Die Gartenlaube (1860)/Heft 5
[65]
No. 5. | 1860. |
Hastig wie ein verscheuchter Vogel strich Paul querfeldein durch Thau und Gras. Es war die erste Stunde des erwachten Morgens; sein Bote, ein frischer Luftzug, rauschte durch die Haselbüsche am Wege und schüttelte brausend die Tannenwipfel des Waldes, in dem das Blut des Ermordeten noch warm zum Himmel rauchte. Der Morgen wurde immer glorienhafter, aber Paul sah nichts von aller Schönheit der wieder auflebenden Natur; seine Seele war außer dem mechanisch forteilenden Körper von Entsetzen geschüttelt, erschreckt von dem rauhen Schrei eines aufflatternden Raben, gescheucht von dem Rauschen der Zweige, das ihm klang wie das letzte Röcheln aus der Brust seines Opfers.
Auch jetzt erwartete ihn die Huberbäuerin. Sie hatte sich nach dem Schusse ganz befriedigt noch zur Ruhe gelegt, allein nur der kräftige Körper sank in Schlaf, die Seele blieb stürmisch bewegt und warf wilde blutige Bilder wirr und entsetzlich durcheinander. Stöhnend und schreckhaft sprang sie empor, denn es war ihr vorgekommen, als stehe Hans vor ihr, blutend, verwundet, aber nicht todt und hätte drohend die Hand gegen sie erhoben. Fieberisch strich sie die losgegangenen Flechten des reichen schwarzen Haares von der Stirn zurück und fühlte sich zum ersten Male in ihrem Leben von den Zwangschrauben der Angst gefaßt. – Wenn Paul ihn gefehlt oder nur verwundet hatte, dann war sie verloren, dann hatte sie von seiner Rache Alles zu fürchten!
Schon begann es im Haus sich zu regen, da sah sie Paul über das Feld herankommen. Rasch eilte sie ihm entgegen, nur nothdürftig gekleidet, damit er Niemand vor ihr begegne, damit Niemand irgend einen Argwohn schöpfe. Mehr todt als lebend wankte der Bursche heran – nicht mehr das Bild voller blühender Jugend, wie noch gestern, nein, eine von wenigen Stunden verwüstete und gezeichnete Jammergestalt.
„Nun,“ rief sie ihm mit rohem Scherz entgegen, der auch darauf berechnet war, ein allenfalls verborgenes Lauscher-Ohr zu täuschen, „nun, ist’s jetzt die Zeit, heimzugehn? Dir sieht man ja die Freinacht auf zehn Schritt’ an … ist der Tanz endlich einmal aus?“
„Es ist Alles aus,“ sagte der Burschen und die Bäuerin athmete hoch auf, als wenn ihr eine Centnerlast von der Brust genommen wäre. „Du bist ja ganz verwirrt,“ sagte sie dann leiser, indem sie mit ihm in’s Haus trat. „Nimm Dich zusammen, es ist jetzt einmal nicht anders, also laß Dir nichts anmerken! Bis morgen ist’s überstanden, und Du denkst nimmer dran. Aber jetzt leg’ Dich nieder und schlaf. Du kannst den ganzen Tag liegen bleiben, daß Du Dich ganz erholst. Später kommst Du dann zu mir, wie gestern, und erzählst mir erst genau, wie Alles gegangen ist … oder reut’s Dich etwa schon, was Du mir versprochen hast? Hast schon vergessen, was ich gethan hab’ für Dich …“
„Ich will mich niederlegen,“ erwiderte Paul, „vielleicht vergeht mir dann der Zustand! Mir ist, als wenn mir das Blut den Kopf zersprengen wollt’! Ich komm’ dann …“
„Halt,“ rief ihm die Bäuerin nach, als er gehen wollte, „noch Eins! Du hast ihn doch …?“ fragte sie mit einer ausdrucksvollen Handbewegung, die das Einscharren des Leichnams bedeutete.
„Nicht?“ schrie sie entsetzt, als Paul stumm verneinte. „Du hast den Todten liegen lassen? So wird er gefunden, und wir sind miteinander verloren!“
„Ich hab’ ihn in’s Gebüsch hineingezogen, wo das Steingeröll ist,“ erwiderte düster der Mörder, „da findet ihn so leicht Niemand!“
„Die Jäger mit ihren Spürhunden kommen überall hin, die finden ihn, eh’ der Tag vergeht! Nein, das ist nichts, Du mußt nochmals hinaus und mußt ihn verscharren, so tief es geht!“
„Das kann ich nicht!“ rief Paul mit einer abwehrenden Gebehrde des Entsetzens und bebend vor tiefem innerlichen Schauder … „ich geh’ nicht wieder hin!“
„Und warum nicht?“
„Ich kann nicht,“ wiederholte Jener, „er ist auf den Schuß zusammengestürzt wie ein Stück Holz und hat keinen Laut mehr von sich gegeben – nur ein paarmal gestreckt hat er sich und mit der Hand in die Luft gegriffen. Wie er sich dann nicht mehr rührte, bin ich hinzugeschlichen und hab’ ihn hereingezogen vom Gangsteig weg in’s Gebüsch und hab’ das Blut am Platz zugedeckt mit Erde und Blättern. Dann hab’ ich ein tiefes Loch gegraben … aber ich hab’ ihn nicht hineinlegen können, denn wie ich wieder hinzuging, da war’s schon so dämmrig hell geworden, daß man wohl was unterscheiden konnte … Da ist er dagelegen mit weit offenen Augen … und die haben so fest hingeschaut auf mich … es kam mir vor, als wenn er anfangen wollt’ zu reden und sich wieder zu rühren … Da – da hab’ ich Alles hingeworfen und bin davongelaufen … und dahin, nein, um Alles in der Welt geh’ ich nicht wieder!“
Die Bäuerin sah ihn kopfschüttelnd an, und ein höhnisches Lächeln zuckte um ihren Mund. „Ihr seid mir saubere Leut’, Ihr Mannsbilder,“ sagte sie, „auf Euch kann man sich verlassen! Aber geh’ nur, ich seh’ wohl, daß Du nit kannst … leg’ Dich nieder und schau’, ob Du bis auf die Nacht Deine fünf Sinn’ [66] wieder z’samm’ klauben kannst. Ich muß halt auf was Andres denken, denn so liegen bleiben darf er um keinen Preis …“
Paul entfloh der Scheune zu und vergrub sich in den hintersten Winkel des Heulagers, wohl vor den Leuten, aber seine qualvollen Sorgen wühlten sich mit ihm hinein.
Die Bäuerin trat nach kurzem Besinnen in’s Schlafzimmer, wo ihr Mann noch tief schlafend im Bette lag. Eine Weile betrachtete sie ihn mit demselben Ausdrucke des Hohns, wie er so ungeschlacht und plump dalag, eine geistlose Masse Fleisch. „Auch ein schönes Muster von einem Mannsbild,“ murmelte sie, „aber sie sind im Grund Alle gleich, und ich weiß nit, ob mir nicht zuletzt der Simpel noch der Liebere ist – der folgt mir doch wie ein Hund!“ Sie faßte den Arm des Schlafenden und rüttelte ihn so kräftig, daß er erschrocken auffuhr und sie mit verschlafenen Augen verblüfft anglotzte. „Steh’ auf, Huber,“ sagte sie, „und hör’ mir zu – es ist was ganz Besonderes passirt.“
Der Blöde richtete sich halb empor und sah sie erwartend an.
„Antworte mir erst,“ begann die Bäuerin wieder, „weißt Du noch, wie ich in Dein Haus gekommen bin?“
„Wie sollt’ ich das nicht mehr wissen?“ grinste er, „für so dumm mußt Du mich doch nicht halten! Ich weiß es noch gar wohl, wie Du auf den Hof gekommen bist, als eine arme Magd und Dein Päckl unterm Arm.“
„Und wie Du mir nachgegangen bist auf Schritt und Tritt, und nicht geruht hast, bis ich Ja g’sagt hab’? Und was Du mir damals versprochen hast, daß ich’s gethan, weißt Du das auch noch?“
Der Bauer schwieg, denn er wußte nicht, wo die Bäuerin hinaus wollte mit ihrer Frage.
„Tu hast mir versprochen,“ fuhr sie fort, „daß ich Herr sein soll im Haus, daß Du mir nix Einreden willst, daß Du blindes Vertrauen zu mir haben und mich nicht mit Eifersucht plagen willst, und wenn Du auch meinst, Du hätt’st Ursache dazu! Und wie hast Du Dein Wort gehalten? – Meinst Du, ich hab’s nit gemerkt, wie Du mich überall scheel angeschaut hast wegen dem Oberknecht, dem Hans, daß die andern Dienstboten die Köpf’ zusammenstecken und einander mit dem Ellbogen anstoßen? Ich hab’ Dich wohl geseh’n, wie Du mir gestern früh nachgeschlichen bist in die obere Stub’n und hast spionirt wie ein Spitzbub’!“
Der Bauer war verlegen, sich ertappt zu wissen, und sah dumm lächelnd vor sich hin.
