Die Gartenlaube (1859)/Heft 52

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 52. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube.

Es regt sich allenthalben in Europa, vorzüglich aber im deutschen Lande, ein neuer lebendiger Geist, von welchem die Väter nichts wußten, und von welchem die Söhne nicht wissen, wie sie dazu gekommen sind. Es schwankt über nach allen Seiten, weil das Flickwerk, das der Zufall meistens in der langen Anarchie des Mittelalters gebaut hat, nicht mehr sein Gleichgewicht hält, und weil man für die neue Zeit noch kein Maß weiß.


Ich ahne, daß aus dem Verstand, aus der Einsicht, die dann nicht mehr verloren werden kann, weil der Geist sie durch Reflexion bewacht, daß aus dieser eine kräftigere politische Schöpfung werden wird, weil die Staatsregenten und die Gebildeteren endlich das Rechte thun, weil sie es müssen, aus Interesse. Ich sehe aus dem unendlichen Wissen ein Gewissen entspringen, einen seelenvollen Verstand der Völker und Menschen von ihrem Verhältnisse zu einander; der Glanz des Waffenruhms, die Ueberziehung ferner Welttheile wird seltner werden; die verständigeren Enkel werden sich wundern, daß ihre Vorväter so unklug sein konnten. Die Menschen, kräftiger und stärker beim hohen Wissen und Gewissen, werden die Scham der Etikette und Convenienz verbannen, und dafür die Scham setzen dessen, was unhold und unrecht ist. Aus solcher Welt wird die Kunst erblühen, ein schönerer Widerschein eines freudigen und stolzen Lebens.


Wir aber müssen vor allen Dingen, was an uns nicht mehr ganz möglich ist, an Denen thun, welche die künftige Generation lenken und für sie denken sollen, an den künftigen Regieren: und Führern der Menschen. Wir müssen diejenigen, welche der Zufall so glücklich setzte eine freie und edle Erziehung zu bekommen, für die Bedürfnisse einer besseren Zeit erziehen, die durch sie vorzüglich bester werden soll; denn nur durch eine menschliche Erziehung voll Kraft und stiller Männlichkeit ist den folgenden Geschlechtern zu helfen. Man muß die Menschen wieder als Menschen erziehen, den Jünglingen die Welt lang, weit und unendlich frei zeigen, sie nicht sogleich aus einen bestimmten Zweck hinweisen, der das Leben und den noch nicht entwickelten Verstand des Lebens einengt. So werden starke und stolz gestaltete Gemüther hervorgeben, wenn eine höhere Wirkkraft gegeben wird, die durch da« Leben wandelt; so werden die Enkel tapferer zum Herrschen und geduldiger zum Gehorsam werden.

Aus Arndt’s 1803 erschienenem Buche: „Germania und Europa“.




Arndt.
91. Geburtstag d. 26. Dec. 1859.




Der verwandelte Schmuck.

Novelle von Ernst Willkomm.
(Schluß.)


„Sie können sich immer noch Glück wünschen, daß Sie zu rechter Zeit Kunde erhielten von dem Stande der Dinge,“ versetzte der Domcapitular. „Nicht Jeder kann sich solcher Gunst Fortuna’s rühmen. In Ihrer Abwesenheit hat man hier ebenfalls eine Entdeckung gemacht, die noch böse Untersuchungen zur Folge haben wird.“

„Hier? … In dieser Stadt? …“ fragte Aurelio.

„Sie kennen den Brief, welcher, wie jetzt bekannt ist, in Sachen des Schatzes der Fürsten von O* die Runde durch alle Zeitungen machte.“

„Ach ja,“ fiel Aurelio dem Domcapitular in’s Wort. „Dieser Brief hat mich amusirt. Er war so gescheidt abgefaßt, daß ihn nur ein Allwissender oder ein Hexenmeister verstehen konnte.“

„Halten Sie ihn für unecht?“

„Keineswegs, sein Verfasser ist aber jedenfalls ein Spaßvogel, welcher der leichtgläubigen Menge etwas aufbinden will.“

„Ich las ihn auch,“ sagte der Domcapitular, „allein und mit Andern, und uns schien er Andeutungen von Wichtigkeit zu enthalten.“

„Zum Beispiel?“

„Es wird aus denselben ersichtlich, daß diebische Hände den Schatz der Fürsten von O* heimlich zu öffnen verstanden.“

Graf von Weckhausen lachte sehr heiter.

„Mein Brief, gütigster Oheim, und meine in die Form einer Bitte eingekleidete Bestellung haben Ihnen bereits gesagt,“ erwiderte er, „daß diese Vermuthungen grundlos sind. Meine Hypothese von [758] den Kobolden, welche dem Fürstenhause zürnen, war richtiger. Sie hatten doch die Güte, meine Bitte zu beachten?“

Rütersen sah jetzt dem Grafen ernst in’s Auge. Aurelio behielt den lächelnden Zug bei, der den Ausdruck seiner Mienen verschönernd belebte.

„Wenn ich es nun nicht gethan hätte,“ fragte er den Grafen nach einer kleinen Weile, „würden Sie mir wohl für mein Zögern dankbar sein?“

Das Lächeln in Aurelio’s Antlitz verlor sich und machte einem Schimmer von Traurigkeit Platz.

„Es würde mich meiner geliebten Rosaura wegen betrüben,“ versetzte er.

„Meine Nichte besitzt der Kostbarkeiten mehr als nöthig sind, um glücklich leben zu können,“ fuhr der Domcapitular fort. „Ein kluger Mann, welcher die Liebe seiner Gattin für das höchste Gut hält, das der Himmel ihm geschenkt hat, muß weise Maß zu halten verstehen und die Frau nicht durch zu reiche Geschenke verwöhnen. Weil es mir nun schien, als wäre es Ihnen unmöglich, dies Maß zu beobachten, habe ich Ihren Auftrag nicht vollzogen.“

Aurelio’s leise Betrübniß verwandelte sich, wie sein Mienenspiel verrieth, offenbar in Aerger. Er stand auf, stieß den Stuhl, der ihn getragen hatte, unsanft zurück, und sagte in fast unehrerbietig klingendem Tone zu Rütersen: „Dann will ich das Versäumte sogleich nachholen. Rosaura hat mein Wort zum Pfande und erwartet schon lange, daß ich es einlösen werde. Ich ersuche um Auslieferung des Kästchens mit dem alten Schmucke.“

Ehe der Domcapitular auf diese sehr bestimmt ausgesprochene Forderung antworten konnte, überreichte ihm der eintretende Bediente ein Billet mit der Bemerkung:

„Von dem Herrn Obergerichtsrath Bornstein.“

Rütersen stand jetzt ebenfalls auf, trat an’s Fenster und öffnete es, ein Wort der Entschuldigung an den Grafen richtend. Während er die erhaltenen Zeilen durchlas, ward er sehr blaß. Sinnend faltete er das Billet wieder zusammen und kehrte zu seinem Sessel zurück. Er stützte sich auf die Lehne desselben und sagte dann mit Nachdruck: „Jenes Kästchen befindet sich nicht mehr in meiner Verwahrung. Ich ward von einem Freunde gebeten, es ihm zu überlassen.“

Aurelio von Weckhausen erschrak sichtlich.

„Fürchteten Sie vielleicht, man könnte bei Ihnen nachfragen, auf welche Weise Sie in den Besitz desselben gekommen seien?“ sagte er übereilt.

„Ich nicht, aber ein Freund von Ihnen fürchtete etwas der Art,“ versetzte der Domcapitular. „Es wird nöthig werden zu ermitteln, von wem das Kästchen herrührt und wer es Ihnen käuflich überließ.“

Der Graf war offenbar unangenehm von dieser Mittheilung überrascht, er wußte sich indeß schnell zu fassen, und ohne die letzte Frage Rütersen’s zu beantworten, sagte er: „Sie dürfen mir den Namen dieses Freundes nicht vorenthalten, theurer Herr Oheim. Jedenfalls findet hier eine Verwechselung zweier Gegenstände statt, die einander ähneln. Ich gestehe offen, daß ich eine solche Möglichkeit immer gefürchtet habe und daß ich gerade deshalb einen Umtausch des Schmuckes, welchen mein Geschenk an Rosaura birgt, schon seit längerer Zeit wünschte. Ich muß also, wie Ihnen einleuchten wird, unsern ebenso aufmerksamen als vorsichtigen Freund sogleich sprechen.“

„Obergerichtsrath Bornstein wird gewiß erfreut sein, Sie wieder zu sehen,“ meinte der Domcapitular.

„Bornstein?“ wiederholte Aurelio nachdenklich. „Also Bornstein! … Ich hätte es vermuthen können! ....“

Darauf ward er plötzlich auffallend zerstreut, sprach noch kurze Zeit über gleichgültige Dinge mit dem Oheim seiner Gattin, fragte wiederholt, ob auch sämmtliche Eingeladene bei dem morgenden freundschaftlichen Abendcirkel erscheinen würden, und empfahl sich endlich unter einem Strom von Dankesworten, wie der Domcapitular sie noch nie in so reicher Fülle von dem Grafen vernommen hatte.

Kaum sah sich Rütersen allein, als er auch Befehl ertheilte, seinen Wagen anspannen zu lassen. Das erhaltene Billet Bornstein’s zu sich steckend, fuhr er zu dem Obergerichtsrath. Unterwegs gab er sich der Hoffnung hin, er werde den Grafen bei Bornstein treffen. Aurelio von Weckhausen hatte sich aber nicht daselbst sehen lassen. Die Unterredung des Domcapitulars mit dem Obergerichtsrath dauerte lange. Sie endigte mit der Versicherung des Letzteren, daß alles Aufsehen vermieden werden solle. Auf die Haltung des Grafen nur würde es ankommen, ob das Unerläßliche still vor sich gehen könne, oder ob man Gewalt werde brauchen müssen.

„Und meine Nichte?“ rief der erschütterte Domcapitular. „Sie hat keine Ahnung von dem, was ihr bevorsteht! … Wer auch konnte vermuthen, daß sich ein Verbrecher in diesem vollendeten Gentleman verberge!“

„Die Gräfin ist vorbereitet,“ erwiderte Bornstein, „Uebrigens fällt auf den Grafen der geringere Antheil an der Schuld. Er half das Verbrechen nur fördern, er beging es nicht selbst. Der wirkliche Verbrecher ist jener Marchese Oruna, in dem sich, wie man ermittelt hat, in der That der illegitime Erbe verbirgt, welcher Ansprüche auf den Thron der Fürsten von O* erhebt. Gelang die kühne That – und es fehlte wenig, sie wäre vollständig gelungen – so würde Graf von Weckhausen als ein reicher Mann von seiner gewagten Vermittler- oder, wenn Sie lieber wollen, von seiner zweideutigen Hehlerrolle zurückgetreten sein und völlig makellos in der Gesellschaft dagestanden haben.“

„Ich bitte um Schonung meiner Nichte,“ bat Rütersen, als er den Obergerichtsrath verließ, „Das Kästchen ist doch noch in Ihren Händen?“

„Gewiß,“ sagte Bornstein, dem erschütterten Greise die Hand drückend. „Und damit es in die Hände keines Unberufenen und Uneingeweihten komme, werde ich Sorge tragen, daß es dem Grafen zu rechter Zeit wieder eingehändigt wird.“

„Sie wollten? … Können, dürfen Sie die Großmuth so weit treiben? …“

„Verlassen Sie sich ganz auf meine Vorkehrungen, Herr Domcapitular,“ fiel Bornstein ein, „Sie entsprechen vollkommen dem Ziele, das wir erreichen müssen. Und da ich voraussetzen darf, daß auch der Graf in dieser Stunde bereits von dem wahren Stande der Angelegenheit unterrichtet ist, wird er mich gewiß verstehen und sich meinen Anordnungen durchaus nicht widersetzen. Als Mann von Erziehung wird er im Augenblick des Unglücks erkennen, was er dem guten Ton und der Ehre seines Standes schuldig ist.“




9. Das Ende.

Rosaura war früher als Aurelio auf ihren schönen Landsitz zurückgekehrt. Hier fand sie ein Schreiben Bornstein’s vor, welches die Anzeige enthielt, daß ihr Gatte in Folge eingetretener Umstände wahrscheinlich spät, vielleicht auch gar nicht die Stadt werde verlassen können. Eine plötzlich eingetretene Trauerbotschaft aus seinen fernen Besitzungen fordere ein längeres Verweilen des Grafen, um sogleich die nöthigen Weisungen zu geben, Bornstein fügte hinzu, Graf von Weckhausen habe ihn als Freund gebeten, der Gräfin diese Mittheilung zu machen.

Zwar wunderte sich Rosaura über diese Nachricht, besonders auffällig erschien sie ihr jedoch nicht. Sie kannte die intime Verbindung ihres Gatten mit dem Obergerichtsrathe und vermuthete deshalb, Aurelio werde den Rath, wo nicht die Vermittelung des Freundes bedurft haben, um etwaigen Verlusten in Zeiten vorzubeugen.

Sehr erfreut war die Gräfin, als Aurelio kurz vor Mitternacht doch seine Behausung betrat, nur sein Aussehen flößte ihr Schrecken ein. Es mußte ihm in der That etwas Entsetzliches zugestoßen sein, sonst hätte der blühende Mann, den sie nur froh und glücklich zu sehen gewohnt war, sich innerhalb weniger Stunden nicht so auffallend verwandeln können.

„Entdecke mir Dein Leid, Aurelio,“ flehte Rosaura mit schmeichelndem Liebestone. „Es wird Dir leichter werden, wenn Du Deinen Schmerz, Deinen Kummer mit mir theilst!“

„Morgen sollst Du Alles erfahren,“ erwiderte der Niedergeschlagene. „Morgen nach dem Souper.“

„Wäre es nicht besser, wir ließen absagen? Der Oheim würde gern dafür Sorge tragen.“

„Nein,“ sagte Aurelio fest. „Ich wünsche nicht, daß dieser Unfall, der meine Existenz gefährden kann, im Publicum bekannt wird. Die Nachricht hat mich, weil sie zu unerwartet kam, allerdings überrascht, bis morgen Abend jedoch habe ich mich wieder gefaßt und ich werde fest sein in meinen Entschließungen.“

[759] „Kann Bornstein nichts für Dich thun? Er schreibt doch so liebreich, so theilnehmend über Deinen Unfall! Lies selbst.“

Rosaura reichte Aurelio das Billet des Obergerichtsrathes, der es zerstreut, mit irrenden Blicken überflog. Ohne Antwort gab er es dann der Gräfin wieder zurück.

„Du scheinst mit den Vor- oder Rathschlägen unseres Freundes nicht einverstanden zu sein,“ sagte Rosaura schüchtern.

„Doch, doch,“ erwiderte Graf von Weckhausen. „Er meint es sehr gut, denn er ist zum Entsetzen ehrlich! Nun aber laß uns zur Ruhe gehen! … Der Schlaf wird mich erquicken, und über Nacht kommen mir wohl auch gute Gedanken! …“

Rosaura, obwohl von dem seltsamen Wesen ihres Gatten beunruhigt, entschlief bald, Aurelio aber blieb wach. Er stellte sich schlafend, bis er sich überzeugt hatte, daß Rosaura fest entschlummert sei.

Darauf erhob er sich von seinem Lager und begab sich nach seinem Zimmer. Hier wühlte er geraume Zeit in Papieren, von denen er eins bei Seite legte. Dann öffnete er den eleganten Schrank, in welchem eine Menge werthvoller Gold- und Silbergeräthschaften aufbewahrt wurde, theils Geschenke, die das gräfliche Paar bei seiner Vermählung erhalten hatte, theils Gegenstände von denen, welche Aurelio von dem genuesischen Hause an Zahlungsstatt erhalten haben wollte. Unter diesen Werthsachen befand sich auch der kunstvoll gearbeitete Pokal, den der Domcapitular für ein Werk Benvenuto Cellini’s oder eines seiner Schüler hielt.

Aurelio nahm diesen Pokal, ergriff dann das Papier, öffnete es und rieb die starke goldene Höhlung so stark damit aus, daß es sich unter dem Druck seiner Finger fast ganz auflöste. Dann suchte er zum zweiten Male sein Lager auf, das er nicht eher, als am Morgen wieder verließ.

Rosaura’s Antlitz überflog ein glückliches Lächeln, als sie Aurelio beim Erwachen dem äußeren Anschein nach ganz heiter erblickte. Nur in seinem Auge dämmerte bisweilen eine Wolke, die es vorübergehend trübte.

Von den beunruhigenden Mittheilungen war zwischen dem gräflichen Paar nicht die Rede. Rosaura schmückte sich mit Sorgfalt für die Abendgesellschaft bei ihrem Oheim, und bestieg hoffnungsmuthig mit Aurelio den Wagen, welcher Beide nach der Stadt trug. –

Die nur aus wenigen Personen bestehende Gesellschaft war belebt, und der Graf von Weckhausen trug, wie man dies schon an ihm gewohnt war, viel bei zu deren Unterhaltung. Da er sich gewissermaßen als Wirth des Hauses betrachten durfte, übernahm er auch bereitwillig die Pflichten eines solchen.

Mit Bornstein wechselte Aurelio nur wenige Worte, desto öfter ruhten seine Blicke auf demselben. Dieser behandelte dafür Rosaura mit ausgesuchter Aufmerksamkeit, die man für gewöhnlich an dem sehr ruhigen Manne eher vermißte. Dem Grafen, dem diese Aufmerksamkeit nicht entging, entlockte sie nur ein Lächeln.

