Die Gartenlaube (1859)/Heft 24

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 24. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Der alte Schmuggler.
Novelle von Ludwig Rosen, Verfasser des „Buchenhofes“.
(Fortsetzung.)


III.

Nach der Rückkehr in den Wolfsgrund wurde die Absenkung von vier Leuten unter Winrich’s Befehl zum Waldhofe besorgt und zugleich die sorgfältigste Rücksicht für die Dame eingeschärft. Marx erwies sich jetzt freundlicher gegen seinen Gast, theilte das Abendessen mit ihm und besprach bei einem Glase ganz trinkbaren Weines die geeignetsten Maßregeln, um die Zwecke der Expedition zu fördern. Gesprächsweise äußerte Schellenberg: „Wo die Schmuggelei so ausgedehnt betrieben wird, wie hier, da besitzt sie gewöhnlich eine mehr oder weniger geordnete Organisation, daher auch in der Regel ein anordnendes und lenkendes Haupt. Hat man nun Niemand in der Gegend im Verdacht, an der Spitze der Schmugglerbande zu stehen?“

„Hm, der meiste Verdacht ruht wohl auf Feibes Itzig in Eversburg,“ sagte Marx.

„Also ein Jude – was ist’s für eine Art von Mann?“

„Er ist ein durchtriebener Geselle, mehr weiß ich nicht von ihm zu sagen. Aber was ich fragen wollte: haben Sie denn Fräulein von Schöneberg auf dem Waldhofe selbst gesprochen?“

„Ich wurde nicht zugelassen und sprach nur mit der Dienerin, die aber ein ganz verständiges Frauenzimmer zu sein schien.“

„Ja, die Henriette ist eine gewandte Person, sie ist die Tochter des verstorbenen Schulmeisters in Walbröl und könnte es viel besser haben, wenn sie nicht am Fräulein hinge, wie eine Klette.“

„Sagen Sie mir nur, Herr Marx, wie in aller Welt kommt das Fräulein in diesen halb verbrannten, halb verfallenen Schutthaufen?“

Marx zögerte einige Augenblicke und schien sich nur ungern auf folgende Auskunft einzulassen.

„Die adelige Familie, welcher das Gut gehörte, war ausgestorben, da fanden denn die Gerichte noch dieses Fräulein als eine Verwandte von der letzten Gutsherrin heraus. Weil die Person sonst nirgends zu bleiben wußte und auch keinen Käufer für den Plunder fand, so zog sie mit ihrer Dienerin hierher.“

„Wovon lebt sie denn?“

„Von dem Pachtgelde der Mühle und einigen geringen Gefällen solcher Waldbauern, die zu arm zur Ablösung waren. Es ist zu wenig, um ordentlich zu leben, und doch zu viel, um eigentlich zu verhungern.“

„Sie sollten das Anwesen kaufen, Herr Marx.“

„Der Himmel soll mich behüten! Doch was ich sagen[WS 1] wollte: ich pflege so vor dem Schlafengehen noch ein Glas Punsch zu nehmen, das gibt eine geruhige Nacht. Machen Sie meine Gewohnheit mit, Herr Lieutenant?“

„Warum nicht?“

Marx ließ heißes Wasser kommen und mischte dann im Nebenzimmer zwei Gläser des dampfenden Getränkes. Schellenberg würde auf eigene Gedanken gekommen sein, wenn er gesehen hatte, wie der Alte in eins der Gläser ein feines Pulver schüttete, aber er merkte nichts davon und trank arglos das dargebotene Glas aus, das ihm, wenn es ihm auch recht stark vorkam, doch ganz gut schmeckte. Er begab sich nun auf sein Zimmer, verschloß es sorgfältig von innen und suchte baldmöglichst das Lager auf.

Obschon der ermüdete Jüngling fast augenblicklich in einen anscheinend tiefen Schlummer fiel, so blieb doch sonderbarer Weise ein Theil seines Seelenlebens wach, aber ganz nach innen gekehrt mit gänzlicher Verzichtleistung auf die Thätigkeiten der äußeren Sinne, dieselben gleichsam durch ein unmittelbares geistiges Schauen ersetzend, aus diese Weise Eindrücke rasch und stark aufnehmend, ohne aber sich ihrer vollkommen klar bewußt zu werden. So schien es ihm, während er mit festgeschlossenen Augen dalag und kein Glied zu rühren vermochte, als öffnete sich ein Theil der Wand beim Ofen, eine Hand mit einer Blendlaterne streckte sich hervor, dann schob sich gekrümmt eine ganze Gestalt durch, dann richtete sich die Gestalt in ihrer vollen Höhe auf – es war Marx, der Besitzer des Hauses, aber noch viel grimmiger aussehend, wie am Tage, ja wahrhaft unheimlich durch den zornig zusammengepreßten Mund und die tief herabgezogenen Brauen. Schellenberg wollte aufspringen und den Eindringling zur Rede stellen, aber er vermochte nicht einmal das kleinste Glied zu regen, er konnte blos wahrnehmen, was der unheimliche Besuch begann. Leise schlich dieser zum Bett, ließ das volle Licht der Laterne auf den Schlafenden fallen und nickte dabei gleichgültig mit dem Kopfe, als sei die Untersuchung eigentlich überflüssig gewesen. Dann beleuchtete er den Tisch und fiel mit gieriger Eile über die starkgefüllte Brieftasche her; er setzte die Laterne hin und begann den Inhalt der Brieftasche auszupacken. Das Papiergeld, welches ihm zuerst in die Hände fiel, legte er ohne die geringste Berücksichtigung bei Seite, aber die Dienst-Instruction, auf die er nun stieß, schlug er mit hastiger Eile auseinander und las den Eingang, indem er murmelte: „Schellenberg – wirklich Lieutenant Schellenberg – er kann’s also nicht sein!“ – Mit mehr Ruhe las er nun das ganze Schriftstück durch, wobei zuweilen ein boshaftes Grinsen über sein Gesicht zog. Dann öffnete er ein zweites [338] Papier, das Officiers-Patent, und las mit einer gewissen Befriedigung: „Friedrich Schellenberg, Sohn des Majors Schellenberg.“ Er legte die Papiere wieder in die Brieftasche, nahm die Laterne und leuchtete noch einmal flüchtig über den Schlafenden hin. Da bemerkte er etwas, was ihn stutzig machte: er griff nach der Schnur, welche um den Hals des Schlafenden hing, zog sie hervor und erblickte so den daran befestigten Ring – seine Augen quollen fast hervor, als er einen vollen Lichtstrahl auf denselben fallen ließ. Der Schläfer machte – oder glaubte doch, die höchsten Anstrengungen zu machen, um sich zu bewegen, um nur zu ächzen oder zu stöhnen – umsonst, die bleierne Gewalt des Scheintodes lag bewältigend auf ihm. Marx sagte: „Also doch! Mein Rachewerk ist also noch nicht beendigt! Unglücklicher, der Ring ist Dein Verderben!“ – Noch einen wüthenden Blick auf den Schläfer werfend, entfernte er sich dann wieder durch die Oeffnung in der Wand, die sich hinter ihm schloß, und Alles war vorüber. Der Zustand Schellenberg’s verwandelte sich allmählich in einen wirklichen Schlaf voll fieberhaft wirrer Träume, aus welchem er spät am Morgen mit empfindlichen Kopfschmerzen erwachte.

Ja, er wachte nun wirklich: die Sonne schien freundlich in das Zimmer, vor ihm lagen seine Kleidungsstücke, auf dem Tische befanden sich seine Pistolen, seine Uhr, seine Börse, seine Brieftasche – beim Anblick der Brieftasche überfiel ihn plötzlich die Erinnerung an die nächtliche Scene, und er sagte zu sich: „War das Traum oder Erlebnis? Kann man so träumen oder kann man solches erleben?“ – Er stand rasch auf und öffnete die Brieftasche; es war Alles darin, was hinein gehörte. In seinen Gedanken hin- und herschwankend, kleidete er sich an und begann eine genaue Untersuchung der Wand in der Nähe des Ofens, aber es ließ sich nichts Besonderes entdecken. Beim hellen Tageslichte, indem das Gespräch und das Gelächter seiner Soldaten vom Hofe heraufklang, war zwar alles Grauen der Nacht gewichen, aber das Räthselhafte blieb. Er begab sich hinunter zu den Schützen; sie befanden sich wohl und guter Dinge, mit allem Nöthigen reichlich versorgt; der Hausherr war, wie ihm berichtet wurde, schon früh in Geschäften ausgegangen. Er kehrte wieder auf sein Zimmer zurück, wohin man ihm ein Frühstück brachte.

Da kam Winrich, um Meldung vom Waldhofe zu bringen, und dies zog die Aufmerksamkeit des zerstreuten Officiers wieder auf die Außenwelt. Nach Winrich’s Bericht war man leidlich untergebracht, mit Stroh und Decken versehen, an Speise und Trank nicht Mangel leidend.

„Zwar der Müller,“ schloß Winrich, „sieht aus, wie ein rechter Spitzbube, und ich möcht’ ihm nicht viel Gutes zutrauen, aber Henriette, die Dienerin des Fräuleins, das ist ein Prachtmädchen!“

Es hatte für Schellenberg etwas Unangenehmes und Beunruhigendes, sich das feine sinnige Mädchen mit den Soldaten in Zusammenhang gebracht zu denken, und er fragte ablenkend: „Ist das Fräulein selbst zum Vorschein gekommen?“

„Nein, das scheint wie eine Eule in seinem alten Neste zu sitzen. Aber die Henriette ist ein so fixes Wesen, wie ich nur je eins gesehen habe; überall wußte sie Rath, für Alles einen Ausweg, und wo’s doch fehlte, da machte ihr freundliches Gesicht Alles gut.“

„Unsere Leute haben sich doch ordentlich benommen?“

„Wie Geistliche in einem Kloster! Sie hat so die rechte Art, jeden in ordentlicher Entfernung zu halten, und dann war ich ja auch da mit der Instruction von Ihnen. Ich wollt’ es keinem rathen, ihr auch nur mit einem Schritte zu nahe zu kommen! Uebrigens zog sie sich auch, als die Einrichtung getroffen war, wieder in’s Haus zurück und wir haben sie mit keinem Blicke wieder gesehen.“ Bald langte auch der Obercontroleur von Eversburg an, und der Vormittag verging unter mancherlei Besprechungen. Den Schützen war heute noch Ruhe gegönnt, von morgen an sollte aber ein regelmäßiger Grenzdienst beginnen. Zu Mittag war nur für Schellenberg und den Steuerbeamten gedeckt, denn Marx war noch nicht zurückgekehrt. Der Officier suchte etwas Näheres über den ihm jetzt so unheimlichen Mann zu erfahren, aber der Beamte wußte nur zu sagen, daß Marx wegen seiner Wohlhabenheit in Ansehen stehe, wegen seines harten und strengen Charakters jedoch zugleich gefürchtet sei. Am Nachmittage ging Schellenberg mit nach Eversburg, und als er spät Abends zurückkam, hatte sich Marx bereits zur Ruhe begeben. Die Nacht verging ohne die geringste Störung.



IV.

Der Dienst der Schützen hatte begonnen. Die Dispositionen pflegten auf dem Wolfsgrunde entworfen zu werden, wo Marx durch seine genaue Ortskenntnis;, sowie durch seinen durchdringenden Verstand sich sehr nutzbar erwies; das Verhältnis; desselben zu Schellenberg war innerlich gespannt, doch äußerlich ungestört. Uebrigens schien die Anwesenheit der Soldaten der Schmuggelei erfolgreich zu steuern, denn mit Ausnahme einiger gelegentlicher kleiner Paschereien von Ungeübten, die leicht entdeckt wurden, stieß man auf keinen jener Versuche, die früher mit so unerhörter Frechheit betrieben worden waren.

Nach Verlauf von etwa einer Woche verlangte Winrich ein besonderes Gehör bei seinem Lieutenant.

