbenen.“

„Es ist nach Ihren Landesgesetzen unverwehrt, bei jeder Gerichtsbehörde des Landes sein Testament niederzulegen?“

„Allerdings.“

Mein Freund hatte sich erhoben, und war eine Zeit lang überlegend im Zimmer auf- und abgegangen.

„Ist es Ihnen recht,“ begann er wieder, „uns nach der Wohnung des Kriegsraths zu begleiten?“

Ich erklärte mich sofort bereit, bemerkte jedoch, daß der mit den Recherchen in dieser Sache speciell betraute Polizeibeamte die Schlüssel zur Wohnung besitze.

„Er erwartet uns schon,“ lautete die Antwort, „gehen wir!“

Mr. Pirrie hatte sich sofort nach seiner Ankunft zu dem betreffenden Polizeibeamten begeben, mit diesem bereits ausführlich verhandelt und den Eifer desselben durch die Aussicht auf eine bedeutende Belohnung auf’s Neue belebt. Wir trafen ihn, unser harrend, vor dem Hause, und begaben uns gemeinschaftlich in die Sterbewohnung. Mit einer Genauigkeit, deren Tendenz uns nicht ganz klar wurde, nahm der englische Anwalt alle Einzelnheiten der Wohnungsräume, in denen nichts verändert worden war, in Augenschein, untersuchte mit besonderer Sorgfalt die Dielen, den Ofen und den Kamin in der Küche, und ließ sich nochmals genau beschreiben, in welcher Lage der Todte gefunden worden war. Mit einem mitgebrachten Zollstabe maß er sodann die Entfernung des Bettes vom Boden.

„Sie sind von dem Resultat der chemischen Analyse unterrichtet?“ fragte ich, zu ihm tretend.

„Dies Resultat war vorherzusehen,“ antwortete er.

„Zweifeln Sie an der Richtigkeit desselben?“

„Das will ich nicht sagen. Aber ich war sicher, daß er sich nicht vergiftet hat. Wenigstens,“ setzte er hinzu, „was man so vergiften nennt. Verdammt schlauer Bursche das!“

„Ich fürchte,“ begann der Agent, „es wird uns nur ein Mittel übrig bleiben.“

„Und das wäre?“

„Die Frist abzuwarten, innerhalb deren der Anspruch auf die Versicherungssumme erlischt, wenn die rechtzeitige Meldung nicht erfolgt.“

„I beg pardon, Mr. Wichert,“ fiel der Anwalt ein, „Sie [338] sind verteufelt unschuldig in solchen Dingen, wenn Sie einen Augenblick daran zweifeln, daß sich vor Ablauf der Frist, und sei es eine Stunde vorher, der wohllegitimirte Erbe einstellen wird, um seine viertausend Pfund in guten blanken Sovereigns zu erheben. Doch – was sind das für Tritte – ?“

Wir horchten, vernahmen aber nichts.

Der Polizei-Beamte nahm das Wort: „Was glauben Sie, daß in der Sache noch gethan werden kann? Denn ich muß bekennen, daß ich ziemlich rathlos bin.“

„Die Sache ist die,“ begann Mr. Pirrie, „daß ich von vornherein gegen den Abschluß dieser Versicherung gewesen, aber im Verwaltungscomité überstimmt worden bin. Nun steht die Angelegenheit ganz einfach so, daß wir entweder beweisen müssen, der Versicherte habe durch Selbstmord seinen Tod gefunden, oder daß wir zahlen müssen. Der Fall, daß der Verstorbene durch gewaltsamen Tod von der Hand Anderer – ohne sein Verschulden – um’s Leben gekommen, ist für die Gesellschaft gleichgültig, wenn nicht erwiesen wird, daß der oder die Mörder identisch mit denjenigen Personen sind, an welche die Versicherungssumme zu zahlen ist. Daran ist nicht zu denken; man läßt sich nicht freiwillig von den nämlichen Personen den Hals umdrehen, denen man eine große Summe Geldes für einen solchen Liebesdienst zuwendet. Auch ist es noch nicht vorgekommen, daß alsdann ein solches Geschäft so glatt abläuft, wie es hier der Fall ist. Ich wiederhole es: die Sache ist viel zu glatt, um in Ordnung zu sein. Der Verstorbene besaß durchaus nicht die Mittel, die Police auf die Dauer zu entrichten. Sie haben mir selbst gesagt, wie gering der Werth seines ganzen Nachlasses ist. Wir haben es mit einem verdammt schlauen Burschen zu thun. Er hat seinen Plan lange vorbereitet, Alles auf’s Feinste durchdacht – aber dabei eben fassen wir ihn: er hat die Sache allzu fein präparirt. Man stirbt nicht von Ungefähr so parademäßig, wenngleich ich weiß, wie weit der Tic des ehemaligen Officiers gehen kann. Und damit ich Ihnen rundweg meine Meinung sage, mit was für einem Falle wir es hier zu thun haben: wir haben hier den Fall eines Selbstmordes mit Beihülfe einer anderen Person, welche entweder dazu gedient hat, den Selbstmord auszuführen, oder die Spuren desselben zu beseitigen.“

Der Polizeibeamte hatte mit achtungsvoller Aufmerksamkeit zugehört.

„Ich habe mir alle erdenkliche Mühe gegeben, die Spuren dieser Person zu ermitteln,“ begann er, „aber alle Nachforschungen sind fruchtlos gewesen, und ich verzweifle fast an der Möglichkeit –“

„Man muß an Nichts verzweifeln,“ fiel der Engländer ein, „haben Sie alle Hausbewohner vernommen?“

„Alle.“

„Wer wohnt hier oben, in der Dachwohnung?“

„Eine arme, unbescholtene Arbeiterfrau, die sich durch Waschen ernährt.“

„Ist diese auch vernommen?“

„Diese nicht. Sie liegt schon seit längerer Zeit in einer öffentlichen Heilanstalt.“

„Seit wann?“

„Seit dem Tage vor dem Todesfalle.“

„Und sie ist jetzt noch dort?“

„Ja.“

„Wissen Sie das bestimmt?“

„Gewiß.“

„Aber sie ist zu Hause –“

Der Polizeibeamte sah den Anwalt fragend an.

„Sie ist oben,“ fuhr dieser unbeirrt fort, „ich höre sie.“

„Das wäre seltsam!“ sprach der Beamte verwundert.

Wir horchten alle mit gespannter Aufmerksamkeit, vernahmen aber nicht das mindeste Geräusch.

„Verlieren wir nicht unnütz die Zeit,“ sagte Mr. Pirrie, „es ist Jemand oben in der Wohnung – entweder diese Frau, oder eine andere. Ueberzeugen Sie sich, und lassen Sie uns die alte Frau hier sehen.“

Der Polizeibeamte, entfernte sich, durch den bestimmten Ton des Engländers irre gemacht, und begab sich in die Dachwohnung. Wir harrten in schweigender Spannung; – nach wenigen Minuten trat er wirklich mit einer bejahrten, ärmlich gekleideten Frau in’s Zimmer, welche die Spuren einer kaum überstandenen schweren Krankheit an sich trug.

„Sie hatten Recht,“ sagte der Beamte überrascht, „sie ist heute Mittag aus der Kranken-Anstalt entlassen worden – die Meldung war bei mir noch nicht erfolgt.“

Mein Freund betrachtete die alte Frau aufmerksam und nöthigte sie, sich zu setzen. „Suchen Sie ganz genau festzustellen, seit wann sie ihre Wohnung verlassen hat,“ sprach er leise zum Beamten.

„Können Sie uns ganz genau sagen,“ begann dieser, „wann Sie zuletzt in Ihrer Wohnung waren, ehe Sie in’s Krankenhaus kamen?“

„Zuletzt war ich in meiner Wohnung in der nämlichen Nacht, in der der Herr hier – (sie wies in die Ecke, wo das Feldbett stand) – gestorben ist.“

Die alte Frau hatte das mit vollkommenster Harmlosigkeit ausgesprochen, ohne zu ahnen, wie überraschend diese Neuigkeit auf uns Alle wirken mußte. Der Polizeibeamte wurde roth vor Erstaunen; der Agent rieb sich aufgeregt die Hände, – Mr. Pirrie nickte nur ein paar Mal mit dem Kopfe.

Die Sache hing einfach genug zusammen. Das arme Weib gehörte zu jener beklagenswerthen Classe weiblicher Proletarier, welche ihren Lebensunterhalt als Wäscherinnen erwerben. Dieselben sind genöthigt, mitunter eine ganze Reihe von Nächten hintereinander am Waschtroge zu stehen, um einen Arbeitslohn zu gewinnen, welcher an sich noch immer kümmerlich genug, jedenfalls aber im Verhältniß zu anderen Beschäftigungen für erheblich gilt.

Die Waschfrau aus dem Hause des Kriegsrathes ernährte sich auf diese Weise, und da sie die meisten Nächte außerhalb des Hauses zubrachte, so waren die Hausgenossen gewöhnt, sie in der Regel als abwesend zu betrachten. Am Abend vor dem Tode des Kriegsraths war sie gegen zehn Uhr von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte sich schlafen gelegt, da sie am andern Morgen um zwei Uhr wieder bei der Wäsche sein mußte. Sie war bereits zwei Tage fort gewesen, Niemand hatte sie zurückkehren sehen, und so glaubte man, als man in der Frühe des nächsten Morgens ihre Wohnung verschlossen fand, sie sei noch auf ihrer letzten Arbeitsstelle. – So gut sollte es aber der Aermsten nicht ergehen. Wie sie erzählte, war sie fest eingeschlafen und in Folge der Anstrengung des vorhergehenden Tages erst gegen drei Uhr des Morgens wieder erwacht. Eilig habe sie sich angekleidet und zu der neuen Arbeit auf den Weg begeben. Unterweges sei sie von heftigen Brustkrämpfen befallen worden und außer Stande gewesen, an die Arbeit zu gehen, so daß sie durch mitleidige Vorübergehende nach der Polizeiwache getragen und von dort nach der Krankenanstalt befördert worden sei. Von dort habe man sie heute entlassen.

„Und woher wissen Sie, daß der Kriegsrath in derselben Nacht gestorben ist, in der Sie das Haus verließen?“ fragte sie der Polizeibeamte.

„Die Wärterin des Krankenhauses von meiner Station ist mit dem Dienstmädchen der Herrschaft in der ersten Etage bekannt; sie hatte es von dieser erfahren, und erzählte es mir. Ich war ordentlich erschrocken darüber und erinnerte mich gleich daran, was mir aufgefallen war, als ich das Haus verließ.“

Der Polizeibeamte hatte seine Ruhe vollkommen wieder gewonnen, und verrieth durch keine Miene, welches Interesse die Mittheilung der Waschfrau in uns erregte.

„Erzählen Sie doch!“ sprach er im gleichgültigen Tone.

Und die alte Frau erzählte. Als sie gegen drei Uhr des Morgens das Haus verlassen gewollt, sei es ihr vorgekommen, als ginge Jemand über den Hausflur und als würde die Hausthür zugeklinkt. Sie habe denn auch wirklich gefunden, daß die Hausthür nicht zugeschlossen gewesen sei, und als sie auf die Straße hinausgetreten, habe sie in der Mitte des Straßendammes einen Menschen stehen sehen, der nach den Fenstern des Hauses hinauf blickte. Wie der Mensch ihrer ansichtig geworden, habe er sich – erst langsam, dann in schnellerem Schritt – entfernt, und sei ihr aus dem Gesicht gekommen. Ob dieser Mensch im Hause gewesen, wisse sie nicht, wiedererkennen würde sie ihn schwerlich, da sie seine Gesichtszüge wegen der Dunkelheit nicht zu unterscheiden vermocht; wohl aber sei ihr seine Gestalt erinnerlich. Dem Anscheine nach wäre es ein junger, dem Arbeiterstande angehörender Mensch gewesen; darauf habe wenigstens seine Bekleidung: Mütze und Arbeitsjacke von dunklem Stoffe, hingedeutet.

Somit war in der Aussage der alten Wäscherin ein neuer Bestärkungsgrund für die Vermuthung gewonnen, daß in der Todesnacht eine fremde Person in der Wohnung des Kriegsrathes gewesen [339] sei. Der Hausschlüssel des Kriegsrathes fand sich am gewöhnlichen Platze vor; war der Fremde vermittelst dieses Schlüssels in das Haus gelangt? War ihm dasselbe von innen geöffnet worden? Das war nicht zu ermitteln. Von den Hausbewohnern hatte Niemand in jener Nacht nach zehn Uhr das Haus verlassen.

Aber als sollten alle weiteren Ermittelungen sich an das persönliche Erscheinen des englischen Anwalts knüpfen, so folgte der ersten Entdeckung bald eine zweite, wichtigere.