„Sie haben mir einen fatalen Streich gespielt, Herr Simonides,“ redete Aurelio den Juwelier an, als er mit demselben zusammentraf. „Ich werde Sie dafür strafen.“

Simonides lächelte ebenfalls, sein Auge aber glitt düster und traurig von der vornehmen Erscheinung des Grafen auf die liebliche Rosaura, die wie eine Fee den Salon durchwandelte, und durch ihre Grazie und Liebenswürdigkeit Jeden bezauberte.

„Du hast etwas vergessen, Geliebte,“ flüsterte der Graf seiner Gattin im Vorübergehen heimlich zu.

„Was könnte das sein?“ entgegnete Rosaura.

„Der Pokal, der bei keinem frohen Mahle fehlen soll.“

„Bitte, verzeihe mir!“

„Du warst zu beschäftigt und wohl auch zu aufgeregt, Teuerste,“ fuhr der Graf fort. „Zum Glück dachte ich an den Becher und habe ihn mitgenommen. Du wirst ihn auf der Tafel wieder finden.“

„Wie dank’ ich Dir!“ rief Rosaura froh bewegt, und drückte Aurelio zärtlich die Hand.

„Wir wollen diesen Kelch wie immer, wenn wir glücklich waren, zusammen leeren,“ sprach der Graf. „Wie er uns bindet, so wird er das auf Momente mir untreu gewordene Glück uns auch wieder zurückführen.“

Rosaura entfernte sich mit lächelndem Augenwink, da sie Bornstein herankommen sah.

„Ich habe mir erlaubt, Herr Graf,“ redete der Obergerichtsrath Aurelio an, „noch einen Gast Ihnen zuzuführen, „einen Bekannten, der Ihnen zu Dank verpflichtet ist.“

Der Graf verbeugte sich, ohne etwas zu erwidern.

„Sie werden erstaunt sein über diese Bekanntschaft,“ fuhr Bornstein fort, „ich verspreche aber, Ihnen jeden gewünschten Aufschluß zu geben, das heißt, wenn Sie es für nöthig erachten sollten.“

Aurelio’s Antwort bestand in einer abermaligen stummen Verbeugung.

„Finden Sie nicht,“ ergriff der Obergerichtsrath von Neuem das Wort, „daß Herr Simonides in merkwürdig gedrückter Stimmung zu sein scheint?“

Aurelio verneinte.

„Ganz gewiß, er ist nicht heiter,“ betheuerte Bornstein. „Zufällig kenne ich auch den Grund seiner Verstimmung.“

„Was wäre Ihnen nicht bekannt!“ sagte Graf von Weckhausen.

„Ich weiß allerdings Manches, was Andern verborgen bleibt,“ fuhr der Obergerichtsrath fort, „doch halte ich dies für kein Verdienst. Es ist das natürliche Ergebniß der Stellung, die ich einnehme.“

Er zog jetzt den Grafen mit sich in eine Fensternische und hier ihn festhaltend, sagte er schnell:

„Man hat bei dem Juwelier in aller Stille vergangene Nacht Haussuchung gehalten …“

Aurelio ward ungeduldig. Er wollte gehen, Bornstein aber legte seinen Arm in den des Grafen.

„Die Diamanten und andern Edelsteine aus dem Diadem der fürstlichen Familie von O* sind zum Theil in den Besitz des Herrn Simonides übergegangen. – Der Mann, welcher sie ihm zu Kauf und Tausch anbot, ist ein vornehmer Herr … der Marchese …“

„Marchese Oruna!“ meldete in diesem Augenblick der Bediente, die Flügelthür des Salons öffnend, und herein trat, von noch einem andern Herrn begleitet, der Genannte.

„Ach, Marchese Oruna!“ wiederholte Bornstein. „Sie haben auf sich warten lassen.“

Der Graf zitterte, als das Auge des Marchese ihn traf.

Rosaura erschrak ebenfalls und ward bleich.

„Gnädige Gräfin,“ fuhr Bornstein fort, dem Begleiter des Marchese einen verhüllten Gegenstand abnehmend, „Sie erlauben, daß ich behülflich bin, den Grafen eines Versprechens zu entbinden, das ihn lange schon drückt, Sie erhielten eines Tages ein Kästchen von Ebenholz in dem sich ein sehr alter Schmuck befand. Der Graf, welcher Sie mit diesem Geschenk überraschte, wollte den Schmuck mit einem modernen entweder vertauschen, oder ihn anders fassen lassen. Zu diesem Behufe erhielt ihn Herr Simonides vor einiger Zeit. Leider hat sich nun aber ein Unglücksfall ereignet. Der Schmuck ist verschwunden …“

„Verschwunden? …“ rief mehr als eine Stimme.

Graf von Weckhausen trat in den glänzend erhellten Speisesaal, der jetzt von den Bedienten geöffnet wurde.

„Ja, verschwunden!“ betheuerte Bornstein. „Das Verschwinden scheint eine eigenthümliche Eigenschaft dieses alten Schmuckes zu sein, denn schon einmal verschwand er anderwärts … aus dem Schatze der Fürsten von O* ....“

„Er ward geraubt?“ rief Rosaura aus. „Und Aurelio …“

„Gnädige Frau Gräfin,“ fiel Bornstein der Erschrockenen ins Wort, „die Kobolde, welche bei jenem seltsamen Verschwinden thätig waren, hielten nicht reinen Mund. So ward es möglich, den verschwundenen Schatz zu entdecken. Aber seltsam, kaum ward er durch Simonides ermittelt, als der werthvolle Inhalt des Ihnen bekannten Kästchens sich verwandelte. Beweis genug, daß, wie der Herr Graf behauptet, Geisterhände bei dem Verschwinden thätig sein mußten,“

Aurelio lehnte an der Tafel und ergriff wie spielend den goldenen Becher.

„Der Herr Graf mag sich von der Wahrheit meiner Worte überzeugen,“ fuhr der Obergerichtsrath fort. „Der Marchese wird die Güte haben, das Kästchen vor ihm zu öffnen und zugleich die Bitte an ihn richten, den jetzigen Inhalt desselben brüderlich mit ihm zu theilen.“

Auf einen Wink Aurelio’s schenkte ein Diener ihm Wein in den alten Becher. Der Graf leerte den Pokal in einem Zuge. [760] Gleichzeitig trat der Marchese an den Wankenden, der Deckel des Kästchens mit der Krone sprang auf, und da, wo sonst der Schmuck gelegen hatte, befanden sich jetzt zwei Paar glänzende Handfesseln von Stahl …

Aurelio zuckte zusammen. Seine ausgestreckte Hand erfaßte den Deckel und drückte ihn wieder zu, ehe noch Einer der Anwesenden den Inhalt des Kästchens erblicken konnte. Dann ward er bleich, röchelte und sank unter krampfhaftem Zittern auf den nächsten Stuhl.

Der Domcapitular stand neben ihm. Noch einmal schlug er das Auge auf und flüsternd vernahm Rosaura’s Oheim von dem Sterbenden die Worte:

„Ich habe … gefehlt! … Der Marchese … der illegitime Erbe des Fürstenthrones von O* verleitete mich … Rosaura … darf nichts erfahren … …“

Nach einigen Athemzügen war Aurelio eine Leiche.

Marchese Oruna ward ohne Aufsehen abgeführt durch das sichere Geleit, das seiner in den Vorzimmern harrte. Die übrigen Anwesenden waren zu sehr bestürzt, um sich den innern Zusammenhang des Geschehenen erklären zu können. … Es hieß allgemein, Graf von Weckhausen sei vor Schreck am Schlage gestorben. Man sagte, ein Todtenkopf mit brillantenem Schmuck habe in dem Kästchen gelegen, und Kopf und Schmuck habe der Graf gekannt …

Von Marchese Oruna hörte man nichts mehr. Aurelio ward ohne Gepränge beerdigt und Rosaura reiste wenige Tage später in Begleitung ihres Oheims in’s Ausland.




Das vergessene Kind Frankreichs.

Eine der interessantesten Erscheinungen in dem Kreise der Napoleoniden, jenes von der Vorsehung wunderbar geführten Geschlechtes, ist unstreitig der Sohn Napoleons, der Herzog von Reichstadt, weniger hervorragend durch seine Thaten, als durch seine Leiden.

Nachdem sich Napoleon von seiner ersten Gemahlin, der liebenswürdigen Josephine, geschieden hatte, weil sie ihm keine Nachkommen geschenkt, warb er um die Hand der österreichischen Kaiserstochter. Marie Louise, die Enkelin der alten Habsburger, reichte aus politischen Gründen dem korsischen Emporkömmling die Hand und schenkte ihm am zwanzigsten Mai 1811 den heiß ersehnten Thronfolger, welcher in der Wiege schon „König von Rom“ genannt wurde. Durch die Geburt eines Sohnes glaubte der ehrgeizige Weltbeherrscher seine Dynastie für immer gesichert; er liebte dieses Kind seiner Hoffnungen, dem er sein ungeheures Reich, seine Pläne, seinen Namen einst zu vererben gedachte. Durch die russische Katastrophe und die darauf folgenden Niederlagen wurde Napoleon gezwungen, abzudanken, für sich und seinen Sohn auf den Thron Frankreichs zu verzichten. Die Insel Elba wurde ihm zum Verbannungsorte angewiesen; seine Gattin und sein Kind kehrten nach Oesterreich zurück, wo sie in Schönbrunn unter dem Schutze des Kaisers Franz verweilten. Durch den Vertrag von Fontainebleau war Marie Louise Herzogin von Parma geworden, ihr Sohn zu einem Prinzen degradirt.

Aber Napoleon landete bald wieder an der Küste von Frankreich, wo er mit offenen Armen empfangen wurde; er verjagte die durch die verbündeten Mächte eingesetzten und darum ihrem Volke verhaßten Bourbonen. Vergebens forderte er seine Gemahlin und seinen Sohn von Oesterreich zurück; sie wurden ihm vorenthalten. Ein Versuch, den König von Rom zu entführen und seinem Vater wiederzugeben, scheiterte an der Wachsamkeit der Wiener Polizei. Marie Louise sagte sich feierlich in einer offenen Erklärung von ihrem Gatten los und stellte sich unter den Schutz ihres Vaters und seiner Alliirten, welche Napoleon geächtet hatten. Zum zweiten Male wurde dieser bei Waterloo geschlagen, sein Heer vernichtet und er selbst nach St. Helena als Gefangener gebracht, wo er am fünften Mai 1821 an gebrochenem Herzen starb.

Unter der Obhut seines Großvaters wuchs indeß der Knabe auf, sein jugendliches Herz bewahrte die Erinnerungen einer glänzenden Vergangenheit, trotzdem seine ganze Erziehung darauf gerichtet war, ihm Vergessenheit zu lehren. Er mußte seinen Namen „Napoleon“ mit dem ihm verhaßten „Franz“ vertauschen, auf das Erbe seiner Mutter verzichten. Vaterlos und namenlos ertheilte ihm der Kaiser Franz den Titel eines Herzogs von Reichstadt.

Der Sohn Napoleon’s war ein schönes Kind mit blonden Haaren und blauen Augen, der seinem Großoheim, Joseph dem Zweiten, ähnlich sah. Das Unglück hatte ihn früh reif gemacht und seine geistigen Fähigkeiten schnell entwickelt, er beobachtete scharf und mißtraute seiner Umgebung; zeitig lernte er die Kunst, seine Gedanken zu verbergen und seine Empfindungen zu verheimlichen. Trotz der Liebe seines Großvaters fühlte er sich fremd am Wiener Hofe; er stand allein; seine Mutter hatte ihn verlassen, um sich nach Parma zu begeben, wo sie sich im Geheimen mit dem österreichischen General Neipperg vermählte.

Der bekannte Metternich leitete auf Wunsch des Kaisers Franz die Erziehung des Herzogs von Reichstadt; der gewandte Diplomat unterrichtete ihn in der Geschichte und den Staatswissenschaften. Doch am entschiedensten sprach sich in dem Sohne Napoleon’s wie in seinem Vater die Vorliebe für Mathematik und alle kriegerischen Kenntnisse aus. Als Kind schon spielte er am liebsten mit seinen Bleisoldaten, als Knabe war er stolz auf seine Uniform, als Jüngling studirte er die Werke und Biographien der berühmtesten Heerführer. Die Helden des Plutarch waren seine Lieblinge, doch vor Allen der kühne Hannibal, dessen Thaten, Schicksal und Genie ihn an seinen großen Erzeuger erinnerten.

Napoleon war der Mittelpunkt, um den sich alle seine Gedanken, seine Erinnerungen drehten, und je geflissentlicher seine Umgebung ihm die Wahrheit zu verbergen suchte, desto emsiger spürte er derselben nach, bis Kaiser Franz dem Drange seines Enkelsohns nachzugeben sich gezwungen sah.

„Ich wünsche,“ sagte derselbe zum Fürsten Metternich, „daß der Herzog das Andenken seines Vaters ehre, daß er dessen große Eigenschaften sich zum Beispiel nehme, und daß er dessen Fehler erkennen lerne, um sie zu vermeiden und vor ihrem verderblichen Einflusse sich zu wahren. Sprechen Sie zu dem Prinzen, was seinen Vater betrifft, wie Sie wünschen würden, daß man von Ihnen vor Ihrem eigenen Sohne spräche.“

Die Wahrheit machte den Herzog von Reichstadt still und in sich gekehrt; er wurde ruhiger, aber im Geheimen nährte sein hochstrebender Geist sicher Hoffnungen und Träume, die er nicht offen auszusprechen wagte. Trotz seiner natürlichen Vorsicht ließ er häufig in seiner Unterhaltung den Glauben an einen großen, geschichtlichen Beruf hindurchschimmern. Seine Seele schwankte wie ein Rohr im Winde zwischen ehrgeizigen Gelüsten und wehmüthiger Resignation, zwischen seinen neuen Pflichten und den alten Erinnerungen. Er verzehrte sich in trauriger Sehnsucht und bangen Erwartungen. Mitten in den glänzenden Hoffesten stand ein bleicher Jüngling von hohem Wuchse, meist abgesondert von der übrigen Gesellschaft, dessen schöne, melancholische Züge besonders den mitleidigen Herzen der Frauen ein tiefes Interesse abgewannen. Nur selten mischte er sich in das laute Gespräch; denn er wußte sich beobachtet, von Spähern umringt. Er kam sich unwillkürlich wie ein Gefangener vor, obgleich sein Großvater und die ganze kaiserliche Familie es nicht an Beweisen ihrer Liebe fehlen ließ. Aber weder er, noch sie konnten je vergessen, daß er der Sohn Napoleon’s, der Erbe seines Vaters war.

Er blieb ein Gegenstand ihrer Furcht und Besorgniß. Nur einen Freund hatte er gefunden, vor dem sich zuweilen seine Seele erschloß; es war dies der Oberst-Lieutenant Prokesch von Osten, welcher, eben von einer Reise aus dem Orient zurückgekehrt, die Neigung des Herzogs durch einen Aufsatz gewonnen hatte, worin er Napoleon Gerechtigkeit widerfahren ließ. Ihm vertraute der Jüngling seine Klagen, seine Hoffnungen an, von ihm forderte er Rath und Belehrung in seiner drückenden Lage. Der treue Freund mahnte ihn, dem hohen Beispiele eines Eugen von Savoyen nachzustreben und sein Talent in dem Dienste Oesterreichs zu nutzen. Der Herzog von Reichstadt antwortete ihm ausweichend, indem er die Rolle eines Eugen wenigstens indirect ablehnte. Aber eben so wenig wollte er als Abenteurer nach Frankreich zurückkehren und sich zu einem Spielballe des Liberalismus hergeben, den er wie Napoleon verabscheute.

[761]

Die letzten Augenblicke des Herzogs von Reichstadt.

Die Julirevolution, welche den Sturz der Bourbonen herbeiführte, lenkte noch einmal die Blicke Frankreichs auf den halbvergessenen „König von Rom.“ Die Bonapartisten traten mit dem Fürsten Metternich in Unterhandlung und forderten von ihm die Erlaubniß, den Herzog von Reichstadt nach Frankreich zu führen. Aber der österreichische Staatsmann wies ihren Vorschlag zurück, indem er es für unthunlich hielt, „ohne Bonaparte Bonapartismus zu machen.“

Auch an directen Aufforderungen von Seiten der Napoleoniden, welche bei dieser Gelegenheit eine ungemeine Thätigkeit entfalteten, fehlte es nicht. Die Gräfin Napoleone Camerata, eine Nichte des Kaisers, eilte nach Wien, um den Herzog aus seinem dumpfen Brüten aufzustacheln. Die kühne, abenteuerliche junge Frau lauerte ihm heimlich auf und mahnte ihn, nicht als „österreichischer Erzherzog,“ sondern als „französischer Prinz“ zu handeln. Sie beschwor ihn „im Namen der abscheulichen Qualen, wozu die Könige Europa’s seinen Vater verdammt, im Hinblick auf jenen langen Todeskampf des Geächteten, bei dem Andenken des Sterbenden, dessen letzter Blick auf das Bild des Sohnes gerichtet war“, zu handeln, und die ihm gebotene Gelegenheit zu benutzen.

Auf all diese Herausforderungen gab der Herzog nur die eine Antwort: „Ich kann nicht als Abenteurer nach Frankreich zurückkehren! Möge die Nation mich berufen, und ich werde Mittel finden, dahin zu gelangen.“

Aber sein Herz wurde zerrissen; der unbefriedigte Ehrgeiz drohte ihn aufzureiben, eine fieberhafte Unruhe hatte sich seines Geistes bemächtigt; mehr als je empfand er das Drückende seiner unglücklichen, zweideutigen Lage. Die Kriegsrüstungen, welche in Folge der Julirevolution überall und auch in Oesterreich stattfanden, versetzten ihn in die allergrößte Aufregung, Seine Neigungen geriethen in den heftigsten Widerstreit mit seinen Gefühlen und Erinnerungen.