„Ich glaube,“ begann er, „wir können jetzt einen tüchtigen Schlag ausführen. Die Schmuggler waren vor unseren Büchsen dermaßen in Respect gerathen, daß sie sich bisher ganz ruhig gehalten haben. Aber sie machen’s nur wie die Ratten, die bei einem neuen Geräusche ihre Löcher aufsuchen, sich aber bald wieder hervorwagen und die alte Unverschämtheit zeigen. Sie scheinen’s nun nicht länger aushalten zu können, denn ich habe die sichere Nachricht, daß der Jude Feibes Itzig aus Eversburgs drüben in der Stadt Quendelheim bedeutende Einkäufe gemacht hat und übermorgen damit herüberkommen wird. Die Zeit kann ich nicht genauer angeben, was aber die Stelle betrifft, so wird’s am „Kniebrech“ oder da herum sein.“

„Woher wissen Sie das, Winrich?“

Obgleich er auf diese Frage vorbereitet sein mußte, so antwortete Winrich doch mit einiger Verlegenheit: „Ich will’s Ihnen nur offen heraussagen, Herr Lieutenant, ich hab’s von der Henriette, die ein übermäßig gescheites Mädchen ist, und die Henriette hat’s vom Müller auf dem Waldhofe, der wohl so halb und halb ein Spießgeselle der Schmuggler sein mag; er hat sich im Sprechen verschnappt, und da hat’sie nicht eher geruht, bis sie ihm das Geheimniß abgefragt hat. Ich sollte meinen, wir könnten guten Gebrauch von dieser Nachricht machen. Fangen wir den Juden mit seinen Helfershelfern und mit seiner Contrebande, so bringt’s eine nachhaltige Furcht unter das Gesindel, Ihnen wird’s gut aufgenommen und auch unsereinem trägt’s seinen Nutzen.“

„Sie meinen die Prisengelder?“

„Nicht doch, Herr Lieutenant! Sie wissen, meine bedungene Dienstzeit ist bald um, wo ich mich denn entscheiden muß, ob ich weiter dienen oder mich um eine Stelle im Civil bewerben will. Wenn’s uns nun diesmal recht ordentlich glücken wollte und Sie ein gutes Wort für mich einlegten, daß ich nämlich einiges Verdienst um die Ertappung der Schmuggler gehabt habe, so bekomm’ ich vielleicht den Posten eines Grenzbeamten, und mein höchster Wunsch ist erfüllt; ich nehme mir dann die Henriette zur Frau und Sie glauben gar nicht, was das für eine prächtige Frau sein wird.“ Unangenehm von dieser Eröffnung berührt, sagte Schellenberg verdrießlich: „Sie überlassen sich doch nicht, wie es den Soldaten nur gar zu leicht geschieht, eiteln Voraussetzungen, die sich nachher als Täuschungen erweisen? Wie können Sie denn bei der nur oberflächlichen Bekanntschaft mit dem jungen Mädchen gleich wissen, daß es Ihre Frau werden will?“

„O nein, Herr Lieutenant, so sehr oberflächlich ist die Bekanntschaft nicht mehr, und was das Uebrige betrifft, so merkt man einem rechtschaffenen Mädchen bald ab, ob es die Werbung eines rechtschaffenen Mannes annehmen wird. Auch sind schon einige Worte gefallen, die man als eine günstige Einleitung dazu ansehen kann.“

Eine gewisse Bitterkeit bemächtigte sich Schellenberg’s und er sagte mehr für sich hin, als zu Winrich: „So geht’s mit der Liebe und Treue der Menschen. Ich glaubte, die Henriette hinge mit treuer Liebe an ihrer Herrin und würde sie nicht verlassen; kaum kommt aber der Freier im bunten Rocke, so folgt man ihm und läßt die unglückliche Herrin in ihrem einsamen Elend.“

„O nein, Herr Lieutenant, so ist’s nicht gemeint. Drum wollt’ ich ja eben so gern den Posten als Steueraufseher haben, daß ich mich könnte beim Eversburger Steueramt anstellen lassen, und wenn ich darum anhalte, auf dem Waldhofe wohnen zu dürfen, so wird’s gewiß genehmigt, da ein Grenzaufseher gar nicht besser wohnen kann. Dann wird Henriette nicht von ihrer Herrin getrennt, und diese hat’s viel besser, wenn treue und zuverlässige Leute bei [339] ihr wohnen, als wenn sie nur von lauter Galgenvolk umgeben ist. Und eben darum wünscht’ ich sehr, daß wir einen Schlag gegen den Juden Feibes und seine Bande ausführten, weil das meinem Gesuche ohne Zweifel großen Vorschub thäte.“

„Das ist ja Alles prächtig überlegt. Nun, es versteht sich von selbst, daß ich Ihre Mitteilung berücksichtige.“

Schellenberg theilte dem Obercontroleur mit, was er erfahren hatte, und der Beamte kam mit einem seiner Untergebenen am andern Morgen zum Wolfsgrunde, wo ein förmlicher Kriegsrath abgehalten wurde. Die beiden Steuerbeamten schenkten der Anzeige unbedingt Glauben und legten großes Gewicht darauf. Marx schien weniger davon erbaut und äußerte sich, als er zum Sprechen dringend aufgefordert ward, in folgender Weise:

„Der Feibes mag immerhin schmuggeln, wie die ganze Welt behauptet, aber er ist ein höchst durchtriebener Bursche, der sich schwerlich wird fangen lassen. Es kommt mir sonderbar vor, daß sein Plan sollte so bekannt geworden sein; doch da der Herr Lieutenant seine Quelle nicht mittheilen will, so lasse ich das dahingestellt und will zugeben, daß die Sache immerhin möglich ist. Ist es aber die Absicht des Juden, in der Gegend des Kniebrechs über die Grenze zu kommen, so ist das gerade eine Oertlichkeit, die nicht besser ausgewählt sein könnte und die Ihnen wenig Aussicht darbietet, ihn mit seinen Begleitern zu fangen. Es kreuzen sich da Holzwege und Köhlerpfade in unglaublicher Menge, und es würde eine große Anzahl von Aufpassern dazu gehören, um diese Passagen alle zu besehen, zumal da er seine Helfer wahrscheinlich theilt, um, wenn auch der Eine oder der Andere abgefangen werden sollte, doch die Uebrigen mit ihrer Waare glücklich herüberzubringen..“

Der Grenzaufseher, dessen Einbildungskraft schon ganz mit dem zu hoffenden Fange beschäftigt war, rief eifrig: „Ei, an Menschen fehlt es uns doch jetzt nicht, Herr Marx! Wir sind außer dem Herrn Obercontroleur unser sechs Aufseher, und dann sind fünfzig Schützen da, die sich über eine weite Linie vertheilen können. Wenn wir diesmal den verdammten Juden nicht kriegen, so kriegen wir ihn niemals!“

Marx wiegte ungläubig den Kopf und sagte: „Ich dachte freilich nicht, daß Sie alle zusammen, Aufseher und Schützen, sich aufmachen wollten, um dem erbärmlichen Feibes Itzig aufzulauern, der am Ende nur für ein paar Thaler Kattun für seinen Laden holt.“

Weniger hitzig als sein Unterbeamter, aber doch auch mit Eifer sagte der Obercontroleur: „Es ist allerdings der Mühe Werth, Herr Marx, den abgefeimtesten Schmuggler dieser ganzen Gegend auf der That zu ertappen, wenn es auch nur mit einigen Ellen Kattun wäre, und ich sehe nicht ein, warum wir nicht alle zusammen, Aufseher und Schützen, den Versuch machen wollten; ja, ich halte es sogar für unsere Schuldigkeit. Was meinen Sie, Herr Lieutenant?“

„Ich bin zu Allein bereit, und stelle mich und meine Leute zu Ihrer Disposition, nur muß ich bemerken, daß ich meine Nachricht gebe wie ich sie empfangen habe, als eine Denunciation durch die dritte Hand.“

Der Aufseher sagte: „Auf eine andere Art wird man nie Nachrichten empfangen, denn die Schmuggler hängen ihre Gänge eben nicht an die große Glocke.“

Es wurde also beschlossen, die ganze verfügbare Mannschaft in einer zusammenhängenden Kette so weit über die Gegend des Kniebrechs auszudehnen, daß es auch einem einzelnen Pascher unmöglich sein würde, unbemerkt durchzukommen, und Marx, da er sich überstimmt sah, verfehlte nicht, auf diejenigen Punkte aufmerksam zu machen, die man am meisten im Auge zu halten habe. Die Vorbereitungen wurden möglichst still und unbemerkt getroffen, die Mannschaften zogen scheinbar nach ganz verschiedenen Punkten ab, und von der Frühe des bezeichneten Tages an war die ganze Linie besetzt. Schellenberg machte mit dem Obercontroleur die Runde bei allen Posten.

Schon war Mittag vorüber, und noch hatte sich nichts gezeigt. Die beiden Befehlshaber kamen eben zu jenem Punkt, welchen Marx der Aufmerksamkeit besonders empfohlen hatte, als ihnen Winrich und der Grenzaufseher, der an der Berathung Theil genommen hatte, entgegentraten und flüsternd mittheilten, man glaube den Hufschlag eines sich nähernden Pferdes zu hören. Es verbargen sich eilig Alle um die Stelle, wo verschiedene mehr oder weniger betretene Pfade sich kreuzten, in dem Gebüsch, in welchem bereits eine Anzahl von Schützen Platz genommen hatte. Die Tritte eines Pferdes wurden deutlicher und näherten sich.

„Es ist nur ein einziges Pferd!“ flüsterte Winrich dem Grenzaufseher zu.

„Es werden schon Packträger genug hinterher folgen,“ entgegnete dieser.

Aber es wir wirklich nur ein einziges Pferd, geführt vom Juden Feibes Itzig, und es ließ sich Niemand dahinter blicken. Die im Hinterhalt Lauernden waren einigermaßen enttäuscht, indessen trug das Pferd einen anscheinend sehr schweren Mantelsack, und wenigstens der Obercontroleur begnügte sich mit der Aussicht, den berüchtigten Pascher endlich einmal auf der That zu ergreifen. Schellenberg fühlte sich von der ganzen Sache nicht sehr aufgeregt, er kam sich mehr als Zuschauer wie als Beteiligter vor. Feibes warf beständig seine scheuen Blicke nach allen Seiten; als er die Höhe erreicht hatte, machte er Halt und schien sein Pferd wieder besteigen zu wollen. In diesem Augenblicke brachen die Bewaffneten hervor, und der Jude sah sich rings eingeschlossen. Er ließ seine hervorquellenden Augen im Kreise umherirren, bemeisterte aber sogleich seinen Schrecken weit genug, um seinen Hut abzuziehen und mit einer grinsend demüthigen Höflichkeit, welche sich mit dem angstvoll verzogenen Gesicht zu einem wahrhaft scheußlichen Gesammtausdruck verschmolz, zu sagen:

„Gehorsamer Diener, meine Herren! Hab’ ich doch nicht gemeint, auf dem Kniebrech eine so schöne Gesellschaft anzutreffen. Ich bin erfreut, ich bin außerordentlich erfreut, Sie zu sehen, meine Herren. Ich mache Ihnen mein Compliment, Herr Obercontroleur; wie steht’s Befinden? Was macht die werthe Frau Gemahlin? Wie geht’s den lieben Kindern?“

Mit ernster Würde sagte der Beamte: „Ich danke für die Nachfrage; aber sagen Sie, Feibes, wie kommen Sie auf diesen Weg, der, wie Sie recht gut wissen, Allen verboten ist, welche steuerbare Gegenstände führen?“

Aber Feibes hatte sich schon vom strengen Gesicht des Obercontroleurs weggewandt, und redete den Grenzaufseher in seiner widerwärtig kriechenden Weise an: „Ich freue mich, Sie auch hier zu sehen, Herr Grenzaufseher; wie ich zu bemerken die Ehre habe, so tragen Sie die Weste, die Sie von mir kauften; ist’s nicht ein schöner Stoff, und spottwohlfeil? Ich hab’ auch gehabt den bittersten Schaden bei dem Handel, aber ich hab’ gemeint, Feibes, verkauf’ mit Schaden, du machst dir dadurch den Herrn Grenzaufseher zum Freund.“

„Davon ist hier keine Rede,“ sagte der Aufseher grob, „sondern von der Contrebande, die Ihr mit Euch führt.“

„Contrebande!“ schrie der Jude, sich ganz in sich selbst zusammenziehend, „o weh’ geschrieen, was sprechen Sie von Contrebande, Herr Controleur? Hab’ ich doch in meinem Leben noch keine Contrebande mit mir geführt! Wie werd’ ich wagen, etwas zu thun gegen das Gesetz, wo so ausgezeichnete Männer aufpassen, daß nichts geschieht gegen das Gesetz? Aber ich hab’ auch das große Vergnügen, da vor mir zu sehen einen Herrn Officier; das ist gewiß der Herr Officier, der die Soldaten commandirt und berühmt ist durch seine große Klugheit und Wachsamkeit. Ich empfehle mich bestens der Bekanntschaft des Herrn Hauptmanns, und wenn der Herr Hauptmann etwas brauchen an Stoffen von Seide. Leinwand oder Baumwolle, extrafeinen Cigarren, echten Havannah, und beispiellos wohlfeil – –“

„Laßt doch einmal das verdammte Gewäsch,“ fiel der Aufseher barsch ein, „nehmt den Mantelsack herunter und öffnet ihn!“

Mit sehr erschrockenen Mienen rief Feibes: „Was sagen der Herr Grenzaufseher? ich soll offen machen meinen Mantelsack?“

„Nun ja, das versteht sich von selbst.“

„Sie werden mich nicht machen wollen so unglücklich! Herr Obercontroleur, haben Sie die Güte und lassen Sie mich ruhig gehen nach meinem Hause, befehlen Sie nicht, daß ich soll offen machen meinen Mantelsack.“

„Allerdings sollen Sie ihn offen machen und das sogleich ohne weitere Umstände.“

„Herr Officier, legen Sie ein für mich ein gutes Wort bei den Herren Steuerbeamten, daß ich nicht offen zu machen brauche den Mantelsack.“

„Ich kann kein gutes Wort für Sie einlegen.“

„O weh, so bin ich ein geschlagener Mann! Aber was ich Ihnen kann sagen und versichern, meine Herren: lassen Sie mich [340] ruhig gehen, und es wird Ihnen selbst sein sehr lieb; bestehen Sie aber darauf, daß ich soll offen machen den Mantelsack, so wird es Ihnen gewiß sein sehr unlieb.“

Ohne auf den jammernden Juden zu achten, hob der Aufseher mit Hülfe eines Schützen den schweren Mantelsack auf die Erde und verlangte die Oeffnung desselben mit so dringenden Worten und Gebehrden, daß Feibes niederkniete und das kleine Vorlegeschlößchen wirklich öffnete, indem er für sich hinmurmelte: „Die Herren werden es bereuen, sie werden wünschen, daß sie Gehör gegeben hätten den Worten von Feibes Itzig.“

Mit eifriger Hast half der Aufseher dem Geschäft des Oeffnens nach, und die Uebrigen beugten sich alle über, um den Inhalt des Mantelsacks zu sehen. Aber wer malt die Verzerrung in den Zügen des Aufsehers, wer die verblüfften Gesichter des Obercontroleurs und des Officiers, wer den Zorn Winrich’s, wer die dumme Verwunderung der Schützen?