Der Sohn des Polizeibeamten, ein lebhafter Knabe von zwölf Jahren, hatte von den entwendeten Münzen reden hören, und sich von seinem Vater auseinander setzen lassen, wie ein solcher „Sterbethaler“ aussehe. Am Tage nach der Vernehmung der Waschfrau erzählte er seinem Vater bei Tische, er habe heute in der Schule einen solchen Sterbethaler gesehen, und zwar bei dem Sohne eines Subalternbeamten des Gerichts, der eine kleine Münzsammlung besitze. So zweifelhaft es auch schien, daß dieser Thaler eben der entwendete sein könne, so ließ es sich der eifrige Beamte doch nicht verdrießen, sofort in der Behausung des Knaben über den Ursprung des Geldstückes weitere Nachfrage zu halten. Der Knabe gab an, er habe diesen Thaler von dem Dienstmädchen seiner Eltern gegen anderes Geld aus seiner Sparbüchse eingetauscht, um das seltenere Geldstück seiner Sammlung einzuverleiben. Das Dienstmädchen mußte sich eine geraume Zeit besinnen, ehe es anzugeben vermochte, woher es den Thaler erhalten. Endlich erinnerte sie sich, daß sie diesen Thaler mit noch mehreren anderen Geldstücken in einem sogenannten Victualienladen herausbekommen habe, als sie mehrere Wirthschaftseinkäufe besorgt und mit einer Cassenanweisung von fünf Thalern bezahlt hatte.

Zum Inhaber dieses Victualienladens begab sich der Beamte zunächst und befragte ihn unter Vorzeigung der Münze, ob er anzugeben vermöge, von wem er dieses Geldstück erhalten habe.

„Es ist doch nicht falsch?“ war die erste Frage des ängstlichen Mannes.

Man beruhigte ihn und suchte sich zunächst zu vergewissern, daß dieser Thaler ihm auf irgend eine Weise kenntlich geworden sei. Er kannte ihn ganz genau.

„Denn,“ sagte er, „sehen Sie, weil mir der Thaler ein bischen fremd vorkam, hab’ ich ihn erst auf den Ladentisch auffallen lassen, um zu hören, ob es nicht etwa Blei wäre; und dann, hier ist auch noch das Zeichen, wo ich mit meinem Daumennagel eine kleine Schramme gekratzt habe.“

Die Wahrnehmung war richtig. Aber von wem hatte er das Geldstück erhalten? Er kannte den Mann nicht näher und bezeichnete ihn als einen Professionisten oder Arbeitsmann; möglicher Weise sei es ein Tischler gewesen, wenigstens hätten die Hände deutliche Spuren der braunen Möbelpolitur an sich getragen, deren sich die Tischler zum Poliren bedienen. Der Mann habe verschiedene Speisen und Getränke, die er in dem Victualienladen genossen gehabt, mit jenem Thaler bezahlt und, nachdem er den Restbetrag des Geldes erhalten, sich nicht wieder sehen lassen. Verdächtiges sei ihm an ihm nicht aufgefallen.

Damit waren die weiteren Spuren zunächst wieder erschöpft, und es war schwer, auf diese Andeutungen hin den Gesuchten ausfindig zu machen. Als der Polizeibeamte sich eben entfernen wollte, trat ein dem Arbeiterstande angehöriger ältlicher Mann ein und begann, nachdem er das geforderte Getränk empfangen, sich mit dem Wirth zu unterhalten. Der etwas einfältige Wirth schien sich plötzlich zu besinnen, blickte bald seinen Gast, bald den Beamten an, so daß dieser stehen blieb und seinerseits fragend auf den Wirth blickte. Es stellte sich heraus, daß der eben Eingetretene – ein Schiffer – zugegen gewesen war, als der in Rede stehende Thaler gewechselt wurde, und daß er sich mit dem Unbekannten geraume Zeit unterhalten hatte. Die Beschreibung, welche er von dem Fremden entwarf, schien auf den Menschen zu passen, der in der Todesnacht vor dem Hause des Kriegsraths gestanden hatte. Der Fremde hatte sich gegen den Schiffer unter andern dahin geäußert, daß er beabsichtige, die Stadt zu verlassen, und bei einer der damals noch nicht vollendeten, östlich gelegenen Eisenbahnen Arbeit zu suchen, da es mit seiner Profession – die er nicht nannte – nicht mehr gehe. Der Schiffer getraute sich, den Fremden mit Bestimmtheit wieder zu erkennen; der Wirth war seiner Sache nicht sicher.

Das Nächste war jetzt, die Register aller derjenigen Personen zu durchsuchen, welche als Arbeiter auf Kosten des Staates nach den verschiedenen Stationsorten der im Bau begriffenen Eisenbahn befördert worden waren. Deren Zahl war Legion; auf mehr als hundert konnte die Beschreibung des Schiffers passen. Dennoch entschloß sich der Polizeibeamte, die Reise in Begleitung des Schiffers zu unternehmen, und die einzelnen Stationsorte der Eisenbahn zu revidiren.

In sein Büreau zurückkehrend, fand er mehrere Personen vor, welche sich zur Erledigung der verschiedenen Angelegenheiten eingestellt hatten, die in einem Polizeibureau vorzukommen pflegen. Hierzu gehören namentlich die schriftlichen An- und Abmeldungen, die Ertheilung von Paßcertificaten u. dergl. mehr. Ein solches bereits von dem Schreiber ausgefülltes Paßcertificat wurde dem Commissarius zur Unterschrift vorgelegt; es enthielt in der Rubrik: Zweck der Reise – die Angabe, „Arbeit bei der Eisenbahn zu suchen.“

„Für wen ist dieser Schein?“ fragte der Beamte, sich zu den Anwesenden wendend.

„Hier,“ antwortete ein junger Mann von schmächtiger Natur und blasser Gesichtsfarbe.

Der Commissarius machte eine Bewegung, als wollte er ihm das Papier einhändigen, der junge Mensch streckte die Hand aus – ein Blick des erfahrenen Beamten genügte – diese Hand trug noch deutlich Spuren des Gebrauchs der Möbelpolitur an sich.

„Wo haben Sie das silberne Schachspiel und das übrige Geld gelassen?“

Ein Blitzstrahl aus heiterer Luft konnte nicht erschütternder wirken, als diese einfachen Worte aus dem Munde des Polizeibeamten. Der Angeredete schrak heftig zusammen, wurde glühend roth und gleich darauf wieder todtenbleich. Ehe er sich noch zu sammeln vermocht, hatte der Commissarius ihn in das Nebenzimmer geschoben; ein Schreiber war mit hinein getreten. Man sah sofort, daß dem Menschen klar wurde, in welcher Situation er sich befand; er rang nach Fassung – leugnete mit stockender Stimme, er wisse von nichts. Er sei nur erschrocken, weil man ihm plötzlich Dinge vorgehalten habe, von denen er keine Ahnung habe. Dabei blieb er, trotzdem ihm der verausgabte Thaler vorgehalten wurde, obgleich man ihn eindringlich darauf aufmerksam machte, daß er nur durch ein unumwundenes Geständniß den Verdacht eines noch weit schwereren Verbrechens von sich abzuwenden vermöge.

Durch die Confrontation mit dem Schiffer und dem Victualienhändler wurde festgestellt, daß er es gewesen, der den Thaler verausgabt hatte. So viel gab er auch schließlich zu, nachdem er anfänglich auch diesen Umstand abgeleugnet hatte. Ueber den Erwerb des Thalers befragt, bediente er sich der allgemeinen Ausflucht, daß er ihn von seinem früheren Arbeitslohn gespart habe. Seine persönlichen Verhältnisse sprachen durchaus nicht für die Wahrscheinlichkeit eines solchen Erklärungsgrundes.

Ludwig *** war als Kunstdrechslergehülfe polizeilich gemeldet, befand sich aber schon seit geraumer Zeit ohne Arbeit und ohne erweislichen anderweiten Erwerb. Aus den Polizeilisten ging sogar hervor, daß er vor nicht langer Zeit wegen Obdachslosigkeit zur Haft gebracht worden war. Inzwischen hatte er allerdings hier und da durch das Aufpoliren von Möbeln in verschiedenen Häusern einiges Geld verdient; dasselbe war jedoch nicht ausreichend gewesen, seine dringendsten Lebensbedürfnisse zu bestreiten. Denn wie aus dem Schritte hervorging, der seine Ermittelung zur Folge hatte, war es sogar dahin mit ihm gekommen, daß er sich zu der unwillkommenen letzten Ausflucht bequemte, seinen Unterhalt als gewöhnlicher Tagearbeiter zu erwerben.

Er wurde verhaftet und sofort dem Untersuchungsrichter vorgeführt.

„Sie sind dringend verdächtig,“ begann der Untersuchungsrichter das Verhör, „verschiedene werthvolle Gegenstände bei Nachtzeit und vermittelst Einbruchs aus der Wohnung des Kriegsraths von P. entwendet zu haben!“

Der Schrecken, welcher den Angeschuldigten bei der ersten Vorhaltung durch den Polizeibeamten ergriffen hatte, war nichts im Vergleiche zu dem Entsetzen, das ihn jetzt bei Nennung des Namens des Verstorbenen packte.

Er starrte den Richter einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an, wechselte ein paar Mal die Farbe, und rief mit ungeberdiger Heftigkeit, fast schreiend: „Ich kenne keinen Kriegsrath von P., ich habe ihn in meinem Leben nicht gesehen, wie kann man mir solche Nichtswürdigkeiten in’s Gesicht sagen –“

Der Untersuchungsrichter ließ ihn austoben.

[340] „Sie werden wohl thun,“ fuhr er dann fort, „Ihrer Sache nicht durch Heftigkeit zu schaden. Sie leugnen also, in der B… -Straße Nr. … gewesen zu sein?“

Der Angeredete wußte augenscheinlich nicht, was er sagen sollte; er starrte den Richter mit offenem Munde an, und brach dann nach Art trotziger Kinder in unmäßiges Weinen und Schluchzen aus. Er wisse von nichts, er habe auch nichts zu bekennen, man möge ihm nur gleich den Kopf abschlagen, das wäre das Beste für ihn, denn das sehe er wohl, man wolle ihm an’s Leben.

Dabei blieb er im Wesentlichen. Man versuchte gütiges Zureden, ernste Vorhaltungen, man ließ ihm eine Zeit lang Ruhe – aber es war nichts aus ihm heraus zu bekommen. War diese hartnäckige Verstocktheit die Folge eines unbändigen Naturells, oder das Resultat schlauer Ueberlegung – es stand fest, daß die Taktik, sich auf gar keine Erörterungen einzulassen, allen Fragen ein consequentes Leugnen oder verstocktes Schweigen entgegenzusetzen, dem Angeschuldigten für den Augenblick jedenfalls zu Statten kam.

Einem dieser Verhöre war ich veranlaßt worden, von einem Nebenzimmer aus beizuwohnen, um fest zu stellen, ob zwischen der Stimme des Angeklagten und der des jungen Mannes am Gewitterabende eine Aehnlichkeit herauszufinden sei. Ich vermochte indessen darüber nichts Positives zu bekunden.

Die in der Wohnung des Angeklagten vorgenommene Haussuchung war ohne Resultat für die Untersuchung geblieben. Die Waschfrau erklärte, daß der Angeklagte der Figur nach der nämliche Mensch sein könne, den sie in der Nacht vor dem Hause habe stehen sehen. Weitere Indicien waren nicht zu ermitteln gewesen, und der Staatsanwalt mußte sich, bei dem Mangel sonstiger Verdachtsgründe für eine Mitwirkung bei dem Tode des Kriegsraths, darauf beschränken, die Anklage wegen schweren Diebstahls gegen Ludwig *** zu erheben. Sonderbarer Weise verlangte der Angeklagte, durch mich vertheidigt zu werden, und ich nahm keinen Anstand, mit Genehmigung des Gerichts, seinem Verlangen zu willfahren. Wahrscheinlich war er zu der Wahl durch den günstigen Ausgang der Untersuchung eines Mitgefangenen veranlaßt worden, dessen Vertheidigung ich gleichfalls geführt hatte.

Ludwig *** war eben einundzwanzig Jahre alt geworden. Er war von schmächtigem Körperbau; seine an sich schon nicht blühende Gesichtsfarbe war durch die Kerkerhaft noch bleicher geworden. Die fein geschnittenen Züge des Gesichts trugen die Spuren frühzeitiger Ausschweifungen an sich, die Wangen waren eingefallen, die Augen blickten unstät aus tiefen, blaugeränderten Höhlen. Ich besuchte ihn im Gefängniß, um zu hören, was er zu seiner Vertheidigung noch anzuführen gedenke. Er schien einen Augenblick zu schwanken, ob er mir mit offenem Vertrauen entgegenkommen solle –, aber sein Mißtrauen siegte und er blieb verschlossen gegen mich, wie er es im Laufe der ganzen Untersuchung gewesen war. – Ob es wahrscheinlich sei, daß er verurtheilt werde? – fragte er mich. Ich mußte es ablehnen, darauf eine bestimmte Antwort zu geben, Dann fragte er nach der Höhe des Strafmaßes, welches bei Bejahung der Schuldfrage gegen ihn zur Anwendung käme. Ich antwortete: Zuchthaus von zwei bis zu zehn Jahren. Er zuckte zusammen, sagte aber nichts. Darauf beschränkte sich die ganze Unterredung; ich hatte nicht das Herz, ihn mit weiteren Fragen zu bedrängen, und verließ ihn mit dem Versprechen, für ihn zu thun, was in meinen Kräften stände.

Mr. Pirrie war bald nach der Verhaftung des Angeklagten durch dringende Briefe nach England gerufen worden. Er entschloß sich nur mit Widerstreben zur Rückreise, da er gern das Resultat der öffentlichen Verhandlung abgewartet hätte. Vor seiner Abreise hatte er noch häufige Conferenzen mit dem Staatsanwalt und dem Polizeibeamten.