„Ich bin die Person nicht,“ fuhr die Bäuerin fort, „die so mit sich umgehen laßt. Ich kann mir aber schon einbilden, wer Dir das in den Kopf gesetzt hat – es wird’s wohl der Hans selber gewesen sein! Wer weiß, wo er gered’t und geprahlt hat, weil ich ihn vielleicht einmal freundlich ang’schaut hab’ …. Drum hab’ ich g’sorgt, daß er Dir und mir nimmer im Weg umgeht!“
„Hast ihn fortgeschickt?“ fragte tückisch der Bauer.
„Dummheiten! Warum nit gar! Daß er mich ausschreit und in’s Gered’ bringt bei den Leuten? Nein, ich hab’ ihm ’s Maul g’stopft, daß er’s gewiß nit wieder aufmacht.“
„Versteh’st mich nit?“ fuhr sie fort, da der Bauer sie fragend anstierte. „Ich hab’ ihn durchthun lassen – draußen im alten Steinbruch im Schwarzbühelholz liegt er erschossen!“
Der Blöde hörte zu, wie Jemand, der wohl etwas vernimmt, aber es nicht begreift; aber allmählich schien ihm das Verständniß aufzudämmern, seine starren Augen funkelten und eine wilde unheimliche Freude zog über sein Gesicht, das dadurch dem eines Thieres noch ähnlicher wurde. „Ist das wahr?“ rief er lachend, „der Hans ist hin?“
„Hin,“ entgegnete kaltblütig die Bäuerin, „das hab’ ich Dir zu lieb gethan, damit Du siehst, daß ich ein braves Weib bin und daß Du mir nit wieder so Unrecht thust! Aber jetzt ist’s an Dir – jetzt zeig’, daß Du ein solches Weib verdienst. Geh’ hinaus in den Steinbruch – wenn Du nicht willst, daß Dein treues Weib Deinetwegen in Ketten und Banden kommt, so scharr’ ihn ein, daß ihn Niemand find’t, und dann komm’ wieder und sag’ mir’s!“
Der Bauer bedurfte keiner weitern Ueberredung oder Aufforderung – mit wildem Sprunge war er aus dem Bett, warf sich unordentlich und hastig in die Kleider und eilte fort mit der Hast eines beutegierigen Raubthieres, das Fraß wittert. „Sei vorsichtig,“ mahnte die Bäuerin, „geh’ beiseit’, daß Dir Niemand begegnet, und wenn Dir doch wer in den Weg kommt, so sag’, Du gehst in unsern Schlag hinaus und willst einen Wassergraben auswerfen.“
Er hörte kaum die Mahnung, die übrigens auch unnöthig war, denn instinctmaßig wählte er einen Umweg durch’s Moor, wo ihm nicht leicht jemand entgegen kam und von wo er nur einen Büchsenschuß weit in den Wald hatte. Er sprang mehr als er ging. indem er manchmal wilde unverständliche Worte vor sich hinbrummte, manchmal die über der Schulter liegende Grabschaufel wie eine Keule über’m Kopfe schwang. Bald war er im Wald und hatte gleich einem Spürhunde schnell die Blutstelle aufgefunden. Mit wildem Hohngelächter sprang er auf die Leiche zu, als er sie erblickte, und riß sie aus dem Gesträuche heraus; dann setzte er sich gegenüber auf einen Baumstumpf, stützte das Gesicht in die beiden Hände und sah eine Zeit lang mit wilder Freude in die starren Augen und die verzerrten Züge des Todten.
Dann sprang er auf und zerrte den Leichnam in die von Paul schon bereitete Grube, und schaufelte und grub wie wüthend mit aller Kraft, daß sie in wenigen Minuten eingefüllt und der arme Hans ein paar Klafter tief verscharrt war. Boshaft stampfte er dann noch auf der lockern Erde herum und holte kriechend aus dem Gebüsche allerlei Moos, abgefallenes Laub und Gestrüpp herbei, um der Stelle das Ansehen des gewöhnlichen Waldbodens wieder zu geben. Mit dem Ausdrucke wohlgefälliger Verschlagenheit überblickte er dann sein Werk und eilte nach Hause.
Als die schöne Huberin ihn kommen sah, athmete sie hoch auf, denn jetzt wußte sie sich sicher. Sie lachte laut auf in übermüthigem Trotze und veränderte keine Miene, als einer der Knechte mit der Botschaft heran kam, daß der Oberknecht Hans nirgends im ganzen Hause zu finden sei und der jüngste Knecht Paul wie betrunken im Heu liege. „Das muß wahr sein,“ rief sie im verstellten Zorn, „gut versehen bin ich mit meinen Leuten! Der Eine kommt die ganze Nacht nicht heim, und der Andere ist am hellen Tag noch nicht nüchtern – aber ich will nicht die Huberbäuerin sein, wenn ich nicht Ordnung hinein bring’ in die Bursche!“
Während das auf dem Huberhofe geschah, saß die traurige Rosel schon lange auf einem Straßenrain an der Brücke, wo die Sempt aus dem Moose hervorkommt. Längst hatte es auf den Kirchthürmen des nahen Städtchens sieben Uhr geschlagen; Viertelstunde um Viertelstunde schlich dahin, ohne daß Hans erschien, um mit ihr den verabredeten Gang zum Gerichte zu machen. Rosel wollte sich fast die rothgeweinten Augen ausschauen nach ihm, aber er war nirgends zu erblicken. Jetzt schlug es auf der Hauptkirche schon acht Uhr; der tiefe, ernste Glockenton schwebte so recht feierlich durch die stille Gegend hin und drang mahnend an des Mädchens Ohr und Herz.
„In Gottes Namen,“ sagte sie endlich aufstehend, „er kommt nicht! Ich kann’s nicht glauben, daß er sein heiliges Versprechen nicht halten sollt’, also kann er wohl nicht kommen, und sie haben ihm gar ein Leids angethan! … Wie’s aber auch ist, ich muß hinein, muß Alles sagen, was ich weiß, mag es ihm und mir dann gehn, wie’s will!“
Plötzlich blieb sie horchend stehen, und glühende Röthe stieg ihr in’s Gesicht. „Das wird er sein,“ sagte sie, „ich höre gehn“ … Er war es aber nicht; ein wildfremder Mensch schritt achtlos an ihr vorüber. „O mein liebs guts Mutterl,“ seufzte sie in das Taschentuch hinein, „steh’ Du mir bei auf dem schweren Gang“ – dann schritt sie ruhiger dahin, dem Gerichtsgebäude zu.
Der Abend des zweiten Tages war gewitterhaft zu Ende gegangen und hatte einer undurchdringlich finsteren Nacht Platz gemacht. Die ganze Gegend lag todesstill, Ruhe war in und über allen Häusern und Hütten, denn nichts von dem Vorgefallenen hatte verlautet. Nur in der Richtung gegen eine am Waldsaume befindliche, halb übergraste Sandgrube, an deren Rand ein verwittertes Wetterkreuz emporragte, war es in geheimnißvoller Weise lebendig. Dunkle bewaffnete Männer schlüpften in den Wald hinein, und zwischen den Bäumen blitzte es hier und da wie ein Gewehrlauf oder eine Bajonnetspitze. Allmählich jedoch ward es auch hier ruhig, und bald war nichts hörbar als das Rauschen der Bäume, die sich den Stößen des Gewitterwindes beugten.
Schon ging es nahe auf eilf Uhr, als hier und da eine verdächtige Gestalt vorsichtig über die Felder heranstrich und ihren Weg zu dem finster ausblickenden Wetterkreuz richtete. Stillschweigend sammelten sie sich dort, und schon war eine ansehnliche Schaar [67] beisammen, als vom Kirchthurme aus der Tiefe herauf die elfte Stunde schlug. Da kam Leben in die unheimliche Gesellschaft, und bald bewegte sie sich wie ein dunkler Knäuel gegen den Hügelabhang vorwärts.
Da blitzten plötzlich ringsum verborgen gehaltene Fackeln und Lichter empor, und von allen Seiten scholl den Räubern ein drohendes Halt entgegen. „Teufel, wir sind verrathen!“ schrie der Anführer mit der schwarzen Maske und dem bekannten rothen Bart. „Schlagt Euch durch, Buben! Haut die Schergenknechte zusammen !“ Instinctmäßig folgten die Männer und drangen auf ihre Gegner mit den Beilen, womit sie bewaffnet waren, ein, auch einzelne ziellose Flintenschüsse krachten, aber die militairisch geleiteten Angreifer hatten sich so schnell im Kreise geordnet und zusammengezogen, daß ihnen von allen Seiten eine undurchdringliche Reihe von Bajonneten entgegenstarrte. Heulend warfen einige der Männer die Waffen weg, fielen in die Kniee und schrien in verzweifelnder Entmuthigung um Gnade, andre drangen auf die Soldaten ein und suchten einen blutigen Ausweg zu erzwingen, aber die Uebermacht war zu groß, und schwer verwundet mußten sie bald von dem vergeblichen Versuche ablassen. Zu den Letztern gehörte der Anführer der Bande, der sich mit solcher Wuth auf die Feinde stürzte, als könne er es nicht ertragen, ihnen lebendig in die Hände zu fallen, und suche den Tod. Diese aber, ihres Fanges sicher, schonten ihn sichtbar und trachteten, ihn lebend und unversehrt der Gerechtigkeit zu überliefern. Endlich gelang es ihnen auch, ihn unter wuthschäumenden Flüchen und Lästerungen nieder zu ringen und zu binden.