„Was ist es?“ hatte der Obercontroleur gefragt, indem er sich tief niederbückte, aber er fuhr zurück, wie von einer Schlange gebissen.

„Verdammter Jude,“ brach die Wuth des Aufsehers los, „was soll das sein?“

„Was soll es sein, Herr Grenzaufseher, als Pferdemist?“ „Also wirklich?“ stotterte der Obercontroleur, „es ist also wirklich“

„Pferdemist!“ rief der Aufseher, sich die Finger reinigend, die er voreilig etwas mit dem Inhalt des Mantelsacks beschmutzt hatte. Dann sprang er auf und faßte, außer sich vor Zorn, den Juden an der Brust mit den Worten: „Wie kannst Du Dich unterstehen, infamer Kerl, königliche Beamte so zum Besten zu haben?“ Feibes hatte keinen Augenblick den unterwürfigen Ausdruck seines Gesichtes verloren, aber indem er von unten herauf lauernde Blicke von Einem zum Andern gleiten ließ, brach unter dieser Maske eine so satanische Bosheit hervor, daß der Aufseher fast wahnsinnig wurde, während die übrigen Betheiligten sich sehr dumm unter einander anblickten. Der Jude machte sich ohne sichtliche Anwendung von Gewalt, aber mit weit größerer Kraft, als man ihn, zugetraut hätte, von den Händen des Aufsehers los und sagte mit seinem demüthig jammernden Tone:

„Gott’s Wunder, was wär’ mir das? Erst soll ich einführen Contrebande, und dann soll ich mir herausnehmen, die königlichen Herrn Beamten zum Besten zu haben? Herr Obercontroleur, Sie werden nicht leiden, daß mich der Herr Aufseher, von dessen Zorn ich doch nicht verstehe die Ursache, beschädigt, und Sie, Herr Officier, rufe ich an als einen Befehlshaber der bewaffneten Macht, daß Sie nicht einem unschuldigen Mann, der seine Steuern richtig bezahlt, zufügen lassen ein Leid. Ich rufe aber alle anwesenden Herren an als Zeugen, wenn ich mich vor Gericht beklagen muß wegen angethaner Gewalt, und noch dazu geschehen von Jemand, welcher handelt im königlichen Dienst.“

Der Aufseher war durch die letzten Worte hinreichend eingeschüchtert, um seinen Angriff nicht zu wiederholen, sein Vorgesetzter aber sagte: „Das kann ja ein Kind begreifen, Feibes Itzig, daß Sie uns einen boshaften Possen gespielt haben.“

„Was nenn’ ich einen boshaften Possen? Ist das ein boshafter Possen, daß ich hinübermache mit meinem Roß nach Quendelheim, um mir Pferdemist zu holen von da für meine raren Topfgewächse? Was kann ich dafür, daß in Eversburg nicht zu haben ist guter Pferdemist? Und meine Gewächse in den Töpfchen sind etwas Rares und etwas Schönes; wenn ich mache für sie den weiten Weg, um zu haben einen guten Dünger, so spiel’ ich höchstens einen Possen mir selbst und nicht andern Leuten, am wenigsten königlichen Beamten, vor denen ich habe den höchsten Respect, und mit denen ich noch zu machen denke manches hübsche Geschäftchen. Kann ich nun gehen meiner Wege, oder wollen die Herren noch mehr zu thun sich machen mit dem Pferdedünger?“

„Gehen Sie zum Teufel! Wir sprechen uns wohl ein ander Mal wieder.“

„Soll mir immer sein ein großes Pläsir und eine mächtige Ehre, Herr Obercontroleur.“

Mit verbissenem Lachen halfen zwei Schützen den Mantelsack wieder aufladen, der Jude setzte sich auf, grüßte demüthig mit seinem Hute und entfernte sich mit den Worten: „Ich empfehle mich den Herren sämmtlich und wünsche Ihnen eine gute Verrichtung, als Sie doch wahrscheinlich vorhaben ein wichtiges Geschäft und viel- leicht zu machen denken einen großen Fang!“

Die Zurückbleibenden waren so kleinlaut, daß sie, mit Ausnahme einiger Flüche und Verwünschungen, sich für jetzt über den Vorfall nicht weiter aussprachen, sondern die Postenkette einzogen und den Rückweg antraten. Schellenberg namentlich war über alle Begriffe ärgerlich, er sprach darum kein Wort, nahm von den Steuerbeamten einen nur flüchtigen Abschied und sagte erst beim Wolfsgrund, als Winrich sich von ihm trennte, mit verbissenem Zorn: „Sie haben uns eine schöne Suppe eingebrockt, denn Sie sind Veranlassung geworden, daß unser ganzes Detachement sich lächerlich gemacht hat; ich gebe von nun an für seine Wirksamkeit keinen Schuß Pulver mehr. Wenn die Unannehmlichkeit auch zunächst und vorzugsweise nur mich trifft, so sind doch Ihre eigenen Pläne und Aussichten nun auch gründlich verhagelt.“

Winrich erwiderte mit einer Mischung von Traurigkeit und Zorn: „Es ist uns allerdings ein bitterböser Streich gespielt worden, aber ich bitte Sie, Herr Lieutenant, seien Sie nicht zu unwillig gegen mich; ich mache denen, die uns so arg hinter’s Licht geführt haben, meine Gegenrechnung, oder ich will diesen Rock nicht länger tragen.“



V.

Die Stimmung Schellenberg’s und der Steuerbeamten wurde nicht gebessert durch die Nachricht, welche sich mit glaubwürdiger Sicherheit verbreitete, daß genau zu derselben Zeit, als die ganze Mannschaft die Gegend um den Kniebrech besetzte, eine Meile weiter ein großer Transport von Waaren durch eine zahlreiche Schaar von Schmugglern über die Grenze geschafft worden sei. Der Dienst wurde von den Aufsehern und Schützen verdrossen fortgeführt; wenn auch diejenigen Pascher, die sich in den nächsten Tagen etwa hätten betreten lassen, gewiß keine Schonung zu erwarten hatten, so lähmte doch ein allgemeiner Unmuth die Energie der Maßregeln, und namentlich Schellenberg mußte sich sagen, daß er trotz des besten Willens den übernommenen Auftrag keineswegs in anerkennenswerther Weise ausführe. Da verlangte ihn Winrich, der in diesen Tagen fast tiefsinnig den Kopf hatte hängen lassen, allein zu sprechen, und mit mehr Zuversicht und Selbstvertrauen, als er seither gezeigt, begann er: „Ich glaube, Herr Lieutenant, ich habe eine Spur!“ „Hat Ihnen Henriette wieder eine Mittheilung gemacht?“

Eine kleine Empfindlichkeit unterdrückend, erwiderte Winrich: „Allerdings ist die Henriette mit im Spiele. Sie war außer sich vor Verdruß, daß sie Veranlassung gewesen ist, uns in die Dinte zu bringen, mir meine hübschen Pläne zu verderben und Ihnen, Herr Lieutenant, Unannehmlichkeit zu bereiten. Ihr erster Gedanke ging darauf hinaus, daß der Schurke von Müller mit Absicht ihr die Geschichte vom Juden Feibes mitgetheilt hat, weil er ihr Einverständniß mit mir merkte und darauf rechnete, daß sie’s mir wiedersagen würde. Das Ganze war also ein wohlangelegter Plan, um an einer andern Stelle Waaren sicher über die Grenze bringen zu können, und sie haben den Plan auch pfiffig genug ausgeführt. Offenbar handelte der Müller nicht aus sich selbst, sondern in fremdem Auftrag. Nun hat die Henriette nicht eher geruht, sie hat so lange auf jeden Schritt und Tritt des Müllers gelauert, bis sie herausgebracht hat, daß er in heimlichem Verkehr mit dem Juden Feibes Itzig steht, daß Botschaften zwischen ihnen hin und her gehen, daß der Jude sogar zu Zeiten in der Nähe des Waldhofes herumschleicht, um geheime Zusammenkünfte zu halten.“ „Das ist Alles ganz richtig, Winrich, und ungefähr so habe ich mir auch die Sache zusammengereimt, aber ich sehe nur nicht ein, wie uns das im Geringsten dazu helfen kann, die Scharte auszuwetzen, die wir durch dieses Complot erlitten haben.“ „Hören Sie nur weiter, Herr Lieutenant. An den geheimen Zusammenkünften nimmt auch Jemand Theil, von dem Sie es gewiß nicht erwartet hätten.“

„Nun, wer denn?“

„Ihr Hauswirth Marx.“

„Marx?“ rief Schellenberg überrascht, und ein unwillkürliches Erschrecken durchlief ihn.


(Fortsetzung folgt.)

[341]

Die Truppen des italienischen Feldzugs.

I.


Garibaldi’scher Volontair, nach neuester Uniformvorschrift.
(Nach Originalabbildung aus Turin.)
  Jäger von Vincennes.  Bersaglière.

Vielleicht leben wir gerade jetzt in der demüthigendsten, unglückseligsten Zeit dieses Jahrhunderts. Die Völker Europa’s sind durch Arbeit und Handel, Eisenbahnen und Telegraphen, tausenderlei tägliche Beziehungen des materiellen und ideellen Verkehrs wie ein Volk geworden. Sie sind ein gesellschaftlicher Körper, der, in einem Theile gestört, verwundet oder inficirt, als Ganzes leidet. Deshalb fühlen wir trotz des bis jetzt musterhaft „localisirten“ Krieges Alle das Elend desselben. Jeder Krieg nimmt jetzt mehr oder weniger die Form und den Fluch eines Bürgerkrieges an. Jetzt kann sich’s der Philister nicht mehr loben: „an Sonn- und Feiertagen ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten weit in der Türkei die Völker auf einander schlagen.“ Auch der fernste und localisirteste Krieg geht ihm an’s Leben, an die Tasche. Kein Wunder daher, daß der kaum begonnene, hinter den Alpen gebannte Krieg, obgleich ringsum von „Neutralität“ umgeben, wie ein paar Duellanten von Zuschauern, Unparteiischen, Secundanten und Paukdoctoren, [342] uns Alle in unsern friedlichen, täglichen Beziehungen bis auf Innerste und Empfindlichste materiell und moralisch peinigt, abgesehen davon, daß wir Millionen von nützlichen, nothwendigen Arbeitscapitalen und Hunderttausende von unentbehrlichen, jungen, starken Arbeitern aus unserer blühenden Cultur und Production herausziehen müssen, damit Tag und Nacht gewacht werde, damit wir uns wehren können, wenn das aller Gesetze und Rechte spottende moderne Kriegsungeheuer über die „localisirte“ Mensur springen sollte, um vielleicht die Früchte und Hoffnungen eines Jahrhunderts in Blut und Schande zu begraben.

Wir Alle fühlen uns elend, unruhig, im Innersten gedemüthigt, daß es bei solcher heiligen Unentbehrlichkeit des Friedens, bei diesen tausendfachen Friedensgarantieen der Völker, diesen unzähligen Friedensverträgen und Grundgesetzen des von den Fürsten sorgfältig balancirten „europäischen Gleichgewichts“ zu einem Kriege kommen sollte, solchem Kriege!

Aber ein kleiner Trost ist uns geblieben. Deutschland ist nicht Kriegsschauplatz und scheint auch Muth, Mittel und Einigkeit genug in Bereitschaft zu haben, um das Ungeheuer von seinen Grenzen zurückzuschlagen, wenn es diese bedrohen sollte.

„Gott sei Dank, wir leben wenigstens nicht auf dem Kriegsschauplatze!“ können wir erleichternd aufathmend ausrufen. Vorläufig also können wir uns auch die Sache noch mit Ruhe ansehen und wir wollen das, indem wir uns die Leute anschauen, auf feindlicher und freundlicher Seite, die sich dort gegenseitig todtschlagen. Wir beginnen mit den „Kriegern der Civilisation“ und zwar mit den vielgenannten „Jägern von Vincennes“. –

Die Entstehung der Jäger und Tirailleurs von Vincennes (Fußjäger) geht auf ungefähr zwanzig Jahre zurück. Die erste Muster-Compagnie wurde vom General Grafen von Houdetot gebildet. Ein Befehl vom 28. August 1839 constituirte sie zu einem besonderen Truppen-Corps, und ihre ersten Waffenthaten vollzogen sie in Algerien gegen die Araber, welche ihnen den Beinamen „Soldaten des Todes“ gaben. Sie bestanden damals aus zehn Bataillonen von je tausend Mann, wozu jedes Infanterie-Regiment 121 kleine, gewandte und kräftige Leute, meist Corsen, Gascogner und Bearnesen, geliefert hatte. Das neue Corps wurde im Winter von 1840–41 im Lager von St. Omer in hölzernen Feldhütten mit Strohdächern untergebracht.

Unter der Leitung des Herzogs von Orleans und des Generals Rostolan hatte es eine harte Lehrzeit und schwere Proben zu bestehen. Von sieben bis neun Uhr Morgens und von zwölf bis zwei Uhr Nachmittags mußten die Soldaten, das Gepäck auf dem Rücken, in Holzschuhen und wollenen Strümpfen exerciren, und wenn sie keuchend und mit Schweiß bedeckt in ihre eisigen Hütten zurückkamen, wurden sie von den Officieren noch im Felddienste unterrichtet. Ihre einzige Erholung bestand darin, die Weinkeller zu besuchen, deren warme Atmosphäre gegen die Kälte draußen im gefährlichen Contrast stand.