„Aber,“ sagte er zu Prokesch, „theilnehmen an einem Angriffskriege gegen Frankreich! Wie kann ich das? was würde man von mir denken? Ich würde die Waffen nur in dem Fall tragen dürfen, wenn Frankreich Oesterreich angriffe. Doch nein!“ fügte er, von neuem Zweifel ergriffen, mit bewegter Stimme hinzu, „das Testament meines Vaters schreibt mir die Pflicht vor, niemals in irgend einer Weise Frankreich zu bekämpfen oder ihm Schaden zu thun. Diese Vorschrift soll die Handlungen meines Lebens leiten.“

Glücklicher Weise trat der gefürchtete Fall nicht ein; Louis Philipp, der Bürgerkönig, bestieg den Thron der verjagten Bourbonen, [762] und der Herzog von Reichstadt wurde Major in österreichischen Diensten. In einer Gesellschaft bei dem englischen Gesandten in Wien traf er mit zwei Prinzen der vertriebenen Dynastie zusammen; außerdem befanden sich in demselben Salon zu gleicher Zeit der Gesandte des abgesetzten Karl X. und der Botschafter Louis Philipp’s, der Prinz Gustav Wasa, der ebenfalls verjagte Thronfolger Schwedens, und Graf Löwenhjelm, als bevollmächtigter Minister des jetzt regierenden Königs Bernadotte. Mitten unter diesen wunderbaren Zeugen des wechselnden Geschickes stand der Sohn Napoleon’s einsam und traurig, bis der ebenfalls hier verweilende Marschall Marmont, einst der Freund seines Vaters, ihn anredete. Beide fühlten sich gegenseitig zu einander hingezogen und befreundeten sich schnell, wozu sie allerdings erst die Erlaubniß von Metternich, der zugegen war und mit mißtrauischen Blicken ihre Unterredung beobachtete, einholen mußten.

Der Herzog wurde nicht müde, den Erzählungen des Marschalls von den Großthaten Napoleon’s zuzuhören; er ließ sich von ihm in den Kriegswissenschaften förmlich Unterricht ertheilen, wobei die ersten Feldzüge seines Vaters zu Grunde gelegt wurden. Als Marmont endlich Abschied nahm und ihn frug, wen er ihm in Frankreich grüßen sollte, sagte der Jüngling: „Grüßen Sie mir die Vendome-Säule mit dem Bilde meines Vaters.“

Noch einmal loderte der kriegerische Geist in ihm auf, als die Revolution in Italien ausbrach, woran sich sein naher Verwandter, Louis Napoleon, der jetzige Kaiser von Frankreich, als entschiedener Anhänger der nationalen Freiheit damals betheiligte. Auch Marie Louise, die Herzogin von Parma, sah sich genöthigt, vor dem Aufstande zu fliehen. Bei dieser Nachricht erwachte in ihrem Sohne die alte Zärtlichkeit für seine Mutter; er wollte ihr zu Hülfe eilen und bat mit Thränen seinen Großvater, für sie das Schwert ziehen zu dürfen. Kaiser Franz schlug ihm seine Bitte ab und schickte statt seiner einen österreichischen General nach Italien, der jener Revolution ein schnelles Ende machte. Der Herzog von Reichstadt konnte diese vermeintliche Zurücksetzung nicht so leicht vergessen; laut klagte er, daß ihm die erste Gelegenheit sich hervorzuthun genommen worden sei. Als der treue Prokesch ihm beschwichtigend den Rath ertheilte, sich durch fortgesetzte Studien für künftige Ereignisse vorzubereiten, rief er unmuthig aus: „Die Zeit ist zu kurz! sie schreitet zu rasch vorwärts, um sie in langen Vorbereitungen zu verlieren! War nicht der Moment des Handelns augenscheinlich für mich gekommen?“

Seine Seele war schon damals von Todesahnungen erfüllt.

Die unterdrückte Thatenlust des Jünglings ließ ihn in Zerstreuungen aller Art Vergessenheit suchen. Ohne den boshaften Gerüchten und Verleumdungen Glauben zu schenken, die in Bezug auf seinen Lebenswandel verbreitet wurden, steht doch so viel fest, daß er mancher Versuchung unterlag. Sein schwächlicher Körper widerstand nicht den Aufreibungen und schonungslosen Anstrengungen einer leidenschaftlichen Natur. Als eifriger Militair setzte er sich ohne Rücksicht allen Strapazen seines Standes aus; nur mit Mühe ließ er sich bewegen, zur Zeit als die Cholera zum ersten Male in Wien mit furchtbarer Heftigkeit auftrat, die Caserne, welche er bewohnte, zu verlassen und nach Schönbrunn überzusiedeln. Seine Brust war angegriffen, und sein Arzt, der berühmte Doctor Malfatti, machte ihm die größte Schonung zur Pflicht. Nur mit Widerstreben willigte der Herzog in die ihm auferlegte Zurückgezogenheit, die mit seinen Neigungen und dem rastlosen Thatendrang, der ihn verzehrte, in schneidendem Widerspruch stand. Es schien, nach dem Ausspruche des seelenkundigen Arztes, ein Zerstörungstrieb in der Seele des unglücklichen Jünglings zu wohnen, der ihn sich selbst zu tödten zwang; alle Vorsichtsmaßregeln scheiterten an dem Fatalismus, der ihn zu Grunde richtete.

Indeß wirkte der Aufenthalt in der freien Natur, die herrliche Landluft, die Stille und Ruhe seiner neuen Umgebung wohlthätig auf seinen leidenden Körper, wenn auch sein aufgeregter Geist nicht den gewünschten Frieden fand und sich nur zu sehr einem dumpfen Brüten über seine Lebensstellung und sein eigenthümliches Schicksal überließ, „Wie viele Ideen,“ schrieb er damals an seinen Freund Prokesch, „kreuzen sich in meinem Hirn über meine Stellung, über Geschichte, Politik und die große strategische Wissenschaft, welche Reiche zerstört und erhält! Welche verschiedene Ansichten drängen sich in meiner Seele! Aber die Offenbarung einer derartigen geistigen Verwirrung dürfte wohl von meiner Seite ein Unrecht sein; deshalb glaube ich, daß ich besser thue, all’ diese Gedanken in dem Dunkel zu lassen, aus dem sie hervorsteigen. Aber Sie werden mich nicht verdammen, wenn meine Ideen einen allzukühnen Flug nehmen, Sie werden sich nicht beeilen, sie in den Staub zu ziehen.“

In der Einsamkeit befreundete sich der Prinz auch mit der Poesie, für die sein mehr realer als ideeller Geist bisher wenig Neigung gezeigt hatte. Besonders sprach ihn der melancholisch großartige Genius Byrons an, mit dem er sich verwandt fühlte. Durch den gebildeten Doctor Malfatti lernte er die Meditationen von Lamartine kennen, die ihn mächtig ergriffen. Mit bewegter Stimme las er bei einem Besuche des Arztes diesem eine Stelle vor, welche der Dichter an ihn selbst gerichtet zu haben schien:

Courage, enfant déchu d’une race divine;
Tu portes sur ton front ta céleste origine.
Tout homme, en te voyant, reconnait dans tes yeux
Un rayon éclipsé de la splendeur des cieux.


Muth, theures Kind aus göttergleichem Blut,
Auf dessen Stirn des Himmels Ursprung ruht.
In Deinen Augen sieht, wer Dich erblickt,
Der Gottheit Strahl, vom Himmel Dir geschickt.

Trotzdem sich anscheinend der Herzog in Schönbrunn erholt hatte, so war sein Leiden keineswegs beseitigt. Neue Erkältungen, denen er sich unvorsichtig aussetzte, verschlimmerten sein Brustübel in dem Maße, daß er seiner Auflösung entgegensah. Die Aerzte verordneten den Aufenthalt in dem wärmeren Italien, wonach sich der Kranke um so mehr sehnte, da er dort seine Mutter und den treuen Prokesch wiederzusehen hoffte. Aber er mußte erst die Erlaubniß Metternichs zu einer solchen Reise einholen, da er im Grunde doch nur ein mit Mißtrauen bewachter Gefangener war. Der Minister gab ohne Anstand seine Einwilligung, aber der Herzog war schon zu schwach, um davon Gebrauch zu machen. Von Tag zu Tag nahmen seine Kräfte ab, sodaß er nach dem Brauche des österreichischen Kaiserhauses in Gegenwart des ganzen Hofes das heilige Abendmahl empfing. Niemand, selbst sein greiser Religionslehrer, der Hofprälat Wagner, wollte ihn mit der Nähe seines Todes bekannt machen. Da übernahm es die Erzherzogin Sophie, damals eine junge, schöne Frau, welche er wie eine Schwester liebte, ihn vorzubereiten. Sie selbst sah ihrer Entbindung entgegen und empfing mit ihm zugleich das Sacrament. Vor dem in dem Krankenzimmer aufgeschlagenen Altar kniete der sterbende Sohn Napoleons, bleich und abgezehrt, neben der blühenden Frau, in der Fülle ihrer Schönheit, strahlend von Glück und neuen Hoffnungen, denen sie entgegensah. Es war ein eigenthümlich ergreifendes Schauspiel, wie hier Leben und Tod, Sarg und Wiege sich zu den Füßen der Religion berührten.

Bei der ersten Nachricht von der drohenden Gefahr war Marie Louise, selbst leidend, zu ihrem Schmerzenskinde herbeigeeilt. Erschütternd war das Wiedersehen der Mutter mit ihrem Sohne, die sich Jahre lang nicht begrüßt hatten. Von welchen qualvollen Erinnerungen wurde ihre Seele bestürmt – Napoleon todt auf Helena, der König von Rom ein Sterbender!

Am 21. Juli 1832 waren seine Leiden auf das Höchste gestiegen; zum ersten Male beklagte er sich laut über seine Qualen voll Lebensüberdruß.

„Wann wird,“ fragte er dumpf, „dieses elende Dasein ein Ende nehmen?“

Gegen Abend verschlimmerte sich sein Zustand; er wollte indeß nicht leiden, daß seine Diener bei ihm wachten; auch bat er seine Mutter, die er fortwährend über die Gefahr zu täuschen suchte, sich zu entfernen und ihn allein zu lassen. Um drei Uhr des Morgens wurde der Kammerdiener durch sein lautes Stöhnen aufgeweckt.

„Ich ersticke,“ stöhnte der Unglückliche, „ich ersticke!“

Der Baron Moll, sein Begleiter, und der Kammerdiener stürzten sogleich herbei, um ihn aufzurichten.

„Meine Mutter,“ schrie er, „meine Mutter!“

Das waren seine letzten Worte.

Marie Louise und der Erzherzog Franz, von dem er gewünscht, daß er ihm die Augen einst zudrücken sollte, eilten sogleich herbei. Er konnte nicht mehr sprechen, aber seine Blicke hingen mit einem unsäglichen Ausdrucke an den Zügen der Mutter. Der herbeigerufene Geistliche zeigte mit dem Bilde des Erlösers nach oben. Der Sterbende schien ihn noch zu verstehen, und sein brechendes Auge richtete sich zum Himmel.

[763] Er schied ohne Kampf in demselben Zimmer, welches Napoleon einst als Sieger bewohnt, wo er von der Größe und der ewigen Dauer einer neu zu begründenden Dynastie geträumt; an demselben Tage, wo dem Sohne die Nachricht von dem Tode seines Vaters verkündigt wurde.

Die Leiche wurde in der Capelle der Hofburg ausgestellt; ganz Wien trauerte und drängte sich, die sterblichen Ueberreste zu sehen. Der Todte lag in seinem prächtigen Sarge, bekleidet mit der Uniform seines Regimentes, zu Häupten stand die silberne Urne, welche sein Herz enthielt, zu Füßen lag ihm der Degen, den er nie ziehen durfte. Seine Züge hatten im Tode eine wunderbare Aehnlichkeit mit dem Marmorgesichte seines Vaters angenommen.

In der Gruft „bei den Kapuzinern“, wo die Glieder der kaiserlichen Familie in ihren ehernen Särgen ruhen, wurde nach der feierlichen Einsegnung auch der Herzog von Reichstadt beigesetzt. Der Oberhofmeister, Graf Czernin, stieg mit dem Sarge hinab, den er, nachdem vor Zeugen noch einmal die Gegenwart der Leiche bekundet war, mit zwei Schlössern verschloß. Der eine Schlüssel wurde den frommen Mönchen, der andere dem Schatzkammeramte übergeben.

Dort ruht der Sohn Napoleons in der Nähe seiner Ahnen, der großen Maria Theresia und ihres Sohnes, Joseph des Zweiten.

Der Tod verklärte den unglücklichen Jüngling, dessen Leben nur eine Kette von schweren Leiden und bitteren Enttäuschungen war. Die Poesie schmückte ihn mit einer Glorie und bekränzte sein Grab mit den Immortellen der Erinnerung.

Er starb ohne Testament, da er Nichts sein eigen nannte; aber er hinterließ die Erbschaft seiner Hoffnungen. Auf seinem Schlosse zu Arenenberg erhielt der Thurgauer Bürger, der italienische Revolutionair, der politische Träumer einer „reinen und einfachen Republik“, Louis Napoleon, die Nachricht von dem Ableben des „Königs von Rom.“

Er trat die Erbschaft des „modernen Hamlet“ an; der Tod des Herzogs von Reichstadt war ein Wendepunkt in seinem Leben. Kühner und glücklicher griff er nach der Kaiserkrone, bis es ihm gelang, sie auf sein Haupt zu setzen. Auch er hofft seine Dynastie für ewige Zeiten begründet zu haben, seinem Nachfolger einst den Thron von Frankreich zu hinterlassen.

Wird sein Sohn glücklicher sein, als der Sohn und Erbe des großen Napoleon?

Die Geschichte, welche die Lehrerin der Fürsten und Völker ist, wird ihm Antwort geben.
M. N.




Neu-Deutschland unter dem Aequator.

(Die Ecuador-Land-Compagnie.)

Das eroberndste Volk sind die Deutschen. Keine Nation, keine Regierung der Welt kann sich so vieler festen und sichern, gedeihenden und vergrößernden Colonien rühmen, als Deutschland. Daß sie von Mutter- und Vaterländern zu Hause nicht „beschützt“ werden, ist just ihre Kraft und Bedeutung. Sie stehen und gedeihen überall, ohne Waffen und Kriegsschiffe und diplomatische Häkelei, aus eigenem positivem Verdienst. Der Ackerbau, der Weinbau, die Schweinemast, die Tischlerei, der Unterricht in Wissenschaften, Künsten und Sprachen, das Turnen, das gesellige Kneipen u. s. w. sind so verbreitete und anerkannte Verdienste der Deutschen in Amerika, daß kein gebildeter Yankee mehr frühere Spötteleien über die „Deutschen“ wiederholen oder billigen mag. Drei Viertel der russischen Cultur wird bis auf den Thron von Deutschen vertreten. Die fashionableste Umgangssprache in England ist vom Hofe her die deutsche. Die Musterackerwirthschaft, Schule und Unterricht in Australien sind in den Händen der Deutschen. Die lebendige Mauer der Civilisation in der Cap-Colonie gegen die Kaffern besteht aus deutsch-englischen Fremden-Legionären. Das erste californische Schiff, das nach der neuen russischen Amur-Civilisation abging, wurde von dem deutschen Kaufmanne Esche ausgerüstet. Barth und Overweg haben das ganze nördliche Central-Afrika geöffnet.

Wir könnten noch lange so fortfahren, aber nicht Bekanntes und Begründetes wollen wir hier zur Sprache bringen, sondern den neuen, von einem Deutschen in London begründeten und geleiteten Plan zur Eroberung eines ganzen Landes, das größer als ganz Deutschland ist, alle Klimate der Welt in sich vereinigt, die erhabensten Gebirge, darunter den Chimborasso, und die gewaltigsten Vulcane auf seinem Rücken trägt und von Gold und Kostbarkeiten aller Art quillt und fleußt.