Der Ueberfall war vollständig gelungen, acht Räuber mit dem rothen Hannickel lagen geknebelt am Boden, von den Gerichtsdienern mit gezogenen Säbeln bewacht, während die Soldaten die Gewehre zusammenlehnten und die Ankunft der Wagen zum Transport der Gefangenen abwarteten.
Der Assessor, welcher mit dem Hauptmanne das Ganze geleitet hatte, begann indeß seine richterliche Thätigkeit, indem er in einer nahe gelegenen Streuhütte den Vorfall zu Protokoll nahm und die Persönlichkeit der einzelnen Räuber feststellen ließ. Die meisten waren Bauernbursche aus den anliegenden Gerichtsbezirken, vielfach nicht zum Besten bekannt, einzelne auch von tadellosem Ruf. Zuletzt ward auch dem Anführer der rothe Bart und die Maske abgenommen, und wenn noch ein Zweifel möglich gewesen, ob darunter wirklich die schöne Huberin verborgen sein könne, so war er jetzt gelöst.
Totesbleich stand sie da, aber aufrecht und keck wie immer, und ihre funkelnden Augen machten mit dem Ausdrucke des wildesten Hasses die Runde unter den Umstehenden. Auch Rosel war darunter, denn da das Gericht nothwendig ihre Anzeige prüfen mußte, hatte man sich ihrer Person versichert und sie zu dem nächtlichen Streifzug mitgenommen.
„Also Dir hab’ ich’s zu verdanken!“ knirschte die Huberin, als sie das Mädchen erblickte, „jetzt begreif’ ich Alles – aber es geschieht mir ganz recht, warum hab’ ich mich auf den Weiberlapp von einem Burschen verlassen!“
„Das brave Mädchen,“ sagte der Beamte mit gebieterischer Würde, „hat seine traurige Schuldigkeit gewissenhaft gethan, und Ihr seht, daß ich doch Recht hatte, als ich vor ein paar Tagen Euch zurief, es sei nichts so fein gesponnen, es kommt an die Sonnen.“
Trotzig schwieg das Weib und ließ sich abführen, als die Wagen angekommen waren, sie mit ihren Genossen in’s Gefängniß zu bringen.
Als der Zug das nächste Dorf erreicht hatte, strömte ihm, obwohl noch kaum der Morgen graute, Alt und Jung daraus entgegen; als die Wagen geholt worden waren, hatte sich das Gerücht verbreitet, der rothe Hannickel und seine ganze Bande sei gefangen, die schöne Huberin sei der Räuberhauptmann gewesen, und so gerieth wie bei einem plötzlich entstandenen Brande das Dorf und bald die ganze Umgegend in Allarm. Wüthend drängte sich das Landvolk in dichten Schaaren um die Wagen, Drohungen und Verwünschungen erschallten von allen Seiten, und hätte nicht die Escorte von Soldaten sie umgeben, so wäre sicher wenigstens die schöne Huberin das Opfer der allgemeinen Erbitterung geworden. Sie aber blickte kalt und lachend auf die tobende Menge hin, und der in jeder Ortschaft sich steigernde und wiederholende Empfang schien ihrem wilden Stolze zu schmeicheln.
Allmählich und bei anbrechendem Morgen kam man dem Huberhofe näher, und es mochten wohl Empfindungen eigener Art sein, welche die Gefangene ergriffen, als das schöne Besitzthum so stattlich und friedlich herniedersah; sie schien einen Augenblick erschüttert, aber auch nur einen Augenblick, dann wandte sie sich ab – ihr scharfes Auge hatte schnell auch dort die bunten Farben von Uniformen und das Blitzen von Gewehren bemerkt.
Während der Streifzug zur Aufhebung der Bande abgegangen war, hatte gleichzeitig eine Abtheilung den Huberhof umstellt und verlangte Einlaß. Das ganze Haus wurde durchsucht, aber nichts Auffallendes gefunden, als die verborgen in den Heuboden eingebaute Kammer, welche durch den Wandkasten in die obere Stube führte. Wahrscheinlich wurde sie in der Regel als Versteck der Waffen, Masken und der Beute benutzt, doch wurde nicht das Kleinste vorgefunden, was den Verdacht bestätigen konnte, das Nest war vollständig ausgeräumt. Dagegen ergab die Durchsuchung etwas, was man nicht vermuthet hatte, denn die sinnlose Gewissensangst Pauls und der Schrecken des Bauers, als sie die Gerichts-Personen erblickten, führten zur Entdeckung des an Hans verübten Mordes. Der hier thätige Beamte säumte nicht, ihre Bekenntnisse festzuhalten und in ihrer Begleitung die Ausgrabung der Leiche vorzunehmen.
Vom Walde mit den beiden Gefangenen zurückkehrend, begegnete der Zug der großen militairischen Escorte mit der Huberin und den übrigen Räubern. Paul lag halb bewußtlos auf dem Wagen, der Bauer stierte stumm auf seine kettenbelasteten Hände – die Bäuerin richtete nicht einen Blick auf sie. Sie sah, daß Alles entdeckt war, und dachte nur darauf, wie es möglich sein konnte, der Untersuchung und Strafe zu entgehen. Ohne ein Zeichen innerer Erregung, fest und kalt sah sie auf die Volksmenge, die sich in dem Städtchen vor dem Gefängnisse, Kopf an Kopf drängte – sie schien es gar nicht zu bemerken, als ihr am Eingange desselben der große Gerichtsdiener mit grimmig aufgedrehtem Schnurrbarte entgegentrat und ihr höhnisch zurief: „Ei, ei, steht der Frau Huberin jetzt die Nase nicht mehr zu hoch, daß sie in’s Amthaus, kommt zu den Schergen und Spitzbuben?“
Tags darauf wurde Hans auf dem nächsten Dorfkirchhofe begraben, unter ungeheurem Zulauf und, zu Rosels größtem Trost, mit kirchlichen Ehren. Alle ihre Angaben bei Gericht hatten sich so vollkommen als wahr erwiesen, daß man ihr auch Glauben schenkte, daß Hans die Absicht gehabt habe, sich dem Gericht zu stellen, und daß er also als ein Bereuender hinüber gegangen war.
Rosel hatte vom ersten Augenblicke an gefürchtet, daß es Hans durch die Bäuerin unmöglich gemacht worden war, zu kommen; die Bestätigung hatte sie daher zwar tief erschüttert, aber nicht gebrochen. Es lag sogar etwas Beruhigendes in dem Gedanken, daß ihn der Tod mitten in guten Vorsätzen ereilt hatte und daß er aller irdischen Schande und Strafe entzogen sei. Sie hatte sich ausgeweint und folgte ihm thränenlos zum Grabe, und kniete noch lange betend an demselben, als alle Begleiter den Kirchhof verlassen hatten. Dann ging sie gefaßt hinweg nach dem Brandlgute, packte ihre Sachen zusammen und nahm Abschied von den alten Leuten, denen sie so lieb geworden war. Sie wollte nicht in der Gegend bleiben, wo alle Augen auf sie gerichtet waren und wo Alles ihr so bittere Erinnerungen hervorrief. Standhaft und mit einer Art Entrüstung hatte sie auch jede Belohnung ausgeschlagen, die ihr dafür geboten worden war, daß sie die Entdeckung und Gefangennehmung der Räuber veranlaßt und möglich gemacht hatte. Ohne ihren rasch ausgeführten Entschluß, den Bestellungszettel selbst an das Marterstöckl zu heften, wäre Beides, oder doch die Ueberführung viel schwieriger, wo nicht unmöglich gewesen.
„Haltet mich nicht auf und red’t mir nicht zu,“ sagte sie, indem sie sich anschickte, zu gehen, „es ist besser so. Ich geh’ hinein in’s Gebirg’, wo mich Niemand kennt, und wenn Ihr mir eine Freundschaft thun wollt, so gebt manchmal dem Grab von mein’ guten Mutterl ein Weihwasser, bet’t ein Vaterunser davor und auch vor dem andern Grab … Ihr wißt schon, was ich mein’!“
– Innerhalb der Mauern des Gefängnisses begann nun das damals noch in dieses Geheimniß gehüllte Werk der Untersuchung, draußen war die Bewegung in einigen Monaten verhallt, man erfreute sich der wiedergekehrten Ruhe und Sicherheit und erzählte sich bald das Geschehene mit allerlei Ausschmückungen, wie der Aberglaube und der romantische Sinn des Volkes sie erzeugte und liebte. Es gab Viele, die es sich nicht nehmen ließen, daß die schöne Huberin [68] Alles, was sie gethan, nicht mit natürlichen Dingen zuwege gebracht habe und daß sie nothwendig eine Hexe sein müsse.
Jahre vergingen, eh’ nach dem damaligen Verfahren die Acten geschlossen waren und eh’ der endgültige Spruch erfolgte. Das Benehmen der Bäuerin hatte die Sache auch verzögert, denn trotz der Geständnisse Pauls, des Bauers und einiger Genossen leugnete sie die gegen sie erhobenen Anschuldigungen und hatte mit vieler List ein Märchen ersonnen, an dem sie hartnäckig festhielt. Darnach bestand ihre ganze Schuld darin, daß sie Hans geliebt und aus Liebe zu ihm dessen räuberische Unternehmungen geduldet und nicht angezeigt habe. Er war der Räuberhauptmann, und nur das letzte Mal, als er zur bestimmen Zeit nicht nach Hause gekommen, hatte sie der Versuchung nicht widerstehen können, aus Neugierde seine Vermummung anzuziehen und an den ihr benannten Sammelplatz zu gehen, wo sie ganz unschuldig mit gefangen wurde. Sie beklagte unter bitteren Thränen, daß er nicht mehr am Leben sei, denn er würde gewiß die Wahrheit sagen und sie nicht in dem Unglück stecken lassen. Seine Ermordung war ohne ihr Wissen von Paul aus eigenem Antriebe aus Eifersucht geschehen.