Ein Verordnung vom 22. November 1853 hat die Jäger von Vincennes einer neuen Organisation unterworfen. Hiernach bilden sie zwanzig Bataillone, welche auf die Garnisonen von Paris, Lyon, Cherbourg, Douai, Besançon, Rennes, Grenoble, Vincennes, Toulon, Metz, Boulogne und Algier vertheilt sind.

Die Uniform besteht in einem dunkelblauen gerade geknöpften Waffenrocke mit jonquille Vorstoß an dem Kragen, den Aufschlägen und den Schößen; grünen Epauletten mit jonquille Einfassung; stahlgrauen Hosen mit jonquille Vorstoß; einem stahlgrauen Mantel mit Regenkappe; einem mit dunkelblauem Tuch überzogenen und oben mit einer jonquille Borde umgebenen Czako; einem fliegenden Stutz von grünen Federn, und in einem Koppel von schwarzem Leder. Diese Bekleidung, so elegant sie auch ist, läßt dem Körper seine volle Freiheit und begünstigt in hohem Grade die Lebhaftigkeit, welche man an dem französischen Soldaten vorzüglich rühmt. Die ungestümsten Bewegungen geschehen, ohne das Gepäck in Unordnung zu bringen, dessen Heben vermittelst zweier kleiner Riemen am Koppel angehakt sind, um welches sich die Patronentasche mit Leichtigkeit dreht.

Die Karabiner der Jäger von Vincennes sind inwendig in Schraubenlinien gereift, was dem Schusse eine kreisförmige Bewegung gibt; sie haben Percussionsschlösser und ihr Lauf wird von der Kugel, die sich unten durch einen kräftigen Stoß des Ladestockes plattdrückt, hermetisch geschlossen. Das Dolchbajonnet, welches der Artillerie-Commandant Thiéry erdacht hat, ist eine der fürchterlichsten Waffen.

Die Jager von Vincennes marschiren in vier Gliedern auf der rechten oder linken Flanke und können bei dem gymnastischen Schritte, an den sie gewöhnt sind und der nach und nach von dem Schritte auf der Stelle in den langsamen, Geschwind- und Laufschritt und zuletzt in den Breitesprung übergeht, eine und eine halbe Meile in der Stunde zurücklegen. In ihrer Geschicklichkeit im Schießen rivalisiren sie mit den tyroler Jägern und den englischen Riflemen. Sie feuern in allen Stellungen, auch wenn sie auf dem Bauche liegen oder sich über eine Grabenböschung biegen. Nach dem Commando „Legt an!“ zielen und schießen sie, ohne das Commando „Feuer!“ abzuwarten, und je ungleichzeitiger die Entladung erfolgte, um so sicherer und furchtbarer wird ihre Wirkung. Den Karabiner mit aufgestecktem Bajonnet handhaben sie, wie die blanke Waffe; sie stoßen damit, indem sie sich auf einmal umdrehen und nach rechts und links Front und doppelte Ausfälle nach hinten und vorn machen. Wenn sie als Tirailleurs vorgehen, so theilen sie sich in Gruppen von Vier ein und vereinigen sich nötigenfalls zum Carré, in welchem, wenn es in der Mitte formirt wird, das erste Glied mit dem Karabiner ficht, während das zweite den Feind niederschmettert.

Die Jäger von Vincennes lernen Oefen, Küchen und Schanzen aus Erde bauen und jede Compagnie liefert zwei Sappeure, welche mit einer Schaufel und Hacke ausgerüstet sind, die von der Schulter bis zur Hüfte herabhängen. Die Karabiner-Compagnie jedes Bataillons ist auf das Kanonenmanöver eingeübt und mit Vollbüchsen bewaffnet, welche sechshundert Meter weit tragen. In jeder Compagnie gibt es vierzehn Soldaten erster Classe, welche sich durch eine gelbe Tresse auszeichnen.

Wie sich die Jäger von Vincennes taktisch und strategisch bewährt, davon haben sie zuletzt auf dem Schlachtfelde in der Krim Zeugniß abgelegt. Ob sie den tüchtig geschulten österreichischen Truppen, die zugleich mit Begeisterung auf das Schlachtfeld ziehen, gewachsen sein werden, müssen wir noch abwarten. Die Affaire bei Montebello hat bereits bewiesen, daß die Oesterreicher wohl zu beachtende Feinde sind, die den Renommagen der „civilisirenden“ Armee doch einige bedenkliche Schwierigkeiten bereiten dürften.

Die Bersaglieri der sardinischen Armee haben wir bereits im Jahrgange 1855 dieses Blattes bei Gelegenheit des Krimkrieges geschildert. Es bleiben uns nur noch die Garibaldi’schen Freischaaren übrig, die neuerdings einer neuen Uniformirung unterworfen sind und nicht mehr in rothen, sondern in blauen Blousen mir rothen Aufschlägen, einer gezogenen Büchse und einer leichten rothgeränderten Feldmütze erscheinen. Die Augsburger Allgemeine Zeitung ist taktlos genug, diese Leute fortwährend als Räuber zu bezeichnen, während es doch allgemein bekannt ist, daß Söhne der angesehensten Familien unter dieser Fahne dienen. Vielleicht sind – dem sardinisch-französischen Schwindel gegenüber – diese Freischaaren die einzigen, die es wirklich ehrlich mit der Freiheit Italiens meinen und später einmal der napoleonisch-piemontesischen Hoffreiheit entschieden entgegentreten werden.

In einem späteren Artikel werden wir unsern Lesern die österreichischen Truppen zu schildern suchen.




Die neuen Hexenmeister und Geisterbeschwörer.
II.

Der gesunde Menschenverstand und die Männer der Wissenschaft haben gegen alle die Geistergeschichten der Spiritualisten Einsage gethan und dieselben mit einer Menge von Gründen bekämpft. Aber die Gläubigen lassen sich dadurch nicht im Geringsten irre machen, sondern entgegnen: „Ihr versteht von der Sache nichts“, und dann sagen sie, wie es sich mit ihrem Systeme verhalte, dessen Richtigkeit gar nicht angefochten werden könne, weil – – die Geister ihnen dasselbe offenbart hätten! Es sei deshalb vollkommen gleichgültig, ob die gewöhnlichen Naturforscher, welche mit der Geisterwelt in keiner Verbindung stehen, etwas dagegen einwenden oder nicht.

[343] Dem „Systeme“ zufolge gibt es im All ein feines Imponderabile, das Aehnlichkeit mit dem Magnetismus hat und auf Lebenskraft und Nervenmagnetismus wirkt. Dieses unsichtbare und unwägbare Etwas ist das Bindeglied zwischen Geist und Stoff, die wirkende Kraft, durch welche der Wille Muskeln in Bewegung setzen kann. Der im Inneren wirksame Wille vermag schwere Körper nach außen hin zu bewegen. Das feine, nicht wahrnehmbare Etwas bildet eine ganz besondere Atmosphäre und diese wirkt auf gewisse Personen, die „Media“, vermittelst der doppelten Affinität sowohl für Geist, als für Stoff, und unter ihren eigenen Bedingungen und Gesetzen können Geister aus der Geisterwelt, von der wir Menschen ja überall umgeben sind, Töne hervorbringen, Körper bewegen, leuchten, sicht- und greifbare Gestalten annehmen, Verzückungen hervorbringen, das Medium in den Zustand des Besessenseins versetzen, sich desselben zum Sprechen bedienen, auf seinen Geist Eindrücke machen, vom Medium gesehen werden, kurz alle Erscheinungen hervorbringen, von denen der Spiritualismus so viel Seltsames zu erzählen weiß. Auch Geister, die noch im lebenden menschlichen Körper befangen sind, z. B. Magnetiseure, Mesmeristen oder wie man sie sonst nennen will, können Verzückungen an Anderen herbeiführen, Glieder steif machen, Willen auf den Geist Anderer ausüben und deren Gedanken lesen. Diese Erscheinungen alle, so sagt das „System“ weiter, werden weder allein durch die Geister, noch durch das Naturgesetz allein hervorgebracht, sondern durch eine Vereinigung beider, und zwar so, daß die Geister sich der Naturgesetze bedienen und auf diese Weise Erscheinungen bewirken. So verlieren diese letzteren Alles, was an ihnen etwa für übernatürlich erachtet werden könnte, und kommen in das Bereich der Natur und deren Gesetze gerade so, wie die Muskelkraft, welche der Mensch durch seinen bloßen Willen in Bewegung setzt, oder wie er sieht, wenn es hell ist, oder wie die Luft den Schall fortpflanzt.

Gegen dieses „System“ lasse sich, wie die Spiritualisten meinen, gar nichts einwenden! Sie berufen sich auf unsern Goethe, welcher einmal im Faust gesagt habe: „Die Geisterwelt ist nicht verschlossen“, aber um sie zu erkennen, müsse man offenen Sinn und lebendiges Herz haben. Folgendes stehe ein- für allemal im System fest: – Der spirituelle Körper ist aus dem stofflichen Bestandtheile des lichtvollen Aethers zusammengesetzt. Es gibt eine Substanz im All, welche unter allen Umständen unwandelbar eine und dieselbe bleibt und auf welche keine andere irgend welche Wirkung üben kann; denn sie ist und bleibt, wie sie ist, im Eise der Pole oder im glühenden Krater eines Vulcanes. Erkennbar für die Sinne ist sie nicht, und man muß sie als lichtvollen, lichttragenden Aether bezeichnen, als das verdünnte Medium, vermittelst dessen Wärme, Licht und Elektricität von einem Theile des Weltalls auf alle anderen übertragen werden, wobei dann die Wellenschwingungen eine Schnelligkeit haben, von welcher der Mensch sich gar keine Vorstellung machen kann. Dieser Aether ist vorhanden sowohl in den allerdichtesten Massen, wie im sogenannten Vacuum und in allen nur irgend möglichen oder denkbaren Modificationen der Materie. Er hat eine ganz erstaunliche Thätigkeit. Aus solchem Lichtäther sind die spirituellen Körper zusammengesetzt, und deshalb hat auf diese Geister irgend welche Temperatur gar keinen Einfluß. Wenn auch der ganze Erdball seine gegenwärtige chemische Zusammensetzung verändert, wenn Welten mit Welten zusammenkrachen und einander in Trümmer zerschmettern, so wird das Alles dem geistigen Körper nichts anhaben, und wäre er auch gerade an derselben Stelle, wo das fürchterliche Zerplatzen etwa seinen Anfang nimmt. „Er wäre sicher in seiner unsterblichen Wohnung, und die Seele könnte lächeln, wenn die Materie zusammenbräche und die Welt unterginge.“

Unter so bewandten Umständen darf es uns gewöhnliche Menschenkinder, die wir vom Spiritualismus nicht erleuchtet sind, kein Wunder nehmen, wenn eine aus solchem „Aether“ gebildete Seele ihre Gedanken an Andere übertragen und Kunde von Ereignissen geben oder empfangen kann. Daß es damit sehr rasch geht, glauben wir gern, „da die Seele binnen acht Minuten mit Wesen auf der Sonne in einer Entfernung von hundert Millionen Meilen sich verständigen kann.“ Die Sache selbst ist gewiß sehr hübsch; es fehlt nur der Nachweis, woher die Herren Spiritualisten von alle dem so genau unterrichtet sind. Denn was ein beliebiges „Medium“ sagt, hat doch wohl keinen Anspruch auf beweisende Kraft, und wir glauben nun einmal nicht an Hexerei oder an Worte, für die wir keinen wesentlichen Inhalt zu finden vermögen. Wohl aber gibt es Hallucinationen und Traumgesichte. Wer Derartiges erblickt, für den ist die Erscheinung im Augenblicke subjectiv vorhanden, aber für die gesammte Welt außer ihm nicht. Dergleichen gehört aber nicht in die „Geisterwelt“, sondern in die Lehre vom kranken Menschen, in die Pathologie. Manchmal sieht ein Mensch kürzere oder längere Zeit Gegenstände doppelt oder dreifach, obwohl sie in der That nur einfach und einmal vorhanden sind; was groß ist, erscheint ihm klein, oder umgekehrt, was fern ist, nahe; eine Wolke erscheint wie ein Ball, ein Thier wie ein Mensch und dergleichen mehr. Das Alles läuft einfach auf eine Sinnentäuschung hinaus. Die Hallucinationen sind aber nicht immer auf ein einziges Sinnenorgan beschränkt, sondern können sich zu gleicher Zeit auf mehrere erstrecken. Jene des Gesichts kommen nicht so häufig vor, wie die des Gehörs, am seltensten sind jene des Gefühls. Tausende von Menschen erblicken phantastische Gestalten, wie einst der bekannte Buchhändler Nikolai, welchem Goethe mit der bekannten Stelle im Faust ein Denkmal gesetzt hat („Er wird sich bald in eine Pfütze setzen, das ist die Art, wie er sich soulagirt“ etc.). Ein Professor der Anatomie in Paris, Andral, sah eines Morgens, als er aufstand, die Leiche eines von Würmern angenagten Kindes eine gute Viertelstunde lang so deutlich vor sich, daß er darauf hätte schwören können, der Gegenstand befinde sich leiblich vor seinen Augen. Bei Nikolai wichen die Scheingestalten manchmal erst nach neun Stunden. Daß Leute, die mit Säuferwahnsinn behaftet sind, allerlei Erscheinungen haben, ist bekannt.