Es ist die Republik Ecuador, die Aequator-Republik, zwischen Neu-Granada und Peru, Brasilien und dem stillen Oceane, 15,385 Geviertmeilen als Fläche, mit den gewaltigen Gebirgen über hundert mehr umfassend, also 3923 Geviertmeilen mehr, als ganz Deutschland[1]. Doch die Größe macht’s nicht. Die ungeheuersten Gebirge Südamerika’s, Wüsten und Wälder und äquatorverbrannte Tief-Ebenen müssen mit mehreren Tausend Quadratmeilen als ganz werthlos abgezogen werden. Aber dann bleibt immer noch das malerischste, paradiesischste Land Südamerika’s übrig, mit allen möglichen Klimaten und Contrasten der Erdoberfläche. Der gewaltigste aller Ströme, der Amazonenstrom, hier unter dem Namen Maranon entspringend, bewässert mit vielen Nebenflüssen eine dichtbewaldete Tiefebene im Osten und Süden. Dampfschiffe kommen vom atlantischen Meere bis Nauta zwischen 4° und 5° nördlicher Breite und 73° und 74° w. Länge von Greenwich. Der westliche Theil Ecuador’s ist Hochland der Cordilleras de los Andes, der südlichste eine Verkettung verschiedener Cordilleren-Züge zu dem Loxa-Gebirgsknoten, der östliche in’s Land hinein, wie der westliche nach dem stillen Oceane herunter schnelle, jähe, höchst malerische Abdachung und Auslauf in’s Meer oder dichter Wald. Auf diesen verschiedenen Abdachungen schichten sich die Eigenthümlichkeiten und Producte aller Klimaten empor. Beinahe unter dem Aequator sieht man aus der Gluth senkrecht niederbrennender Sonne in den ewigen Schnee der Cordillerenhäupter empor, die sich von zwölf- bis mehr als zwanzigtausend Fuß hoch nach dem Trachyt-Dome des Chimborasso zu aufschichten. Dadurch sind Terrassen von der eigenthümlichsten Beschaffenheit und Größe entstanden, Hochplateau’s und tiefe Thäler, acht bis zehntausend Fuß über dem Meeresspiegel und ihrer Lage nach mit einem ewigen Frühling üppigster Vegetation und mit einem Culturleben – ohne Gleichen auf der ganzen Erde. Das Centrum des ungeheueren Landes zieht sich um die Hauptstadt Quito auf dem dreiundvierzig Meilen langen und sieben Meilen breiten, acht bis zehntausend Fuß hohen Quito-Plateau. Der Aequator läuft ganz unmerklich durch diese italienisch heitern oder süddeutsch-fruchtbaren Paradiese, in denen die Sonne nie sticht, die Kälte nie beißt. Der ewige Schnee kühlt aus den unabsehbaren Höhen, die ewige Hitze, erstickend an der Küste und in den Waldebenen des Maranon, wärmt herauf, so daß sich Nordpol und Aequator fortwährend zu einer ewigen Milde und Fruchtbarkeit ausgleichen. Dies kommt auf der ganzen Erde nicht zum zweiten Male vor. Diese Quito-Hochebene, in der Ferne von den gewaltigsten Gebirgsformationen und den doppelten Gewölben theils erloschener, theils noch thätiger, 600 Quadratmeilen bedeckender Vulcane umgrenzt, ist ein paradiesisches Wunder von Gärten und Feldern, Städten und Dörfern, Viehweiden, Wiesen, Quellen, Flüssen, Seeen, Bergen und Thälern, aus denen noch neben der Blüthe des Lebenden mannichfache grandiose Denkmäler der alten Inka-Cultur, Tempel, Paläste, Mausoleen und Kunststraßen in noch trotziger Kraft hervorragen. Quito selbst, blos vierthalb Meilen südlich vom Aequator, breitet sich in einem malerischen Thale, 8954 Fuß hoch über der Meeresfläche – die höchste Stadt der Erde – am Fuße der Panecilla-Hügelkette und des 14,940 Fuß hohen Vulcans Pichincha wie ein Wunder auf einem fast stets vulcanisch zitternden Boden aus. Die Paläste, Kirchen und Klöster, die Universität und mehrere wissenschaftliche Anstalten, so wie Fabriken und Handelsverkehr nach und von dem großen Hafen Pailon, geben der Stadt mit 70,000 Bewohnern etwas Grandioses. Doch die meisten Nebenstraßen bestehen aus niedrigen Lehmhäusern, die von außen armselig aussehen, obgleich innen oft viel Luxus und Pracht herrscht. Man baute niedrig und dick, um sicherer gegen vulcanische Erschütterungen zu sein. Diese hören fast nie auf, so daß man sich eben so wenig darum [764] ängstigt, wie der Matrose das Schaukeln auf seinem Schiffe beachtet. Nur zuweilen werden die Erdbeben furchtbar, wie z. B. 1797, als ein vulcanischer Ausbruch ganze Hochthäler umwälzte, die reiche Stadt Riobamba zerstörte, viele Gebäude in Quito zertrümmerte und mehr als 40,000 Menschen unter seinen Feuer- und Gluthfurchen begrub. Zu diesen Tragödien aus der Unterwelt kommen oft die grausigsten Blitze und Donnerkeile des Himmels. Es kommen Gewitter vor, unter denen die Erde oft eben so zittert, wie über vulcanischen Erschütterungen.

Außer diesen beiden Uebeln bietet die Natur aber nur Segen, Pracht und Ueberfluß: Gold, Silber, Quecksilber, Schwefel, vieles Edelgestein, Getreide, fette Ergebnisse von allerlei Viehzucht, Feld- und Gartenfrüchte, Cacao, Zuckerrohr, Vanille, ausgezeichneten Tabak, Reis, Indigo, die mannichfaltigsten Farbehölzer, Droguen, Honig, Cochenille und unzählige andere Producte, unter denen Chinarinde mit besonderer Ergiebigkeit oben an steht, da die Cinchonabäume, welche diese unentbehrliche Rinde liefern, fast in allen andern Welttheilen ziemlich erschöpft sind. Fabrikate sind verhältnißmäßig schwach, da die etwa 600,000 Einwohner des großen ungeheuern Reichs (ohne die unabhängigen, gebildeten, ansässigen Indianer) nur mit etwa funfzehn Procent weiße, d. h. bräunliche, faule Spanier sind. Die Hälfte besteht aus Nachkommen der alten peruanischen Inkaindianer und der Rest aus Mischlingen, unter denen die Creolen in Schönheit, Fleiß und Bildung einen hohen Rang einnehmen. Aber was sind sie auf mehr als 15,000 Quadratmeilen!

Anderswo herrscht wegen Uebervölkerung oft Mangel, hier sehnt sich die Natur nach Menschen für ihre überquellenden Reichthümer. Doch was kann aus dieser Republik und den beiden andern[2] werden, so lange die Nachkömmlinge der alten erobernden Spanier mit ihrer faulen Grandezza, ihren Bluthunden und ihrer Klerisei die Oberherren, Steuereintreiber und Schuldenmacher spielen! Die Regierungen und Präsidenten von Ecuador borgten für ihre Kriege und Diplomatieen so viel Geld, als sie nur immer auftreiben konnten, fanden aber später und bisher keine Mittel, nur die Zinsen zu bezahlen. Die englischen Gläubiger wurden ungeduldig und brachten es endlich dahin, daß die Regierung Zahlung aus ihrem wirklichen Ueberflusse anbot: Land, Grund und Boden, 4,533,204 Morgen à 25 Sgr. Diese mehr als 41/2 Millionen Morgen vertheilen sich in fünf Gruppen, von denen drei am Meere auch die drei Haupthäfen des Landes einschließen. Die eine am Pailonhafen allein, mit 173,553 Morgen, kann als gute Bezahlung der 566,120 Pfund rückständiger Zinsen gelten. Ein Engländer, der diesen District expreß untersuchte, sagt darüber: „Der Pailonhafen, groß genug für die stärkste Flotte, führt leicht zu den Goldregionen am Barbacoas in Neu-Granada, nach Mimbi, Playa de Oro und Cachabi in Ecuador, in die fruchtbaren Hochebenen von Imbabura und Quito (die Regierung läßt eine Straße bis Quito bauen). Auch eine ausgedehnte Communication durch Flüsse, die hier münden, ist nicht zu übersehen. Die ganze lange Küste bietet keinen günstigeren Hafen. Das Klima ist zwar sehr warm hier unten, aber gesund, der Boden überreich an allen möglichen tropischen Producten, besonders an kostbarem Bau- und Nutzholz. Die Entfernung von Quito beträgt blos zwölf geographische Meilen, die jetzt chaussirt werden.“

Wenn aber dieser Hafentheil nicht bezahlt und gefällt, kann man Nummer 2 am südlicher gelegenen Alacameshafen wählen (ebenso groß als Nummer 1), oder das dritte Stück Gualagiza, 1,735,330 Morgen mit kühler Cordilleren-Erhabenheit und dem vielarmigen Flusse Santiago, der in die Maina’s des Amazonenstromes hinunterführt, oder das vierte am grandiosen Golf von Guayaquil mit der jetzigen Regierungshauptstadt gleiches Namens in der Nähe, über 715,000 Morgen groß, oder endlich das fünfte, Canelos, 1,735,330 Morgen (wie das dritte), hinter der nördlichen Abdachung des Chimborasso, mit drei vielfach geäderten Flüssen, die in den Amazonenstrom hinabführen. Drei und fünf sind die gesundesten, aber die werthlosesten, weil sie an der östlichen Abdachung der Felsengebirge liegen und der Verkehr mit der Westseite große Schwierigkeiten bietet, nach Osten aber nur die ungeheuere Wasserstraße des Amazonenstromes einen Ausweg aus dem furchtbaren Continente Nord-Brasiliens am Aequator hin in’s atlantische Meer bieten würde. Auch liegen 3 und 5 über sichere Grenzen hinaus. Nachbar Peru im Süden macht nämlich auf eine Grenze Anspruch, die das ganze Land Ecuador vom 5. Grade aus nach dem Aequator hin bis zum 76. Längengrade in zwei Hälften so zerschneiden würde, daß Nummer 3 ziemlich ganz und Nummer 5 bis beinahe zur Hälfte auf peruanischem Gebiete liegen würde. Doch dies ist unter den gegebenen Verhältnissen Nebensache, da man sich jedenfalls zunächst auf den District Nummer 1 beschränken und dieser allein reichlich für Alles zahlen und zinsen wird.

Um die Zinszahlung der Ecuador-Regierung in baarem Land flüssig zu machen und zu verwerthen, sind die Gläubiger unter Direction eines deutschen Kaufmanns in London zu einer „Ecuador-Land-Compagnie“ zusammengetreten, deren Actionaire zusammen sofort Eigenthümer der 4,533,204 Morgen Landes sind. Jeder, der sich mit einer Pfundactie betheiligt, ist dafür sofort Grundeigenthümer von 8 Morgen Land in der Republik Ecuador. (Es werden nur Zweipfund-Actien ausgegeben.) Um diesen Besitz, in welchem Tabak, Holz, Mais, China, Baumwolle, Weizen, Cacao, Kaffee, Kautschuk, Gold-, Silber-, Kupfer- und Edelstein-Minen unbenutzt und unverwerthet stecken, zu einem steigend profitablen zu machen, muß gearbeitet werden. Dazu gehören tüchtige, intelligente Arbeiter und Actionaire, die sich hier leicht vereinigen lassen. Am willkommensten sind beide von Deutschland. In der That ist die Absicht (wie ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit mittheile), Ecuador zu einem neuen Deutschland zu machen, da man bei Bildung der Compagnie die Ueberzeugung aussprach, daß 2000 tüchtige Söhne Deutschlands in Ecuador sofort mehr werth seien und mehr Macht äußern würden, als die ganze Republik Ecuador. Ein Deutscher in Quito (natürlich sind auch in Quito Deutsche), Adolph Klinger, gehört mit elf angesehenen Spaniern zu den eifrigsten Förderern des Planes, Deutsche auf diesen als Zahlung gegebenen Boden zu verpflanzen. Wie wir zunächst im Allgemeinen versichern können, wird die Compagnie besonders Deutsche, die sich entweder als Actionaire, oder als Arbeiter, Handwerker, Ackerbauer etc. zu betheiligen bereit erklären, vor allen Andern begünstigen und ihnen in gewissen Fällen freie Ueberfahrt gewähren. Die geschäftlichen Einzelnheiten dabei sind nicht unsere Sache.

So weit haben wir unsere Aufgabe gelöst, die Deutschen auf eine neue Welt, die besonders für sie und durch sie in ihren Schönheiten und Reichthümern eröffnet werden soll, aufmerksam gemacht zu haben. Was wir darüber in möglichster Kürze mittheilten, ist richtig. Es wird von jedem Einzelnen, der sich näher dafür interessirt, abhängen, sich bestimmter zu unterrichten und sich darnach zu entscheiden. Wir selbst kommen wohl gelegentlich auf das Unternehmen zurück.




Pariser Bilder und Geschichten.

Von Moritz Hartmann.
Nr. 5. Der Mann mit dem seidenen Mäntelchen.

Unfern der Madeleine zu Paris, in einer der neueren Straßen, hinter einer hohen Hofmauer versteckt, steht ein kleines Haus mit Säulen und Arabesken, ganz im Rococostyl, wie es sich hohe Herrschaften unter Ludwig XVI. zu bauen pflegten. Jede kleinste Verzierung an diesem „Hotel“ verräth den Reichthum des Erbauers; schwarzer, weißer und rother Marmor war verschwenderisch und bunt, ganz im Geschmacke jener Zeit verwendet; die gewundenen Halbgitter, die balkonartig die untere Hälfte der Fenster abschlossen, waren voll phantastischer Figuren und Blumenwindungen, die hier und da in reicher Vergoldung glänzten. Anstatt der Laternen hingen von den Säulen des Peristyls an lang hervorgestreckten bronzenen Armen eiserne Körbe, in denen des Abends Pech und Kienholz brannten. Alles das, und was überhaupt zur Einrichtung und zum Luxus eines Herrenhauses früherer Jahrhunderte gehörte, sah man [765] noch vor wenigen Jahren und sah man eigentlich nur durch einige Jahre; denn dieses Haus alten Styles und alter Einrichtung war noch ganz neu und eine Schöpfung der modernen Zeit unter Louis Philipp. Es war wie ein Traum, wenn man zufällig vor der Hofmauer stand und das Thor sich öffnete und eine große Karosse, wie man sie nur noch bei Krönungen sieht, herausfuhr mit einem gepuderten Kutscher vorn, mit einem oder zwei gepuderten Bedienten hinten, und wenn in der dunklen Tiefe der Karosse ein altes, kleines Herrchen saß, ebenfalls gepudert, mit einem seidenen Mäntelchen auf den Schultern, an welchem Atlasschleifen glänzten, während er in der einen Hand einen kleinen Dreimaster, in der andern ein hohes, spanisches Rohr mit goldenem Knopf hielt. Mitten unter all dem modernen Volk in Frack und Cylinderhut war das Alles wie eine Erscheinung aus längst vergangener Zeit. War das alte Herrchen im Costüm Louis XVI. der Sohn einer alten legitimistischen Familie, der sich Illusion machen, der von den Zeiten, da seine Vorfahren und nicht die gemeine bürgerliche Canaille herrschte, nicht lassen, der im Angesicht des Bürgerkönigs und der bürgerlichen Minister eine Demonstration zu Gunsten der guten alten, adeligen Zeiten machen wollte? Nein, das gepuderte alte, immer lächelnde Herrchen, von dessen unerschöpflichen Millionen man nicht genug erzählen konnte, war nichts mehr und nichts minder als ein Proletariersohn; nicht viel mehr als halb und halb ein Bettelkind aus Marseille.

Die gute Stadt Marseille am mittelländischen Meere hatte im vorigen Jahrhundert noch sehr viel Aehnlichkeit mit den alten Seerepubliken Italiens. Durch viele Jahrhunderte erfreute sie sich einer Art republikanischer Freiheit und eines einträglichen Seehandels, den die Concurrenz der itälienischen Seestädte, selbst Genua’s, und die Raubzüge der Barbaresken nicht zu unterdrücken im Stande waren. Unter den reichen Familien, an die sich manche vom alten provençalischen Adel anschlossen, die gerne ihre langweiligen Paläste in Aix und das Parlament verließen, um in der Phokäerstadt ein Freudenleben zu führen, hatte sich nach und nach ein Patriziat gebildet, welches nun Marseille auf oligarchische Weise beherrschte. Der Aufwand, den man machte, war ungeheuer und beschämte in mehr als einer Beziehung den Versailler Luxus. Die Herren in Versailles lebten vom Abfall des Hofes oder von ihren Zehnten, die bei dem furchtbaren Elend des Volkes, bei der schrecklichen Verarmung der Bauern unter Ludwig XV. und XVI. immer spärlicher einliefen, während das Meer mit seinen Reichthümern unerschöpflich war und den Marseiller Patriziern die Ernten und den Tribut aller Zonen in’s Haus brachte. So ein schwankes, kleines Schiff war damals mehr Werth, als ein Landbesitz der Rohans oder Montmorencys.

Am Hafen, dort ungefähr, wo heute die prächtige Straße der Canebière ausmündet, wo die Börse und das Theater stehn, breitete sich noch im vorigen Jahrhundert ein großer Platz aus, der ringsumher von hohen Linden und Akazien, wohl auch von Rosenlorbeerbüschen umgeben war. Zwischen den Bäumen standen die Hütten der Limonadièren und der Eisverkäuferinnen. Wenn die Sonne hinter den kahlen Bergen des étang de Berre zur Ruhe ging und die provençalische Glühhitze vom Hauche des Meeres gekühlt wurde, traten die Herren und Frauen, die Söhne und Töchter der alten Patrizierfamilien aus ihren Häusern auf diesen schönen Platz. Kleine Betteljungen beeilten sich, kleine Tische und Stühle herbeizuschaffen, und dafür bekamen sie einen oder zwei Sous. An den Tischchen saßen die Damen und tranken Limonade oder schlürften Sorbet, und die Herren gingen zwischen den Tischchen umher und machten den Hof. Da ward viel geliebt und viel gelacht, und man kümmerte sich wenig darum, daß hundert Schritte von hier die Galeerensclaven, zu Zwei und Zwei an einander gefesselt, seufzten und ächzten, und daß unter diesen mancher edle Märtyrer war, der seinen protestantischen Glauben nicht abschwören wollte. Wenige von den Herren verirrten sich bis zu diesen Unglücklichen, wie es der Präsident des Burgunder Parlaments einmal gethan, der dort einen Galeerensclaven fand, der eben Cartesius studirte. Die Herren, die den Hof machten und so glücklich waren, trugen seidene Mäntelchen mit atlasnen oder sammtnen Schleifen auf den Schultern. Sonderbar, welche kleinen Dinge oft das Leben und das Schicksal eines Menschen bestimmen!

Die seidenen Mäntelchen mit den Atlas- oder Sammetschleifen stachen einem der Betteljungen, die den Damen Tischchen und Stühle brachten, besonders in die Augen. Ein solches seidenes Mäntelchen mit Sammet- oder Atlasschleifen zu tragen, schien Jacques Atron, dem kleinen, schwächlichen, schmächtigen Buben, das höchste Glück; nicht eigentlich das Tragen eines solchen Mäntelchens allein, sondern noch dazu das Hofmachen, das Hin- und Hergehen von einem Tischchen zum andern und das Alles auf diesem selben Platze am Hafen von Marseille. Ein höheres Glück konnte er sich nicht vorstellen, es schien ihm eine Unmöglichkeit.