Der Tag der öffentlichen und mündlichen Verhandlung war erschienen. Der Angeklagte hatte in den Kleidern auf der Anklagebank Platz genommen, in welchen er verhaftet worden war. Ein feines weißes Hemde stach sonderbar gegen die grobe Jacke ab; das Haar war sorgfältig gescheitelt, die gefaßte Haltung des jungen Menschen mit den feinen Gesichtszügen erschien beinahe vornehm, und machte einen günstigen Eindruck auf die Geschworenen.

Die Anklage hatte eine ziemlich schwere Stellung. Es lag subjektiv gegen den Angeklagten nichts vor, als der Besitz eines höchst wahrscheinlich entwendeten Geldstückes, seine Vermögenslosigkeit, die Wahrscheinlichkeit seiner Anwesenheit am Orte der That und einige andere Indicien von nicht erheblicherem Belange, wozu insbesondere das Ableugnen erwiesener Momente zu rechnen war.

Das Geschworenengericht war gebildet und die Verhandlung nahm ihren regelrechten Verlauf. Der Angeklagte bewahrte seine vollkommen ruhige Haltung. Als die vorgeladenen Belastungs-Zeugen aufgerufen wurden, um im Allgemeinen auf ihre Zeugenpflicht hingewiesen zu werden, bemerkte man das Fehlen des Majors. Die Bescheinigung über die erfolgte Vorladung befand sich ordnungsmäßig bei den Acten. Es mußte Wunder nehmen, daß ein an strenge Regelmäßigkeit gewöhnter Mann, ein alter Militair, seine Pflicht, als Zeuge vor Gericht zu erscheinen, so lässig sollte genommen haben, noch dazu in einer Sache, die seinen verstorbenen Freund betraf. Man stellte sofort Recherchen in seiner Wohnung an, fand aber nur einen alten Diener vor, welcher erklärte, sein Herr sei vor zwei Tagen verreist, und zwar, wie derselbe angegeben, auf längere Zeit. Im Laufe der Verhandlung ging von der Polizeibehörde die Anzeige ein, der Major habe vor etwa 8 Tagen um einen Auslandspaß – nach Frankreich und England – nachgesucht und erhalten.

Für alle Diejenigen, welche mit dem bisherigen Gange der Untersuchung vertraut waren, lag in diesem Zwischenfall ein neues Geheimniß, welches das ohnehin so verworrene Räthsel noch unlösbarer zu machen drohte. Diese plötzliche Abreise sah fast einer Flucht ähnlich, und doch deutete nicht das allergeringste Anzeichen darauf hin, daß der Zeuge irgend einen positiven Anlaß gehabt haben könne, seine Vernehmung zu scheuen.

Da der Major seine bereits abgegebene Aussage beeidet hatte, und es ungewiß schien, ob es überhaupt möglich sein würde, sein persönliches Erscheinen zu einem anderweit anzuberaumenden Termin zu bewerkstelligen, so beschloß das Gericht, mit der Verhandlung fortzufahren. Der Angeklagte schien sichtlich erleichtert. Er neigte sich von seinem etwas erhöhten Sitze über die schmale Balustrade zu mir herunter, und flüsterte nur in’s Ohr:

„Es ist unmöglich, daß ich verurtheilt werde – es liegt zu wenig gegen mich vor und ich bin noch niemals bestraft.“

In diesem Sinne ließ er sich auf die Anklage aus, welche die bereits hervorgehobenen Momente zu dem Schlüsse zusammenfaßte, daß der Angeklagte in der Todesnacht sich Eingang in die Wohnung des Kriegsraths zu verschaffen gewußt und die vermißten Sachen entwendet habe. Er leugnete Alles, bis auf den Besitz des Thalers, den er seit Jahr und Tag für den Fall der äußersten Noth aufbewahrt zu haben behauptete. Wer sollte es glauben –? Dieser unscheinbare junge Mensch in der groben Arbeiterjacke drückte sich mit einer Eleganz aus, welche allgemeine Verwunderung erregte. Noch mehr, es lag in seinem Tone etwas von so trauriger Resignation, daß man unwillkürlich Interesse und Mitleiden mit ihm fühlte. Er schien den günstigen Eindruck zu bemerken, den er hervorgebracht hatte, und sein Wesen gewann an Zuversicht.

Das Zeugenverhör war im Wesenlichen nur eine Recapitulation des Resultates, welches die Voruntersuchung ergeben hatte. Am meisten fiel die Aussage des Polizeibeamten in’s Gewicht, welcher den Angeklagten verhaftet hatte. Das heftige Erschrecken desselben, die langandauernde Gemüthsbewegung mußte nothwendig als der Ausdruck des Schuldbewußtseins gedeutet werden. Der Angeklagte erklärte, er habe bei der ersten barschen Anrede des Beamten, der ihm einen Diebstahl auf den Kopf zugesagt, alles klare Bewußtsein verloren; und er konnte immerhin hoffen, für diesen Erklärungsgrund Glauben zu finden.

Die Beweisesaufnahme war, bis auf die Vernehmung des Victualienhändlers, geschlossen. Derselbe bekundete das Nämliche, was er bereits vor dem Polizeibeamten ausgesagt hatte. Nachdem der Angeklagte die Verausgabung des „Sterbethalers“ einmal eingeräumt hatte, war auch die Bezüchtigung dieses Zeugen nicht mehr von besonderem Gewicht, denn es stand immer nicht absolut fest, daß dieser Thaler wirklich mit dem im Besitze des Kriegsraths gewesenen identisch sei. Selbst der Major hatte bei seiner in der Voruntersuchung bewirkten Vernehmung rücksichtlich dieses Punktes nur einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, keine Gewißheit zu behaupten vermocht. Das Zeugenverhör war geschlossen. Der Angeklagte athmete erleichtert auf.

(Schluß folgt.)



[341]
Land und Leute.
Nr. 8. Die Vogtei und die Vogteier.

Vogteier.

Wenn man, der Chaussee von Mühlhausen nach Eisenach folgend, die zweite Erhebung erreicht hat, so breiten sich vor dem Blicke eine Menge Ortschaften am Waldsaume hin aus, zunächst sind es aber drei Dörfer, die, ein Dreieck bildend, mit schlanken Kirchthürmen aus der Flur hervorragen.

Es sind die Dörfer Oebbendorl (Oberdorla), Neddendorl (Niederdorla) und Langel (Langula), die gegenwärtig die sogenannte Vogtei bilden.

Die beiden erstern Orte liegen in einem Thalgrund an dem Seebacher Graben, Langula schon mehr auf der Anhöhe des Hainich-Waldes, alle umsäumt von Feldern und großen, etwas sumpfigen Wiesenflächen, sogenannten „Rieden“ und in größerer Entfernung gegen Süden und Westen von dem ihnen zugehörigem Walde, dem „Hainich.“

Die Dörfer sind freundlich gelegen; die Straßen[WS 1] meistentheils gepflastert, alle reinlich; die Häuser im Dorfe in ununterbrochenen [342] Reihen, zum größten Theile abgeputzt und mit eigenthümlich bunt bemalten Fensterladen in dem Parterre versehen. In den Ausläufern des Dorfes nur findet man ärmlichere Wohnungen, die sich aber öfters durch die umgrenzenden Gärten zu malerischen Bildern gestalten.

Ein gewisser Wohlstand ist gleich auf den ersten Blick nicht zu verkennen, wie auch, daß ein gesunder, thätiger Menschenschlag die Bewohner bildet, der jedoch den Begriffen der Jetztzeit nach durch sein Festhalten am Alten versimpelt ist. Das männliche Geschlecht ist meist lang und hager emporgewachsen, hat ein langes Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen, langgezogener Nase, mit verschmitzt umherblickenden Augen, denen man die ununterdrückbare Neugierde auch noch ansieht, und glattem Haar. Das weibliche Geschlecht ist durchschnittlich um ein Wesentliches kleiner, dadurch gedrungener, kräftiger gewachsen, hat mehr ein breitgedrücktes Gesicht mit gleichfalls vorstehenden Backenknochen, aber mehr den Stumpsnasen sich nähernden Nasen. Das eigenthümlichste dieses Völkchens ist, daß beide Theile keine Waden haben, so daß sie selbst unter sich über ein mit Waden beschenktes Individuum sagen: „der is nöch vom Stamm.“

Diese drei Dörfer, Ober- und Niederdorla und Langula, Namen, deren ältere urkundliche Form Turnilohnu, Durnloh, Dorlo und Langelo die Entstehung in einer Waldgegend, dem Hainichwalde, durch die Endsylbe bekundet, bildeten in früherer Zeit die Hauptorte der Vogteier Mark, indem noch eine Menge Ortschaften, die theils noch bestehen, theils blos in den Namen der Wüstungen übrig geblieben sind, dazu gehörten, und waren dem Westgau des fränkischen oder Süd-Thüringens, der von der Unstrut, an der Werra hin, bis zur Hörsel geht, einverleibt.

Die Vogteier haben eine weite und nicht unbedeutende Vergangenheit. Bereits 860 wird Dorla in einer Schenkung des Grafen Erpho an das Stift Würzburg genannt und 987 wurden die Kirche durch Erzbischof Willipis von Mainz eingeweiht, dem bei dieser Gelegenheit ein Theil der Vogtei urkundlich geschenkt ward. Ein anderer Theil der Vogtei gehörte den Herren von Salza und Treffurt, die durch Fehden genöthigt wurden, ihr Besitzthum an die Fürsten von Hessen und Sachsen abzutreten, von wo die Landschaft abermals 1360 durch Verpfändung an die freie Reichsstadt Mühlhausen kam. Die Vogteier wußten sich aber unter allen Verhältnissen ihre eigene Verfassung treu zu bewahren, Zins-, Steuern- und Feldstreitigkeiten wurden des Jahres drei Mal in Oberdorla vor der Kapelle durch den Rotding geschlichtet, „zweimal bei dürrem und einmal bei grünem Futter,“ ein öffentliches Gericht, das aus den Schultheißen der Orte, zwölf Schöppen und zwei Vitzthumen bestand. Bürgerliche und peinliche Processe entschied der Vogtding, eine Art Gaugericht, das aus den Persönlichkeiten des Rotding und einigen Gerichtsbeamten der jeweiligen Herren oder Pfandinhaber der Vogtei bestand. Durch dieses Selbstregieren erhielten sich die Vogteier eine Selbstständigkeit und es bildete sich dadurch in jedem Einzelnen ein gewisser Stolz aus, der auf der einen Seite sehr berechtigt schien, anderer Seits aber oft in Trotz und Ueberhebung überging. Das „I muß mi Rächt hahn“ der Vogteier ist sprüchwörtlich geworden und hat schon Manchem einen Theil seines Vermögens gekostet; ihre Zähigkeit in andern Sachen ist auch bekannt genug. Bei alledem wußten sie sich aber dabei auch ihre Unabhängigkeit stets zu erhalten, selbst als nach den Bauernkriegen, die namentlich in dortiger Gegend arg wütheten, der Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen die Reformation mit Gewalt einführte und selbstredend dabei die Oberleitung der kirchlichen Angelegenheiten sich für immer aneignete, der 1736 die förmliche Besitznahme des größten Theiles der Vogtei folgte. Schon 1803 ward indeß die Landschaft durch Beschluß der außerordentlichen Reichsdeputation an die Krone Preußens abgetreten, die aber factisch erst 1816 durch die Wiener Congreßacte Besitz ergreifen konnte.

Ueber fünfzig Jahre sind die Vogteier bereits preußische Unterthanen und als solche auf gleichem Standpunkt mit den früheren, d. h. ohne alle Vorrechte, aber es wird ihnen jetzt noch schwer, sich in diese neue Ordnung zu fügen, und die Liebe zu dem Alten und Hergebrachten ist Allen tief in’s Herz geschrieben. Ihre Wehmuth, daß Kinder und Enkel einst nichts mehr von ihren langbehaupteten Rechten und Gebräuchen haben sollen, als die durch die Tradition fortgepflanzten Mittheilungen, hat etwas Rührendes, und wenn sie auch von ihren frühern Rechten jetzt vollständig absehen müssen, so suchen sie wenigstens in ihren Sitten, Gebräuchen und Trachten die frühere Zeit noch aufrecht zu halten.