So abenteuerlich die Erfindung klang, fand sie doch Jemand, der ihr nach und nach Glauben schenkte, das war Herr Kriegelsteiner, der schnurrbärtige Gerichtsdiener. Durch die mehrere Jahre andauernde Haft kam er mit ihr täglich und so oft in Berührung, daß der schwache Mann dem Eindrucke ihrer Schönheit in die Länge nicht widerstand. Sie wußte auch gegen ihn die leidende Unschuld mit großer Schlauheit zu spielen und den Unmuth, womit er sie empfangen hatte, zu entkräften. Bald hatte sie ihn ganz in ihr Netz gezogen und befand sich in’s Geheim durchaus nicht als Gefangene, sondern genoß alle möglichen Erleichterungen und Annehmlichkeiten.
Das Eintreffen des Endurtheils änderte die Sache. Paul wurde zum Tode, die Huberin nebst den meisten ihrer Genossen auf Lebensdauer in die Ketten verurtheilt. Die Todesstrafe konnte nach den bestehenden Gesetzen nicht gegen sie erkannt werden, weil ihr Bekenntniß fehlte. Der Bauer kam mit geringer Freiheitsstrafe davon; man hatte seine volle Zurechnungsfähigkeit bezweifelt.
Der Tag der Vollstreckung kam heran. Paul, von der Folter seines Gewissens und der langen Haft zu einem Skelett herabgesiecht, erlitt reuig und ergeben die Strafe, die sein Leben wohl nur um wenige schmerzliche Wochen verkürzte.
Tags darauf sollte die schöne Huberin in’s Zuchthaus abgeliefert, vorher aber eine Stunde auf dem Pranger öffentlich ausgestellt werden. Eine unabsehbare Volksmenge wogte und drängte auf dem Platze, wo der Schandpfahl errichtet war, und der Assessor, dem manches graue Haar gewachsen über der Riesenarbeit, die zu bewältigen war, erschien im Gefängnisse, die Verbrecherin zum letzten Acte abzuholen und damit seine Thätigkeit zu beschließen.
Aber die Ankunft derselben verzögerte sich von Minute zu Minute … dagegen erscholl aus den obern Gängen des Gefängniß-Gebäudes, wo die Keuche der Huberin war, verworrenes Geschrei und Durcheinanderlaufen. Besorgt eilte der Beamte hinauf und stand mit den verblüfften Gerichtsdienern vor der – leeren Zelle. Die Huberin war verschwunden, auf die rätselhafteste Weise, denn weder Thür und Schloß, noch Fenster und Gitter waren verletzt und geradezu unbegreiflich, wie sie zu entkommen vermocht hatte. Wer allein vielleicht Aufschluß geben konnte, schwieg weislich und wenn ihn auch mancher bedenkliche Blick traf, fehlte es doch an Anhaltspunkten, ihn geradezu zu beschuldigen.
Die Bäuerin ward nie mehr gesehen und nie eine Spur mehr von ihr angetroffen. Nur an der hintern Ecke des Huberhofes fand man eine frisch aufgebrochene, früher Niemand bekannte Nische in der Mauer. Wahrscheinlich hatte sie dort ihre Beute verborgen gehabt und auf der Flucht geholt.
Als sich das lärmende und schreiende Volk verlief, war wenigstens um die Hälfte mehr zu dem Glauben bekehrt, daß die schöne Huberin eine Hexe gewesen.
... Nach einigen Jahrzehnten hatte die stille Sehnsucht und Schwermuth ihres Gemüths auch Rosel in die Gegend zurückgeführt, wo ihr alle Freuden und Leiden des Lebens begraben lagen. Die dankbare Gemeinde gab ihr ein Stübchen zur Wohnung, wo sie, ein vergessenes altes Mütterchen, von ihrer Ersparniß und leichter Handarbeit lebte.
Ihre Hauptbeschäftigung aber war das Gebet, und jeden Tag kniete sie auf dem Dorfkirchhofe vor zwei Gräbern, die nicht einmal mehr mit Kreuzen bezeichnet waren. Ob der Sommer die unscheinbaren Hügel neu übergrast oder der Winter eine Schneedecke darüber geworfen hatte; ob die Sonne sich freundlich in dem blanken Kreuze des Kirchthurms spiegelte, oder Sturm und Regen durch die Grabkreuze fuhr – sie fehlte nicht zur gewohnten Zeit und betete eine Stunde lang.
Auch der Erzähler, auf einer Fußwanderung vom Unwetter überfallen und genöthigt unter dem vorspringenden Kirchen-Portale Schutz zu suchen, hat sie noch knieen gesehen. Als das Gewitter rasch vorübergegangen, suchte er ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, und der guten Alten, um deren Kummer und Gebet wohl schon lange Niemand mehr gefragt haben mochte, schien die Theilnahme wohlzuthun. Sie erzählte, was ihr begegnet war, einfach und schmucklos, wie es hier wieder gegeben ist. Als der Erzähler das Jahr darauf gerade zu der Stunde wieder vorüber fuhr, in der die Beterin sonst am Grabe zu knieen pflegte, war der Platz leer, und sie war wohl auch in der unscheinbaren Ecke hingelegt worden neben die, welche sie geliebt und für die sie gebetet hatte im Leben.
I. Ein Blick in und auf Kairo.
Es gibt einen Ort in Egypten, welcher heute noch alle Wunder dieses Wunderlandes in sich vereinigt und von Hundert und andern Hunderten der Abendländer aufgesucht wird, um innerhalb seiner Mauern Märchen und Traumbilder mit leiblichen Augen schauen zu können: dieser Ort ist Kairo. Keine einzige Stadt von allen, welche ich kenne, hat ihren alten Ruhm, ihre alte Dichtung, ich möchte sagen ihr märchenhaftes Sein in gleicher Weise bewahrt, als Khahira, „die Siegende“, Maheruhset, „die von Allah Beschützte“. Sie ist heute noch eine siegende Stadt und hat wohl Recht, siegesstolz zu sein; denn sie besiegt jeden, auch den trockensten Menschen, mit ihrem unendlichen Reiz, mit ihrem Leben, ihrem Sagenklang und Märchenduft. Kairo wird Jedem gerecht, bietet Jedem eine Gabe; darum läßt es auch bei Jedem eine Erinnerung in der Seele zurück, welche nach kurzer Frist den Geist fast allein zu beschäftigen weiß und mahnt und mahnt, doch noch einmal von dem Nektarbecher zu schlürfen, dessen Duft noch im Nachwirken berauscht.
„Man kann von Khahira ohne Uebertreibung sagen, daß es wenige andere Orte in der Welt mit so viel Zauber und Sinnbestrickung geben kann. Für den Abendländer hat das Leben in ihren Mauern einen niemals endenden Reiz. Nirgends in der Fremde kann er sich so wohl, nirgends sich so von allen beengenden Verhältnissen befreit fühlen, als hier.
Khahira wirkt durch ihre Umgebungen, wie durch ihre Bauart, durch Natur und Kunst zugleich, durch ihr Klima, ihre Luft, ihre gefällige, natürliche Lebensart, ihren tausendfältigen Wechsel, ihr Volk und dessen [?]Sprache, und endlich durch ihre Erinnerungen von der Sündfluth an bis zu dem laufenden Jahr, durch die magnetische Anziehung, welche von all’ den Wunderstätten, von den Pyramiden, von Heliopolis, den Chalifengräbern und der Stadt der Todten, der sie überthürmenden und beherrschenden Veste, dem Nil und seinen immergrünen Gärten, auf die Seele ausströmt.“
Kairo kann die Heimath vergessen lassen; denn es webt fort und fort seine Banden und Fesseln um Den, welcher in ihm verweilt; und darin besteht eben der Zauber, daß er es nicht einmal weiß, wie fest er in ihnen liegt. Es geht die Rede: „Unter Palmen wandelt Keiner ungestraft!“ – sie mag wohl
[69][70] auf Kairo bezogen werden; denn Keiner von Allen, welche in Kairo waren, vermag es, eine unaussprechliche Sehnsucht zu beschwichtigen, welche ihn immer und immer wieder nach jenen Palmen zieht. Mag ihm auch früher die traute, frische Heimath im rosigen Lichte erschienen sein: wenn er in ihr Kairo’s und seiner Palmen gedenkt, will ihm die Sonne der Heimath kalt, und sie selbst farblos dünken. Deshalb weiß ich es auch nicht, ob ich Jemand rathen darf, den Wanderstab zu nehmen, um nach Kairo zu ziehen: ich weiß es ja aus Erfahrung, daß er zu den goldenen Bildern der Erinnerung jene Sehnsucht gleichsam als Strafe mit sich bringt, eine kurze Zeit unter Palmen gewandelt zu haben.