Woher kam diesen Herren dieses Glück? Vom Meere, aus wilden Ländern, von fernen Inseln, aus allen möglichen Indien. Jacques Atron, um ebenfalls eines solchen Glückes theilhaftig zu werden, wollte auf’s Meer und Seemann werden, tausend Abenteuer bestehen, indische Prinzen entthronen, schwarzen Königen ihre Diamanten aus Ohr und Nase reißen und als ungeheuer reicher Mann nach Marseille zurückkehren und sich ein seidenes Mäntelchen kaufen, mit atlasnen und sammetnen Schleifen und dann des Abends auf den Platz kommen und von Tisch zu Tische gehen und den Hof machen. Aber er mußte als Schiffsjunge anfangen – und siehe da, trotz Bitten und Flehen und Weinen, kein Capitain wollte ihn mitnehmen, denn er war gar zu zart und zu schwächlich.

Da half er eines Tages einer Gemüseverkäuferin, die ihre Waare auf ein Schiff brachte, das nach fernen Ländern absegeln sollte. Diese Gelegenheit benutzte Jacques Atron, um sich im untersten Raume zu verstecken. „Wenn sie mich auf offener See entdecken,“ sagte er zu sich, „so werden sie mich doch nicht in’s Meer werfen, sondern werden mich mitnehmen in die fernen Länder.“ Er wußte nicht wohin? aber das war ihm gleichgültig. Zwei volle Tage lag er da unten, und die Anker wurden nicht gelichtet. Er hungerte, er verging vor Durst, aber er hielt sich ruhig. Endlich stach das Schiff in See; er vergaß Hunger und Durst und ließ es ruhig segeln. Als es nach seiner Berechnung schon viele hundert Knoten weit gesegelt sein mußte, kroch er aus seinem Verstecke hervor und sah aus wie ein Geist. Man warf ihn nicht in’s Meer; man nahm ihn mit in die fernen Länder.

So begann die lange Odyssee Jacques Atrons, die nur unternommen war, um dermaleinst ein seidenes Mäntelchen mit Sammet- oder Atlasschleifen tragen, um auf dem schönen Platze von Marseille den Damen den Hof machen zu können. Unglückseliger Jacques Atron! Hättest du nur noch ein Jahr lang gewartet! Das Jahr deiner Ausfahrt war das Jahr des Heiles und des Revolutionsanfangs 1789 – ein Jahr darauf waren die seidenen Mäntelchen und die Patrizier und die schönen Damen vom schattigen Platze von Marseille verschwunden.

Aber Jacques Atron erfuhr wenig von den Vorgängen in der Heimath. Er hörte wohl, daß der Bürger gleiche Rechte habe mit dem Adeligen, daß es überhaupt Menschenrechte gebe, daß man sich von Zeit zu Zeit in Paris schlage, daß der König Ludwig XVI. enthauptet sei, daß sich Frankreich eine Republik nenne, daß es einen ersten Consul, dann daß es einen Kaiser habe, daß es Sieg auf Sieg erkämpfe in allen Weltgegenden, dann daß es geschlagen werde in allen Zonen – das Alles freute oder betrübte ihn, das Alles sagte ihm, daß sich in Frankreich wohl Manches, ja Vieles verändert haben müsse während seiner Abwesenheit. Daß aber das seidene Mäntelchen mit den atlasnen oder sammetnen Schleifen aus der Mode gekommen, das hatte er nirgends gelesen oder gehört, auch nicht, daß sich das Leben auf dem großen Platze von Marseille irgendwie geändert habe. Es fiel ihm auch nicht ein, daß in diesen Beziehungen irgend etwas anders werden könnte; in seiner Phantasie stand das Alles so fest wie ewig, und wo in der Welt immer er arbeitete, duldete, kämpfte, zusammenraffte, er that es für den großen Platz von Marseille.

Von diesen seinen Arbeiten und Leiden wissen wir noch weniger, als er von den Vorgängen in Frankreich wußte. Nur Einzelnes hat er in seinem spätern Alter, da er schon sehr schweigsam war, erzählt und haben wir von ihm oder seinen Neffen erfahren. Wie er z. B. in San Domingo mit Lebensgefahr einen alten Herrn vor der Wuth der aufständischen Negersclaven auf sein Schiff gerettet, nur weil dieser alte Herr ein seidenes Mäntelchen trug, wie die Marseiller Patrizier. Der alte Herr, dessen ganze Familie ermordet war, machte ihn, seinen Retter, zum Erben seines großen Vermögens. Das große Vermögen war ihm noch nicht genug. Er begann zwischen Amerika und Afrika einen großen, selbstständigen Handel, rüstete Kaperschiffe aus gegen die Engländer und wurde mehrere Male gefangen und mehrere Male arm und dann wieder reich.

[766] Er hatte endlich alle Küsten gesehen und besaß Güter an allen Küsten und nach dem Friedensschlusse von 1815 war er Unterthan Frankreichs, Englands, Hollands, Portugals, je nach den Küsten, auf denen seine Besitzungen lagen. Diese und die Geschäfte, welche die Regierungsveränderungen in den verschiedenen Colonien nothwendig machten, hielten ihn noch mehrere Jahre nach dem Friedensschlusse in der Fremde. Endlich bemannte er einen prächtigen Dreimaster, belud ihn mit den Kostbarkeiten der reichsten Länder des Erdballs und segelte froh, aber bald funfzig Jahre alt, nach Frankreich zurück, durch die Straße von Gibraltar, in den Golf von Lion, in den Hafen von Marseille.

Kein seidener Mantel kam ihm entgegen; die Besten und Reichsten trugen tuchene Röcke oder Fracks und einen schwarzen Cylinderhut auf dem Kopfe; der große, schöne Platz mit den Linden und Akazien war fast verschwunden; allerlei Gebäude erfüllten ihn; die Buden der Limonadièren und der Eisverkäuferinnen waren dahin. Herr Jacques Atron schloß die Augen und wollte nicht glauben, was er gesehen. Er ging in’s Gasthaus, ließ den Schneider kommen und bestellte ein seidenes Mäntelchen mit sammetnen Schleifen auf der Schulter und einen ganzen Anzug, wie man ihn vor vierzig Jahren getragen. Der Schneider glaubte, es handle sich um eine Maskerade, und da der fremde Herr gut zu zahlen versprach, beeilte er sich und machte die Sache vortrefflich. Bis der Anzug ankam, blieb Herr Jacques Atron auf seiner Stube. Dann ließ er sich pudern, kleidete sich an und als es Abend wurde, ging er auf den Platz am Hafen, um sich unter die Herren zu mischen und den Damen den Hof zu machen, wie er es sich durch ungefähr vierzig Jahre versprochen hatte.

Auf der Straße liefen ihm die Gassenbuben nach und verhöhnten ihn; die Marseilleser sind sehr witzige Leute und machten viele Witze auf seine Kosten, und da die Marseilleser nicht leise sprechen können und selbst ihre Geheimnisse laut ausschreien, hörte er Alles. Das störte Herrn Jacques Atron nicht im Mindesten. Sein Traum, sein Lebenszweck, sein Ideal, das mehr als vierzig Jahre lang in ihm gewachsen und erstarkt war, war mächtiger als die Wirklichkeit, die ihn spottend umgab. Weiß der Himmel, was in ihm vorging! Er spazierte von einer Stelle zur andern, verneigte sich da, verneigte sich dort; lächelte, lispelte Worte der Liebe, der Galanterie, der Verführung, wie sie im gepuderten Jahrhunderte Mode gewesen und wie sie zum Puder in seinem Haar und zu seinem Mäntelchen paßten. So trieb er es durch mehrere Tage. Man fing an, ihn als einen Narren zu betrachten; man erkundigte sich nach ihm und erfuhr endlich seinen Namen, seine Abstammung, seine Schicksale. Da war Herr Jacques Atron mit einem Male von einer Schaar von Verwandten umgeben und unter diesen fanden sich mehrere sehr positive Neffen, Commis in Bank- und Handelshäusern. Diesen gelang es, ihn aus seinem Traume zu reißen, und dies um so leichter, als er, der alte Kaufmann, im Grunde selbst ein höchst positiver Geist und Charakter geworden, den eine phantastische Idee wohl eine Zeit lang besitzen, aber nicht verrückt machen konnte. Er gab am Ende seine Promenaden auf und öffnete die Augen für die Veränderungen, die unter der Zeit in Sitten, Trachten und Baulichkeiten von Marseille vorgekommen. Nur von seiner lieben Rococotracht, die er mit so vielen Kämpfen erobert, konnte er sich nicht trennen; er war ja unabhängig und reich, was kümmerte es ihn, daß man ihn seines seidenen Mäntelchens wegen verhöhnte! In seiner Tracht ging er selbst auf die Börse und suchte aus alter Gewohnheit Geschäfte zu machen. Das gefiel dem Handelsstande, da Herr Jacques Atron in Allem sehr billig und leicht zu behandeln war, und gefiel auch den Neffen, die mit Vergnügen sahen, wie der in einem Punkte verrückte Onkel in allen andern Punkten so gescheidt, durchtrieben und praktisch war, und wie er sein ohnehin schon ungeheueres Vermögen von Tag zu Tag vergrößerte. Er hatte ja keine Kinder; die Neffen waren seine natürlichen Erben. Am Ende fanden sie, daß ihm das Mäntelchen gut stehe, und schmeichelten seiner verrückten Idee.

Aber das übrige Marseille hatte nicht dasselbe Interesse, dem alten Jacques Atron zu schmeicheln; im Gegentheil war es froh, an einer Person seinen Witz auslassen zu können, und es ging durch mehrere Jahre, wie es am ersten Tage gegangen war. Dieser Umstand und der andere, daß er sich in dem modernen Marseille doch niemals heimisch fühlte, daß er dadurch nur an den verfehlten Lebenszweck erinnert wurde, bewog ihn endlich, seine Vaterstadt wieder zu verlassen, aber diesmal nicht, um wieder auf die hohe See zu gehen. Er siedelte nach Paris über, nach jener einzigen unter den Städten des Erdballs, wo man Jeden machen, leben und treiben läßt, was und wie es ihm gefällt. Er baute sich hinter der Madeleine jenes reiche, wenn auch kleine Rococohotel und richtete dasselbe und sich selbst so ein, wie er es vor 1789 in Marseille gethan haben würde. Dieser Uebersiedelung nach Paris danken wir es, daß wir ihn zu sehen bekommen und daß wir das Schicksal des alten Sonderlings kennen gelernt.

Heute ist Herr Jacques Atron todt; aber an seinen Tod knüpft sich noch eine psychologisch merkwürdige Geschichte, die wir gleich hier erzählen wollen.

Während seines Aufenthaltes in Marseille drängten sich, wie erwähnt; die erblustigen und praktischen Neffen, sämmtlich Namens Atron, um ihn und machten ihm so angelegentlich den Hof, als er dermaleinst den Damen auf dem großen Platze den Hof zu machen gewünscht hatte. Nur ein Neffe fehlte unter diesen Hofmachern. Dieser, Namens Gustav Atron, war der unpraktischste Mensch der Familie. Obwohl ein Marseiller, verschmähte er den Handel und den Geldgewinn und widmete sich den schönen Wissenschaften. Zur Zeit des Marseiller Aufenthaltes seines Onkels hatte er ein kleines Amt an der Stadtbibliothek, das ihm jährlich zwölfhundert Franken einbrachte. Mit dieser kleinen Summe lebte er sehr glücklich in einer Dachstube, und in der Dachstube wie auf der Stadtbibliothek machte er Verse. Er wurde in der Familie als ein Träumer geliebt und verachtet. Der Onkel bekam ihn zu selten zu Gesicht, als daß er ihn hätte lieben können, hörte aber genug von seinem unpraktischen Wesen, um ihn verachten zu können. „Verachten“ ist vielleicht ein zu starker Ausdruck; so viel ist gewiß, daß er ihn gering achtete und daß er auf die ganze literarische Laufbahn, die Gustav erwählt, auf sein Versemachen, auf seine Bibliothek und auf Alles, was er trieb, als auf etwas höchst Unzweckmäßiges herabsah. Obwohl selber in Beziehung auf sein seidenes Mäntelchen und die guten alten Zeiten ein Phantast, haßte er doch Alles, was er und was die Leute sonst Phantasterei nennen. Gustav ließ sich aber noch mancherlei Phantastereien zu Schulden kommen. Zu diesen gehörte seine Liebe zu der reizendsten und reichsten Frau Marseilles, einer in dieser Stadt geborenen Engländerin, die nun an den englischen Consul Mstr. Morston, einen gewiegten Pfundmillionär, verheirathet war. Mstrs. Morston, die eben so gebildet und geistvoll als schön und anmuthig war, fühlte in der ausschließlichen Handelsstadt das Bedürfniß, sich mit einem Kreise zu umgeben, der von etwas Anderem als von Zucker- und Kaffeepreisen zu sprechen wüßte, und Gustav Atron, der kleine Beamte mit zwölfhundert Francs Gehalt, gehörte zu den intimsten Hausfreunden des siebenfachen Millionärs Morston. Da beging er die Phantasterei, sich in diese liebreizende Frau, die, trotzdem sie Bücher las und mit den bedeutendsten Geistern Frankreichs und Englands in Verbindung stand, nichts vom Blaustrumpf hatte, auf das Innigste zu verlieben. Mstrs. Morston war edel und tugendhaft, und man vergab ihm deshalb diese Phantasterei um so weniger. Er aber war in dieser Liebe, in seinen Versen, in seiner Dachstube und in seinen zwölfhundert Franken so glücklich, daß er sich um alle Verspottung beinahe eben so wenig kümmerte, als um seinen reichen Onkel.

Da hatte Gustav Atron eines Tages ein Trauerspiel in Versen „die Tochter des Aristides“ vollendet. Es gefiel der geliebten Frau; er hatte das Bedürfniß, als ein berühmter Mann vor ihr zu stehen. Aber in Frankreich kann man nur mit Hülfe von Paris zu Ruhm gelangen. Das Trauerspiel mußte, wenn es ihm einigen Namen machen sollte, nothwendigerweise in Paris aufgeführt und gelobt werden. Aber wie nach Paris kommen? wie in dieser Stadt so lange leben, bis die Aufführung durchgesetzt ist? Hélas! von seinen zwölfhundert Franken konnte er nicht so viel ersparen, um diese Kosten bestreiten zu können.

Da mußte denn doch der Onkel dran. Der Onkel sollte ihm die Summe leihen. Der Schritt kostete ihn zwar einige Ueberwindung, aber er war seines Erfolges in Paris so gewiß, daß er eine Verkennung von einigen Monaten auf sich nahm. Er wußte, er werde das Anlehen zurückerstatten.

So trat er denn vor den alten Herrn Jacques Atron. „Onkel, seien Sie so gütig und leihen Sie mir fünfzehnhundert Franken. Ich muß nothwendigerweise nach Paris, um mein Trauerspiel aufführen zu lassen. Es wird mir mehrere tausend Franken einbringen, und ich werde Ihnen das Geld mit herzlichem Danke wiedererstatten.“

[767] Der Onkel lächelte etwas spöttisch. „Geld mit einem Trauerspiele machen!“ murmelte er, ging aber doch an die Casse und sagte: „Mein Junge, Du hast noch nichts von mir verlangt – da hast Du das Doppelte, obwohl ich das Geld als verloren betrachte.“

„Danke, Onkel, ich brauche nicht mehr als fünfzehnhundert Franken.“

So viel nahm er auch nur, zur Verwunderung des Alten, der von seinen Neffen an ein Verschmähen seines Geldes nicht gewöhnt war – steckte die neuen Louisd’ors ein und reiste mit diesen, mit seinem Trauerspiele und mit einem von Mstrs. Morston an Lamartine gerichteten, sehr herzlichen Empfehlungsschreiben nach Paris ab.

Der Brief der liebenswürdigen Frau an ihren Freund, den berühmten Dichter, der damals noch berühmter und geachteter war als heute und in der Literatur wie in der Politik großen Einfluß hatte, that Wunder; es ging Alles über alle Erwartung gut. Das Trauerspiel „die Tochter des Aristides“ wurde von der Direction des Odeontheaters angenommen, sofort einstudirt, aufgeführt, sehr gelobt, gedruckt und in Tausenden von Exemplaren verkauft.

An dieser Stelle ist der Zeichner dieser wahrhaftigen Skizzen dem Leser eine Erklärung schuldig. Der Leser wird sagen: Von einem Trauerspiel, das in Paris einen so großen Erfolg gehabt, und von dessen Dichter müßte man doch etwas gehört haben! Darauf antworte ich ganz einfach: der Leser kennt gewiß auch beides, Dichter und Trauerspiel, die ich meine, wenigstens dem Namen nach – ich aber habe aus Rücksicht für noch lebende Personen Titel des Trauerspiels und Familiennamen des Dichters ändern müssen. Das ist Alles.

Nach einigen Monaten kehrte Gustav Atron mit mehreren Lorbeerblättern im Haare nach Marseille zurück, wo er mit Jubel von der geliebten Frau, mit Lächeln von seiner Familie empfangen wurde. Sein erster Weg war zu der schönen Frau, sein zweiter zum reichen Onkel.