Gewiß hat die psychologische Physiologie noch manche Aufgabe zu lösen und vielerlei Erscheinungen zu erläutern, über deren Entstehung und Zusammenhang das letzte Wort noch nicht gesprochen worden ist. In Bezug auf das moderne „Geisterwesen“ ist mit den Formeln und Redensarten, die seit sechs Jahren in Menge von den Gelehrten zum Besten gegeben werden, gar nichts gesagt. Die Tische z. B. drehen sich und pochen. Diese Thatsache steht fest und Alle geben sie zu, aber hier sagen Gelehrte, es sei Betrug dabei im Spiele, und dort sagen Gelehrte, es ist kein Betrug im Spiele. Merkwürdig bleibt, daß, als das Tischrücken durch alle europäischen Länder wie ein Lauffeuer ging, als bemerkenswerth hervorgehoben wurde, daß überall die dabei vorkommenden Umstände ganz dieselben waren und daß auf der weiten Strecke von Bremen bis Rom und Madrid die Sache selbst überall den gleichen Charakter trug. Karl Andree, welcher durch einen Aufsatz in der Augsburger Allgemeinen Zeitung im Jahre 1853 lediglich die Thatsache des Tischrückens feststellen wollte, gab damit den Anstoß zu einer merkwürdigen Bewegung, und wenn dieser Geograph und Handelspolitiker damals voraussagte, daß binnen wenigen Wochen die Tische von der Nordsee bis in die Alpenthäler Tyrols laufen und wackeln würden, so hatte er Recht. Dasselbe war der Fall mit seiner Schlußbemerkung, daß mit der Sache selbst Stoff in Menge für die Gelehrten der Akademien, wie für die Gelehrten des Kladderadatsch gegeben sei.

Die ersteren haben es sich sauer genug werden lassen. Der Eine will Tischrücken und Klopfen aus einem Fluidum erklären, ein Anderer aus einer unfreiwilligen Geistes- und Muskelwirkung, ein Dritter aus automatischer Gehirnwirkung, ein Vierter aus Odylkraft, ein Fünfter aus unbewußter Muskeläußerung (nämlich der englische Physiker Faraday, der am Berge stand und sich mit dem Ausdruck „unconscius muscular exertion“ helfen wollte), und ein Sechster, Morin, sprach gar von einem Gesetz instinctiver Kraft, während ein Siebenter etwas plumper Alles zu erklären meinte, wenn er annahm, daß die Klopfer sich Bleikugeln an die Zehen gebunden hätten. Dieser sinnreiche Professor lebt in Boston und heißt Page. Ein Achter will das Geisterklopfen daraus erklären, daß die Media ihre Knie- und Fußgelenke benutzen, um damit den vielfachen Heidenlärm, das Pochen, Klopfen, Hämmern und Poltern hervorzubringen. Viele andere Gelehrte machen sich die Sache noch leichter und bezeichnen sie ungemein bequem als dummes Zeug, Betrug, Humbug, Unsinn. Das Alles mag sie sein, aber Jedermann wird zugestehen, daß mit einem solchen Absprechen gar nichts erklärt worden ist. Man schiebt sich nur die Frage selbst weg, nach der von Goethe angedeuteten Manier: „Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein.“

Die Hallucinationen und die Sinnestäuschungen, zum Beispiel die Erscheinung der sogenannten Geister, sind allemal nur für Einen da, das Tischrücken dagegen und das Klopfen ist eine Wirklichkeit, [344] die zugleich von Vielen gesehen und gehört wird, und zwar in einer Weise, daß dabei von einer Sinnentäuschung gar keine Rede sein kann. Hier gilt das bekannte Wort: „Und sie bewegen sich doch!“ Aber warum? durch welche Kraft? nach welchen Gesetzen? Dafür haben, wie gesagt, die Gelehrten auch nicht einmal annähernd eine genügende Erklärung zu geben vermocht, und wir unsererseits wüßten auch nichts zu sagen. Es ist viel darüber hin und her gestritten worden, und wir lassen das Tischrücken auf sich beruhen, uns kommt es nur darauf an, Dinge mitzutheilen, welche die Aufmerksamkeit und den Glauben von Millionen beschäftigen und für unsere Zeit charakteristisch sind. Hat doch sogar im Jahre 1853 auf der westindischen Insel Guadaloupe ein Stuhl psychographisch einen Roman geschrieben, der gedruckt worden ist unter dem Titel: „Juanita, nouvelle, par une chaise, suivie d’un proverbe et de quelques oeuvres choisies du même auteur. En vente à l’imprimerie du gouvernement. Basseterre, Guadeloupe, 1853.“ Mehr kann man doch nicht verlangen!

Das „Geisterklopfen“, welches seuchenartig um sich gegriffen hat, ließ sich in Amerika zum ersten Male in dem unruhigen Jahre 1848 hören, ist also elf Jahre alt. Zwei junge Landmädchen, Margarethe und Katharina Fox, wohnten im Dorfe Hydesville, Staat New-York, und hörten „rappings“. Diese „unsichtbaren Wesen“ machten lästiges Geräusch, verrückten Tische und anderes Hausgeräth, gaben bald, nach Uebereinkunft mit den beiden Mädchen, allerlei Zeichen, erklärten, daß sie „Geister“ seien, die „Seelen der Abgeschiedenen“ wurden citirt, die „spirituelle Telegraphie“ kam in Schwung, und die „Media“, welche den Verkehr mit den „Geistern“ vermitteln, begannen eine Rolle zu spielen. So war die Welt wieder einmal mit Rappings, Knockings, Klopfgeistern, Esprits Frappeurs gesegnet. Wenige Jahre nachher hebt zu Bergzabern in der Rheinpfalz ein Klopfgeist eine Bettstelle in die Luft; in demselben liegt ein krankes, noch nicht mannbares Mädchen, und von diesem läßt der unwillkommene Geist sich alles Mögliche befehlen. Die Regierung befiehlt, die Sache von Amtswegen zu untersuchen, doch man bleibt so klug wie vorher. Aber die Sache selbst war in unserm Vaterlande nicht neu; sie machte schon vor neunzig Jahren großes Aufsehen, kam dann aber wieder in Vergessenheit. Original, eigentlich native american, sind also die Klopfgeister von Hydesville und Rochester nicht, wir Deutschen haben in diesem Spuk ganz unbestreitbar die Priorität zu beanspruchen, wie sich aus dem Folgenden ergeben wird.

Unter den deutschen Klopfgeistern nämlich hat sich keiner so mausig gemacht und die Leute dermaßen zum Besten gehabt, wie jener zu Dibbesdorf, in der Nähe der Stadt Braunschweig, wo man noch jetzt Manches von ihm zu erzählen weiß, obgleich die Geschichte beinahe hundert Jahre alt ist. In dieselbe spielen allerlei wunderliche Dinge hinein; die Beamten, die Männer der Wissenschaft, Herzöge und Prinzen, Bürger und Bauern wußten nicht, was sie mit einem Spuk anfangen sollten, der Monate lang sein Unwesen trieb. Man schrieb eine Menge von Protokollen, die zu einem hohen Actenstoß anwuchsen, die Regierung erlaubte sich handgreifliche Willkür, um wo möglich den Knoten zu durchhauen, und sperrte unschuldige Leute ein; aber aufgeklärt ist die Sache bis heute noch nicht. Die Acten wurden länger als vierzig Jahre geheim gehalten, kamen erst 1811 wieder zum Vorschein, und aus ihnen veröffentlichte dann ein Prediger im Braunschweigischen Magazin Auszüge. Der wesentliche Inhalt ist folgender:

Am 2. December 1767, Abends sechs Uhr, vernimmt man plötzlich in dem bis dahin sehr ruhigen Hause des Kothsassen Autor Kettelhut ein Klopfen aus der Tiefe. Der Bauer wird verdrießlich und geht hinaus, um seinem, wie er meint, muthwilligen Knechte einen Eimer Wasser über den Kopf zu gießen. Die Mägde saßen eben in der Spinnstube, und gewiß wollte der Bursch ihnen Schreck einjagen. Aber der Knecht war nicht da, und doch wiederholte sich nach Verlauf von etwa einer Stunde das Klopfen und Pochen. Die Sache wurde bedenklich. Am andern Morgen riß der Bauer den Fußboden, die Wände und die Decke ein, um nachzusehen, ob etwa Ratten sich eingenistet hätten. Aber am Abend geht der Rumor wieder an, der Spuk wird nur noch ärger, und die Mägde wollten in einem offenbar verhexten Hause ferner keine Spinnstube halten.

Nach einiger Zeit hört dann in Autor Kettelhut’s Wohnung der Unfug auf, beginnt aber dafür in dem etwa hundert Schritt entfernt liegenden Hause seines Bruders Ludwig nur um so ärger. Das „Klopfeding“ rumorte ganz fürchterlich in einer Ecke, ließ sich gar nicht beschwichtigen und trieb die Sache so arg, daß die Bauern endlich beim Amt Anzeige machten. Von diesem wurden sie ausgelacht; man that ihnen zu wissen, daß löbliche Obrigkeit mit derlei Narrenpossen sich gar nicht befasse. Aber der Klopfgeist wurde unausstehlich, die Bauern kamen zu Hauf, verlangten Untersuchung, und am 6. Januar 1768 fand sich dann wohlweises Gericht in Dibbesdorf ein, um den wichtigen Casus zu untersuchen.

Der Klopfgeist war ein höchst frecher Gesell, und hatte vor der Justiz eben so wenig Respect, wie vor den Bauern. Wenn er bislang nur toll und wild und ganz planlos und unvernünftig rumort hatte, so fing er, gleichsam den Richtern zum Tort, nun zu sprechen an; er stand Rede und Antwort. Nachdem der erste Schreck vorüber war, gewöhnten sich die Landleute an den unwillkommenen Gast; ein Bauer aus Waggum, welcher bei einer Frau Base in Dibbesdorf auf Besuch war, hatte sogar den Muth, zu fragen: „Klopferdings, bist Du noch da?“ Flugs erfolgte ein lautes Gehämmer. Der aus Waggum, ein naseweiser Bursch, fragte weiter: „Wie heiße ich?“ und der Geist klopfte zu, als unter mehreren Namen der rechte genannt wurde. Die Bauern waren vor Staunen außer sich, wurden aber bald dreist, denn das Klopferdings war ein Geschöpf, mit welchem sich ein Wort reden ließ. Einer sprach: „Wie viele Knöpfe habe ich an meiner Kleidung?“ und sogleich wurde sechsunddreißig Mal zugepocht. Die Sache hatte ihre Richtigkeit; genau so viele Knöpfe zählte man an Wams und Hosen des Fragenden.

Von nun an waren die Dibbesdorfer förmlich stolz auf ihren unsichtbaren Gast, und wenn sie nach dem zwei Stunden weit entfernten Braunschweig zu Markte kamen, und von den Bürgern mit ihrem Klopfgeist aufgezogen wurden, antworteten sie mit großer Gemüthsruhe: „Kommt zu uns und überzeugt Euch selbst.“ Und es strömten täglich Hunderte hinaus, der Geist wurde berühmt; sogar neugierige Engländer und hochgelahrte Professoren von der Universität Helmstädt fanden sich ein, und die Landsoldaten hatten alle Mühe, den allzustarken Andrang der Menge abzuhalten. Diese Aufmerksamkeit eines hohen Adels und verehrungswürdigen Publicums gefiel offenbar dem eitlen Klopfgeiste; er wurde nicht müde, täglich neue und überraschende Kraftstückchen zum Besten zu geben. Actenmäßig steht z. B. Folgendes fest: Er gab Zahl und Farbe der vor Kettelhuts Hause befindlichen Pferde richtig an. Man schlug ein braunschweigisches Gesangbuch auf, der Fragende bedeckte mit dem Finger die Nummer eines Gesanges, welche er selbst noch nicht kannte; aber der Geist traf mit seinen unterirdischen Schlägen allemal genau die Nummer, und gab seine Antwort stets unmittelbar auf die Frage. Eben so pochte er so viele Male zu, als Menschen im Zimmer waren; er bezeichnete durch Zuklopfen nicht blos die Farbe ihrer Kleider und Haare, sondern auch Stand und Gewerbe. Eines Tages kam auch ein in Dibbesdorf völlig unbekannter Mann aus Stettin dorthin. Er fragte nach seinem Geburtsorte, nannte eine Menge Städtenamen, und als Stettin genannt wurde, klopfte der Geist zu. Ein Pfiffikus aus Braunschweig glaubte den Geist ganz sicher fangen zu können; er hatte zu Hause ganz heimlich einen Beutel mit Pfennigen gefüllt, und dann in Dibbesdorf die Frage gestellt, wie viel Geldstücke in dem Beutel seien. Der Geist klopfte ganz richtig 681 Mal. Ein Bäcker fragte: „Wie viele Zwiebäcke habe ich heute Morgen gebacken?“ und die Antwort traf zu. Der „Geist“ wußte, wie viel Ellen Band am Tage vorher im Laden eines Kaufmannes abgemessen worden waren; einem Bürger bezeichnete er die Summe Geldes, welche derselbe zwei Tage vorher mit der Post erhalten hatte. Und wenn die Leute über solche zutreffende Antworten ganz erstaunt waren, pochte er so munter im Dreschflegel- und Scheunentakte, daß den Menschen, wie die Acten sagen, Sehen und Hören verging. Zum Gebet vor dem Abendessen klopfte er allemal beim Amen, er war also kein Gegner der Frömmigkeit. Nichts desto weniger erschien eines Tages ein Küster in vollem Ornate, um den bösen Geist zu verbannen. Unter diese Classe rechnete sich der Klopfer auf keinen Fall, denn die Beschwörung war vergeblich.