Kairo ist nicht wie andere Städte, welche man mit flüchtigen Worten beschreiben kann; denn Kairo kann überhaupt nicht beschrieben werden; es muß sich selbst beschreiben Demjenigen, welcher Wochen, Monate, Jahre lang in ihm lebt und immer sich bestrebt, mehr und mehr mit ihm Eins zu werden. Dem Fremden bleibt Kairo ewig fremd, eben weil es eine Stadt der Wunder ist; erst dem Eingewohnten wird es verständlicher, – vollkommen vertraut aber nie. Denn jeder neue Tag in seinen Mauern bringt neue Wunder mit sich: der Tag von gestern ist nicht der von heute. Ich darf mich freuen, viele Monate in der Maheruhset gelebt zu haben, nicht aber rühmen, sie zu kennen. Dazu gehört ein in Kairo Geborenwerden, mit ihm Verwachsensein, und ein arabischer Geist, welcher jeden märchenhaften Eindruck zum vollen Märchen mit allem seinem Glanz und Schimmer weiterspinnt. Deshalb füllt der aus Kairo stammende Märchenerzähler die farbenprächtigen Gebilde seiner Einbildungskraft so oft mit schlichten Beschreibungen Kairos aus; er weiß es oder fühlt es unbewußt, daß seine Vaterstadt an und für sich selbst eine Wundersage auf Erden ist. Wenn nun ich versuche, Einiges über Kairo mitzutheilen, so kann das offenbar nichts nur halbwegs Vollständiges sein. Das, was ich mit Worten auszudrücken bestrebt sein werde, sind verschiedene, bunt an einander gereihte Bilder, wie sie gerade in meiner Erinnerung aufdämmern; ihnen fehlt aller Glanz, alle Farbenfrische der Wirklichkeit: – wer auch könnte diese ihnen wieder geben! Ich kann nur kurze, flüchtige Blicke auf Etwas thun lassen, an welchem das Auge immer und immer haften möchte.
Kairo liegt zwischen dem Nil und der Wüste, von seinen drei ziemlich weit von ihm entfernten Vorstädten, Bulakh, Altkairo und Djiseh, umgeben, der Stelle, auf welcher das alte Memphis lag, gegenüber. Der Barmherzigkeit eines Kriegers verdankt es seinen Ursprung. Amru, Emir und Feldherr des Chalifen Omahr, hatte sein Zelt in der Gegend des heutigen Altkairo oder Fostat aufgeschlagen, und konnte es bei seinem Aufbruche nicht wegnehmen lassen, weil eine Turteltaube ihr Nest in ihm angelegt und gerade noch nackte Junge hatte. Das Zelt blieb also stehen und wurde von den Zurückbleibenden seines Heeres in Besitz genommen; andere Zelte und Hütten entstanden neben ihm, und allgemach bildete sich eine Stadt an jener Stelle. Sie wurde von der erst dreihundert Jahre später gegründeten Massr el khahira bald überflügelt, und diese bei fernerem Wachsthum nach und nach mit allen ihren schmückenden Namen belegt. Der Araber nennt sie mit Stolz die siegreiche, von Gott beschirmte, begnadete und geliebte Hauptstadt, die Mutter der Welt; ihre Söhne jauchzen auf, wenn sie dort ihrer gedenken, und jubeln, wenn ihnen das Geschick verstatten will, zu ihren Thoren zurückzukehren.
Vom Nile aus sieht man nicht viel von der gewaltigen, mehr als eine halbe Quadratmeile bedeckenden, hundertfach überthürmten Stadt; nur die höchst gelegene Moschee auf der Festung zeigt dem Auge ihre himmelanstrebenden, säulenartigen Minarets und die von ihnen umstandenen Kuppeln, deren äußere Hülle ein von dem arabischen Geiste gepflückter und von der arabischen Hand gebundener Blüthenstrauß und deren Inneres ein Abbild des Himmels ist, mit goldener Schrift und erhabenen Zeichen, welche letzteren dem Gläubigen Lehre geben, wie sein freudenreicher Himmel zu erschließen sei. Diese im Licht des Südens gleichsam aufjauchzenden Bauwerke sind für den Ankommenden Werksteine und Wahrzeichen der Pracht, welche sich ihm offenbaren will, wenn er das innere Stadtthor durchschritten haben wird.
Kairo bietet einen Blumenstrauß in Stein aus der Ferne und einen zweiten Willkommensgruß aus Blumenmunde beim Eintritte. Denn der erste Platz, zu dem man gelangt, ist ein prächtiger Garten voll Duft und Farbe, die Esbekie. Er ist ein wunderherrlicher Spaziergang der Söhne und Töchter der Begnadigten, lieblich bei Tage, lieblicher noch bei Nacht. Der Ankömmling durcheilt ihn gewöhnlich mit stürmischer Hast, weil die Luft, die er einathmet, ihm die Dichtung in der Seele erleben läßt, und er es kaum erwarten kann, sich in das Reich der tausend märchenhaften Geheimnisse und geheimnißvollen Märchen zu stürzen; auch ich werde jetzt dasselbe thun, verspreche aber gewiß zu ihm zurückzukehren: denn ich gedenke eben einer jener auf der Esbekie verlebten Vollmondsnächte, deren Schimmer mir nicht erblichen ist, sondern fast noch strahlenderen Glanz gewonnen hat, einer jener Nächte, in welcher die wunderbare Zauberei der alten Märchenstadt gleichsam handgreiflich vor Augen tritt und die ganze Seele umstrickt.
Jedoch bedarf Kairo der Nacht gar nicht zu solcher Umstrickung; es zieht seinen Zauberkreis auch bei Tage um Herz und Sinn. Man muß nur einen Ritt zu Esel durch seinen Muhski und verschiedene Basare nach dem befestigten Schlosse des Vicekönigs machen, um davon die innigste Ueberzeugung zu gewinnen. Mir ist der erste Ausritt in Kairo noch lebhaft gegenwärtig. Ich war in einer andern Welt, ich kam mir vor, wie Einer, der von dem betäubenden Haschisch genossen und nun im trunkenen Traume wirre, bunte, fremde Bilder sieht; ich wußte nicht, ob ich meiner Sinne noch mächtig war. Erst viel später gelang es mir, die einzelnen Bilder zu sondern, zu prüfen und in der Seele nachzuzeichnen. Solch ein Gewimmel, wie ich hier sah, solch ein Gesumme, wie es in meine Ohren tönte, solch ein Gewoge, wie es mich umfloß, war mir auch nicht einmal im Traume vorgekommen. Licht, Sonne, Wärme, Himmel, Menschen und Thiere, Minarets und Kuppeln, Moschee und Haus, Palmenhäupter, welche dazwischen Grüße herabnicken, wunderbare Bogenthore mit köstlichem Spitzengewebe in Stein und Gyps, im frischem Schatten stehende Brunnen mit malerischen Gruppen Derer, welche sie umlagern, unnachahmlich geschnitzte Erkergitter, welche weit mehr verrathen, als sie zeigen wollen, und hunderterlei andere Dinge noch, für welche ich gar keine Namen habe, geben die Farben und Striche zu dem Wunderbilde, welches sich vor mir entrollte.
„Khahira ist die bunteste, keckste Mosaik und Musterkarte aller Völker, Lebensarten und Zeiten, ein riesenhaftes Museum, von allen möglichen und unmöglichen Gestalten, Formen, Bruchstücken und Vollgemälden der Bildung, der Sitte, der Künste, der Wissenschaften, des Glaubens, der Gläubigkeit und Ungläubigkeit, des Paradieses und der Wüste. Drei Erdtheile berühren sich hier mit ihren Stirnen und senden ihre Bewohner, ihre Reisenden, Gelehrten, Künstler, Abenteurer, Kaufleute, Vergnügten und Mißvergnügten hierher zu einem großartigen, wunderbaren Stelldichein.“
Ein ewig neu sich bildender und verschlingender Knäuel von seltsamen, bunten Gestalten füllt alle Straßen, welche selbst wiederum wahren Mißbrauch treiben mit Licht und Schatten, Helle und Dunkel, Stein und Holz, Fülle und Reichthum, Einfachheit und Armuth, gewesener, gegenwärtiger und werdender Pracht. Paläste wechseln mit Hütten, Neubauten mit in Schutt zerfallenen Häusern, einfache Lehmwände mit Mauern und Thoren, an denen eine überschwängliche Bildungsfähigkeit des Geistes alle ihre Erzeugnisse, Bildungen, Schöpfungen verschwendet zu haben scheint; die freien Plätze sind von düsteren Waarenhallen und lichtvollen Moscheen eingerahmt, deren Kuppeln wie wunderbare Kronen der Wunderstadt, deren schlanke, drei vielfach gegürtete Thürme wie ungeheuere Leuchter erscheinen, von denen neues Licht zu dem schon vorhandenen, hundertfach verschiedenen ausströmen kann, und zu Zeiten auch wirklich ausströmt. Einige Straßen sind breit und gerade, andere eng und krumm. Von den breiten sind mehrere oben mit Matten, Tüchern oder Bretern überdeckt, und diese Decke läßt nur hier und da blendende Lichtstrahlen herabfallen, welche jedoch selten bis auf den Boden gelangen. Dort herrscht ein heimliches Halbdunkel, zu welchem die oben einfallenden Lichter eine wunderliche Malerei in unbeschreiblichen Farbentönen liefern. In den engeren Straßen und Gäßchen ist jene Bedeckung unnöthig. Die Häuser springen hier mit jedem Stockwerke weiter vor und treten schon in der Mitte ihrer Höhe so nah zusammen, daß man von dem Erker des einen aus mit der Hand nach den, Erker des gegenüberstehenden langen kann. Unten ist die Straße eben so breit, daß ein beladenes Kameel durchgehen kann, oben blaut nur ein schmaler Streifen Himmel herein. Im Mittelpunkte der Stadt gewinnen die Gäßchen noch ein ganz anderes Ansehen durch die Kaufläden, welche sich hier ununterbrochen an einander reihen.