Wandern wir nun selbst in die Landschaft ein und suchen uns durch Augenschein ein frisches Bild dieses seltsamen Völkchens zu schaffen. Fünf Tage des Jahres können uns da am besten über Trachten und Sitten aufklären. Der erste ist der Charfreitag. Eine feierliche Stille herrscht durch das ganze Dorf, kaum sieht man ein altes Mütterchen hinter dem Fenster stehen und vorlugen; Alles, was gehen kann, ist in der Kirche; die Einsegnung der Confirmanden und der Genuß des Abendmahls hat die Bewohner dahin gerufen. Jetzt ist die Kirche aus, die Thüre öffnet sich. Kommt eine Procession heraus oder ist wie bei den Katholiken Hochamt gewesen, oder hat jeder Bewohner seine Kirchendienerin? Nein, das Alles nicht; es sind die Bewohner selbst in ihrem Sonntagsstaat, und vorzüglich die „Freiben“ (Frauen) und „Maichen“ (Mädchen), die diese Befürchtungen aufkommen ließen. Ein langer weißer Mantel, ganz nach Art eines Chormantels, in viele Falten am Hals gelegt, umschlingt die Gestalten dermaßen, daß nur die grünen und blauen Tuchschuhe mit Lederbesatz und großen silbernen und stählernen Schnallen, durch die meistentheils ein hellgrünes Band als Schleife gezogen ist, und die schwarzen Strümpfe eigentlich hervorsehen, denn auf dem Kopfe thront die Schnorrbätzen (Mütze) und verdeckt Haar und Hals. Diese Mütze besteht aus einer kleinen Haube von Pappe, die mit schwarzer Seide oder Atlas überzogen ist und in dergleichen Bänder ausläuft. Schneeweiße Spitzen (von deren gebrannter runder, welliger Form das „Schnorr“), die zur Seite wie ein geöffnetes Scheuerthor in die Welt hinausstehen und oben auf der Stirne in eine Schneppe zusammenlaufen, umfassen die Kante der Haube. Zwischen diesen Schnorrbätzen hindurch windet sich noch ein anderer Kopfputz bei sonst gleicher Kleidung. Es ist der Spitzen-, auch Duten-Heit (Hut) einer Gevatterin. Ein Posamentirladen hat da sicher seinen ganzen Spitzenvorrath hergeben müssen, um dieses Kunstwerk der Mode auszustaffiren! Der Hut besteht aus dem einfachen Dutenhut, aber bis in’s Unendliche mit zierlichen Spitzen in den verschiedensten Formen umwunden. Leider konnte ich hiervon keine Zeichnung machen, indem diese Kopfbedeckung nur äußerst selten bei besondern festlichen Tauffällen vorkommt, und dann allemal erst zwei Tage vorher (so viel Zeit erfordert sie nämlich bei einer geschickten Putzmacherin nach Aussage einer Vogteier Frau) angefertigt, und nach Beendigung des Festes gleich wieder zerlegt wird.

Gravitätisch schreitet der Mann oder Bursche einher; ein langer, enganliegender, kurztailliger grüner oder blauer Ueberrock mit blanken Knöpfen, die dicht aneinander in zwei Reihen aufgenäht sind und mit einem stehkragenähnlichen Kragen umschließt seine Gestalt; lederne gelbliche Beinkleider reichen bis zum Knie und sind hier mit langen schmalen Riemen zusammengebunden, so daß aber noch eine Menge davon zum Herumbummeln übrig bleibt. Enge Halbstiefeln umfassen das wadenlose Bein und lassen die grauweißen Strümpfe ein Stückchen hervorsehen. Der Kopf erhebt sich zwischen dem über den Rockkragen hervorragenden, mit meist dunkel buntem Tuche unterbundenen gesteppten weißen Hemdkragen, stolz die Lampe, einen Dreimaster von ungeheuren Dimensionen, balancirend. Alte Leute kommen mit dem Stoab (Stab) angewankt, und besteht dieser aus einem Stück Latte von Zweidrittel Höhe des Trägers.

Der zweite Tag ist der erste Pfingstfeiertag. Wie anders sieht es da in dem Dorfe aus! Der blaue Frühjahrshimmel hat die Bewohner auf die Straße gelockt, und läßt sie sich singend und lärmend ergehen, gleich als wenn der heitere Himmel, die reinere Luft, das zu neuem Leben hervorsprießende Grün des Waldes und der Flur auch in ihnen neues fröhliches Leben erzeugt hätte. Alles, was eine Kehle hat, jubelt und lacht, Freude malt sich auf jedem Gesicht. Unter das Schreien und Rufen mischt sich Pferdegetrampel und gelles Pfeifen. Plötzlich ist Alles ruhig, nur eine Pfeifstimme ist hörbar und im Nu ist wieder ein Gelächter und Geschrei. Was gibt es denn? fragen wir erstaunt.

„Es wärd der grüne Laubmann eingeführt,“ antwortet uns jede Persönlichkeit, „kennt er das noch nöcht? Das es schienne, da muß er einmal dablieben, h’er wärd gleich kümmen (kommen).“

Der Troß kommt näher, auf aufgeputzten Pferden paradiren die Burschen in ihrem Sonntagsstaat, zwei von ihnen führen an einem Faden eine ganz in Laub eingemummelte Gestalt, gleichfalls zu Pferde, die durch die Zweige hindurch immerwährend pfeifen muß. Vor jedem Haus halten sie an, der Skandal legt sich, das [343] verlassene einzelne Pfeifen ertönt, ihm folgt die Frage: „Kennt Ihr den Schößmaier oder auch Laubmann, so sagt seinen Namen.“ Niemand kennt ihn und muß seine Unwissenheit mit einer kleinen Geldspende bezahlen und bekommt dafür nur ein Gelächter und Geschrei der Hölle zu hören. Auf diese Weise geht es durch das ganze Dorf und dann nach beendigtem Ritte auf den Anger zur Enthüllung der theuern Persönlichkeit. Das erhaltene Geld wird zu einem Gelag verwendet, dem öfters Angertanz folgt.

Welchen Sinn kann man dieser Sitte beilegen? Ist sie nur eine Huldigung dem Frühjahr, der beginnenden Neu- und Arbeitszeit des Ackermannes, oder soll sie den Anfang zum fröhlichen Leben im Freien bilden, oder hängt es mit dem früheren Rechte der Vogteier zusammen, daß sie von diesem Tage ab in das Holz fahren durften? Das erstere scheint mir insofern das Wahrscheinlichste, als ein alter Bauer mir erzählte, daß in früherer Zeit eine zweite Persönlichkeit, in dürres Holz gepackt, mit herumgeführt worden sei, dessen Hülle zu einem Freudenfeuer und Opfer für das Gedeihen der Frucht verbrannt, während die Hülle des Anderen aus Schößlingen (davon der Name) bestehend, von den Burschen in die Erde gesteckt worden sei, um zu grünen und zu wachsen. Jedenfalls ein sinniger Naturcultus, wiewohl ich keiner Bestätigung von anderer Seite habhaft werden konnte.

Der dritte Tag ist der erste Kirchmeßsonntag. Ein noch regeres Leben zeigt sich da in den Dörfern, der Hauptfreudentag seiner Bewohner ist ja da; die reiche Ernte ist glücklich in den Scheuern geborgen; die Arbeit für das Leben im Freien läßt nach und räumt den häuslichen Verrichtungen den Platz ein. Noch wölbt sich der blaue Himmel über die Erde, noch erfüllt warme Luft die Atmosphäre, die Bäume aber entfärben sich, dem freudigen Grün folgt das leuchtende Roth und Gelb, und jeder Windzug läßt das Laub vor dem nahen Untergang erzittern. Noch einmal unter solchen Umständen fröhlich zu sein, und die Herrlichkeiten der Natur mit vollen Athemzügen zu genießen, wer wird das für unnütz halten? Zahlreiche Städter und Städterinnen wandern den Orten zu, den hat die Milchfrau gebeten, diesen die Butterfrau, jenen der Hoflieferant und jenen die Freundscht (Freundschaft). Küche, Boden und Keller haben ihre Schätze öffnen müssen; Kuchen sind aufgespeichert und Fleisch von selbstgeschlachteten Thieren oder auch gekauft, wartet nur mit den nöthigen Salaten u. s. w. auf die Stunde der Vergeistigung.

Ebenso wie hier ein ewiger Kreislauf, so ist auch ein Drehen, Laufen, Schreien und Singen, ewiges Wechseln von Gruppen als Kreislauf der Kirchmeß zu bemerken. Essen und Trinken erhält den Leib, sich einmal aber in der Lieblingsspeise dick und satt essen zu können, ist sicher der höchste Genuß für den sinnlichen Menschen, und schon der Gedanke daran vermag die Brust zu schwellen und Freude, Wonne, Seligkeit über das Gesicht und die Bewegung eines solchen auszugießen. Wie schaukelt so süß lächelnd jener, noch das Gesangbuch unter dem Arme, die aus dem Backs (Backhaus) geholte Pfanne-Tiegel mit Kartoffeln, Kümmel und Hammelfleisch, wie umnebelt jenem das ihr entsteigende duftige Aroma; mit welchen Schritten eilt dieser wieder seinem Gehöfte zu, und endlich welche Begierde spricht sich bei diesem aus, indem er die Thür seines Gehöftes überschreitet! Nur wenige Minuten und der süßeste Wunsch, die heißeste Sehnsucht ist gestillt, das Warten hat sich reichlich belohnt, und bedächtig hält er Nachkost mit Ablecken der Lippen.

Doch genug davon, denn schon sammelt sich das Völkchen auf dem Anger und in den Tanzlocalen. Da in letzteren das Eigenthümliche verschwunden ist, so wählen wir den Anger. Personen mit schon geschilderten Trachten stehen dicht gedrängt mit solchen in anderer Tracht, die ich noch kurz anführen will, so weit sie Eigenthümliches einhüllt. Statt des Chormantels umschließt die starken Frauen ein Mieder von grünem oder blauem groben Tuch, vorne in zwei Klappen oder richtiger „Beidergewand“, aus Leinen und Wolle, was nur der Vogtei eigen ist, am Halse umgelegt und mit zwei Reihen dicht gedrängter kleiner, blanker, manchmal auch Tuchknöpfe besetzt, und durch einen Gürtel mit Stahlschnalle zusammengehalten. Ein kurzer dunkler Rock, am Saume mit breiten, meist hellgrünen Seidenstreifen eingefaßt, und zur Hälfte von einer meist dunkelblauen Schürze überdeckt, bildet mit dem schon bekannten Dutenheit und Schnallschuhen die übrige Bekleidung. Die heißblütigern Mädchen haben nur ein stark ausgeschnittenes Schnürleibchen von gleichem Tuch; das weiße selbstgefertigte Leinenhemd umschließt den Körper bis zum Halse, wo ein gesteppter und oft mit bunten Faden verzierter Kragen die Einfassung bildet. Die kurzen Puffärmel, mit gleichem Saum wie am Halse eingefaßt, sind zur Hebung der Tracht wie geschaffen.

Ein einfaches, buntes, breites Tuch legt sich denn auch öfters über die glatt nach hinten zu gekämmten, in einen Büschel geschlungenen Haare, oder es nimmt ein einfacher Strohhut mit halb sich deckenden schwarzen Rosetten geschmückt, die Stelle ein. Zwischen diesen Gestalten steht ein Bursche mit topfförmigem schwarzem Filzhut, dem Nachkommen des Dreimasters, und nicht weit davon der arme Arbeitsmann in seinem langen Kittel, dem am Halse ein Schild mit Namen oder Zierrath mit buntem Faden eingenäht ist, seiner Zipfelmütze, den eng anliegenden Kamaschen über die dürren Beine und plumpen Schuhen. Kinder, kaum dem Gängelband entlaufen, tummeln sich frohlockend in derselben Tracht, zu wahrer Carricaturen geschaffen, dazwischen herum.

Alles harrt des Zeichens des Anfangs, da schmettert eine Trompete das Signal, ein allgemeiner Jubelruf antwortet. Die wild durch einander stehenden Leute ordnen sich und bilden einen Kreis. Die Musik beginnt, der Platzmeister tritt auf, bedächtig den Stab, das Zeichen seiner Würde in der Hand wiegend, er spricht den Gruß an die Gesellschaft, schwenkt seinen mit Blumen geschmückten Hut, winkt mit dem Finger und sein Mädchen eilt mit ihm zum Tanze. Ganz allein mit seinem Mädchen, das vorzüglich festlich geschmückt ist, und eine große Haube mit allerlei Putz auf dem Kopfe balancirt, so daß ihre Kopfbewegungen ganz bedächtig und schwerfällig sind, umtanzt er einige Male den Platz, und zwar einmal tanzend, einmal gehend. Auch der zweite Tanz gehört ihm, nach diesem erfolgt erst das Tanzen der Angergesellschaft, die einen geschlossenen Zirkel bildet. Es ist halb Hopser, halb Zweitritt, was man sieht. Das Engagiren erfolgt mittelst Zurufen und Winkens der Burschen zu den Mädchen, die dann ihrem Tänzer zueilen. Der Platzmeister ist der Festordner und veranlaßt das Tanzen und Gehen; eine Bank, außer der, worauf die Musik sitzt, existirt nicht und daher fortwährendes Tanzen oder Gehen des betheiligten Paares. Nach einigen solchen Tänzen steht dem Platzmeister einer allein wieder zu. Man glaube aber nicht, daß dieses unschuldige Vergnügen frei von Aufmerksamkeiten ist, nur umgekehrt stellt es sich hier, indem die Mädchen den Burschen Etwas schenken; Einzelnen mag es sogar für ihre Verhältnisse hoch zu stehen kommen, da es nicht bloß künstliche Blumenbouquets, sondern auch Tücher und dergleichen sind, die den Burschen zum Tanze geneigt machen müssen.

Abends gegen 6 Uhr ist große Pause bis circa 8–8½ Uhr (das Abendbrod und das Abwarten des Viehes nimmt diese Zeit in Anspruch), um dann mit erneuten Kräften bei an den Bäumen aufgehängten Lämpchen bis in die Nacht hinein weiter fortfahren zu können.

Der vierte Tag ist der Montag zur Kirchweihe, indem sich da außer dem eben beschriebenen Tanzfest noch das Hammelsuchen dazu gesellt.