Am Ende kam der regierende Landesherr, Herzog Karl, mit seinem Bruder Ferdinand, und auch ihnen wurden ganz überraschende Antworten zugeklopft. Der Herzog war erstaunt und wußte nicht, was er aus der seltsamen Geschichte machen und wie er sie sich deuten solle. Er verlangte eingehende Untersuchung und beauftragte damit einen Arzt und einen Richter. Beide blamirten sich gründlich. Ihre Weisheit war bald zu Ende. Die Thatsachen standen [345] fest, aber man leitete sie aus „unterirdischen Wasserquellen“ her, fing also, um diese Quellen zu finden, mit Graben im Zimmer an; traf auch schon in einer Tiefe von acht Fuß auf Wasser, das die Stube erfüllte. Aber der Geist klopfte nach wie vor in seinem Winkel.

Jetzt dämmerte im Hirnschädel der gelahrten Herren ein kühner Gedanke auf. Sollte nicht irgend ein Betrug zu Grunde liegen? Vielleicht hatte Autor Kettelhuts Knecht den ganzen Unfug angestellt, um den Mägden in der Spinnstube einen Schabernack zu bereiten. So brauchte man sich den Kopf nicht weiter mit Erklärungsversuchen zu zerbrechen, und sämmtliche Einwohner von Dibbesdorf wurden angewiesen, zu einer anberaumten Stunde sich in ihren Zimmern zu halten; den Knecht beobachtete löbliche Behörde höchst selber. Aber der Geist klopfte trotzdem und beantwortete alle Fragen, und man mußte den verdächtigen Knecht von aller Schuld ganz unbedingt frei sprechen. Die Justiz wurde verdrießlich, büßte Verstand und Rechtsgefühl ein, sperrte die vollkommen unschuldigen Eheleute Kettelhut, die selber über das unheimliche Treiben in ihrem Hause in Verzweiflung waren, als verdächtig in ein Gefängniß zu Braunschweig, und brachte eine junge Kindesmagd durch Drohungen und Versprechungen dahin, zu erklären, sie, die Magd, glaube, daß die Eheleute Schuld an dem Klopfen seien. Aber gleich darauf erwacht dem eingeschüchterten Mädchen das Gewissen; es beschwört unter einer Fluth von Thränen, durch die Gerichtsherren sei es verleitet worden, eine Lüge zu sagen; es müsse diese widerrufen, und die Eheleute seien so gewiß unschuldig, wie ein Gott im Himmel lebe. Trotzdem hält man die Kettelhuts im Zuchthause fest, und der Geist klopft inzwischen immer fort. Erst nach drei Monaten werden die schwer Mißhandelten ohne irgend welchen Schadenersatz entlassen, und die einfältigen Commissarien berichten dem Herzoge: „sie hätten zwar alle nur möglichen Wege der Untersuchung eingeschlagen, aber nichts entdeckt, was in der Sache Licht geben könne. Die Aufklärung müsse der Zukunft vorbehalten bleiben.“ Bis auf den heutigen Tag hat dieselbe auf sich warten lassen; der Klopfgeist aber stellte im März plötzlich seine Arbeit ein und verstummte. Das Haus, in welchem er rumorte, steht bis auf den heutigen Tag.

(Schluß folgt.)


Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
4. Bürgerliche Kriegsbereitschaft.

Gegen keine Gattung der Literatur beträgt sich der Mensch rücksichtsloser, als gegen die täglich erscheinenden Zeitungen. Ihre mit Bestimmtheit zu erwartende und fast bis auf die Minute zu berechnende Wiederkehr, ihr gewöhnlicher elender Habitus an schlechtem Papier und noch schlechterem Druck, ihr gemengter Inhalt vertilgen auch den letzten Rest von Scheu selbst in sittlichen Naturen und drücken nach erfolgter Lectüre diese Blätter in die Kategorie jener Geräthschaften herab, welche gleichfalls täglich gebraucht und doch mit der äußersten Geringschätzung behandelt werden, wie Strauchbesen, Strohmatten, Scheuerlappen und andere Reinigungsinstrumente. Man soll deshalb nichts, was einigermaßen der Aufbewahrung werth scheint, weil es vielleicht als Material für den Memoirenschreiber oder Culturhistoriker der Zukunft betrachtet werden kann, in andere Zeitungen schreiben, als in solche, welche mit deutlichen Lettern und guter Schwärze auf weißes, wohlgemerkt – festes Papier gedruckt zu werden pflegen. Für die Erhaltung auch des kleinsten Aufsatzes spricht die Gewohnheit der Abonnenten, dergleichen Zeitungen am Schlusse des Jahres in einen Band zu sammeln und für die Wiederholung in späteren Mußestunden in ihrer Bibliothek aufzustellen.

So legen wir in diese aus solidem Papier bestehenden Spalten, die nicht in Gefahr schweben, aus dem Andenken der Leser so leicht verwischt zu werden, einige Züge aus dem bürgerlichen Leben der letzten Tage nieder, wie es durch den Einfluß der militairischen Bewegungen, welche ganz Europa durchzittern, verändert worden ist.

Wenn man sich auf einem westlich gelegenen Bahnhofe umsieht, so entgehen einem nicht die zahlreichen Geschütze, die Pontons, die Munitionskarren, die Lazareth- und Bagagewagen, die dichtgedrängten Mannschaften, welche nach dem Orte ihrer Bestimmung befördert werden sollen, man freut sich über das Getümmel der Soldaten und Pferde, den Glanz der Waffen, und die militairische Kriegsbereitschaft macht im Ganzen durch ihren mannhaften Charakter einen guten und belebenden Eindruck. Aber man begibt sich in die Stadt, man kommt aus der soldatischen in die civile Atmosphäre und lernt nun auch die bürgerliche Kriegsbereitschaft kennen, einen der trostlosesten Zustände, welche der Retter der Gesellschaft und der Beschwörer des rothen Gespenstes über die Menschheit heraufbeschworen hat. Ein Heuchler, der seine angeblich civilisatorischen Ideen mit Stahl und Blei einimpfen will, ist nicht klüger, als jener kleine Knabe, der eine zinnerne Schüssel mit Braten auf einen glühenden eisernen Ofen setzte. Industrie und Handel der heutigen Zeit müssen bei einem Kriege alle bestimmten Formen verlieren und sich in ein gestaltloses Chaos auflösen. Es ist möglich, daß die Gewohnheit allmählich eine Besserung der Zustände herbeiführt, daß nur der erste Schrecken die Leute den Kopf verlieren ließ, allein gegenwärtig ist Lampe der Hase ein wahrer Held gegen die Kleinmüthigen der bürgerlichen Kriegsbereitschaft in Berlin.

Gehen wir um die Blüthezeit der Promenade durch eine der besuchtesten Straßen, so fällt uns zunächst eine merkwürdige Erscheinung auf: die häufig vor ihren Thüren stehenden und mit den Nachbarn oder Vorübergehenden plaudernden Ladenbesitzer. Der Händler mit Parfümerieen und Seifen, dessen Geschäft um diese Stunde sonst stets besucht war, steht auf der obersten Stufe der Treppe und raucht an der Pforte seines duftenden Tempels eine bisher streng verpönte Cigarre und zwar einen Glimmstengel von der billigsten Sorte der Stinkadores. Er betrachtet mit einiger Melancholie den Laden seines Nachbars, der unter der Firma der „kurzen Waaren“ mit Allem handelt, was dem Format nach in eine Westen- oder Rocktasche gesteckt werden kann. Hier ist der abnehmende Verkehr noch nicht ganz ausgestorben. Zuweilen zeigt sich ein Mann, der ein neusilbernes Luntenfeuerzeug kauft, eine gute Mutter, die für ihr Kleines das friedfertige Instrument einer sogenannten Victoria-Kindertrompete ersteht, ein Dienstmädchen, welches tausend Schwefelhölzer, oder ein Lehrjunge, der eine Uhrkette für fünf Silbergroschen, den Schmuck seines nächsten freien Sonntags, erwirbt.

Der Mann der kurzen Waaren fühlt sich noch nicht vollständig blockirt, wie der Nachbar mit den neuen Sommerschirmen und französischen Umschlagetüchern, oder der Händler mit kostspieligen Galanteriewaaren. Er ist durch den häufigen Umgang mit den verschiedenartigsten Menschen ein Denker geworden und weiß, daß das äußere und innere Leben der Meisten nur auf einen Umsatz kurzer Waaren und Gedanken gegründet ist, daß der Werth derselben nicht viel ausmacht und das Geschäft deshalb ohne großen Aufwand weiter unterhalten werden kann. Einige Häuser weiter bemerken wir eine sich lebhaft unterhaltende Gruppe an dem Schaufenster eines Photographen. Sie besteht aus jungen Leuten, deren keimende Schnurrbärte auf ihre tugendhafte Absicht deuten, die Wehrkraft des Heeres zu verstärken und dem großen Regenerator der Nationalitäten zu Leibe zu gehen. Ihre sanften Mienen verkünden indessen vorläufig einen minder blutigen Vorsatz. Es gilt die Aufbewahrung ihrer martialischen Gesichtszüge durch das geheimnißvolle Phänomen der Lichtbildnerei. Die jungen Herren sind zur Reserve einberufen und wollen den jungen Damen von der Kasserolle, mit welchen sie durch die zärtlichsten Bande vereinigt sind, ein sentimentales Andenken hinterlassen, das sie begeistern soll, die künftigen fünf Dreier ihrer täglichen Ration durch Nachsendungen von einzelnen ersparten oder beim Markteinkaufe erworbenen Thalern zu vermehren. Der Photograph im Innern des Ladens bemerkt sehr wohl ihre löblichen Absichten und hängt sofort als Lockvögel mehrere vielversprechende Portraits von bärtigen klugen Herren, in stark mit Tressen beschlagenen Röcken, an die Scheiben. Unsere Reservisten können dem verführerischen Anblicke besagter Heldenbilder nicht widerstehen, sie begeben sich sämmtlich in das Atelier und ihre ausdrucksvollen Züge werden nicht allein für die geliebten Köchinnen und [346] Inhaberinnen von Sparcassenbüchern, sondern auch für den Schlachtenmaler der Zukunft fixirt und in einem zweiten, etwas mißlungenen Exemplare aufbewahrt.

Belebt hier die Andeutung eines Geschäftes die Hoffnungslosigkeit des Socialphilosophen, so muß uns der Blick, den wir durch das Schaufenster in das Innere eines zarten, aber von der ersten Secunde seines Daseins an den Keim des Todes im Busen tragenden Wechsel- und Bankiergeschäftes werfen, mit tiefem Grauen erfüllen. Als der Goldreichthum Californiens und Australiens in der Welt bekannt wurde, wollte Alles, was über seine Person frei disponiren konnte, über den Ocean schiffen und sich der Goldgräberei befleißigen; als man in dem Sande der Mark vor einigen Jahren jenen ungeheueren Reichthum an Bankactien und Agio entdeckte, wollte jeder Jüngling, welchem die Strenge des Studiums nicht munden konnte, Bankier werden. Der Insasse unseres Ladens gehört zu diesen unzeitigen Geburten eines genuß- und gewinnsüchtigen Zeitalters. Noch vor fünf Jahren ein löblicher Commis, der durch die Zinsen eines kleinen, von den Eltern ererbten Capitales sein sicheres Gehalt in einem alten Geschäfte verdoppeln konnte, machte er sich rasch selbstständig und unabhängig, ging an die Börse und hing ein Schild mit seiner Firma vor der Thür aus. Die Einrichtung des Geschäftes ist nicht ohne Eleganz, die Fächer sind mit vielen Skripturen gefüllt und oben mit Briefkasten, daran die laufenden Jahreszahlen, besetzt, allein der Anblick des Chefs kann uns nicht erfreuen. Wir bemerken einen Paß in seinen Händen und daneben ein Päckchen von Papieren, welche die anständige Haltung von Geldwerth entwickeln. Er blickt düster vor sich hin und scheint bereits an seine künftigen Unternehmungen in Nordamerika zu denken. Auf dem Zahltische bemerken wir eine Menge mit Kreide geschriebener Ziffern, die Berechnung von Ultimo, die der Ladenbesitzer in Ermangelung anderer Geschäfte zur Ausfüllung seiner Muße angestellt hat. Dicht daneben liegt ein ganz vertrockneter Schwamm, das passendste Symbol des untergehenden Bankiergeschäftes.

Das kleine Fleischwaarengeschäft im Kellergeschoß scheint von dem europäischen Kriegslärme weniger zu leiden. Die an den Fenstern hängenden, allen unverdorbenen Magen und Gemüthern imponirenden Riesenwürste, und der Duft der gekochten Zungen und Schinken stimmt die vorübergehende Menschheit versöhnlich. Nicht Gedanken an Zerstörung, sondern an Erhaltung werden in allen Geistern wach, wenn sie sich entschließen, ein wenig zu verziehen, und der dicke, von Weißbier und kleinen Kümmeln erglühende Wirth sieht entschieden wie ein respectabler Mann aus, der auf einer höheren Warte, als auf den Zinnen der politischen, Partei, steht. Die gemeinen Zwistigkeiten der Cabinete, der Ehrgeiz der Könige, die Ruhmsucht der Soldaten kümmern diesen Edlen nicht; er verkauft Wurst an Feind und Freund, noch ist ihre Ausfuhr nicht verboten, und selbst die tönende Proclamation des Kaisers ist ihm nur Wurst. Durch die offenbleibende Thür entdecken wir, daß sich nicht allein der zum Ausrücken befehligte Soldat, sondern auch der zum Bleiben und Aushalten bestimmte Kleinbürger an den feilgebotenen geräucherten Lebensmitteln stärken und einen mündlichen Senf dazu geben, dessen löbliche Schärfe uns wünschen läßt, der französische Gesandte möchte sich nicht in unmittelbarer Nähe der antinapoleonistischen Keller- und Wurstpolitiker befinden, um nicht durch den nach Paris gesandten Bericht über norddeutsche Stimmung ein kleines Cayennegelüste in dem großen Manne zu erwecken.