„Danke, cher oncle, hier sind Ihre fünfzehnhundert Franken; ich habe sie zwar nicht gebraucht, bin aber darum nicht minder dankbar für Ihre Güte.“ So sprechend legte er die Rollen hin; es sind dieselben Rollen, dasselbe Papier, dieselben Louis, die ihm der Onkel gegeben und zwar, wie der Onkel meinte, auf Nimmerwiedergeben, wie Onkels ihren Neffen zu leihen pflegen. Der alte Kaufmann erkennt die Identität der Rollen und ist doppelt erstaunt, einmal über dieses Wiedersehen, dann darüber, daß man mit Versen überhaupt Geld machen könne. In seinen Gedanken aber sagt er sich: „Tiens, tiens! der Poet versteht es also mit Geld umzugehen und zu sparen, während meine anderen Herren Neffen nicht genug aus mir herauspumpen können und doch immer noch Schulden haben. Ich will mir es merken.“

Der ruhmgekrönte Poet bezog wieder seine kleine Stube; der Onkel zog, wie wir schon gesagt, nach Paris – und es vergingen wieder einige Jahre.

Da kamen zwei Todesfälle vor, die beide auf das Leben unseres Poeten einen großen Einfluß haben sollten; der eine Todesfall in Marseille, der andere in Paris. – In Marseille starb der englische Consul, Mstr. Morston, und da er kinderlos war, vermachte er sein ganzes Vermögen, volle sieben Millionen, seiner schönen und treuen Frau, nachdem er ihr gerathen, den guten Gustav Atron, der sie so treu und ehrenwerth liebe, sobald als schicklich zu heirathen. In Paris starb der alte Herr Jacques Atron und vermachte unter der Bedingung, daß er ihn im Costüme Louis XVI. begraben lasse, sein ganzes Vermögen von acht Millionen seinem Neffen, dem Poeten Gustav Atron, als einem Mann, der es verstehe mit Geld umzugehen. Ein Jahr nach diesen beiden Todesfällen sah sich also der Poet, wie man in Frankreich sagt, à la tête, an der Spitze von fünfzehn Millionen Franken. Der Leser glaube nicht, daß ich ihm hier fabelhafte runde Summen nenne und daß ich mit den Millionen wie ein Romanschreiber umgehe. Ich erzähle hier Thatsachen, und die Summen sind eben so authentisch als die Thatsachen.

Der Verfasser der „Tochter des Aristides“ hatte nun Ruhm, die geliebteste und ausgezeichnetste Frau und ein ungeheueres Vermögen.

Wer war glücklich? – Der Poet war es nicht!

Ich will ja nicht psychologische Abhandlungen schreiben, auch die hier behandelten Stoffe nicht künstlerisch abrunden, sondern einfach berichten. So füge ich nur in wenigen Worten das Ende bei. Der Poet, der auf seiner Dachstube, mit seinem kleinen Gehalte, in seiner Sehnsucht nach der Geliebten so glücklich gewesen, wurde, da Alles, was er ersehnte, wie ein Regen plötzlich auf sein Haupt fiel, der unglückseligste Mensch: er wurde ein Geizhals, so ein rechter Geizhals, wie er geschrieben steht, wie ihn Molière und Balzac geschildert haben. Um seine Ausgaben so viel als möglich zu beschränken, hat er sich mit einer Haushälterin in ein kleines Haus in der Nähe von Marseille, in eine sogenannte Bastide zurückgezogen und verbringt daselbst Tage und Nächte in beständiger Angst, daß die Bankhäuser, die sein Geld verwerthen, zu Grunde gehen und daß ihm Diebe das wenige Geld, das er bei sich hat, entwenden. Die Gabe der Dichtung ist von ihm gewichen und – was schlimmer ist – seine holde Frau, müde des häßlichen Schauspiels, wie eine Menschenseele verwittert, hat ihn verlassen. Sie lebt in Paris und sucht im Umgange der Besten ihr Unglück zu vergessen. Sie ist immer liebenswürdig und anmuthig, aber die Erkenntniß von der Nichtigkeit menschlichen Glückes hat einen Schleier von Melancholie über ihr ganzes holdes Wesen gebreitet.




Ein Gang durch den Tandelmarkt in Wien.

Von C. Reinhardt.

Der fortschreitende Zeitgeist wird bald wieder ein Stück des alten Wien unter seinem Fußtritt zermalmen. In kurzer Zeit soll jene originelle Barrackenstadt verschwinden, welche, ein Zeughaus für Jene, die nur Altes, Gebrauchtes, suchen, sich am Ufer der Wien hinzieht und den Namen Tandelmarkt führt.

Ein wunderbares Chaos von Gegenständen bietet sich hier dem Auge des Durchwandelnden, welches ruhelos umherschweifend Sachen neben einander erblickt, die sonst im gewöhnlichen Leben niemals zusammentreffen. Wo hat schon Jemand gesehen, daß sich ein beschäftigungsloser Schubkarren, vertraulich an einen Schornstein lehnt, wie wir dies gleich am Eingange des Tandelmarktes erblicken?

An der äußeren, dem Fuhrweg zugekehrten Seite hat der Eisenhandel seinen Sitz aufgeschlagen. Unzählige Ofenröhren harren hier des Rauches, der sie durchziehen soll. Frierende Oefen, die lange nichts Warmes in den Leib bekommen haben, und auf denen wohl gar schon Wochen lang der Schnee lag (was für einen respectabeln Ofen ein jammervoller Zustand sein muß), stehen da auf langen dünnen Beinen, als wollten sie jeden Augenblick davonlaufen. Aber ach, die Armen sind mit Ketten an einander geschlossen, wie die Galeerensclaven, und wollte sich ja ein nächtlicher Entführer eines solchen Ofens annehmen, so müßte er wenigstens zehn seiner angeketteten Cameraden mitschleppen, was doch wohl nicht ganz ohne Aufsehen abgehen würde.

Neben den obenerwähnten Schubkarren, die, in süßes Nichtsthun versunken, ihre Beine gen Himmel strecken, stehen lungernd und in tiefe Verwunderung über ihren ungewohnten Standpunkt versunken, eiserne Schornsteine mit ihren Windkappen und denken über ihre verfehlte Bestimmung nach. Sie, die gewohnt waren, von den höchsten Dachfirsten auf das Leben herniederzublicken, stehen jetzt fast unter der Fahrstraße und blicken neugierig in die vorbeifahrenden Fiaker und Comfortables, was ihnen von ihrem früheren Standpunkte aus geradezu unmöglich war. Ein ernsthafter, etwas vom Wetter mitgenommener Türke, den der Künstler vor vielen Jahren auf die Eisentafel malte, die jetzt seinen eigentlichen Werth ausmacht, sieht rauchend auf eine Reihe kupferner Kessel nieder, die einer in den anderen gesteckt, wie Papiertüten, auf den Mann lauern, der einen kupfernen Kessel braucht.

Es kümmert den Moslem nicht im Geringsten, daß sich zwei christliche Grabkreuze mit der Aufschrift: „Hier ruhet etc.“ an ihn lehnen, ebensowenig wie diese sich um die Bratmaschine kümmern, welche zwischen ihnen steht, und welche einigen Trost in der feiernden Kaffeemühle findet, die wiederum nach jenen glänzenden [768] Kaffeemaschinen blickt, deren Zahl nie abnimmt und von denen irgendwo ein geheimer Vorrath existiren muß, aus dem der etwaige Abgang sofort wieder ersetzt wird.

Da wo die Schornsteine und Oefen eine freie Lücke nach der Straße lassen, sind eine Menge Wagenketten verlockend nebeneinander hingelegt. Es ist dies eine gefährliche Stelle für die Bauern, welche dort vorbei fahren und für Wagenketten Liebhaberei haben, denn einmal hereingelockt, verläßt der Bauer den Platz selten, ohne noch einige Gegenstände mitzunehmen, an die er gar nicht gedacht hatte.

Den Beschluß der Eisenregion machen einige Oefen aus dem vorigen Jahrhundert, gewichtige, massive Gesellen mit runden Bäuchen und dicken Beinen, von Schnörkeln umgeben und mit Bildnissen unbekannter Männer geziert. Mitten unter ihnen liegt gleich dem rätselhaften Sphinx in der Wüste ein – Dampfkessel. – Wo und wie der hierher gekommen ist, wie lange er da liegen bleiben wird, und wann und wie er wieder wegkommen wird, das ist ein tiefes Geheimniß, denn Leute, welche Dampfkessel brauchen, suchen dieselben in der Regel nicht auf dem Tandelmarkte.

Hier schließt sich eine zweite gefährliche Stelle an das Eisen, denn hier beginnt der Wollendistrict. – Ist der vorbeifahrende Bauer der Kettencharybdis glücklich entronnen, so packt ihn hier die Scylla der Pferdedecken, die anscheinend absichtslos über das Geländer gehängt sind. Da hängen sie, langhaarig, wie abgezogene Pudel, oder geschoren wie Möpse, mit bunten Streifen, und daneben ganz zufällig ein paar Winterüberzieher mit Kapuzen, welche die Ohren warm halten, wenn man im Winter auf der Landstraße fährt. Ein verlockender Comfort, der manchen Handel herbeiführt.

Zwischen den Wollendecken sieht man Kleiderkoffer, in denen man zur Noth wohnen kann; dann kleinere Exemplare, so mit Eisen beschlagen, daß fünf starke Männer dazugehören, dieselben in leerem Zustande fortzuschleppen. Das Massivste daran sind aber die Schlösser, die ebensogut an Festungsthore passen würden, so wie sich die Riesenschlüssel sofort in kleine Kanonen verwandeln lassen, sobald man eine Lafette darunter setzt und ein Zündloch hineinbohrt.

Indem wir an einer der Hütten verschiedene Schilder lesen, welche frischen Most, Kaffee, Gefrornes, Märzen- und Lagerbier versprechen, und eben überlegen, ob das Ganze etwa ein Tandelwirthshaus ist, dann ein Schild mit den Worten: „Gastwirthschaft zum rothen Hahn“, welches dieses Thier in ungeheuer stolzer Stellung, d. h. etwas zweifelerweckend, ob es nicht der Samiel aus dem Freischütz sein könnte, darstellen: haben sich richtig ein paar Bauern in den Wolldecken gefangen. Der Eine betrachtet und befühlt die Pferdedecken, während der Andere, mehr Egoist, mit dem Ueberzieher liebäugelt, ihn wiegend in die Höhe hebt, den Stoff prüft und ihn sogar gegen das Licht hält, um etwaige dünne Stellen zu entdecken.

Die Eigenthümerin dieser Gegenstände studirt indeß in ihrem „Comtoir“, wie die Aufschrift einer runden Blechtafel das Local nennt, die neuesten Nachrichten, wozu ihr als Lesepult ein großer Papageibauer dient. Sie kennt ihre Kunden viel zu gut, um sie durch irgend eine voreilige Bewegung zu verscheuchen, denn das Geschäft muß mit derselben Vorsicht betrieben werden, wie die höhere Angelfischerei.

Die Tandlerin ist aber auch eine geübte Fischern. Sie weiß ganz genau, welchen Fisch man den Köder in aller Ruhe verschlucken lassen muß, um ihn dann desto sicherer am Haken zu haben, aber ebensogut versteht sie die Fische zu fangen, welche bei der leisesten Berührung des Köders, mit dem Haken „angehauen“ werden müssen, wie es der Fischer mit dem Kunstausdruck benennt.

Unsere Bauern gehören nun zur ersten Sorte, und die Tandlerin läßt sie recht gründlich festbeißen, ehe sie ihren großen Lehnstuhl verläßt. Der Bauer bietet natürlich die Hälfte des geforderten Preises, was der Tandlerin ungemein verächtlich erscheint, so daß sie in tiefer Indignation die Hände in ihre Rocktaschen steckt und langsam in ihr „Comtoir“ zurückkehrt, als ob gar keine Bauern existirten. Diese hingegen greifen, nach einem kleinen Mehrgebot, nun ebenfalls zur Kriegslist, indem sie langsam auf den Wagen klettern, ohne jedoch die Augen von dem Gegenstand ihres Wunsches losreißen zu können. So fahren sie einige Schritte fort, werden indeß bald durch eine kleine Verwirrung am Pferdegeschirr aufgehalten, was der Tandlerin die schönste Gelegenheit bietet, sie zurückzurufen. Die sitzt aber ruhig in ihrem Stuhl, und hat ihre ganze Aufmerksamkeit auf einige Tauben gerichtet, welche um die Schornsteine der Heumarktcaserne fliegen, so daß die Bauern die Unterhandlungen wieder anknüpfen müssen, was natürlich zu ihrem Nachtheil ausschlägt.

Indem wir nun beide Parteien ihrem Schicksale überlassen, werfen wir einen Blick in das Innere der Hütten, und betrachten dabei zugleich die Bauart derselben. Der Eisendistrict scheint sich so ziemlich alles Metalls bemächtigt zu haben. Die Familie der Kessel und Pfannen ist hier zahlreich zu finden; Thür- und Vorlegeschlösser in allen Exemplaren, welche bis dato von den Naturforschern entdeckt wurden; Mörser und Plattglocken von jedem Alter und Stand; verbogene und zerbrochene Werkzeuge, noch einmal so theuer, als man sie neu kauft; dabei ehrwürdige Regenschirme aus vergangener Zeit, Vogelbauer, und dazwischen immer wieder die rauchenden Türken mit permanent rothen Hosen und blauem Kaftan, mit der Unterschrift: „Tabakstrafik“, und in solcher Menge, daß man unwillkürlich glauben muß, alle Tabakstrafikanten in Wien haben Bankerott gemacht und ihre Schilder als letztes Rettungsmittel hier verkauft.

Sonderbar ist es, daß man nie Jemanden in dieser Eisenregion Etwas verkaufen sieht. Es wird immer nur gekauft. Allerdings wird es nicht vorkommen, daß Jemand aus Geldmangel seinen eisernen Ofen unter den Arm nimmt und ihn auf den Tandelmarkt trägt, wie er dies mit seinem Frack thun kann. Aber es gibt doch kleinere Sachen, die sich eher transportiren lassen. In den innern Reihen, wo der Handel mit Kleidern und Stiefeln im gemüthlichen Halbdunkel blüht, sieht man öfter Leute mit kleineren oder größeren Packeten eintreten und am anderen Ende leer wieder herauskommen.

Diese inneren Gassen sind gänzlich mit Schindeldächern überdeckt, von denen complicirte und wunderliche Röhrenleitungen das Regenwasser ableiten. Bahnt sich dieses dennoch einen Weg in eins der Geschäftslocale, was das Regenwasser sehr gerne thut, so bringt der Eigenthümer eine Privatableitung an, die er in aller Stille auf das Gebiet seines Nachbars führt, der zuschauen mag, wie er damit fertig wird.

Um doch einiges Licht in den Handel zu bringen, hat man in die Verdachung die verschiedenartigsten Fenster eingesetzt, welche aber, da sie seit undenklicher Zeit nicht geputzt wurden, kein überflüssiges Licht einlassen. Denn zu große Helligkeit ist dem Handel mit alten Kleidungsstücken nicht günstig, und würde an jenen Paar lackirten Stiefeln einige Risse früher entdecken lassen, als dies dem Verkäufer lieb wäre.

Mannichfaltig scheinen die Liebhabereien zu sein, welche die Geschäftsleute für verschiedene Artikel haben. Einer wirft sich auf alte Livreen und Uniformen und scheint eine besondere Leidenschaft für das Abschneiden der Knöpfe zu haben, denn er hat ganze Reihen, mit und ohne Wappen, aufgehängt, gerade so wie die Bauern in Ungarn den Paprika.

Der Andere hat wieder weniger martialische Gesinnungen, was er dadurch anzeigt, daß man nur Frauenkleider bei ihm findet, zwischen denen sich sogar eine Cither und einige Guitarren zeigen, freilich fehlen ein paar Wirbel, die Quinte aber ganz bestimmt. Denn es ist eine sonderbare Eigenschaft aller Guitarren, die sich in Tandlerhänden befinden, daß sie stets ohne Quinte sind.

Hat nun ein Tandler das untere Ende des Menschen besonders in’s Auge gefaßt, und Stiefeln von jedem Lebensalter in Reih und Glied aufgestellt, so hat ein Anderer wieder das oberste menschliche Ende zum Ziel seiner Speculation gemacht.

Was für Geschichten erzählen die hier aufgestapelten Hüte dem sinnigen Beschauer! Auf welchen Köpfen mögen sich diese „Pinche“ herumgetrieben haben, und bei welchen Abenteuern mögen diese Beulen und Brüche hineingekommen sein, die trotz aller geheimen Kunstgriffe des Huttandlers nicht, ganz zu verwischen waren? Was für eine Mannichfaltigkeit von Formen entwickelt sich hier, von der schwarzen Angströhre an bis zum Spießbürger-Sturmfaß von Anno dazumal, vom Calabreser- und Steyrerhut bis zum weißen Cylinder, der dem lustigen Bruder schief auf dem sorgenfreien Haupt saß! Alles ist vertreten: glänzend schwarz und fuchsig roth wie kupferne Kessel, braungrün und von zweifelhaftem Weißgrau, mit und ohne Fettflecken, kahlgescheuert von vielen Complimenten und im Besitz des schönsten Haarwuchses. – Alles, wie es der Liebhaberei oder dem Geldbeutel des Käufers angemessen ist.