[71] Und weiter und weiter führt uns der schaukelnde Trab unseres Reitthieres: Moscheen und Brunnen, Basare und Kaufhallen, Kaufhäuser und Bäder, wunderbare Erkergitter und unbeschreibbare Bogenthore erscheinen und verschwinden uns. Die Vertreter von allerlei Volk ziehen an uns vorüber, wie Traumgestalten. Helle wechselt mit Dunkel, Schatten mit sonnigem Licht. Es ist unmöglich, Alles zu betrachten, alle Schönheiten herauszufinden, alle Wunder zu entdecken; denn die Fülle von Dem, was das Auge fesselt, ist gar zu groß. Da öffnet sich endlich der Blick; die Straße hat uns auf den Platz el Rumelie geführt, welcher von malerischen, zum Theil halbzerfallenen Prachtgebäuden umgeben und stets von nicht minder anziehenden Menschengruppen belagert ist. Von hier aus führt eine breite, festgestampfte Straße in Bogen zu dem Thore der Veste hinan.
Innerhalb der Mauern dieser Veste „durchirrt der Fremdling mit beängstigtem Herzen und zögerndem Fuße Ruinen und Neubauten, Schutthaufen und Prachtpaläste; hier sieht er Felsenbrunnen, die bis zum Nilspiegel herabreichen, und Minarets, welche sich in den Wolken zu verlieren scheinen und wie ungeheuere Leuchter um das Heiligthum der Kuppel gestellt sind“; hier glaubt er den Klagelaut umgebrachter Frauen und das Wuthröcheln meuchlings gemordeter Männer und selbst in den Tönen des Soht noch geisterhafte Klänge zu hören.
Aber nicht die Veste soll unsere Seele gefangen nehmen und fesseln, in die Ferne soll sie schweifen auf golden und silbern schimmernden Wegen. Treten wir auf einen der Strebepfeiler über die Festungsmauer hinaus, und schauen wir auf das sich unten ausbreitende Gemälde, bis die Seele trunken geworden ist und Gedichte uns im Herzen keimen, zu denen wir nur weder die Worte noch die Reimesblüthen finden können.
Gerade unter uns, vor uns und neben uns breitet sich die Stadt mit ihren vierhundert Moscheen und wohl sechshundert schlanken, zwei- oder mehrfach gegürteten Thürmen, eine wirre, gestaltenreiche Häusermasse, lebendig, tausendfarbig im Lichte der Nachmittagssonne erscheinend, von ihren Vorstädten umlagert, wie eine gütige Mutter von lieblichen Kindern. Ein grüner Saum von Palmenkronen schließt sie ein; hier und da tritt auch ein frischer Palmenhain in das wirre Häusermeer selbst herein. Dann folgt ein weites, in der Fülle des wasserreichen Südens schwelgendes Land, auf welchem das Grün alle nur denkbaren Schattirungen zu einem Wunderteppich zusammengewebt hat, von welchem sich Häuser und Mauern, wüste Plätze und silberne Wasseradern wie eingestickte Bilder abtrennen. „Im Südwesten nun führt die Wasserleitung des Nils Fluthen in das Land; und majestätisch treibt der geheimnißvolle, zur Gottheit erhobene Strom seine Wogen der Insel Rodah entgegen, welche wie ein grünes Bollwerk und Wehr oder wie eine schwimmende Opfergabe von Blumen und Früchten der alten Khahira entgegenduftet. Dem paradiesischen Eilande schließen sich die Pflanzungen Ibrahim-Pascha’s in Fostat an: aber in dem ungeheuren Prachtbilde erscheinen diese grünen Massen nur wie ein Smaragd auf dem flüssigen Silber des segenspendenden Stromes, welcher, gleichsam einem unbekannten Nichts entquollen, sich wiederum in’s Nichts zurückwandeln muß. Aber an seinen vorübereilenden, sich ewig bildenden und ewig verschwindenden Wogen stehen als Gegensatz im fortwährenden Strom der Zeiten, die in’s Meer der Ewigkeit münden, die in vollem Sonnenlichte marmorweiß schimmernden Pyramiden massenfest wie der Felsen, auf dem sie fußen.“ Und hinter ihnen dehnt sich nun wieder ohne Ende die Wüste, vor deren verderbendem Flugsande sie das in aller Farbenpracht glühende Mittelbild schützen sollen und schützen.
Da steht man fest im Anschauen und vergißt des Ortes und der Zeit. Stunde auf Stunde entrollt; die Sonne neigt sich zum Schlafengehen. Goldner werden ihre Strahlen, purpurner färbt sich ihr Duft. Neuer Glanz, neue Farben treten zu den alten. Die Stadt kleidet sich in ein wunderbares Festgewand, die Palmen trennen sich schärfer von dem goldenen Grunde. Wie Abendroth leuchtet der Strom, ein Abglanz des Paradieses legt sich auf Fruchtfeld und Wüste. Funkelnde Lichter werden wach, tiefdunkle Schatten heben sie nur um so schärfer hervor. Allgemach senkt sich der Abend auf die Tiefe. Häuser und Kuppeln und Thürme verschleiern sich langsam und leise. Schon berührt der untere Rand der Sonnenscheibe den Wüstensand. Nur die Zinnen des Gebirges und die höchsten Spitzen der Minarets funkeln und glänzen noch im vollen Sonnenlichte; die vergoldeten Halbmonde auf den Thürmen schimmern wie ihr Urbild am Himmel. Tiefer senkt sich die Sonne, mehr und mehr verschwimmt die Ferne. Jetzt ist sie verschwunden, und in demselben Augenblicke ertönt von oben herab der Gesang des Muëddihn. Wie eine Stimme aus der Höhe erklingen die Worte, welche zum Gebet mahnen – auch in dem Herzen des Hörers klingen sie wieder. Mag er beten, in welcher Sprache und in welcher Weise er will, mögen ihm Worte zu Gebeten werden, oder mag ihm das Erschauete wie ein großes goldenes Buch erscheinen, in welchem er Gebete liest, ohne es zu wissen: die Stimmung seiner Seele ist die, welche ein Gebet hervorruft. Und wenn dann der Gesang des Mahners schon lange verklungen, wenn unten der Schimmer der Dämmerung, der Glanz dem Nebel wich, wenn der Strom seine Dünste entsendet, wie Rauch, wenn die Palmen mit dem Hauche der Nacht zu flüstern beginnen, und die Menschenkinder da unten stiller werden und ihren Häusern zuwandeln: da klingt und wogt es noch immer im Herzen wie Musik – und Klang und Farbe verschmelzen in Einem, daß man sie nimmer zu trennen weiß, so groß ist der Einhall. Aber wie in den bewahrenden Porphyr der altegyptischen Tempel der Meisel Bilder eingrub für alle Zeiten und alle Völker, so hat sich die zaubervolle Wunderstadt fest eingegraben im Herzen, und noch nach Jahren klingt dem Beschauer der Name wie eine tonreiche Weise, erscheint ihm das wunderbare Bild klar und fest, wie die Pyramiden, die Sinnbilder des Gedankens: Auch schon hienieden kann und darf es Unwandelbares geben!!
Alles, was der Urwelt angehört, muß wunderbar sein, mag es nun durch die Ungeheuerlichkeit seiner Größe und Masse oder durch die Seltsamkeit und Absonderlichkeit seiner Gestalt zum Wunder gestempelt sein. Wir nehmen das ohne Weiteres an, warum? – Weil die Urwelt räumlich und zeitlich unsern sinnlichen Augen entrückt, im tiefsten Dunkel des fernsten Alterthums gelegen ist, wohin nur die Phantasie, nicht der Blick reicht. Die Phantasie malt uns jene längst untergegangenen Wundergestalten mit den lebhaftesten Farben, wir sehen sie fast leibhaftig vor uns, die scheußlichen Drachengestalten des Uroceanes, der Urwälder und der Urlüfte, und können uns eines gewissen Grauens nicht erwehren, bei dem Gedanken, daß solche gräßlichen Ungeheuer einst den friedlichen Erdboden bevölkert haben sollen. In der That, was die glühendste Phantasie Ungeheuerliches, Grauen und Schauder Erregendes für die thierische Gestalt ersinnen konnte, das bürdete sie gerade den Drachen der Vorwelt auf. Aber nunmehr sind die Zeiten vorüber, in welchen die Phantasie allein die Wunder der Urwelt vorführt; die ruhige und sichere Methode der paläontologischen (urweltkundlichen) Forschung hat bereits all’ jene Wunder verscheucht und auf das Überzeugendste dargethan, daß die Pflanzen und Thiere, welche in den fernsten Schöpfungsperioden den Erdboden belebten, nach demselben Organisationsplane geschaffen waren, wie die heutigen, daß die vorweltlichen Thiere in keiner Weise und nach keiner Seite hin wunderbarer gestaltet waren, als die gegenwärtig lebenden. Zwar sind uns von den allermeisten Geschöpfen der Urwelt nur einzelne, mehr oder minder vollständige Körpertheile aufbewahrt und die ganze Gestalt, sowie Lebensweise und Naturell sind unserer unmittelbaren Beobachtung entzogen, allein die Thiere sind ja nach den strengsten, nach unabänderlichen und ewigen Gesetzen organisirt, und in ihrem Plane herrscht eine Einheit und Harmonie, welche uns befähigt, aus einem einzigen Körpertheile, aus einem Knochen, einem Zahne, einer Schuppe, einem Muschelstück, das ganze Thier und auch wie es lebte und waltete, zu ermitteln.