Im Tabaksladen nebenbei wird unentgeltlich aus der großen, auf den Tisch genagelten Dose geschnupft und die Volkszeitung vorgelesen. Als ein Herr den Laden betritt und ein halbes Dutzend Cigarren für sieben Silbergroschen und sechs Pfennige fordert, entsteht eine Bewegung des Staunens über diesen frechen Luxus. Die auf durchgesessenen Rohrstühlen sitzende Gruppe, bestehend aus einem Colporteur, einem Barbiergehülfen, einem Droschkenkutscher und dem Tabaksbändiger selber, betrachtet den Herrn als einen Empörer gegen die augenblicklich in Berlin herrschende sittliche Ordnung, als einen die heiligsten Gefühle einer kriegerischen aber sparsamen Nation verhöhnenden Buben. Als er das geforderte, für kostbar gehaltene Kraut empfangen hat, stellt der Barbiergehülfe einige mit vielem Beifall aufgenommene Betrachtungen über die um sich greifende Verderbniß der Welt an, nebst Glossen über die unnatürliche Vorliebe für theuere und feine Cigarren.

Biegen wir um die nächste Ecke und schlagen wir einen kurzen Bivouac in dem dort vielbesuchten Wein- und Delicatessenlocale auf, so erschrecken wir über die torricellische Leere in demselben. Die Abgeordneten des Herrenhauses waren die Letzten, welche das Banner des schwarzweiß-neupreußischen Wirthes aufrecht erhielten. Seit sie durch die Beendigung der parlamentarischen Saison auf ihre Provinzialschlösser, Präsidentenstühle, Katheder und Bürgermeistereien auseinander gesprengt sind, ist der arme Mann fast vereinsamt. Die goldene Börsenjugend, die Vormittags bei ihm Stärkung und Labung suchte, ist durch den niedrigen Stand der Course längst fortgescheucht, die Garde hat bei ihm niemals sonderlich verkehrt, und höchstens spricht ein umherspähender Beobachter, wie unsereiner, bei ihm vor und trinkt einen Curiositätsschoppen zu zehn Silbergroschen, denn der Medoc für diesen Preis ist das einzige Juste Milieu, welches der rothloyale Wirth in seiner Reactionsbude duldet. Auf dem zierlich servirten Schenktische starren gebratene Hamburger Hühner, Rheinlachs, Spargel und Aal trostlos in’s Leere, auf den Rand des ziemlich unversehrt erhaltenen Kladderadatsch ist noch keine anzügliche Bemerkung mit Bleistift geschrieben, und die Kellner, die schon seit geraumer Zeit kein Trinkgeld mehr erhalten zu haben scheinen, gleichen angehenden Asceten, die sich noch nicht von der Richtigkeit der Grundsätze dieser mystischen Schule überzeugen können. Lassen wir die Bartneige in der Flasche stehen und entfernen wir uns eilig; der Anblick dieser erzwungenen Kriegsbereitschaft ist gar zu traurig. Sicherlich sähe unser guter Patriot statt dieser Einsamkeit lieber einen Haufen französischer Officiere mit Taschen voll Beute an seinen Tischen.

Vor jener eleganten Conditorei sitzt draußen zwischen den Fenstern und dem eisernen Geländer ein schmaler Streifen von mannichfaltigen Menschen, Alle unzufrieden und düster, wie ein hartnäckiger Regentag. Die Hauptfigur unter ihnen ist der Doctor, der die Hypochonder und faulen Friedenshämorrhoidarier mit theuren Pülverchen curirt. Louis Napoleon, der Pariser Wunderdoctor, hat schon am Neujahrstage alle diese Patienten besprochen und sie sämmtlich gesund gemacht. Die eingebildeten Sorgen sind den wirklichen gewichen, die Kranken halten das Geld für die Pülverchen an sich, grübeln nicht mehr über den Zustand unter ihren kurzen Rippen und werden vor lauter politischem Kummer von Herzen gesund; der Doctor aber läßt sich ein Glas Eiswasser auf seinen Absynth gießen und grübelt über die mögliche Erfindung einer neuen Krankheit nach, die von Krieg oder Frieden nicht afficirt wird und sich gleichfalls durch ein Geheimmittelchen behandeln läßt.

Unweit von diesem Kaffeeborn und kastalischen Quell magenstärkender Liqueure hat sich ein Sclavenhändler angesiedelt. Unter dem Namen eines Modemagazines für Herrenartikel beherrscht er eine weitläufige Kleiderplantage, in welcher eine Menge armer kleiner Schneidermeister und Gesellen Hosen, Röcke und Westen für das In- und Ausland nähen müssen. Die vornehme und eigentlich elegante Gesellschaft läßt in solchen Geschäften ihren Bedarf an Garderobe nicht anfertigen, allein der männliche Demi-monde, der für wenige Thaler einen gut geschniegelten Rock haben will, fühlt sich hier zu Hause, und der wohlhabende Gast vom Lande und aus der Provinz versieht sich hier mit dem nothwendigen Costüm. Machen wir uns ein kleines Gewerbe und treten wir ein, um eine leichte Halsbinde zu kaufen und so den qualvollen Zustand der Neutralität kennen zu lernen. Die sonst so gefüllten prächtigen Räume sind leer, nur etwa zwanzig Angestellte, lauter Vettern des klassischen Antinous, irren umher und fahren auf den Eintretenden los, wie zwanzig Spinnen auf eine arme Fliege. Wir fordern die Halsbinde. Sie wird gebracht und uns vor einem hohen Trümeau mit einer Feierlichkeit angelegt, als gelte es den bekannten Toilettenact der Justiz und als sollte sie den Lohn für alle unsere satirischen Unthaten bilden. Sämmtliche Angestellte umgeben uns in einem Kreise und lassen ihr ästhetisches Gutachten über die Halsbinde laut werden. Gleich das erste Exemplar sitzt ganz gut, allein nur um einen Zeitraum der schrecklichsten Langeweile auszufüllen, zeigen sich die Jünglinge höchst unzufrieden mit ihrem Schnitt und holen noch ein halbes Hundert anderer Cravatten herbei, die uns der Reihe nach um den Hals gebunden werden. Man behandelt uns, wie eine Gesellschaft Backfische eine Weihnachtspuppe. Am liebsten entkleideten uns die unbeschäftigten Künstler bis auf die neunte Haut und probirten uns der Reihe nach alle Stücke des Magazines an. Die Sache beginnt leider bedenklich zu werden, und ein besonders kecker Jüngling legt schon Hand an die Hosenträger, als ein Herr, der nach seinem Kleiderschnitt nur vom Lande sein kann, in Begleitung zweier ältlichen Damen in das Local tritt. [347] Jetzt verlassen uns alle Angestellte und umringen den Herrn, der kleinlaut einen fertigen Frack fordert. Wir trauen kaum unseren Ohren! In dieser Zeit verlangt ein Mensch einen neuen Frack! Wie weit entfernt von den Mittelpunkten des Verkehrs muß dieser Unglückliche wohnen, wie weit zurückgeblieben sein in der Lectüre der Zeitungen, wenn er jetzt, wo Louis der ganzen Welt das Fell über die Ohren zu ziehen sucht, ein Luxuskleid, einen „neuen Frack“ verlangt! Die zwanzig Angestellten scheinen derselben Meinung zu sein, die furchtbare Forderung erschüttert, verwirrt sie, und in der Aufregung des Augenblickes schleppen sie nicht allein einen Haufen Fracks herbei, sondern Alles, was ihnen unter die Hände fällt, Paletots, Hosen, Westen, Plaids, Regenröcke, Panamahüte; es sieht aus, als sollte diesem außerordentlichen Manne der ganze unermeßliche Vorrath zu Füßen gelegt werden. Ein Antinous reißt ihm den Rock vom Leibe, ein Anderer wird nur mit Mühe abgehalten, die Frau Gemahlin zu ergreifen und ihr gleichfalls einen Rock anzupassen. Einige halten den Herren vom Lande fest, zwei stopfen ihn gewaltsam in den Frack, denn der gute Mann trägt eine dicke wollene Unterjacke und auf dem Rücken das, was man in wohlwollender Redeweise einen „kleinen Verdruß“ nennt.

„Na, wie sitzt der Rock?“ fragt der Herr vom Lande die beiden Frauenzimmer, „mir kommt er ein bischen knapp und unbequem vor.“

Die verdutzten Frauenzimmer schweigen, aber der Chor der Angestellten ruft unisono: „Knapp? unbequem? dieser Frack?“

Ein Jüngling knöpft ihn vorn zu, zwei Andere ziehen gewaltsam an den Schößen und so zerren sie die Falten über dem „kleinen Verdruß“ glatt, der Herr vom Lande knackt in allen Fugen seines Leibes, aber der Frack sitzt und das Opfer wird unverzüglich vor den Spiegel geschleppt, um sich von der Entwickelung seiner Schönheit zu überzeugen.

Jetzt zieht der Herr die Brieftasche, um zu bezahlen, allein alle Jünglinge schreien wieder:

„Nein, mein Herr, zu solchem Fracke dürfen Sie diese Beinkleider nicht tragen! – was für eine Weste! – fort mit der Cravatte! – Sie müssen noch einen neuen Pariser Hut haben!“

Was sollen wir mehr sagen? der Herr wird um funfzig Thaler erleichtert und von Kopf bis zu Fuß neu bekleidet. Dann führt ihn die Gesellschaft im Triumph zum Laden hinaus und blickt ihm mit unverwandten Blicken nach, während die guten Landleute die alten abgelegten Kleider in der Verwirrung ganz vergessen haben.

Wir sind in dem heutigen Tumult vollständig übersehen worden. Da nähert sich uns ein ernster Jüngling von gemessenen Manieren, der bisher in einem hinteren Zimmer über einem Zeitungsblatte brütend gesessen hat. Er ist der Secretair des Geschäfts und verfaßt die Kleiderproclamationen in den Journalen, die Manifeste an die deutsche Nation. Er tritt mit diplomatischer Feierlichkeit an uns heran und flüstert uns in’s Ohr: „Die Oesterreicher sind wirklich über den Tessin gegangen!“ Dann verstummt er und verschwindet spurlos, wie der betrübte Genius des Friedens.




Vier Jahre in Cayenne.

Es war – erzählt Attibert, der Verfasser der so eben unter dem obigen Titel erschienenen merkwürdigen Broschüre – im Monat December 1854, als ich mit mehreren anderen politischen Verurtheilten den Zellenwagen bestieg, der uns mitten in der Nacht aus dem Gefängniß von Paris nach Toulon brachte.

Zwei Tage und drei Nächte saßen wir dicht aneinander gereiht auf der zur Befriedigung gewisser natürlicher Bedürfnisse gleich mit eingerichteten durchlöcherten Bank, mit dreißig Pfund Ketten an den Beinen und Handschellen.

In diesem Kasten sieht und hört man nichts, als das Rollen und Poltern des Wagens. Man kann keine Bewegung machen. Die Unbeweglichkeit, die drückende Last der Fesseln, unter welcher die Glieder anschwellen, das Schweigen, der Mangel an Luft, die Härte der mit Blech beschlagenen Wände – Alles dies versetzte uns in einen so qualvollen Zustand, daß nur der, welcher, wie wir, ein Opfer desselben gewesen ist, sich eine richtige Vorstellung davon machen kann.

Nach der Ankunft in Toulon brachte man uns in das Fort Lamalgue. Wir waren so erschöpft und an allen Gliedern so steif, daß man uns aus unserem Eisenkäfig herausheben und in unser neues Gefängniß tragen mußte.

Hier, wo wir verhältnißmäßig gut behandelt wurden, blieben wir zwanzig Tage, weil das Schiff, welches uns nach Cayenne bringen sollte, noch nicht segelfertig war. Auch nach Ablauf der zwanzig Tage war dies noch nicht der Fall, und da der Raum in dem Fort anderweit gebraucht ward, so brachte man uns einstweilen nach dem Bagno der Galeerensclaven.

Es war sechs Uhr Morgens. Soldaten escortirten uns in die Boote, denn man kann nur zu Wasser in den Bagno gelangen. Kaum waren wir in die Boote gestiegen, so wurden wir von den am Ufer versammelten Zuschauern unter freundlichen, ermuthigenden Zurufen mit einer ungeheueren Masse Tabakspäckchen und Cigarren überschüttet. Wir dankten durch Blicke und Gebehrden, denn jedes Wort war uns auf’s Strengste verboten, und unmittelbar nach unserer Ankunft im Bagno schien man uns für die von unsern mitleidigen Landsleuten bereitete Freude büßen lassen zu wollen.