Dann kommen Glas- und Porcellanlager, ganz und zerbrochen; Spiegel, in denen man sich langgezogen sieht, wie in einer Weinflasche,

[769]

Der Tandelmarkt in Wien.

oder mit grünlicher Hautfarbe, wie im Vollmondschein; Oelgemälde, schauerliche Carricaturen auf harmlose Bäume und Wolken darstellend; Schlachten von zwölf Mann Infanterie und drei Cavalleristen, nebst einigen unsichtbaren Reserven im Pulverdampf, geschlagen, und wieder antike heilige Männer, meist etwas kahlköpfig, aber mit starkem Bartwuchs, ganz im Gegensatz zu unsern jetzigen Heiligen, die stets glatt rasirt erscheinen – dann Pelze und Damenmüffe, zerknüllte Damenhüte und steife Reisekoffer, welche ihren Pappendeckelcharakter unter einer dünnen Decke von Schafleder zu verbergen suchen und sich so für „Rindslederne“ ausgeben. Kurz von Allem, was der Mensch an und um sich braucht, kann er hier finden, nur Lebensmittel nicht. Zwei Sachen gibt es noch, die man noch nie auf dem Tandelmarkt sah: dies sind Pianofortes und feuerfeste Geldschränke.

Wer nun die düsteren Straßen dieser Stadt in der Absicht durchwandelt, einen billigen Einkauf zu machen, der wird sich sehr getäuscht finden. Das Princip der Wiener Tandler ist, spottwohlfeil einzukaufen und so theuer als möglich wieder zu verkaufen. Um dies durchführen zu können, haben sie unter sich Genossenschaften gebildet, die in dominirender Anzahl bei allen Auctionen erscheinen und es dem Privatmann geradezu unmöglich machen, dort etwas zu kaufen. So wie es ein Fremder sich beifallen läßt, einen Gegenstand ersteigern zu wollen, wird er von den Tandlern über den Werth hinaufgetrieben, während von der Genossenschaft zu Spottpreisen erstanden wird.

Nach einer solchen Auction versammeln sich die Verschwornen in einem Wirthshaus, wo die Theilung der Sachen vor sich geht, und wo von der beim Einkauf vorhandenen Einigkeit keine Spur mehr zu finden ist.

Ein anderes Manöver der Wiener Tandler ist folgendes.

Da, besonders zur Wintersaison, viele Fremde nach Wien kommen, und sich dort ein halbes Jahr einrichten, so haben die Tandler ihre Agenten, welche große Wohnungen ausspüren, die, von ihren Bewohnern verlassen, noch fünf bis sechs Tage leer stehen. Solche Quartiere werden dann auf die paar Tage gemiethet, von den verschiedenen Tandlern vollkommen ausmöblirt, mit Spiegeln, Bildern, Teppichen, Vorhängen, Eß- und Trinkgeschirr versehen, und dann überall eine Auction wegen schleuniger Abreise angekündigt. Hier treten die Tandler niemals als Käufer auf, sondern bilden blos „Publicum“ und helfen ein wenig die Preise in die Höhe bringen. Die mit diesem Treiben unbekannten Fremden werden natürlich schrecklich angeführt, denn sie glauben, die Möbeln einer soliden Haushaltung zu erstehen, und können sehr froh sein, wenn sich die Roßhaarpolster noch mit Kalbshaar gestopft ausweisen, und nicht Heu und Stroh zu Tage kommt, wenn nach einigen Monaten die Stühle und Sophas das Zeitliche segnen, und „alle Viere“ von sich strecken. Der Tandlerunfug hatte übrigens in der letzten Zeit so überhand genommen, daß eine Polizeiverordnung dagegen erschien, welche bei strenger Ahndung die Genossenschaften verbot. Ob mit Erfolg, ist unbekannt.

[770] Eben so hartnäckig wie in seinem Geschäft, hält das Volk des Tandelmarktes zusammen, da es sich um seine Vertreibung von seiner Stätte handelt. Mit alten Freibriefen und Dokumenten versehen, wollen sie nur der Gewalt weichen und keine Hand anlegen, um ihre Waaren unter die Bögen der Verbindungsbahn zu schaffen, wo sie künftig wohnen sollen. Es wird ihnen aber nichts helfen, denn die das Jahrhundert beherrschende Eisenbahn hat unter ihre Schienen schon ganz andere Sachen begraben, als einen Tandelmarkt.




Wunderdoctoren und Magnetiseure.

(Schluß.)


Die Erfindung des Somnambulismus. – Auch Bäume werden magnetisirt. – Magnetisirung durch bloße Willenskraft. – Sehen und Hören mit Fußzehen und Fingerspitzen. – Was ein Somambule Alles leisten kann. – Bedingungen beim Magnetisiren. – Vollständige Anleitung zur Erlernung des Magnetisirens. – Ende des Schwindels.

Die Pariser Commission erstattete endlich Bericht über den Mesmerismus und bewies darin sehr klar, daß alle hervorgebrachte Wirkungen auch ohne Streichen oder andere magnetische Manipulationen hervorgebracht werden können, daß ferner alle diese Manipulationen und Ceremonien niemals irgend eine Wirkung hervorbringen, wenn sie ohne Vorwissen des Patienten angewendet werden, und daß deshalb die Erklärung der beobachteten Phänomene in der Einbildungskraft, aber nicht in dem thierischen Magnetismus zu suchen sei.

Dieser Bericht war der Ruin von Mesmers Ruf in Frankreich, und er verließ Paris kurz nachher mit den dreihundertundvierzigtausend Francs, welche von seinen Bewunderern für ihn gezeichnet und gezahlt worden, und zog sich nach Mörsburg am Bodensee zurück, wo er am 5. März 1815 in dem hohen Alter von einundachtzig Jahren starb. Der Samen aber, den er ausgestreut, befruchtete sich von selbst und ward durch die wohlthätige Wärme der menschlichen Leichtgläubigkeit großgezogen und zur Reife gebracht.

Der Marquis von Puysegur, Besitzer eines bedeutenden Landgutes zu Busancy, war einer von denen, welche für Mesmer subscribirt hatten. Nachdem dieser Frankreich verlassen, zog sich der Marquis mit seinem Bruder nach Busancy zurück, um den thierischen Magnetismus an seinen Gutsunterthanen zu erproben und das Landvolk von allen Arten von Krankheiten zu heilen. In der ganzen Nachbarschaft bis auf einen Umkreis von zehn Meilen ward er als mit fast göttlicher Kraft begabt betrachtet. Seine große Entdeckung, wie er sie nannte, ward zufällig gemacht.

Eines Tages hatte er seinen Gärtner magnetisirt, und als er sah, wie dieser in einen tiefen Schlaf fiel, kam er auf den Einfall, eine Frage an ihn zu richten, wie an einen natürlichen Somnambulen. Er that es, und der Mann antwortete mit großer Klarheit und Genauigkeit. Der Marquis ward dadurch angenehm überrascht. Er setzte seine Experimente fort und fand, daß in diesem Zustande von magnetischem Schlaf die Seele des Schlafenden sich erweitere und in genauere Gemeinschaft mit der ganzen Natur, ganz besonders aber mit ihm, dem Marquis, trete. Er fand, daß alle weiteren Manipulationen unnöthig waren, daß er, ohne zu sprechen oder irgend ein Zeichen zu geben, dem Patienten seinen Willen mittheilen, daß er mit einem Worte von Seele zu Seele und ohne Anwendung von irgend einer physischen Operation mit ihm conversiren konnte. Gleichzeitig mit dieser wunderbaren Entdeckung machte er noch eine, welche seinem Verstand zu eben so großer Ehre gereicht. Wie viele seiner Collegen fand er, daß es eine schwere Aufgabe war, Alle zu magnetisiren, die sich bei ihm einfanden, denn es blieb ihm nicht einmal Zeit zu der Ruhe und Erholung, die für seine Gesundheit nothwendig war. In dieser Verlegenheit verfiel er auf ein sehr scharfsinniges Auskunftsmittel. Er hatte Mesmer sagen hören, daß er Stücken Holz magnetisiren könne – warum sollte er nicht im Stande sein, einen ganzen Baum zu magnetisiren?

Sofort schritt er zur Ausführung. Auf dem Gemeindeanger in Busancy stand eine große Ulme, unter welcher die Bauermädchen bei festlichen Gelegenheiten zu tanzen und die alten Leute an schönen Sommerabenden zu sitzen und einen Schoppen von ihrem selbstgebauten Weine zu trinken pflegten. Zu diesem Baume begab sich der Marquis und magnetisirte ihn, indem er ihn erst mit seinen Händen berührte und dann einige Schritte davon zurücktrat, während er Ströme des magnetischen Fluidums von den Aesten nach dem Stamme und von dem Stamme nach der Wurzel dirigirte. Nachdem dies geschehen, ließ er Bänke rings um den Baum errichten und herabhängende Schnuren an den Aesten befestigen. Wenn die Patienten Platz genommen hatten, schlangen sie die Schnuren um die kranken Theile ihres Körpers und hielten einander bei den Daumen fest, um einen ununterbrochenen Mittheilungscanal für das Fluidum zu bilden. Nun hatte der Marquis zwei Steckenpferde – den Mann mit der erweiterten Seele und den magnetischen Baum. Die Verblendung seiner selbst und seiner Patienten läßt sich nicht besser ausdrücken als mit seinen eigenen Worten. In einem Briefe an seinen Bruder vom 17. Mai 1784 sagt er:

„Wenn Du nicht bald kommst, lieber Freund, so bekommst Du meinen außerordentlichen Mann gar nicht zu sehen, denn seine Gesundheit ist jetzt beinahe ganz wiederhergestellt. Ich mache noch fortwährend Gebrauch von der glücklichen Kraft, welche ich Herrn Mesmer verdanke. Jeden Tag segne ich seinen Namen, denn ich stifte vielen Nutzen und bringe viele heilsame Wirkungen auf die armen kranken Leute in unserer Gegend hervor. Sie drängen sich um meinen Baum, und heute Morgen saßen ihrer mehr als einhundertunddreißig darunter. Er ist der beste baquet, den man sich denken kann, und unter allen seinen Blättern befindet sich kein einziges, welches nicht Gesundheit spendete. Alle Kranke fühlen mehr oder weniger die guten Wirkungen davon. Du wirst Dich freuen, das reizende Bild der Humanität zu sehen, welches dieser Baum darbietet. Ich bedauere dabei nur eins, nämlich, daß ich nicht Alle, welche zu mir kommen, berühren kann. Mein Magnetisirter – mein Verstand – beruhigt mich aber. Er lehrt mich, welches Verfahren ich einschlagen soll. Nach seiner Erklärung ist es durchaus nicht nothwendig, daß ich jeden Einzelnen berühre – ein Blick, eine Gebehrde, ja ein Wunsch ist genügend, und der Mann, der mich dies lehrt, ist einer der unwissendsten Bauern meines Dorfes. Wenn er sich in einer Krisis befindet, so kenne ich nichts Gelehrteres, Weiseres und Hellsehenderes, als er ist.“

Während der Marquis von Puysegur auf diese Weise mit seiner Ulme experimentirte, trat in der Person des Chevalier von Barbarin ein Magnetiseur anderer Art in Lyon auf. Dieser glaubte, es bedürfe des Apparats von Stäben oder baquets gar nicht, weil schon die Aufbietung der Willenskraft hinreichend sei, Patienten in magnetischen Schlaf zu versenken. Er versuchte es, und es gelang. Er setzte sich an das Bett seiner Patienten, betete, daß sie magnetisirt werden möchten, und es dauerte nicht lange, so versanken sie in einen ähnlichen Zustand, wie die Patienten des Marquis.

Im Laufe der Zeit tauchten eine beträchtliche Anzahl Magnetiseure, welche Barbarin als ihr Vorbild anerkannten und nach ihm Barbarinisten genannt wurden, in verschiedenen Gegenden auf und man glaubte, daß sie mehrere sehr merkwürdige Curen bewirkt hätten. In Schweden und Deutschland vermehrte sich diese Secte von Fanatikern sehr rasch, und man nannte sie Spiritualisten, um sie von den Anhängern des Marquis von Puysegur zu unterscheiden, welche Experimentalisten genannt wurden. Sie behaupteten, daß alle Wirkungen des animalischen Magnetismus, von welchem Mesmer glaubte, daß sie von einem die ganze Natur durchdringenden magnetischen Fluidum herrührten, schon durch die Willensäußerung einer menschlichen Seele auf die andere hervorgebracht würden und daß, wenn einmal ein Magnetiseur und sein Patient in „Rapport“ mit einander ständen, der Erstere dem Letzteren seinen Einfluß aus jeder Entfernung, selbst wenn sie Hunderte von Meilen betrüge, durch den bloßen Willen mittheilen könne. Einer dieser Leute beschrieb den gesegneten Zustand eines magnetischen Patienten auf folgende Weise:

„In einem solchen Menschen erreicht der animalische Instinct die höchste Stufe, welche in dieser Welt zulässig ist. Der Hellseher ist dann ein reines Thier ohne Beimischung von Materie. Seine Beobachtungen sind die eines Geistes. Er ist Gott ähnlich, und sein Auge durchdringt alle Geheimnisse der Natur. Wenn seine Aufmerksamkeit auf irgend einen der Gegenstände dieser Welt – [771] auf seine Krankheit, seinen Tod, seine Freunde, seine Verwandten, seine Feinde – gerichtet ist, so sieht er sie im Geiste thätig. Er durchschauet die Ursachen und Folgen ihrer Handlungen. Er wird ein Arzt, ein Prophet, ein Gott.“

Der Ausbruch der Revolution von 1789 war – wenigstens in Frankreich – für die weitere Ausbildung der Theorie vom animalischen Magnetismus ein großes Hemmniß. Die öffentliche Aufmerksamkeit ward durch weit ernstere und verhängnißvollere Ereignisse in Anspruch genommen, und Mesmer’s Anhänger verlegten den Schauplatz ihrer Thätigkeit hauptsächlich nach Deutschland. Hier wurden die Wunder des magnetischen Schlafes mit jedem Tage erstaunlicher und gewaltiger. Die Patienten erlangten die Gabe des Prophezeihens; ihr Seherblick erstreckte sich über das ganze Erdreich; sie sahen und hörten mit ihren Fußzehen und Fingerspitzen und lasen unbekannte Sprachen, wenn ihnen das Buch blos auf die Brust gelegt ward. Unwissende Bauern hielten, wenn sie einmal durch das große Mesmerische Fluidum in den Zustand der Verzückung versetzt worden, göttlichere Vorträge über Philosophie, als Plato deren jemals geschrieben, sprachen über die Geheimnisse des menschlichen Geistes mit mehr Beredsamkeit und Wahrheit, als die gelehrtesten Metaphysiker, welche die Welt jemals gesehen, und lösten schwierige theologische Fragen so leicht und schnell, wie ein Wachender seine Schuhriemen.

Während der ersten zwölf Jahre des gegenwärtigen Jahrhunderts war in keinem Lande Europa’s viel vom thierischen Magnetismus zu hören, und selbst in Deutschland gab der Donner von Napoleon’s Kanonen den Gedanken eine materiellere Richtung. Während dieser Zeit hing eine dunkle Wolke über der neuentdeckten Wissenschaft und ward nicht eher verscheucht, als bis der Franzose Deleuze im Jahre 1813 seine „Kritische Geschichte des thierischen Magnetismus“ veröffentlichte. Dieses Werk gab dem schon halb vergessenen Gegenstande einen neuen Anstoß. Zeitungen, Flugschriften und Bücher führten wieder Krieg mit einander, und viele ausgezeichnete Mediciner begannen wieder ihre Forschungen in der ernsten Absicht, die Wahrheit zu entdecken. Die Behauptungen, welche in Deleuze’s berühmtem Werke aufgestellt werden, lassen sich ungefähr in Folgendes zusammenfassen:

„Es gibt,“ sagt er, „ein Fluidum, welches fortwährend dem menschlichen Körper entströmt und um uns herum eine Atmosphäre bildet, welche, da sie keine bestimmte Strömung hat, auf die in der Nähe befindlichen Individuen keine fühlbaren Wirkungen äußert. Dennoch aber kann sie durch den Willen eine bestimmte Richtung erhalten und entströmt dann mit einer Kraft, welche der Energie unseres Willens entspricht. Ihre Bewegung gleicht der Bewegung der Strahlen brennender Körper, und sie besitzt in verschiedenen Personen auch verschiedene Eigenschaften. Dabei ist sie auch eines hohen Grades von Concentration fähig und existirt in Bäumen ebenfalls. Der Wille des Magnetiseurs kann, durch eine mehrmals in derselben Richtung wiederholte Handbewegung geleitet, einen Baum mit diesem Fluidum füllen. Die meisten Personen fühlen, wenn dieses Fluidum aus dem Körper und durch den Willen des Magnetiseurs in sie überströmt, eine Empfindung von Wärme oder Kälte, wenn er seine Hand an ihnen vorüberbewegt, auch ohne sie zu berühren. Manche Personen verfallen, wenn sie von diesem Fluidum hinreichend durchdrungen sind, in einen Zustand von Somnambulismus oder magnetischer Ekstase, und wenn sie sich in diesem Zustande befinden, so sehen sie das Fluidum den Magnetiseur umgeben wie ein Glorienschein und in leuchtenden Strömen aus seinem Mund und seiner Nase, seinem Kopf und seinen Händen hervorkommen. Es besitzt einen sehr angenehmen Geruch und theilt den Speisen und dem Wasser einen eigenthümlichen Geschmack mit.“

„Wenn,“ sagt er weiter, „der Magnetismus den Somnambulismus erzeugt, so erlangt die Person, die sich in diesem Zustande befindet, eine unglaubliche Erweiterung aller ihrer Fähigkeiten. Mehrere der äußeren Organe, besonders die des Gesichts und des Gehörs, werden unthätig, die Empfindungen aber, welche davon abhängen, finden innerlich statt. Sehen und Hören geschieht nun durch das magnetische Fluidum, welches die Eindrucke direct und ohne Dazwischenkunft von Nerven oder Organen dem Gehirn übermittelt. Auf diese Weise sieht und hört der Somnambule nicht blos, obschon seine Augen und Ohren geschlossen sind, sondern er hört und sieht auch viel besser, als wenn er sich in wachem Zustande befindet. In allen Dingen fühlt er den Willen des Magnetiseurs, wenn auch dieser Wille nicht ausgedrückt wird. Er sieht in das Innere seines eigenen Körpers und in die geheimste Organisation der Körper aller Derer, welche mit ihm in Rapport oder magnetischen Verkehr gesetzt werden. Am häufigsten sieht er blos die Theile, welche krank oder in Unordnung sind, und verordnet intuitiv ein Heilmittel für sie. Er hat prophetische Visionen und Empfindungen, die meistentheils wahr, zuweilen aber auch irrig sind. Er drückt sich mit erstaunlicher Beredsamkeit und Leichtigkeit aus. Er ist nicht frei von Eitelkeit. Er wird von selbst auf eine gewisse Zeit ein vollkommneres Wesen, wenn er durch den Magnetiseur gut geleitet wird, geräth aber auf Abwege, wenn die Leitung eine falsche ist.“

Nach Deleuze kann Jeder ein Magnetiseur werden und diese Wirkungen hervorbringen, wenn er die nachfolgenden Bedingungen erfüllt und den hier angegebenen Regeln gemäß verfährt. Er sagt:

„Vergiß auf eine Zeit lang all dein Kenntniß der Physik und Metaphysik.