Durch freiwillige Beiträge wird nämlich soviel zusammengebracht, daß der Platzmeister von einigen Rathmännern unterstützt den Hirten einen fetten Hammel abkaufen kann. Sobald das geschehen, bringt der Hirt denselben in die Flur und treibt ihn ungesehen in ein beliebiges Gebüsch; eilt dann nach Haus und verkündet das Geschehene. Nun steigen die Burschen, festlich geschmückt, mit Peitschen, Pistolen, Stäben bewaffnet zu Pferde, die Mädchen nehmen auf Leiterwagen Platz und in rasendem Galopp, Musik an der Spitze, geht es nun hinaus in die Flur, den Hammel zu suchen. Ein ununterbrochener Jubel zeigt auf eine halbe Stunde Entfernung die Richtung des Chors, unter ihn mischt sich das Schießen, Trommeln, Pfeifen, Pferdegewieher und Gestampfe, das dem sicher ganz bange wird, den das Geschick dazwischen führt. Endlich ist er gefunden, er wird gebunden, mit Blumen geschmückt und der Obhut der Mädchen auf den Wagen anvertraut und nun geht es noch viel toller heimwärts auf den Anger. Hier angekommen hält der Platzmeister eine Rede, die sich aber zum größten Theil aus Zweideutigkeiten bildet, der Hammel wird geschlachtet und dann zu der Gemeinschenke gebracht, wo das Vertilgen das Ende dieser Festlichkeit ausmacht. Mit dem Felle wird die Musik abgefunden. Abends ist natürlicher Weise wieder Tanz auf dem Anger, doch bietet der heutige Tag noch die Ausübung einer weitern Sitte durch das Gesundheittrinken. So lange, wie das Trinken existirt, besteht zwar überall auch diese löbliche [344] Gewohnheit, aber hier in der Vogtei ist es insofern anders, als nicht passende Sprüche auf die betreffende Persönlichkeit angewendet werden, sondern ganz allgemeine kurze Verschen, die aber leider nur zu oft alles Gefühl verletzen.

Dieses Gesundheittrinken mit den üblichen Liedern unter den jungen Leuten ist ein untrüglicher Gradmesser der geistigen Fähigkeiten. Bis in das Innerste empört, vernahm ich die verschiedenen „Gesundheiten“, die aber meist abermals auf eine Zweideutigkeit hinausliefen. Die Illusion für den geistigen Zustand der Vogteier war verschwunden.

Für den fünften Tag wählen wir einen Wochentag im Winter. Mit Mühe haben wir uns nach der Vogtei geschleppt, da bedeutende Windwehen in den Thälern eine ungeheure Menge Schnee aufgethürmt haben. Durch die dicke winterliche Luft steigt der Rauch der Schornsteine auf und bildet, in das Thal eingeengt, eine noch dickere, einer Gewitterwolke ähnliche Wolke. Der Schnee pfeift unter unsern Schritten, die Kälte macht uns wortkarg, die Jugend der Vogtei aber, männlichen und weiblichen Geschlechts, tummelt sich munter an dem Abhang des Berges herum, um mit Hitschen, Kähnen und Schlitten das beschwerliche Emporklettern durch eine ganz kurze Fahrt zu versüßen. Es ist ein reizendes Bild voll Leben und Kraft! In dem Dorfe ist es ruhiger, die Leute, die uns begegnen, eilen hurtig durch die Straßen. Chormäntel bei den Frauen und Mädchen und Blusen über die langen Gehröcke bei den Männern, auch manchmal ein Mantel, doch stets eine Pelzmütze auf dem Kopf, ist die Losung der Tracht.

Aus einem Hause schallt Lust und Gesang, wir treten näher, denn das ist es, was mir noch zu erwähnen bleibt. Es ist eine Spinnstube („Spennstubben“), eine Menge Mädchen sitzen hinter ihrem Spinnrad und lassen es fleißig drehen, wenn eben nicht der Bursche, der fast überall dahinter steht, durch Erzählen von Schnurren, Fabeln, Geschichtchen die Aufmerksamkeit zu sehr fesselt. Solche Erzählungen wechseln mit gemeinschaftlichem Gesang von Liedern, wie:

Ei, du schöne Sommerblume,
Du hast mir mein Herz genumme,
Du liegst mir in meinem Sinn,
Wie die Wurst im Kümmel drin. u. s. w.

Mehr dergleichen anzuführen, wird Niemand verlangen, wenn ich sage, daß auch hier sich immer ein sehr niedriger geistiger Standpunkt herausstellt. Die Spinnstuben wechseln unter den einmal sich zusammen gefunden habenden Leutchen, und boten früher förmlich ein Charakterbild, dem sich öfters der Pastor und Lehrer oder ein älterer Bauer als Erzähler beigesellte. Die Berathung über das Wohl des Dorfes lag viel mit in den Spinnstuben. Jetzt ist es mit diesem Charakterbild vorbei, die Spinnstuben sind zu halb und halb genehmigten Stelldichein geworden.




Die Wassersucht und die Trunksucht.
I. Wassersucht.

Niemals ist „Wassersucht“ eine Krankheit, am allerwenigsten eine Krankheit, die vom vielen Wassertrinken herrührt, stets ist sie nur eine Krankheits-Erscheinung, die noch dazu eine Menge der verschiedenartigsten, ebenso gefährlichen wie ungefährlichen Krankheiten ganz verschiedener Organe, wie: des Herzens, der Lunge, der Leber, der Nieren, des Blutes u. s. w., begleiten kann. Deshalb darf man, besonders aber der Arzt, auch nicht sagen: „jener Patient leidet an der Wassersucht“, sondern „er ist wassersüchtig in Folge dieser oder jener Krankheit“. – Freilich ist es sehr bequem für einen Heilkünstler, wenn er nicht weiß, was eigentlich ein Wassersüchtiger für ein Leiden hat, die Wassersucht selbst als das Leiden zu bezeichnen. Dazu braucht man aber wahrlich keinen medicinischen Verstand, wohl aber zur Ergründung der Ursache dieser Krankheitserscheinung.

Wassersucht wird von den Aerzten die krankhafte Ansammlung einer wässrigen Flüssigkeit ebensowohl in dem Gewebe der Organe (Oedem), wie in den Höhlen unseres Körpers (freie Wassersucht) genannt. Es stammt diese wasserhelle, wässrige Flüssigkeit, die übrigens manchmal in ganz enormer Menge (bis zu fünfzig Pfund) vorhanden sein und den ganzen Körper aufschwellen kann, stets aus dem Blute und zwar aus den feinern Blutgefäßchen, tritt bald schnell, bald langsam aus diesen aus, und besteht allerdings zum allergrößten Theile aus Wasser, enthält aber in Auflösung stets auch noch einige Antheile von anderen Bestandtheilen des Blutes (wie Salze, Eiweiß, Fett etc.). Sie bleibt entweder für immer unverändert, zumal wenn die Ursache der Wassersucht ein unheilbares Leiden eines der edleren Organe ist, oder sie wird ganz oder theilweise aufgesogen und wieder in das Blut zurückgeschafft, oder es bilden sich bei ihrem längeren Verweilen allmählich Fettkügelchen und Krystalle in derselben.

Daß eine bedeutendere Wasseransammlung im Körper an Stellen, wo sie nicht hingehört, Beschwerden und Störungen veranlassen wird, ist wohl natürlich. Die meisten Wassersuchten geben sich durch eine schon äußerlich am Körper wahrnehmbare Aufschwellung zu erkennen, die beim Beklopfen einen leeren (d. h. luftleeren, dumpfen) Ton hören und bisweilen, wenn die Spannung nicht zu stark ist, ein Schwappen (Fluctuation) fühlen läßt. Da wo in der Nähe des Wassers beweglich angeheftete Organe befindlich sind, werden diese durch das Wasser von ihrer Stelle verschoben, während unverschiebbare weiche Theile vom Wasser zusammengedrückt werden. So entstehen denn durch die Spannung, den Druck und die Verschiebungen, welche das Wasser veranlaßt, die mannigfachsten Störungen in der Ernährung, Empfindung und Thätigkeit verschiedener Organe.

Wenn also Wassersucht ein Symptom von vielen, sehr verschiedenartigen Entartungen ganz verschiedener Theile unseres Körpers ist, so versteht es sich wohl von selbst, daß über den Verlauf, den Ausgang und die Behandlung der Wassersucht im Allgemeinen gar nicht gesprochen werden kann und darf, sondern daß jeder einzelne Fall von Wassersucht seine besondere Beurtheilung verlangt. So verhält sich die Sache nicht blos dann, wenn der größere Theil (die untere Hälfte) des Körpers wassersüchtig geschwollen ist, sondern auch in allen Fällen, wo sich Wasser nur an einer kleinern Stelle, in einer einzelnen Höhle, angesammelt hat. Es ist deshalb ein Zeichen von Unwissenschaftlichkeit sonder Gleichen, wenn in homöopathischen Heilmittellehren Mittel gegen Brust-, Bauch-, Herzbeutel-, Kopf-, Haut- und andere Wassersuchten angegeben werden. Doch wer sucht und findet aber auch bei der Homöopathie, bei dieser Laienblödsinnsmedicin, nur eine Spur von Wissenschaftlichkeit?

Schließlich sei noch erklärt, daß es eine Brust- und Herzbeutelwassersucht, die viele Laien, ja sogar auch manche Aerzte, Personen andichten, die an starken Athmungsbeschwerden (Asthma) leiden, gar nicht gibt. Allerdings kann sich auch widernatürlich viel Wasser in den Brustfellen und im Herzbeutel ansammeln, allein dies ist in der Regel nur dann der Fall, wenn die Theile unterhalb der Brust, also der Bauch und die Beine, schon stark wassersüchtig angeschwollen sind, so daß also obige Wassersuchten nur der allgemeinen Wassersucht angehören und nicht für sich bestehen.

II. Trunksucht.

Weder eine Krankheit, noch eine Krankheits-Erscheinung ist die Trunksucht, d. i. der anhaltende und zur Gewohnheit gewordene Genuß größerer Mengen stark-geistigen Getränkes, sondern ein schwer zu bekämpfendes Laster, welches Krankheit erzeugt, indem es anfangs auf einzelne Organe (Magen, Leber, Herz, Lunge, Gehirn), endlich aber auf das Blut und durch dieses auf die Ernährung des ganzen Körpers feindselig einwirkt. Besonders ruft der zu reichliche oder zu häufige Genuß von fuseligem Branntwein, bei Sorge und Noth, bei wenig und schlechter Nahrung, schlechter Wohnung und Kleidung gefährliche Krankheitszustände hervor.

Der beim Genusse spirituöser Getränke in den Magen gelangte Weingeist (Alcohol, Spiritus) tritt, nachdem er den Magen widernatürlich gereizt und in feurige Röthe versetzt hat, in den Blutstrom ein und stört von hier aus, wenn er nicht etwa vorher [345] in den Lungen ausdampft, die Ernährung und Thätigkeit des Gehirns, gleich den betäubenden Giften. Er erzeugt zuerst die bekannten Symptome geistiger Aufregung, des Rausches, endlich aber bei höheren Graden von Betrunkensein Bewußtlosigkeit und Betäubung. Ja es kommt sogar vor, daß Personen während einer übermäßigen oder allzulange dauernden Berauschung rasch, fast schlagflußähnlich starben (d. i. die acute Weingeistvergiftung); dabei ist der Athem keuchend und röchelnd, das Gesicht bläulich roth und gedunsen. In solchen Rauschzuständen schwerer Art (Besoffenheit), die besonders dann schlimm ablaufen, wenn die Pupille sehr erweitert und gegen Licht unempfindlich ist, die Glieder schlaff sind und jeder Erweckungsversuch fruchtlos bleibt, sind zuvörderst die engen Kleider zu lösen, der Kopf hoch und kühl zu legen, und für frische Luft Sorge zu tragen; außerdem ist der Magen durch Erbrechen (mittels Kitzeln im Schlunde oder Brechmittel) oder von Seiten des Arztes durch die Magenpumpe zu entleeren. Gegen die Betäubung gebrauche man zuerst kalte Sturzbäder auf den Kopf und kalte Anspritzungen an Gesicht und Brust, sodann kalte Wasser- und Essigumschläge über den Kopf; man reiche starken schwarzen Kaffee und halte Salmiakgeist (englisches Riechsalz) vor die Nase. Nach Beseitigung der oben angegebenen gefährlichen Symptome bringe man den Betrunkenen in einem kühlen luftigen Zimmer mit erhöhtem Kopfe und Brustkasten zu Bette.