Die Paläontologie (Urweltkunde) hat die Aufgabe, aus den vereinzelten [72] und mannichfach umgeänderten Ueberresten der vorweltlichen Pflanzen und Thiere nach den Gesetzen, welche die gegenwärtige Schöpfung beherrschen, das eigenthümliche, reiche und vielgestaltige Leben früherer Schöpfungsperioden, in denen der Mensch noch nicht existirte, bis in alle Einzelnheiten zu erforschen, und sie hat bereits an die Stelle der phantastischen Wundergestalten die wirklichen, wahrhaftigen setzen können. Wir staunen und erschrecken nicht mehr über die Absonderlichkeit der urweltlichen Geschöpfe, wir bewundern vielmehr jetzt die Einfachheit und Unabänderlichkeit der Naturgesetze von dem ersten Augenblicke ihres Waltens an bis auf diesen Tag. Ich wähle, um den eben angedeuteten Unterschied zwischen den Phantasiegemälden und den wirklich erforschten Thiergestalten der Vorzeit an einem bestimmten Beispiele nachzuweisen, die fliegenden Drachen, die Pterodaktylen oder Flugsaurier, denn sie sollten ja wunderbar scheußliche Gestalten sein, der Schrecken von Allem, was lebte und webte, fliegende Ungeheuer, weder Vogel, noch Säugethier, noch Eidechse, sondern wahrhaftige Wundergestalten! Man dachte dabei an die Drachen in der Mythologie, die als teuflische Wesen auch in die christliche Kirche sich eingeschlichen haben, aber eben nur Phantasiegebilde sind und, so verschiedentlich sie auch bildlich und plastisch dargestellt worden, stets wahre Monstra, allen Gesetzen der natürlichen Organisation Hohn sprechende Gestalten sind.
Ich muß gleich von vornherein einem weitverbreiteten Vorurtheil entgegentreten, dem nämlich, daß die wirklich existirenden Drachen große, ungeheuerliche Thiere sein sollen, sie sind im Gegentheil sehr kleine und ganz harmlose Eidechsen. Diese lebenden Drachen bewohnen die ostindischen Inseln in einigen Arten und erreichen mit ihrem langen dünnen Schwanze kaum einen Fuß Länge, meist aber sind sie viel kleiner und von Charakter und Naturell die friedfertigsten, scheuesten, sanftesten Eidechsen, welche langsam auf den Aesten der Bäume umherkriechen und Insecten fangen, andern Thieren niemals etwas zu Leide thun und dem Menschen, der sich mit ihnen abgeben will, auch nicht den geringsten Widerstand entgegensetzen. Sie können ebenso wenig wie irgend eine andere Echse, denn keine einzige hat in ihrem Naturell und Betragen etwas Grausiges und Schreckhaftes, das Vorbild des rein phantastischen Drachen gewesen sein. Auch die fliegenden Drachen der Urwelt waren solch’ ganz kleine Thiere, ein bis höchstens zwei Fuß lang; schon als fliegende Thiere konnten sie ja keine Riesen sein, da alle Bewohner der Lüfte überhaupt kleiner, leichter und zierlicher gebaut sind, als die am Boden lebenden Thiere; die eigentlichen Riesen im Thierreiche, wie die Walfische, Potfische, Haifische, sind Wasserbewohner. Man glaube ja nicht, daß überhaupt irgend ein Thier der Urwelt größer gewesen ist, als die eben erwähnten Riesen des heutigen Oceanes; man glaube auch nicht, daß etwa einzelne Vertreter noch lebender Thiergestalten in frühern Schöpfungsperioden riesig waren im Verhältniß zu ihren heutigen Nachkommen; das Mammuth war wirklich nicht größer als unser Elephant, Urbär, Urtiger, Urhyäne etc. keineswegs riesiger als die heutigen Bären, Tiger, Hyänen etc. Wir kennen von den meisten dieser früher als Riesen der Vorwelt bewunderten Thiere vollständige Knochengerüste, an welchen die Messung mit dem Zollstabe die Schätzung des ungeübten Augenmaßes berichtigt hat. Die Thiere und Pflanzen waren überhaupt, das hat die Paläontologische Forschung auf das Ueberzeugendste dargethan, zu keiner Zeit größer und riesiger, als sie es gegenwärtig sind, und alle Schilderungen von urweltlichen Riesengestalten sind bloße Faseleien, keine auf Beobachtungen und verläßlichen Untersuchungen beruhenden Wahrheiten.
Nun, wenn die fliegenden Drachen der Urwelt nicht durch ihre Größe Schrecken erregen können, so setzen sie wohl durch ihre absonderliche Gestalt und ihren räthselhaften Bau in Verwunderung? Auf den ersten Blick allerdings, und daß sie fliegende Eidechsen sind, erhöht noch das Schreckhafte des ersten Eindruckes. Sehen wir sie uns darauf näher an: der fünfte, bei allen Thieren und auch bei dem Menschen kleinste Finger ist hier der größte, ja er ist so lang wie der ganze Körper, also förmlich monströs vergrößert. Er spannte und bewegte ohne Zweifel eine große Hautfalte, welche an den Seiten des Körpers sich herabzog und vielleicht noch an den Hinterbeinen befestigt war. So das wichtigste Bewegungsorgan, verlieh der Flugfinger diesen Thieren auch den Namen Plerodaktylus. Ist nun aber diese riesenhafte Vergrößerung des kleinen Fingers wirklich etwas so beispiellos Absonderliches, daß es uns mit Verwunderung und gar mit Schrecken erfüllen kann?
Vergleichen wir zunächst unsere zierliche lebende Flugechse und ihr Flugorgan. Auch sie hat auf jeder Seite des Leibes eine große Hautfalte, einen Schirm, der von Knochenfäden gespannt wird, und bei der anatomischen Untersuchung ergeben sich diese Knochen als die letzten sogenannten falschen Rippen. Die Rippen haben doch eigentlich den Zweck, die Lungen im Brustkasten zu schützen und die zur Athembewegung dienenden Muskeln aufzunehmen, sie gehören also zum Respirationsorgan, und doch reißt die Natur dem Drachen einen Theil derselben, und zwar den unbedeutendsten, die kürzesten und falschen Rippen, förmlich aus dem Leibe heraus, vergrößert sie und verwendet sie als Bewegungsorgan. Das ist doch wahrlich noch verkehrter und wunderlicher, als wenn die Hausfrau in Ermangelung eines Durchschlags gleich das Sitzbret eines Rohrstuhls statt dessen gebraucht. Aber die Natur macht sich aus solchen Gewaltthaten nichts. Reißt sie doch den Schildkröten sogar sämmtliche Rippen aus dem Leibe, um sie zur Verstärkung des knöchernen Panzers zu verwenden; dadurch werden dieselben natürlich unbeweglich und somit auch die Thoraxmuskeln zur Athembewegung überflüssig, die Schildkröten sind deshalb genöthigt die zum Athmen bedürftige Luft schluckweise zu trinken. Noch eine Gewaltthat ganz anderer Art mußte sich der Elephant gefallen lassen. Die Nase ist bekanntlich Geruchsorgan, allein der Kopf des Elephanten ist doch zu groß und schwer, um auf einem langen beweglichen Halse sitzen zu können, der Leib zu massig, als daß die Beine zu andern Verrichtungen als blos zur beweglichen Stütze dienen könnten; was thut die Natur, um dem Koloß das Ergreifen und Auswählen der Nahrung und die Vertheidigung zu erleichtern? sie verlängert seine Nase in einen ungeheuer langen, überaus beweglichen, muskelstarken und sehr fein tastenden Rüssel. Das Geruchsorgan des Elephanten ist zugleich Tast- und Greifapparat und Waffe geworden. Ich könnte noch viele derartige Beispiele aus der heutigen Thierwelt aufführen, die nach menschlichen Ansichten wahrhaftige Wunder sind, in der Natur aber, die dem Grundsätze huldigt, daß der Zweck das Mittel heiligt, die Bedeutung der Wunder verlieren.
Kann uns nun nach solchen wundersamen Einrichtungen bei lebenden Thieren der Flugfinger der vorweltlichen Pterodaktylen noch in Staunen versetzen? Gewiß nicht, der Finger ist ja an sich schon Bewegungsorgan und übernimmt hier nur eine andere und zwar eine mehr untergeordnete Bewegungsweise, als die übrigen Finger. Wir finden ein fast ähnliches Verhältniß bei dem Pinguin, der seine Flügel nicht wie andere Vögel zum Fluge, sondern nur als Ruder beim Schwimmen gebrauchen kann, also auch keine Schwungfedern daran hat.