Der Director ließ aus unsern Reihen – im Fort Lamalgue waren schon vor uns zwanzig andere Verurtheilte eingetroffen – die fünf zu den schwersten Strafen Verurtheilten vortreten und sagte zu den Soldaten:

„Bringt sie in die Zellen, und wenn sie sich rühren oder mucksen, so schlagt zu. Solche Hunde sind nichts Besseres werth.“

Unter diesen fünf Verurtheilten befand sich auch ein Italiener, Namens Pianori, der Bruder dessen, der auf Ludwig Napoleon geschossen. Er war ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren und hatte, als er die Verhaftung seines Bruders erfuhr, Italien verlassen, um ihn zu rächen. An der Grenze ward er angehalten und ohne weitere Untersuchung zur Deportation nach Cayenne verurtheilt.

Unser Aufenthalt im Bagno war nur ein kurzer. Schon am nächstfolgenden Tage befahl man uns, unsere Kleider auszuziehen, und gab uns die Uniform der Deportirten – Beinkleider von grauer Leinwand, graue Blouse, wollene Mütze und Hemd von Hanfgespinnst.

Es war elf Uhr Morgens, als wir an Bord des Transportschiffes kletterten, welches ironischer Weise den Namen „Fortuna“ führte. Siebenundzwanzig von uns kamen zusammen in ein gemeinschaftliches Behältniß des Zwischendecks, worin aber nur zwölf Hängematten aufgespannt werden konnten. Dieses Behältniß war fünfundzwanzig Fuß lang und zehn Fuß breit. Hier waren diese siebenundzwanzig so dicht zusammengepfercht, daß sie sich kaum zu rühren vermochten. Uebrigens mußten einige zwanzig Tage lang wegen stürmischer Witterung die Luken, welche noch ein wenig Luft und Licht einließen, geschlossen gehalten werden, so daß die Gefangenen mehrmals dem Ersticken nahe waren. Wir Uebrigen kamen in gesonderte Zellen, wo wir uns nicht viel besser befanden.

Und dennoch war damals noch die gute Zeit. Gegenwärtig kommen die nach Cayenne Verurtheilten auf dem Schiffe nicht mehr in gesonderte Behältnisse, weil man diese Transportmethode noch zu mild gefunden hat. Es fehlte uns allerdings an frischer Luft, wir konnten in unseren Zellen nicht sehen, sondern befanden uns in fortwährender und vollständiger Finsterniß, aber Alles dies war weniger qualvoll, als die jetzige Verfahrungsweise. Jetzt bleiben die Verurtheilten auf dem Deck des Schiffes liegen, wo sie mit den Füßen an eiserne Querstangen angeschlossen sind und folglich die größte Beengung, Sturm, Regen, Hitze, Kälte und die stete Gegenwart ihrer Hüter zu ertragen haben.

Unsere Behältnisse befanden sich sämmtlich an dem einen Ende des Zwischendecks. An dem andern Ende war ein Bretverschlag mit einer kleinen Seitenthür. Während der ganzen Dauer der Reise trat, so viel wir bemerken konnten, Niemand in das verschlossene Gemach, zwischen welchem und unseren Behältnissen ein ziemlich großer, freier Raum blieb.

Nach Beendung der Reise sagte einer der Officiere zu uns: „Ihr habt wohl daran gethan, Euch ruhig zu verhalten, denn hinter jenem Bretverschlag steht ein bis an die Mündung mit Kartätschen geladenes Geschütz, und bei der geringsten Widersetzlichkeit wäret Ihr sofort Alle zusammengeschossen worden.“

[348] Alle zwei Tage durften wir einmal zwei Stunden lang auf’s Deck, um frische Luft zu schöpfen. Die übrige Zeit blieben wir in unseren Zellen liegen. Diese waren so niedrig, daß wir nicht einmal auf unsern Hängematten sitzen konnten, sondern, wie gesagt, liegen bleiben mußten. Die Luft drang nur durch kleine, in die Bretwand gebohrte Löcher herein, und wir bekamen davon so wenig, als die väterliche Regierung Ludwig Napoleons nur wünschen konnte.

Ich hatte das ziemlich seltene Glück, von der Seekrankheit verschont zu bleiben. In der Straße von Gibraltar hatten wir einen ziemlich heftigen Sturm zu bestehen, der auch im atlantischen Ocean noch mehrere Tage fortdauerte, und die meisten von uns waren während der ganzen Ueberfahrt seekrank. Unsere Reise dauerte verhältnißmäßig lange, und erst am neunundvierzigsten Tage hörten wir die Kanonen der Insel Enfant perdu, welche die Flagge unseres Gefängnisses begrüßte. Man ließ uns nun auf’s Deck heraufkommen, und wir sahen in der Ferne einige Spitzen der Schreckensorte, nach welchen wir bestimmt waren.

Die Sonne war eben im Untergehen begriffen. Das in dieser Nähe des Landes mit Sand und Schlamm gefüllte Meer hatte eine gelbe Farbe. Die Stadt Cayenne, der man sich wegen der ungeheuren Schlammmassen mit größern Schiffen nur bis auf zwei und eine halbe geographische Meile nähern kann, erschien uns wie eine Wolke. Die übrigen Inseln boten einen reizenden Anblick. Wir zählten deren drei große. Nach Osten sahen wir einen Theil der Teufelsinsel, die kleine sogenannte Mutterinsel, die Königsinsel, welche dem Festlande am nächsten liegt, und die kleine Insel Saint Joseph. Diese Inseln steigen in schroffen Felsenmassen empor und nur auf der Insel Saint Joseph ist anmuthig grünende Vegetation vorherrschend. Auf der Spitze der Teufelsinsel sahen wir einige Leute hin und her gehen, und neugierig nach unserer Kriegsbrigg ausschauen.

Da wir so lange Zeit in der Nacht des Zwischendecks zugebracht hatten, so wünschten wir lebhaft, recht bald an’s Land gebracht zu werden. Wir wußten nicht, ob man uns auf einer der Inseln in ein Gefängniß oder auf den Ponton „der Castor“, den wir hier vor Anker liegen sahen, bringen würde. Mehr als einer meiner Unglücksgefährten, der jetzt Land und Sonnenschein als eine Erleichterung der unterwegs ausgestandenen Leiden betrachtete, sollte schon binnen wenigen Tagen unter unerhörten Qualen seinen letzten Seufzer aushauchen.

Im Augenblicke unserer Ankunft herrschte das gelbe Fieber nämlich schon seit acht Monaten. Es beginnt in der Regel mit den ersten Tagen der trockenen Jahreszeit und zieht sich oft noch lange in die Regenzeit hinein. Keiner der Matrosen und Seesoldaten durfte an’s Land und auch wir mußten beinahe noch einen Monat auf dem Schiffe bleiben. Benutzen wir diese Zwischenzeit, um ein wenig das Land und das Klima zu schildern.

„Es ist,“ sagte der Moniteur, „eine wahrhaft philanthropische Idee gewesen, welche zur Aufhebung der Bagno’s in Frankreich und zur Errichtung der Strafkolonien in Cayenne geführt hat.“

Weil nämlich die Bagno’s in Frankreich zu gesund befunden wurden, verlegte man sie nach Cayenne. Die Philanthropie, welche Cayenne schuf, ist dieselbe, welche Mazas schuf. Die trockene Guillotine gehört derselben Inspiration an, wie das Zellengefängniß.

Die Küste von Guyana, zu welcher Cayenne gehört, liegt zwischen dem vierten und fünften Breitengrade und folglich ganz nahe am Aequator. Das französische Guyana grenzt nördlich an den Ocean, östlich an den Fluß Oyapok, südlich an das brasilianische Guyana und westlich an den Fluß Maroni, der es von dem holländischen Guyana trennt. Reich an allen Erzeugnissen der Wendekreise, zählt diese Colonie, die dem Flächeninhalte nach halb so groß ist, wie Frankreich, doch nur zehn- bis zwölftausend Einwohner. Der Handel ist hier sehr schwach und die Cultur des Bodens und der Gewerbfleiß sind hier erst im Entstehen begriffen.

Woher rührt diese vollständige Vernachlässigung eines so fruchtbaren Landes in so dichter Nähe der Antillen? Warum wenden sich alle Einwanderer lieber nach Brasilien oder den Vereinigten Staaten. Worin liegt der Grund des Verfalles sämmtlicher Gebäude, die in Cayenne nicht dem Staate angehören? Das Leben kostet hier fast gar nichts, und dennoch will Niemand hier leben. Der Grund ist, weil Bonaparte, indem er dieses fruchtbare Land zu einem fluchbeladenen macht, indem er es in eine Plantage von Galgen, in eine Pflanzschule von Gensd’armen, in eine Cloake von Henkersknechten verwandelt, die Colonisten hinwegscheucht, welche es in einen wohnlichen und gewinnbringenden Aufenthalt umgestalten könnten.

Werfen wir einen flüchtigen Blick auf das Land.

Bis zur Insel Cayenne ziehen sich vom Süden unermeßliche Wälder herab, in welche noch niemals die lichtende Axt gedrungen ist und die von Sümpfen und schlammigen Strichen gleich denen an den Küsten durchschnitten sind. Diese Wälder ziehen sich von einer Gebirgskette herab, auf welcher zahlreiche Flüsse entspringen, deren Wasser kein Bett hat, eine Menge vegetabilische Trümmer mit fortführt, mit Beginn der Regenzeit austritt und während der trockenen Jahreszeit stehende Tümpel bildet, aus welchen pestilenzialische Dünste emporsteigen. Nach Osten zieht sich zwischen Cayenne und dem Amazonenstrome ein Gebiet hin, dessen Name ein ziemlich charakteristischer ist, es heißt nämlich das „ersäufte“. Nach Westen sieht man dieselben qualmenden, dampfenden Moräste. Folglich: Sümpfe und Wälder im Süden, Sümpfe im Osten und Westen, zahlreiche Flüsse ohne Bett und nach Norden ein seichtes Meer mit schlammigem Boden – das ist die unbestreitbare und unbestrittene Geographie dieser von der Philanthropie errichteten Colonie.

Was das Klima betrifft, so kann man sich ungefähr einen Begriff davon machen, wenn ich sage, daß selbst in der kühlen Jahreszeit das Thermometer im Schatten noch mindestens 55° F. (10° R.) zeigt. Man denke sich erst die Wirkung der Sonne, wenn ihre Strahlen senkrecht auf diesen Morast- und Schlammpfuhlen brüten!

Das Jahr wird hier in vier Jahreszeiten getheilt, nämlich zwei Winter und zwei Sommer. Diese beiden Sommer beginnen der eine am 21. März, der andere am 21. September. Die Winter sind die Regenzeiten. Der Regen fällt dann unaufhörlich und in Strömen. Während dieser sogenannten Winter ist die Hitze noch immer sehr groß und die Sonne, wenn sie einmal die Wolken durchdringt, gefährlicher als je. Wenn die trockne Jahreszeit herrscht, verdunsten die von den Flüssen in den Niederungen zurückgelassenen Wasser. Giftige Miasmen – mit andern Worten das gelbe Fieber, oder mit noch anderen Worten, der Tod – erfüllen die Atmosphäre, welche ohne Strömung und durch die Wälder gehemmt, sich nicht reinigen kann. Alles gährt. Alles lebt und stirbt, vegetirt und verwest mit einer Schnelligkeit und in einem Verhältnisse, welches uns unbegreiflich erscheint. In der Luft wimmeln die Miasmen und Insecten in förmlichen Wolken; in dem Wasser, auf der Erde alle Ungeheuer des heißen Schlammes, alle lebendig gewordenen Gifte – Schlangen, Krokodile, Scorpione, ungeheure Kröten, riesige und gefährliche Fledermäuse. Ringsum schwärmen Millionen von kaum sichtbaren giftigen Insecten, die fliegenden Läuse, die Sandflöhe, welche sich unter Fuß- und Fingernägel und in die Schweißlöcher einbohren und ihre Eier darein legen, die amerikanischen Mücken und die Muskitos, deren Saugrüssel durch die beste wollene Decke dringen, und gegen welche das Muskitonetz keinen Schutz gewährt.

Das Meer und die Flüsse sind mit Haifischen, Kaimans, Muränen und einer Menge giftiger Thiere bevölkert. Sich in diesen Gewässern zu baden, ist rein unmöglich.

Die Nacht folgt auf den Tag ohne Dämmerung in zehn Minuten. Auf den sengend heißen Sonnenschein folgt eine sehr kalte Nacht. Athmen heißt sich vergiften; zu gewissen Stunden thätig sein, heißt sein Leben preisgeben; ausruhen heißt allerdings weniger leiden, aber immer noch leiden. Dies ist das Klima. Ist es der Aufmerksamkeit einer väterlichen philanthropischen Regierung nicht vollkommen würdig?

Man war es endlich müde, uns an Bord der Fortuna zu bewachen, und schickte uns auf den Ponton oder das Gefängnißschiff „der Castor“, der auf der Rhede vor Anker lag. Es war ein altes, entmastetes, halb verfaultes Schiff, welches von einigen Marinesoldaten bewacht ward. Hier mußten wir zuerst das Deck und dann die für uns bestimmten Zellen säubern. In den ersten, die uns zu diesem Zwecke geöffnet wurden, war die Luft so verpestet, daß wir es nicht länger, als eine halbe Stunde nach einander, darin aushalten konnten, und dann allemal wieder einige Zeit auf’s Deck hinaufgehen mußten.

(Fortsetzung folgt.)

Die „Originalberichte vom Kriegsschauplatze“ beginnen in nächster Nummer mit „Briefen aus Turin und Alessandria“.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sage