Führt die Trunksucht nicht plötzlich zum Tode, sondern ruft allmählich, unter reichlicher Bildung eines blassen schmierigen Fettes (besonders unter der Haut und im Bauche, in der Leber und am Herzen), Veränderungen einer Menge von wichtigen Organen (besonders des Magens, der Lunge, des Herzens und der Blutgefäße, der Leber, Nieren und des Gehirns) hervor und zieht den Tod durch Schlagfluß, Lungenentzündung und Lungenbrand, Herzzerreißung oder Wassersucht (besonders Bauchwassersucht in Folge von Leberverhärtung) nach sich, dann wird sie die chronische Säuferkrankheit genannt. In ihrem Verlaufe kann der sogen. Säuferwahnsinn zu öfteren Malen auftreten. – Die ersten krankhaften Erscheinungen bei der chronischen Säuferkrankheit äußern sich durch Verdauungsstörungen in Folge chronischen Magenkatarrhs: Appetitlosigkeit, Uebelkeit, saures Aufstoßen, Würgen und Erbrechen von wässerig-schleimiger Flüssigkeit im nüchternen Zustande; hierzu gesellt sich später Sodbrennen, Magenschmerz und selbst Blutbrechen. Die Haut, oft juckend, wird nach und nach schmutzig fahl, widernatürlich fettig-glänzend oder rauh und spröde; auf Wangen und Nase bilden sich bläulichrothe Gefäßnetze und Blüthen verschiedener Größe (die Gesichtssinne). Die Miene des gedunsenen Gesichtes ist beim Säufer verstört und wild oder schläfrig und mürrisch; das Ergriffensein des Gefäß- und Athmungsapparates gibt sich durch Herzklopfen, große Unruhe, Husten mit zähem Auswurfe, rauhe Stimme und Heiserkeit, beschwerliches Athmen (asthmatische Anfälle) zu erkennen. Daß das Gehirn- und Nervensystem, auf welches ja der Weingeist stets am ersten und heftigsten feindlich einwirkt, nicht ungestört in seiner Ernährung und Thätigkeit bleibt, ist wohl selbstverständlich. Das Ergriffensein des Hirn-Nervensystems äußert sich zuerst durch die den Trunkfälligen eigenthümliche sittliche Entartung, bald mehr als Wildheit, Rohheit, Streitsucht und Zornmüthigkeit, bald mehr als Mißmuth, Unentschlossenheit, Trägheit und Unordentlichkeit. Dann findet sich Muskelschwäche und Zittern, besonders des Morgens im nüchternen Zustande ein (d. i. das Säuferzittern), so daß der Kranke solange geistig und körperlich geschäftsunfähig ist, bis er seine gewohnte Portion Weingeist in sich hat. Nach und nach stellen sich immer mehr und mehr Störungen in den Bewegungen und Empfindungen ein, Sinnestäuschungen gesellen sich dazu und es kommt zu periodischen Anfällen des

Säufer- oder Zitterwahnsinns (delirium tremens). Es bricht derselbe bisweilen plötzlich durch irgend eine zufällige Veranlassung (in Folge einer Gemüthsbewegung, Verletzung, Erkältung u. s. w.) aus, manchmal aber nach und nach unter Vorangehen der eben genannten Nervenstörungen (Unruhe, Aengstlichkeit, Zittern, Schlaflosigkeit). Der Kranke zeigt außerordentliche Unruhe und Beweglichkeit, ängstliche Hast in Allem, was er vornimmt; er ist schlaflos oder schläft einen unruhigen Schlaf mit schreckhaften Träumen; er wird von Sinnestäuschungen (Hallucinationen) arg heimgesucht, denn er glaubt selbst im wachen Zustande kleine Thiere, Mäuse, Katzen, Schlangen, Spinnen u. dgl. zu sehen, hört allerlei Stimmen und Lärmen, hat sonderbare Geschmäcke und Gerüche und phantasirt von Dieben oder Gespenstern, von Reisen, Fliehen und von Furcht vor Strafe. Der Kranke ist sehr redselig, aber meist nicht boshaft, nur selten tobend und mit Neigung zum Zertrümmern; er schwatzt und lärmt; er antwortet selbst auf manche Fragen richtig, sogar mit Witz, meist mit lallender stammelnder Zunge und zitternden Lippen; er kennt bisweilen die Umgebung, beachtet sie aber auch dann nur wenig. Der Gesichtsausdruck ist bald ängstlich und furchtsam, bald dem Blödsinn ähnelnd, bald die höchste Sorglosigkeit und Fröhlichkeit ausdrückend, lachend, fast wie bei dem Wahnsinne; die Augen gläsern, schwimmend, leicht geröthet und in steter Bewegung. – Die Dauer eines solchen Wahnsinnanfalles ist kurz; er endet entweder in 3 bis 4 Tagen durch einen tiefen ruhigen Schlaf, worauf der Kranke keine Erinnerung mehr an das im Anfalle Vorgefallene hat, oder er zieht ein tödtliches Leiden eines der lebenswichtigen Organe, besonders der Lunge und des Gehirns, nach sich und führt so zum Tode, nicht selten auch zum Selbstmorde. Das delirium tremens kehrt gern nach einem kürzeren oder längeren Zeitraume zurück und wird in diesen Rückfällen immer heftiger und gefährlicher. Sehr ungünstige Zeichen sind: völlige Schlaflosigkeit, heftige Angst und Todesfurcht, sehr starkes Zittern, Furcht vor dem Hinfallen, Schielen, Lähmungen. – Die Behandlung des Säuferwahnsinns verlangt vor Allem Beruhigung des Kranken und deshalb ist Opium hier ein kaum zu entbehrendes Heilmittel. Uebrigens lasse man den Kranken ohne direkte Zwangsmittel und ohne viel Hin- und Herreden sich austoben und beschränke sich auf stete Beaufsichtigung desselben. Man entferne von ihm alle Sinnesreize (besonders helles Licht) und Alles, was seine Phantasie anregen könnte.

Was nun die Behandlung der chronischen Säuferkrankheit betrifft, so kann diese ohne alle Arzneien geschehen, Patient ist aber freilich an strenge Enthaltsamkeit von spirituösen Getränken und an regelmäßiges reizloses Essen zu gewöhnen. Anstatt der Spirituosen können leichte (bittere) Biere und Kaffee empfohlen werden; geregelte Bewegung (Turnen, Fußreisen), kräftiges und öfteres Einathmen frischer Luft und häufiges Reinigen der Haut (Bäder) beschleunigen die Herstellung. Zur Erzielung des nöthigen ruhigen Schlafes ist das Opium bisweilen ganz unentbehrlich. – Zur Abgewöhnung des Branntweingenusses hat man ekelerregende Mittel (Brechweinstein oder Ipecacuanha) in kleinen Mengen in den Branntwein gemischt, oder alle Speisen und Getränke mit Branntwein versetzt. Selten haben noch diese Methoden geholfen, öfter dagegen der feste Wille des Trinkers, das Trinken zu lassen. Freilich dürfte dieser wohl nicht bei Solchen gefunden werden, welche so denken, wie einer meiner Patienten, der im Delirium zu seiner Entschuldigung sagte: „wenn die Natur zum Saufen mich erschuf, was kann ich machen?“
Bock.




Babylon und London.

An dem westlichen Ufer des Euphrat, da wo jetzt nur noch ein öder Flecken mit Namen „Hillah“ trauert, erhob und dehnte sich einst die Hauptstadt des alten blühenden Chaldäer-Reichs: Babylon mit einem Königspalaste von anderthalb Meilen im Umfang mit Mauern von 300 Fuß Höhe, und dem noch großartigeren Bel-Tempel, dessen berühmter „babylonischer Thurm“ in acht verjüngten Stockwerken mit äußerlich umlaufenden Rampen und Ruhebänken 600 Fuß hoch, höher als je ein Bauwerk der Erde, in das goldene Gemach des Licht- und Himmelsgottes emporstieg. Da oben wohnte er, der Gott des Landes, Chambre garni mit einem goldenen Altare, goldener Bettstelle u. s. w. und ließ sich zuweilen schöne Töchter von der dunkeln Erde unten, die alle der zweiten Gottheit, der Mylitta, mit Aufopferung ihres Magdthums zu opfern verpflichtet waren, heraufkommen. In untern Etagen saß der Gott in massiven, kolossalen Bildern von Gold auf goldenem Throne, die Füße auf goldenem Schemel vor einem goldenen Altare, [346] auf welchem jährlich für Tausende und Zehntausende von Thalern geopfert wurde. Um diesen Thurm und diese Königsburg wohnten Millionen von Menschen in höchster Culturblüthe, berühmt besonders durch textile Künste, Weberei und Buntwirkerei, Juwelierkunst, Bildhauerei, Schnitzwerk und Steinschneiderei. Sie trugen allgemein goldene Siegelringe, künstlich geschnitzte Spatzierstöcke, schön gestickte Gürtel und weiße Mäntel, langes, schwarzes, mit Myrrhen und Rosenöl gesalbtes, mit kostbaren Binden und Bändern durchflochtenes Haar, feine leinene Leibwäsche und kostbare wollene Gewirke und Gewebe. Sie beherrschten die damalige Menschheit durch Industrie, Kunst, Handel und Wissenschaft. Sie waren Jahrhunderte lang die erste Großmacht der vier vorgriechischen Großmächte der alten Welt. Ihre Maße, Gewichte, Münzen und Wissenschaften waren Norm und Regel für die andern Völker. Das goldene Gemach des Gottes Bel auf dem Thurme oben diente auch als Sternwarte. Hier berechneten die Astronomen schon 1500 Jahre vor Christi Geburt Sonnen- und Mondfinsternisse bis auf die Minute voraus. Dies läßt auf Mathemathik, Naturwissenschaften, Cultur und Literatur in hoher Ausbildung schließen. Alle die dürftigen Angaben über die Blüthe des alten Babylon laufen zu einem Bilde von Wohlstand, Reichthum, Bildung, Luxus, Cultur und Civilisation zusammen, mit welchem sich spätere und neue Völker erster Größe zwar an Umfang, aber nicht an innerer Fülle und Frische messen können. Namentlich bauten die alten Babylonier massiver und besser, als die heutigen Völker.

Aber von all ihrer architektonischen Erhabenheit, von all ihrer massiv goldenen Kunst und Cultur, von all diesem üppigen, reichen Leben ist nichts geblieben als der Tod. Nur Kirchhöfe erzählen noch von diesen alten Herrlichkeiten, besonders eine ganze, meilengroße, mehrere Stockwerke über einander geschichtete, ungeheure Stadt und Burg von Tausenden und Zehntausenden noch erhaltener Särge bei Warka (Orchoe), der 2400 Jahre lang offen gehaltene Hauptbegräbnißplatz des großen alten Chaldäerlandes, den wir neuerdings erst durch die Besuche und Schilderungen zweier Engländer, Lostus und Taylor, als das großartigste und schauerlichste Denkmal untergegangener Völker haben kennen lernen. Von dem 600 Fuß hohen Thurme mit dem goldenen Gemache aber und den massiv goldenen Bildern des großen Gottes ragen nur noch einzelne verwitterte Trümmer auf einer von Regenströmen durchfurchten todten Ebene bei Hillah hervor. Die Königsburg mit ihren 300 Fuß hohen Mauern von anderthalb deutschen Meilen Umfang ist spurlos von der Zeit und dem Strome der Geschichte weggewaschen und zu Sand und todtem Gestein zerwittert worden. Vom Zeit- und Geschichtsstrome! Aber warum hat man nicht reparirt und neugebaut? Die Zeiten, wenn Völker die Kraft verlieren, zu repariren und neu zu bauen, werden von ihnen selbst gemacht; auch die Verwandelung dieser conservativen, reparirenden, sich recreirenden Kraft in zersetzende Säuren und auflösende Stoffe geht aus ihnen selbst hervor. Als die babylonische Culturblüthe sprachliche und sittliche Verwirrung und Zersetzung auszuduften begann und der Mylitta-Cultus in weichliche Sinnenlust und schamlose Unzucht ausartete, ward die conservative und recreirende Kraft vergeudet und zum zersetzenden Elemente. Wenn in ähnlicher Weise heut zu Tage die Kraft eines Volkes unsittlich, lügnerisch, gewaltsam, heuchlerisch wird, so beginnt auch heut zu Tage wieder dessen Untergang, so groß, reich, muthig und civilisirt es auch sein mag. Einen solchen Proceß haben wir längst in England sich entwickeln sehen. Die Wahlen und deren Ergebniß sind ein Triumph der Lüge, Hypokrisie und Schamlosigkeit über seine alte conservative und recreative Kraft, eine offenbar gewordene, als politisches Princip anerkannte Gewalt, welcher die nicht mit regierende, noch gebliebene sittliche Kraft, die Steinkraft der Häuser und Burgen und selbst der unerschütterliche Koloß der Paulskirche auf die Dauer nicht widerstehen können. Der „Verfall Englands“ ist jetzt ein sehr thätiger chemisch-historischer Zersetzungsproceß, der nur durch eine gründliche Reform des ganzen Organismus vom Wege des Unterganges abgelenkt und zum Reconvalescentenprocesse gerichtet werden könnte.[1]