„Schlage Dir alle Dir vielleicht beigehenden Zweifel und Einwendungen aus dem Sinn.

„Glaube, daß es in Deiner Macht steht, die Krankheit in die Hand zu nehmen und zu beseitigen.

„Stelle sechs Wochen lang, nachdem Du das Studium begonnen, keine Schlußfolgerungen an. (!)

„Hege den thätigen Wunsch, Gutes zu thun, den festen Glauben an die Macht des Magnetismus und unbedingtes Vertrauen bei Anwendung desselben. Entschlage Dich mit einem Worte aller Zweifel, wünsche Erfolg und verfahre mit Einfalt und Aufmerksamkeit.“

Das heißt mit andern Worten: „Sei sehr leichtgläubig; sei sehr beharrlich, verwirf alle frühere Erfahrung und höre nicht auf die Vernunft – dann bist du ein Magnetiseur, wie er verlangt wird.“ Nachdem man sich in diesen erbaulichen Zustand versetzt hat, kann man zum Werke selbst schreiten, wozu unser Autor dann fernerweite Anleitung in folgenden Worten gibt:

„Entferne von dem Patienten alle Personen, welche Dir lästig werden könnten, und behalte blos die nothwendigen Zeugen, wenn es sein kann, nur eine einzige Person bei Dir. Fordere sie auf, sich in keiner Weise mit den Proceduren, die Du anwendest, und den daraus hervorgehenden Wirkungen zu beschäftigen, sondern mit Dir zu wünschen, daß der Patient geheilt werden möge. Siehe zu, daß Du weder zu heiß noch zu kalt bist; sorge dafür, daß die Freiheit Deiner Bewegungen durch nichts gehemmt werde, und triff die nöthigen Vorsichtsmaßregeln, um jeder Unterbrechung oder Störung während der Sitzung vorzubeugen.

„Dann laß Deinen Patienten sich so bequem als möglich niedersetzen und setze Dich ihm gegenüber, aber etwas höher und so, daß seine Kniee sich zwischen den Deinigen und Deine Füße neben den seinen befinden. Vor allen Dingen fordere ihn auf, sich völlig hinzugeben, an nichts zu denken, die vielleicht erzielten Wirkungen nicht erforschen zu wollen, alle Furcht zu verbannen und sich weder stören noch entmuthigen zu lassen, wenn die Wirkung des Magnetismus ihm augenblickliche Schmerzen verursachen sollte.

„Nachdem Du Dich gehörig gesammelt, nimm seine Daumen zwischen Deine Finger und zwar so, daß der innere Theil Deiner Daumen in Berührung mit dem innern Theil der seinen kommt, und dann hefte Deine Augen fest auf ihn. In dieser Situation mußt Du zwei bis fünf Minuten oder so lange bleiben, bis Du zwischen Deinen Daumen und den seinigen eine gleichmäßige Wärme fühlst. Nachdem dies geschehen, ziehst Du Deine Hände zurück, indem Du sie links und rechts bewegst. Gleichzeitig wendest Du sie so, daß ihre innere Fläche nach außen gekehrt wird, und dann hebst Du sie bis zur Höhe des Kopfes des Patienten. Dann legst Du sie ihm auf beide Schultern und läßt sie ungefähr eine Minute lang liegen. Hierauf ziehst Du sie sanft die Arme entlang, und diese nur ganz leise berührend, bis an die Fingerspitzen. Dieses Streichen wirst Du fünf oder sechs Mal wiederholen, dabei aber stets die Hände umdrehen und ein wenig von dem Körper entfernen, ehe Du sie wieder emporhebst. Dann hältst Du sie über den Kopf und fährst hierauf in einer Entfernung von einem oder zwei Zollen von dem Gesicht herab bis auf die Herzgrube. Hier machst Du zwei Minuten lang Halt, indem Du Deinen Daumen auf die Herzgrube und die übrigen Finger unter die Rippen setzest. Dann fährst Du langsam an dem Körper bis zu den Knieen, oder vielmehr, wenn Du es, ohne ausstehen zu müssen, thun kannst, bis zu den Fußzehen herab.

„Diese Proceduren wirst Du während der noch übrigen Sitzung mehrmals wiederholen und gelegentlich Deinem Patienten [772] näher rücken, so daß Du Deine Hände hinter seine Schultern bringen und damit langsam an dem Rückgrat und den Schenkeln bis zu den Knieen oder Füßen herabfahren kannst.“

Dies ist das von Deleuze vorgeschriebene Verfahren beim Magnetisiren. Daß schwächliche, überspannte, nervenkranke Frauen dadurch in Convulsionen versetzt werden konnten, wird selbst der hartnäckigste Gegner des thierischen Magnetismus gern zugeben. Eben so klar ist, daß Personen von stärkerem Gemüth und gesünderem Körper durch diese Proceduren in Schlaf versenkt werden konnten. Es bedarf aber weder des Magnetismus noch einer überirdischen Kundgebung, um uns zu überzeugen, daß Schweigen, eintönige Ruhe und langes Verharren in halbliegender Stellung sehr bald Schlaf erzeugen, oder daß Aufregung, Nachahmungstrieb und lebhafte Einbildungskraft einen schwachen Körper in Convulsionen versetzen können.

Ein anderer nicht lange nach dem Erscheinen von Deleuze’s Buch auftretender berühmter Magnetiseur, der Abbé Faria, bewies durch seine Experimente, daß es zum Gelingen derselben keineswegs eines Fluidums, sondern nur einer hinreichenden Einbildungskraft bedurfte. Er setzte seine Patienten in einen Lehnstuhl, hieß sie die Augen schließen und sprach dann in lautem befehlenden Tone das einzige Wort: „Schlaf!“ Er machte von keinerlei Manipulationen Gebrauch, hatte kein baquet oder sonstigen Apparat, und nichtsdestoweniger gelang es ihm, Hunderte von Patienten in Schlaf zu versenken. Er rühmte sich, auf diesem Wege fünftausend Somnambule gemacht zu haben. Oft mußte er das Commando drei oder vier Mal wiederholen, und wenn der Patient dann immer noch nicht einschlafen wollte, so umging der Abbé die Schwierigkeit dadurch, daß er ihn fortschickte und erklärte, er sei für magnetische Einwirkung nicht empfänglich.

Ueberhaupt darf nicht unbemerkt bleiben, daß die Magnetiseure keinen Anspruch auf allgemeine Wirksamkeit ihres Fluidums machen. Starke und gesunde Personen, sagen sie, Ungläubige und Denker können nicht magnetisirt werden, wohl aber die Schwachen an Körper und Geist und die, welche festen Glauben haben. Und damit nicht aus dem einen oder andern Grunde Personen der letztern Classe dem magnetischen Zauber widerstehen, erklären die Apostel der Wissenschaft, daß es Zeiten gibt, wo sie selbst auf diese nicht einwirken können, denn die Anwesenheit eines einzigen Spötters oder Ungläubigen kann die Macht des Fluidums schwächen oder die Wirkung desselben ganz zerstören. Deleuze sagt in seinen Instructionen ausdrücklich: „Man magnetisire niemals in Gegenwart von Neugierigen!“

Wir können unsere kleine Abhandlung nicht besser schließen, als mit den Worten: „Der Magnetismus,“ sagt ein geistreicher Mann, „ist für die Philosophie, die ihn verwirft, nicht ganz nutzlos gewesen, denn er ist ein neues Beispiel von den Verirrungen des menschlichen Geistes und ein erstaunlicher Beweis von der Stärke der Einbildungskraft, sodaß er über jene immer noch ungelöste Frage – den Einfluß des Geistes auf die Materie – wenigstens ein schwaches und unvollkommenes Licht verbreitet hat.“




Blätter und Blüthen.

Ein Räthsel für die Feiertage. Ich ward, als Gott sprach: Es werde Licht! Kind des Augenblicks leb’ ich doch ewig. Nichts wiederholt sich öfter und beständiger, wie ich, und doch bin ich der Ausdruck für jede Unbeständigkeit. Ich stehe zwischen Winter und Frühling, Sommer und Herbst, Tag und Nacht, Frost und Hitze, Schlaf und Wachen, Essen und Trinken, Gehen und Sitzen, Leben und Tod.

Auf mir beruht das Dasein der ganzen lebendigen Welt. Sobald ich aufhöre, stirbt der Organismus, aber nur um mich auf’s Neue zu gebären, denn ich bin unsterblich. Wenn die Erdkugel auch in Atome zerstieben würde, doch bliebe ich thätig im letzten dieser Atome. Alle Krankheiten der Menschen, der Thiere, der Pflanzen sind nur Folgen des Bruchs meiner Gesetze.

Mein Werth, meine Geltung sind unbeschränkt, so weit civilisirte Menschen wohnen. Ich kann ebensogut Millionen repräsentiren, wie Pfennige, obgleich ich an und für sich kaum einen Pfennig werth bin. Aber wer mich hat, der besitzt mich nur in der Hoffnung, mich möglichst rasch und sicher wieder los zu werden.

Willst Du eine complicirte Bewegung ändern bei jenen Wundern der Neuzeit, die, gleich dem Ungeheuer der Tiefe, tausend Gelenke zugleich regen, so schiebe mich ein, und was rechts war, wird links, was vorwärts ging, schreitet rückwärts. So klein ich bin, so hängt doch von der Genauigkeit meiner Ausführung, meines Eingreifens oft die Wirksamkeit des gröbsten Mechanismus ab, wie des feinsten.

In meinen Pfaden geht, was scheu stiebt vor den tödtlichen Gewalten, mit welchen der Mensch seine Intelligenz verbündet. Aber umsonst – denn er sucht und findet mich, und dann biet’ ich ihm gerade die sicherste Gelegenheit, seiner Zerstörungslust zu fröhnen. Auf mir ist schon gar vieles unschuldige Blut geflossen und wird noch ferner fließen, ohne Sühne, ohne Strafe.

Ich bin „das Ding, das Wenige schätzen,“ in einer gar schönen Gegend des Vaterlands von Männiglich so geheißen, ein Ueberbleibsel aus den Zeiten der alten Römer, die dort Castra und Coloniä gründeten. Zwar taug’ ich nicht viel, aber mit zäher Liebe hängt der Landmann an mir fest und wo ich wandle, sproßt, hinter mir freudige Saat gemischter Halme.

Und wie froh begrüßt meine ersehnte Ankunft der Jünger der Wissenschaft, dem ich stets zu lange aus- und zu kurz bei ihm bleibe. Leider bin ich heutzutage vielfach der Maßstab geworden, nach welchem man ihn taxirt.

Tief im Schooß der Erde, den gierig der Mensch nach Schätzen durchwühlt, bin auch ich zu finden. Dem armen Kinde, das kriechend eine schwere Last durch finstre Gänge zieht, gewähr’ ich einen Augenblick des Athemholens, dann aber dräng ich es weiter, hinweg!

Aber auch auf der Landstraße triffst du mich, wenn du dahin fliegst, vor Dir „vier Rappenschweife,“ als ein Freiligrathscher Pascha, und lustig begrüßt mich des Hörnleins Trarah und das Wiehern der ermüdeten Rosse.

Unzählbar ist die Menge der Gegenstände, mit welchen ich mich verbinde, sei es im Gesicht, sei es im Rücken. Bald nehm’ ich vor mich das Kind der Blüthe, dann werd’ ich zum Gesetz für den Mann der Scholle, bald schlepp’ ich nach das Kleid flüchtiger Thiere und werde zur Koboldgabe, zum Fluch des friedlichen Hauses. Die Zeichen himmlischer Kunst auf der Stirne, durchstieg ich die Länder, auf welchen Gewitterschwüle liegt, und drohend schwingt dann hinter mir der Gott des Kriegs seine Fackel. Wie quäl’ ich den Armen, auf den ich mich senke in erhöheter Potenz meines Gefolges; ich spiele mit ihm, wie die Katze mit der Maus! Trag’ ich vor mir her den Hebel der Welt, so werd’ ich zum einträglichen Geschäft, aber seht Euch vor, daß nicht ein Fall nachher Euch Ungelegenheiten bereitet. Sehnsüchtig harren Liebende, daß ein Reif sich mir verbinde, und in dämmerlicher Laube fügt sich zwiefach tönend zu mir holder Klang. In die Ferne und heimwärts bring’ ich Gruß und Botschaft, wenn der Stimme Stellvertreter mir voranläuft, aber wehe, wenn mich ein Reiter verfolgt! Das kostbarste Gut, das freieste Eigenthum des Menschengeistes steht vor mir, zum Tausch bereit, aber es findet sich nicht immer in der bedingten Form eines Gleichklangs hinter mir. Lastet eine Schuld auf meinem Rücken, so ist sie doppelt gefährlich; geht mir hingegen ein Leiden voran, so mag es sich auch zum Besseren wenden.

Daß ich ein Gelenk hinter mir nachschleifen kann, wird Vielen unbekannt sein, während die vielberufenen Werthmesser der Leute vor mir eine Nothwendigkeit der Mode und des Wohlseins bilden. Zieht eine Besatzung vor mir auf, so fällt ein großer Theil des schönen Geschlechts der betreffenden Oertlichkeit in Betrübniß; einen Zahn auf mich bekommen alle Kinder. Der Aberglaube schreibt mir vielen Einfluß zu, wenn ich dem stillen Abendwandler folge; tret’ ich zu rasch ein auf den Fersen des Hippotadensohnes, dann bangt dem Schiffer aus seinem gefahrvollen Pfade. Ein Platz, dem ich vorstehe, gewinnt an Bedeutung für die Ferne, aber eine Bahn vor mir bringt Aufenthalt und Unbequemlichkeiten. Und so ließe sich noch vielfach spielen mit meinen Beziehungen und Verbindungen, wenn es dessen nicht übergenug schon wäre zu meiner Errathung.

Ich bin, zum Schluß, wie der große Dichter sagt, dessen hundertjährigen Geburtstag das seit langer Zeit zum ersten Male wieder einige Deutschland vor Kurzem festlich beging, der Prüfstein des menschlichen Geistes. O möchte die Begeisterung für Glück und Einheit des Vaterlandes von nun an nie mehr durch mich getrübt werden!



Nicht zu übersehen!


Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Vom nächsten Quartal ab dürfen wir unsern Lesern, außer den trefflichen Beiträgen von Bock, Roßmäßler, Beta in London, A. Brehm, A. v. Sternberg, E. Willkomm, Hirzel, M. Ring, W. Hamm, etc., einen neuen artistischen und literarischen Genuß in dem Erscheinen künstlerisch ausgeführter Illustrationen:

Die wichtigsten Momente deutscher Größe und deutschen Strebens und Scenen aus dem Leben deutscher Dichter

versprechen, die, von den tüchtigsten Künstlern ausgeführt und von kernigen, freisinnigen Darstellungen begleitet, neben den naturwissenschaftlichen und technischen Abbildungen einen bleibenden Werth für alle Zeiten behalten werden. Zum Abdruck kommen im nächsten Quartale unter Anderm:

Novellen von Herm. Schmid – Claire v. Glümer – Lev. SchückingTemme – Magier und Geister in Berlin (Psychographen und Tischklopfer) von Ernst Kossak. – Das Nervensystem von Bock. – Der alte wandernde Spielmann von Ludw. Storch (keine Novelle). – Sophie La Roche von Jul. Rodenberg. – Menschenkäuze von Ludw. Walesrode. – Die Auffindung der Franklinschen Reste. – Im Gefängniß der Königin in London (Schuldthurm). – Italienische Fragmente von Moritz Hartmann. – Ein Jagdtag im Hinterriß von Gerstäcker. – Der Aufruhr in Hessen von Heinr. König. – Russische Genrebilder (Originalmittheilungen). – Karl v. Holtei. – Bilder aus Thüringen von Sigismund. – Am Waldsee von Guido Hammer. – Die Alpenwirthschaft. Mit Zeichnungen von Rittmeyer. – Eine Reihe national historischer Artikel mit guten Abbildungen.

Die Verlagshandlung.

  1. Es sind hierbei allerdings große von Peru und Brasilien in Anspruch genommene Gebiete mit berechnet worden.
  2. Neu-Granada und Venezuela. Diese drei Republiken gingen unter vielen Bürgerkriegen und giftigen Parteikämpfen 1831 aus dem Staate Columbia hervor; aber unter der überall demoralisirten spanischen Herrschaft ist bis jetzt aus keiner etwas Erträgliches geworden.