London ist die Hauptstadt Englands, das „Herz der Welt“, der chemische Hauptkessel des Processes, von dessen Agentien und Reagentien mehr oder weniger alle gebildeten, am Weltverkehre betheiligten Völker mit abhängen. Sehen wir uns den Inhalt dieses „modernen Babylon“ deshalb einmal in seinen statistisch ausgedrückten Ingredienzien an und vergleichen wir die Elemente, welche als gesund gelten können, mit denen, die sich ohne Weiteres als zersetzt, zersetzend, verwitternd und Verfall ausbreitend ankündigen. London zählte beim letzten Census 2,362,236 Einwohner, die sich seitdem etwa auf 21/2 Millionen vermehrt haben. Von den gezählten Bewohnern waren 1,106,558 männlichen, also 1,255,678 weiblichen Geschlechts, von Ersteren 339,098, von letzteren 409,731 verheirathet. Dazu kommen 37,080 Wittwer und 110,076 Wittwen. Während der Nacht der allgemeinen Schätzung waren 28,598 Ehemänner ohne Frauen und 39,231 Frauen ohne Männer. – Im vorigen Jahre wurden 86,833 Kinder geboren und 56,784 Personen starben. Die Einwohnerzahl vermehrte sich in diesem Jahre um mindestens 60,000. Dabei viele leere Häuser und unzählige Reihen von Miethszetteln! Ein kleiner Theil wohnt in großen Hallen und Palästen mit 3-4 Zimmern auf jede Person, die große Masse liegt wie Heringe in dunkeln, kleinen, schmutzigen Kammern zusammengepfercht, oft, wie Dr. Letheley unlängst schilderte, Alt und Jung, männlich und weiblich, unter Lumpen und Frechheit und Elend dutzendweise durcheinander geschichtet. Dabei giebt’s etwa 200,000 „tramps“ d. h. Personen, die erwiesen ohne bestimmtes Obdach, ohne eine Kammer, oder den 12. Theil einer bedeckten Höhle stets unter freiem Himmel, unter Brückenbögen und Thorwegen u. s. w. schliefen. Dabei hat sich aber der Gesundheitszustand gegen früher bedeutend gebessert. London ist die gesündeste Stadt der Erde, insofern hier im Vergleich zu allen andern großen Städten die wenigsten Todesfälle auf je eine bestimmte lebende Anzahl kommen. Früher kamen etwa 30 Todesfälle im Jahre auf je 1000 Personen, während den letzten 10 Jahren bis 1855 im Durchschnitt 25, im vorigen Jahre blos 22. In Berlin, Wien, Paris, Peking, New-York u. s. w. kommen zwischen 30 bis 50 Todesfälle auf je 1000 Lebende (das Zahlenverhältniß für die einzelnen großen Städte der ganzen Erde – bereits ermittelt – ist mir nicht gegenwärtig).

London ist nicht nur die größte, sondern auch am dichtesten bevölkerte Stadt der Welt, „eine ganze mit Häusern bedeckte Provinz“, sich über vier „Grafschaften“ Englands ausweitend, ein Viertel volkreicher als Peking, zwei Drittel als Paris, mehr als doppelt als Constantinopel, viermal als Petersburg, fünfmal als Wien, New-York und Madrid, siebenmal als Berlin, achtmal als Amsterdam, neunmal als Rom, funfzehnmal als Kopenhagen und siebzehnmal volkreicher als Stockholm. Es bedeckt 122 englische Quadratmeilen oder 78,029 Morgen Landes mit 327,391 Häusern, [347] die sich im Durchschnitt steigend um 4000 jährlich vermehren. In grader Ausdehnung von Norden nach Süden ist es 12 englische Meilen lang, von Westen nach Osten über 15 oder über drei deutsche Meilen. Eine Straße nach dem Norden hinlaufend (Tottenham Court Road) ist ziemlich ohne Ausnahme auf 25 Meilen Länge auf beiden Seiten von Häusern eingeschlossen, sie läuft von London aus durch mehrere Städte hindurch, ohne daß man einmal in’s Freie kommt. Unzählige andere Häuserstraßen laufen in ähnlicher Weise auch schon ohne Aufhören in andere Städte hinein. Die Häuser Londons in einer Reihe würden über ganz England hinweg, durch ganz Frankreich hindurch bis an die Pyrenäen reichen. Jetzt doppeln und durchwinden sie sich in 10,500 benannten Straßen, die nach Größe und Form die verschiedensten Gattungsnamen haben. Die 5000 Hauptstraßen, zusammen über 2000 englische Meilen lang, sind mit einem theuren Pflaster versehen. Es kostete 14,000,000 Pfund Sterl. und dessen Erhaltung erfordert jährlich 1,800,000 Pfund.

Um die 1900 Meilen langen Gasröhren für 4 Millionen Pfund jährlich stets gefüllt zu halten, daß sie die 360,000 Brenner speisen, müssen alle 24 Stunden 13,000,000 Cubikfuß Gas entwickelt werden. Ein anderes unterirdisches Adersystem trieb voriges Jahr 80,000,000 Gallonen Wasser durch die Küchen und Häuser Londons und durch ein drittes colossales Adersystem, die Kloaken wieder in die Themse. Neben diesen drei ungeheuren Adersystemen von Eisen und Stein laufen in manchen Straßen noch drei bis vier unterirdische Arterien von Telegraphendrähten. Dazu kamen die Tunnel’s der Stadteisenbahnen und deren steinerne Arterien und Brücken über die Häuser hin.

Die Bewohner Londons in einer dichten Doppelreihe hinter einander aufgestellt, würden einen 670 Meilen langen Zug darstellen und, drei Meilen in der Stunde zurücklegend, neun volle Tage und Nächte marschiren, ehe sie an uns vorbeikämen. Jeden Tag drängen sich über 125,000 Wagen und Instrumente aller Art auf Rädern durch die Hauptstraßen: 3000 Cabs (Droschken), über 1000 Omnibus, über 10,000 Lastwagen und Geschäftsvehikel der verschiedensten Größe und Bauart u. s. w. Von Außen bringen, natürlich ohne die Eisenbahnen, über 3000 Fahrzeuge auf Rädern Lebensmittel und Bedürfnisse in die Stadt.

Im Durchschnitt sterben 170 Menschen täglich, und alle fünf Minuten wird ein Londoner Kind geboren. Im Jahre 1856 starben in den 116 verschiedenen Armen- und Wohlthätigkeitsanstalten Londons 10,381 Personen – von 56,786, die überhaupt starben. Beinahe jede fünfte Person starb auf Kosten der Bevölkerung, ohne eigenen Heerd, ohne Heimath im letzten Stadium des Elends, denn nur im letzten, niedrigsten Stadium des Elends findet der gesunkene oder niedergetretene Mensch Aufnahme in einer öffentlichen Anstalt. Jede Nacht werden Tausende von den Thüren der Armen- und Arbeitshäuser weggetrieben (wenn sie nicht davor niederfallen), da kein Platz ist, schon deshalb oft nicht, weil die Thürsteher und Vorsteher oft ungemein dick und fett sind, und den meisten Raum und das meiste Geld einnehmen. Auch betrügen die höheren Vorsteher gern, wie z. B. vorigen Winter in einer großen Wohlthätigkeitsanstalt um blos 70,000 Sterling.

Im Durchschnitt ertrinken und ersäufen sich jährlich 500 Personen in der Themse. Die meisten Opfer dieser Art liefert die unglückseligste Classe der Näherinnen. Im vorigen Jahre wurden 143,000 Obdachlose der letzten Classe in Arbeitshäuser aufgenommen. Von Verbrechern sind polizeilich bekannt und notorisch: 107 Einbrecher und offene Räuber, 110 bloße Einbrecher, 38 Straßenräuber (auf offenen Stellen), 773 professionelle Taschendiebe, 3657 gemeine Diebe (und unübersetzbare „sneaksmen“, Schleicher, die Diebesgelegenheiten ausmitteln und gestohlenes Gut immer sofort bei Seite bringen), 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Falschmünzermeister, 28 einzelne Falschmünzer, 317 Verbreiter falschen Geldes, 141 „Schwindler“, 182 Betrüger („cheats“, ein bestimmtes Gewerbe), 343 Diebshehler, 2768 professionelle „Auflaufmacher“ („rioters“, um im Gedränge zu stehlen), 1205 Vagabunden, 50 professionelle Bettelbriefschreibanstalten, 86 gewerbliche Bettelbriefträger, 6371 Prostituirte von Profession und 470 unbestimmte Verbrecher. Letztere vagabundiren innerhalb der Verbrechergewerbe, die im Ganzen sich so streng geschieden halten, wie der strengste Gewerberath es nicht zu Stande brächte. Es ist Ehre und Classenstolz unter den 16,900 gewerblichen, der Polizei bekannten Verbrechern. Das geht so weit, daß ein Einbrecher oder Auflaufmacher bei dem ganzen „Stande“ in Verruf kommen würde, wenn er sich einmal so weit vergäße, dem gemeinen Taschendiebe in’s Handwerk zu pfuschen. Die activen Taschendiebe wieder sehen mit Verachtung auf ihre eigenen Gehülfen, die „sneaksmen“ herab, So geht das durch, selbst bis in die Classe der Prostituirten, von denen die Spaziergängerinnen bei Tage mit sittlichem Abscheu auf die Nachteulen herabblicken.

Das sind die notorischen, berüchtigten, polizeilich bekannten, weil eingefleischten Verbrecher. Die Zahl der Anfänger, gelegentlicher und sporadischer Verbrecher beiderlei Geschlechts ist nicht zu ermitteln. Die 16,900 Verbrecher erster Classe eignen sich jährlich im Durchschnitt 42,000 Pfund Sterling an, so daß sie sich im Ganzen mit etwa 20 Thaler jeder durch’s Jahr behelfen müssen. Man sieht, daß diese zahlreich vertretenen Gewerbe kein glänzendes Loos bieten, und die Meisten vom Drucke der oberen Gesellschaftsschichten dazu gedrängt werden. – Im Durchschnitt befinden sich 6000 von diesen 16,900 stets im Gefängnisse, so daß den „Freien“ deren Antheil an der Generalcasse allerdings gutgeschrieben werden muß. Letztere kosten der guten Gesellschaft jährlich 170,000 Pfund. Jeder „jugendliche“ Verbrecher, der aus Mangel an Erziehung, Brod und Halt zum Diebe u. s. w. wird, kostet in „Reformanstalten“ 300 Pfund. Wenn das Geld vorher für ihn disponibel wäre, würde er für 100 Pfund ein nützlicher Mensch, der vielleicht jährlich einige Pfunde produciren würde. Wie aber die weisen Einrichtungen jetzt sind, muß das Kind in Lumpen und Verwahrlosung erst zum Verbrecher werden, ehe die 300 Pfund für ihn angelegt werden können. Von den Bettlern sind 35,000, darunter zwei Drittel Irländer, professionell: etwa 150,000 singen und betteln blos gelegentlich auf den Straßen. Etwa 2000 davon karren in glücklicher Zeit mit Vegetabilien umher und schreien sie unbarmherzig aus, 4000 mit Eßwaaren und Flüssigkeiten, 1000 mit Schreibmaterialien u. s. w. Auch von den 70,000 Webern, 22,479 Schneidern, 30,805 Schuhmachern, 43,928 Putzmacherinnen, 21,210 Näherinnen, 1769 Damenhutmacherinnen, 1277 Mützenmacherinnen verfallen stets Massen noch tiefer unter Bettler, Verbrecher, Prostituirte, in die Themse oder in’s Grab.

London besteht aus zwei Welten mit einer ungeheuern Kluft dazwischen. In der einen leben die Armen, dicht und fest durch Elend, Schmutz und Ignoranz verbunden, in der anderen die wenigen, aber durch Geld, Vorrechte und Besitz allein Mächtigen, von denen ein Einziger viel mehr luxuriös ausgestatteten Raum hat, als in der anderen Welt Hunderte, ja Tausende zusammengenommen. Zur Charakteristik dieser andern Welt gehören folgende statistische Angaben. Die Münze schlägt im Durchschnitt jährlich 5 Millionen Pfund Gold, 130,000 Pfund Silber und nur 9000 in Kupfer. Die Bank von England mit 800 Beamten, die zusammen 190,000 Pfund Sterling Salaire bekommen, hat 25 Mill. Pfund in Banknoten circulirend. Der Hafen von London bringt jährlich 15,000,000 Pfund Zolleinkünfte. Nach einer Schätzung von Mac Culloch kommen jährlich für 70 Millionen Pfund Producte nach London. Die vermietheten Häuser bringen jährlich 15 Millionen Pfund Miethe. Nur zwei Fünftel davon sind versichert und zwar mit 170,000,000 Pfund. Das Capital der Londoner Banquiers ist auf 70,000,000 Pfund abgeschätzt worden. Im Jahre 1849 machte ein einziges Haus Geschäfte im Betrage von 30 Mill. Pfund. Im Zahl-Departement der Bank wurden im Jahre 1839 blos 954 Mill. Pfund eingeliefert. Dabei sind alle Zahlungen unter 100 Pfund ausgelassen.

Die Bevölkerung von London verzehrt jährlich 280,000 Ochsen, 30,000 Kälber, 11/2 Mill. Schafe, 35,000 Schweine, 1,700,000 Scheffel Weizen, 312 Mill. Pfund Kartoffeln, 90 Mill. Kohlköpfe, Fische in ungezählten Millionen, 3 Mill. Stück Geflügel, 1,300,000 Stück Wild, 80 Mill. Eier u. s. w. In und um London liefern etwa 14,000 Kühe den täglichen Bedarf an Milch. Außerdem gibt’s jeden Tag frische „Eisenbahnmilch.“ Dazu trinkt London jährlich 65,000 Oxhoft Wein, 2 Mill. Gallonen Spirituosen und 45 Mill. Gallonen Porter und Ale in 3700 Bierläden, 600 „Public“-Häusern und blos 13 Weinlocalen.

Das größte Wunder ist, daß eine so ungeheure Menschenmasse mit Elend und Verbrechen aller Art von 6500 Policemen, die zusammen nur 380,000 Pfund kosten, in Ordnung gehalten wird. Das Geheimniß dabei ist, daß man diese ungeheuren Massen politisch, religiös, gewerblich und auch in allen möglichen, nicht zu starken Polizeiwidrigkeiten ungeschoren läßt. So sind sie [348] elend, zerlumpt, schmutzig, hungrig, durstig, betrunken u. s. w. – aber zufrieden in ihrem freien Schmutze. Wer lesen kann, findet für jede Art von Gesinnung und Richtung, auch die verrückteste, revolutionärste und gefährlichste, die reichlichste, unbeschnittene Lectüre in 36 wöchentlichen Magazinen, 10 Tageszeitungen, 5 Abendblättern und 72 Wochenzeitungen. In Armen- und Lumpenschulen werden 15,000 Kinder auf öffentliche Kosten erzogen, gekleidet u. s. w. Auch an religiöser Mahnung fehlt’s nicht in 371 Hochkirchen, außerdem in 140 für die „Independenten“, 130 für die Baptisten, 154 für die Methodisten, 23 für die Presbyterianer, 9 für die Unitarier, 35 für die Katholiken, 4 für die Quäker, 2 für die Moravianer und 11 für die Juden. Andere Secten, wie die „Plymouth-Brüder“, Irvingianer, Sandemanianer, Lutheraner, französischen Protestanten, Griechen, Italiener, Deutschen (die als Secte gezählt werden) und Mormonen haben zusammen über 100 Kapellen und Kirchen.

In diesen Zahlen und Angaben, die sich noch bedeutend vermehren ließen, steckt schon so viel Stoff zum Nachdenken und zur Weisheit, daß Jeder daran genug haben kann. Wir wollen in dieser Beziehung nicht vorgreifen und die Weisheit, welche darin steckt, predigen; bemerken aber, daß die ungeheuren Massen schädlicher, ungesunder, destructiver Stoffe, die in dem modernen Babylon stecken, diese kolossale Welt blos deshalb nicht zerstören, weil man keine Furcht vor ihnen zeigt und aus Furcht nicht fürchterlich gegen sie wird, sondern sie gehen läßt, sie verachtet. Dieses letztere Verhältniß der regierenden Classen zu den regierten macht erstere wirklich zu Aristokraten. Der Vollblut-Aristokrat verachtet die Canaille, spielt also nicht den Polizeivater gegen sie. Die Canaille ist damit zufrieden und hat guten Grund dazu, denn offenbar wäre sie viel schlimmer daran und gar nicht zu bändigen, wenn die Aristokratie sie Tag und Nacht controllirte und examinirte, ob auch Alles in Ordnung sei.




Blätter und Blüthen.

Ein Mittagsmahl bei Peter dem Großen. In einem Schreiben, das der Kanonikus von Lüttich und Propst von St. Croix, Herr von Launage, an den Minister und Staatssecretair des Kurfürsten von Cöln 1717 richtet, wird ein Diner beschrieben, das Peter der Große gegeben hat. Der Brief lautet: „Am Freitag kam ich nach Spaa, wo der Zaar sich gerade befand, und in einem Zelte wohnte. Ich nahm mir die Freiheit, ihm ein Becken voll Kirschen und Feigen aus meinem Garten zu präsentiren. Das war ihm sehr angenehm; er machte sich sogleich darüber her und, ungedenk vermuthlich, daß er am Morgen seine einundzwanzig Gläser Wasser zu sich genommen hatte, verzehrte er, ehe man sich’s versah, ganzer zwölf Feigen und etwa sechs Pfund Kirschen. Den Tag darauf erzeigte er mir die Ehre, mich zur Tafel zu bitten. Es wäre nicht halb recht, wenn ich Ihnen von dieser merkwürdigen Mahlzeit keine Beschreibung geben wollte, von der man nur sagte, daß Se. Majestät gewöhnlich so dinire. Die Tafel war eigentlich nur zu acht Couverts, aber man hatte das Geheimniß verstanden zwölf Personen daran zu placiren. Der Zaar saß oben an in der Nachtmütze und ohne Halsbinde, wir übrigen saßen längs um den Tisch hin, aber wohl einen guten Fuß davon ab, Zwei Soldaten von der Garnison trugen jeder eine große Schüssel auf, in welcher platterdings gar nichts war, außer daß am Rande irdene Näpfchen voll Bouillon standen, in deren jedem ein Stück Fleisch lag. Jeder nahm seinen Napf und stellte ihn vor seinen Teller hin. Dadurch entstand aber, die Entfernung vom Tische selber hinzugenommen, eine solche Weitläufigkeit und Unbeholfenheit, daß man, um einen Löffel voll Suppe herauszuholen, den Arm so weit ausrecken mußte, als wenn man rappiren sollte. Hatte man seine Bouillon auf, und verlangte noch mehr, so sprach man ohne Umstande dem Napf des Nachbars zu, wie Se. Majestät selber, der mit dem Löffel in den Napf seines Kanzlers fuhr. Der Galeeren-Admiral schien gar keinen Appetit zu haben, denn er amüsirte sich daran, an den Nägeln zu kauen. Nun kam ein Kerl, der sechs Bouteillen Wein auf die Tafel nicht stellte, sondern gleich einer Handvoll Würfel hinkollerte.

Der Zaar nahm eine davon, und schenkte jedem Gast ein Glas davon ein. Mein Platz war neben dem Kanzler; als dieser gewahr wurde, daß ich das Fleisch ohne Salz aß, denn leider stand nur ein einziges Salzfäßchen auf dem Tische, und zwar ganz oben, neben dem Zaar, so sagte er mir sehr artig: Wenn Sie Salz haben wollen, mein werthester Herr, so langen Sie nur ohne Umstände zu. Um mich nicht gimpelmäßig zu benehmen, so streckte ich meinen Arm geraden Weges nach dem Platze des Zaaren hin, und versorgte mich auf diese Manier mit Salz die ganze Mahlzeit über. Auf dem Tische sah es schön aus. Fast aus allen Näpfen war Brühe auf das Tischtuch verschüttet, so auch der Wein, weil die Bouteillen nicht ordentlich zugepfropft wurden. Als man von der Tafel aufstund, war das Tischtuch über und über mit Fett und Wein getränkt. Nun kam das zweite Essen. Einem Soldaten, der eben zufällig vor der Küche vorbeigegangen war, hatte man eine Schüssel aufgepackt, und da er darüber nicht Zeit gehabt hatte seinen Hut abzuthun, so schüttelte er beim Eintreten mit dem Kopf, damit er von selber herunterfiele. Aber der Zaar gab ihm ein Zeichen, er möge nur kommen, wie er wäre. Dies zweite Gericht bestand aus zwei Kälberkeulen und vier jungen Hühnern. Se. Majestät nahm das größte davon mit der Hand aus der Schüssel, rieb es sich prüfend unter die Nase und, nachdem er mir durch einen Wink zu verstehen gegeben, daß er es köstlich finde, war er so gnädig, es mir auf meinen Teller zu werfen. Die Schüssel ward übrigens von einem Ende des Tisches zum andern geschoben, ohne daß damit ein Unglück arrivirt wäre, was eigentlich auch gar nicht möglich war, da außer ihr gar nichts weiter auf dem Tische sich befand, und die Fettrinde auf dem Tischtuche die Passage ziemlich erleichterte. Das Dessert bestand aus einem Teller mit Biscuits aus Spaa, nach welchem man sich endlich von der Tafel erhob. Der Zaar ging an ein Fenster; hier fand er ein paar Lichtscheeren, mit denen er, so voll Talg und angerostet sie auch waren, sich die Nägel putzte. Glücklicher Weise war die Zeit da, mein Brevier zu lesen, und so kam ich mit guter Manier davon.“



Der illustrirte Dorfbarbier.
Ein Blatt für gemüthliche Leute, mit lustigen Illustrationen,
das Vierteljahr 10 Neugroschen.




Es ist eine der ausgemachtesten Wahrheiten des Jahrhunderts und alle philosophische Systeme, so wie die neuere Weltanschauung laufen in dem Brennpunkte zusammen, daß sich jeder von einem Weibe Geborne entschieden im Lichte steht, der nicht auf den Illustrirten Dorfbarbier abonnirt. – Eine geheime Clausel des letzten Pariser Friedens soll besagen, daß nach dem Barbier von Sevilla der Dorfbarbier der fidelste Barbier, seit die Menschheit überhaupt geschoren worden. – Ein Banquier, der diese Tage sehr unlustig von der Börse kam, hat gesagt: Meine einzige Erholung in dieser gedrückten Zeit ist noch der Dorfbarbier, und der pensionirte Hauptmann Knopfdistel hat geäußert: Der Guckuk hole alle Journale, ich lobe mir den Dorfbarbier, der verarbeitet die Weltgeschichte zu humoristischen Knackwürstchen, worauf ein frischer Trunk schmeckt. So will ich’s haben.

Menschheit, die Du noch nicht abonnirt hast, beherzige den Ausspruch dieser Männer. Da den 13. Juni die Welt nicht alle geworden, sieht auch der Dorfbarbier nicht ein, warum er die Flinte in’s hochgewachsene Korn werfen soll. Er wird daher in Begleitung des Berliner Buddeelmeier, der beiden Gevattern Breetenborn und Nudelmüller, so wie des durch die jüngste Preisausschreibung satt gewordenen Bildermanns,

der vom 1. Juli ab seine preisgekrönten Bilder produciren wird,

seine allwöchentliche Wanderung für 10 Neugroschen wie zeither fortsetzen und zwar von dem sibirischen Eise bis zu den weinfröhlichen Hügeln des Rheingaues, von den Hauptstädten Grusiens und Tauriens bis zu den „heerdenmelkenden“ Holländern, von der blauen Adria bis zu Norwegens Fichtenwäldern. So weit wohnt die verehrte Kundschaft, wie Postämter und Buchhändler zugestehn.

Wer also auf den genannten Territorien noch nicht abonnirt,

Der thue dazu und abonnir’,
Das neue Quartal steht vor der Thür –
Und hiermit empfiehlt sich

Der Dorfbarbier.


Alle Buchhandlungen und Postämter nehmen Bestellungen an.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir müssen gestehen, daß wir trotz alle den schlagenden und geistreichen Aufstellungen unsers Londoner Freundes doch nicht recht an den raschen Verfall Englands glauben können. Die Lügen eines Staatsmannes – und daß Palmerston bezüglich China’s dem englischen Volke eine Nase gedreht, räumen jetzt selbst seine Freunde ein – die verwerflichen Manipulationen eines Regierungssystems, die Erbärmlichkeiten einiger hochstehenden Persönlichkeiten – das Alles kann ein Volk in der Entwickelung aushalten und an den Piedestalen seines sittlichen Werthes wie ein böser Wurm nagen, aber es gehören härtere Schläge und die hundertjährige Knechtschaft einer verbissenen und meineidigen Tyrannei dazu, um ein Volk so zu entsittlichen, daß es seinem raschen Verfall entgegengeht. Ohne von verschiedenen Theilen des eigenen Vaterlandes zu sprechen, was, fragen wir, wäre aus Frankreich geworden und welche Zukunft stände diesem Lande jetzt noch bevor, wenn der verderbliche Einfluß einzelner hochstehender Persönlichkeiten, ihre Meineide, Lügen und Corruptionen einen so großen Eindruck auf dan Volk geübt, daß sie nothwendig dessen Verfall bedingt hätten? Wo ist von Oben herab mehr gelogen, mehr betrogen, wo die Gesellschaft systematisch seit langen Jahren mehr corrumpirt und jeder sittlichen Unterlage beraubt worden, als in Frankreich? Wo liegen wahre sittliche Bildung, jede edlere freie Bewegung mehr zu Boden, als in dem jetzigen gepriesenen Frankreich, dessen edelste Geister entweder das harte Brod der Verbannung essen, oder sich schämen, in einer Presse mitzuwirken, die sie verachten? Selbst angenommen, daß in Frankreich mehr noch als in England die Symptome eines Verfalles zu Tage liegen; wollen und können wir deshalb daran zweifeln, daß mit dem Eintritt eines andern Regierungssystems auch die Symptome schwinden und der alte Aufschwung des sonst edlen Volkes eintreten muß und wird?
    Und doch wie hoch steht dagegen noch England mit seiner großartigen Productionskraft, seinen gesicherten Freiheiten, seiner in das Fleisch und Blut übergegangenen Constitution, seinem regen, stolzen Nationalsinn!
    Wenn auch das Mährchen vom Palmerston’schen Liberalismus selbst in Deutschland längst verklungen ist, wenn auch kein gesunder Mensch mehr an „Englands Mission“ glaubt, die Civilisation nach Osten zu tragen, obwohl die Thatsache feststeht, daß England von allen erobernden Nationen das Civilisiren immer noch besser versteht, als z. B. Frankreich und Rußland, die sich selbst noch zu civilisiren haben, wenn auch Vieles in England noch den Zopf hinten hat und die Macht des Reichthums dort einen größeren Druck ausübt, als in vielen andern Ländern, die vielen Vorzüge des englischen Staatslebens halten doch die Kraft des Volkes stets aufrecht und lassen einen Verfall des Landes nimmermehr zu.
    D. Redact.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Staßen