Eigenthümlich ist allerdings der Flugfinger ausschließlich den vorweltlichen Flugechsen, ebenso sehr wie dem lebenden Drachen die von den falschen Rippen gespannte Flughaut; andere Bewohner der Lüfte fliegen und flattern mit anderen Organen. So haben die Käfer, Fliegen, Schmetterlinge, kurz die Insecten überhaupt, ein oder zwei Flügelpaare, welche den Beinen gegenüber an der Rückseite der Brustringe eingelenkt sind, und wenn auch nur bloße Hautausbreitungen, sind dieselben doch in Anlage und Ausführung durchaus eigenthümliche Organe, welche andere Thiere schon vermöge der Anlage ihres Körpers gar nicht besitzen können. Eine Eidechse mit Flügeln, wie der Drache dargestellt wird, oder eine menschliche Gestalt mit Flügeln am Rücken, wie in den Abbildungen von Engeln, sind vom zoologischen Standpunkte aus betrachtet wirkliche Wundergestalten, denn nicht einmal Andeutungen dafür sind in der Natur aufzufinden. Alle Thiere mit innerem Knochengerüst, alle Wirbelthiere können höchstens nur zwei Paar Gliedmaßen zur Bewegung haben; wollen sie also fliegen, so müssen sie das eine Paar, und zwar das vordere, in Flügel verwandeln. So vergrößert unter den Fischen der fliegende Hecht zu diesem Behufe seine Brustflossen und schwingt sich damit hoch über das Wasser empor. Der Vogelflügel gleicht in der Anlage ganz den Beinen, und besonders den vorderen, der Säugethiere, d. h. er besteht im Knochengerüst aus Schulterblatt und Schlüsselbeinen, aus Oberarm, Unterarm und Handtheil mit Finger, zweien oder dreien. An diesen Knochen sind die großen Schwungfedern befestigt, welche, wie die Haare, bloße hornige Hautgebilde, also äußerlich angefesselt sind und den Fächer des Flügels bilden. Der eingliedrige Daumen hat bei vielen Vögeln noch einen wirklichen, unter den Federn versteckten Nagel und beweist damit auch äußerlich, daß er an einer Hand sitzt. Es ist also der Vogelflügel nur in der Ausführung, nicht in der Anlage seiner Theile von den Vorderbeinen der Amphibien [73] und Säugethiere verschieden. Unter letzteren fliegen die Fledermäuse wiederum mit anderen Flügeln als die Vögel. Sie verlängern nämlich ihre Arm- und Fingerknochen ungemein und spannen zwischen den Fingern eine große Flughaut aus, welche am Arme entlang, an den Seiten des Leibes fort bis an die Hinterbeine reicht und oft auch zwischen den Hinterbeinen und dem Schwanze noch ausgespannt ist. Hier wird also die Flatterhaut von allen Fingern, mit Ausnahme des Daumens, gespannt, bei den vorweltlichen Pterodaktylen nur vom vergrößerten fünften Finger. Der Unterschied zwischen diesen beiden Flugorganen ist also nur ein relativer, kein absoluter, und das hat seinen Grund darin, daß bei den Fledermäusen der Flug die hauptsächliche und vorherrschende Bewegungsweise ist, bei den Pterodaktylen, wie wir bald sehen werden, die flatternde Bewegung der kletternden ganz untergeordnet war. Unter den Säugethieren finden wir noch andere Flug- oder vielmehr bloße Flatterorgane bei dem fliegenden Maki, dem Flugbeutler und den fliegenden Eichhörnchen. Bei all diesen ist eigentlich nur ein Fallschirm vorhanden, der sie befähigt, von höheren Aesten auf entfernte niedere sich herabzulassen. Er besteht aus einer behaarten Hautfalte zu jeder Seite des Leibes, von den Armen bis zu den Beinen reichend.
Der Flugfinger der vorweltlichen Pterodaktylen erscheint nach solchen vergleichenden Betrachtungen weder als etwas Wunderbares, noch beispiellos Absonderliches, da die lebenden Thiere noch größere Absonderlichkeiten aufzuweisen haben. In ihrer ganzen übrigen Organisation nun sind die Pterodaktylen echte Eidechsen, abweichend von den lebenden nur insoweit, als der Bau der eigenthümlich flatternden und kletternden Lebensweise sich anbequemen mußte. Wir dürfen von vornherein vermuthen, daß diese Abweichung in einer Annäherung an die Vögel bestehen wird. Die Vögel bedürfen zum Flügelschlage sehr großer Brustmuskeln, deren Anheftung ein sehr breites Brustbein voraussetzt; dem annähernd ähnlich ist denn auch bei den Pterodaktylen das Brustbein beträchtlich breiter und kürzer, als bei allen andern Echsen, lebenden und vorweltlichen, breiter als bei allen Säugethieren. Luftthiere haben im Verhältniß zu Land- und Wasserbewohnern immer eine lebhaftere, mehr energische Respiration, bei den Vögeln ist daher der ganze Rumpf fast nur Brustkasten, der Bauch tritt ganz zurück, ebenso bei den vorweltlichen Flugechsen, welche dreizehn bis sechzehn Rippenpaare und dahinter nur zwei bis drei rippenlose Lendenwirbel besitzen. Der Schädel der Pterodaktylen erscheint in seinen allgemeinen Umrissen so vogelähnlich, daß man anfangs die Thiere deshalb Ornithocephalus, Vogelkopf, nannte, allein die Vergleichung der einzelnen Schädelknochen, die Anwesenheit dreier Stirnbeine, die Umgrenzung der Nasen- und Augenhöhlen, die Knochen der Gaumen- und Schläfengegend machen die Echsenverwandtschaft ganz unzweifelhaft und entfernen die Flugsaurier weit von den Vögeln. Sind doch auch die Kiefer mit starken scharfspitzigen Zähnen bewaffnet, die kein einziger Vogel aufzuweisen hat. Allerdings hat man bei einem Flugsaurier an der Kieferspitze noch Andeutungen dahin gefunden, daß vielleicht das bezahnte Maul vorn in einen hornigen Schnabel ausging, also Vogelschnabel und Krokodilrachen hier vereint gewesen könnten. Ich sage absichtlich Krokodilrachen und nicht Eidechsenrachen, denn die Pterodaktylen haben in Alveolen (Zahnfächer) eingekeilte Zähne, wie die Krokodile, und nicht auf- oder angewachsene, wie die Eidechsen. Der große Schädel und die starken Zähne setzen eine sehr kräftige Muskulatur am Kopfe voraus und daß solche vorhanden war, beweisen die starken Leisten und Kämme an der hintern Schädelgegend und nicht minder die ungeheuer kräftigen Halswirbel. Durch letztere weichen die Pterodaktylen wieder von allen lebenden Eidechsen und Vögeln ebenso auffallend ab, wie durch ihren Flugfinger.
Der Kopf der Flugsaurier hat so ziemlich die Größe des Rumpfes, der Hals die Länge des Rumpfes und zugleich sind seine Wirbel auffallend viel größer und dicker, als die in der Brustwirbelsäule, welche schnell kleiner werden bis in die Beckengegend, wo, wiederum abweichend von allen lebenden Eidechsen und Amphibien überhaupt, dagegen vogel- und säugethierähnlich, ein aus sechs Wirbeln bestehendes Kreuzbein sich findet. Hinter diesem läuft die Wirbelsäule meist in einen kurzen feinen Schwanz aus. Welche Bewegungsweise nun kann ein Thier gehabt haben, dessen Kopf und Hals kolossaler und schwerer als der ganze übrige Leib war? Die ersten Beobachter der Pterodaktylen dachten bei der Betrachtung des übermäßig langen Fingers an schwimmende Bewegung, allein hätte dieser Finger zum Rudern gedient: so wären seine Knochen nicht drehrund walzig, sondern, wie bei rudernden Säugethieren, Vögeln und Amphibien, flachgedrückt, und es müßten starke Leisten an den Armknochen vorhanden sein, an welche sich die zu seiner Bewegung erforderlichen großen Muskeln ansetzten. Der Finger spannte vielmehr, ähnlich wie die vier Finger bei den Fledermäusen, eine große Flughaut, aber weder so anhaltend, noch so gewandt, geschickt und leicht, wie jene, konnten die Flugsaurier fliegen. Beim Fluge hält das Thier den Körper in vorgeneigter bis wagerechter Stellung; das war den Pterodaktylen unmöglich, da der Schwerpunkt ihres Körpers vor die Mitte auf Hals und Kopf fällt. Sie hätten stets mit dem Kopfe unten, den Schwanz oben fliegen müssen, und dann war die Muskulatur des Flugfingers immer noch zu schwach, um durch Flügelschlag den Körper zu heben. Die eigenthümliche Form der Krallen an den ganz normal gebildeten vier vordern Fingern und an den Hinterzehen, die ganz flach gedrückt, stark gekrümmt und spitzig sind, stimmt genau überein mit der Krallenform des kletternden Maki und anderer ausgezeichneter Kletterer. Die Hauptbewegung der Pterodaktylen konnte wegen dieser Krallenform nur Klettern sein, und auf dem Gipfel eines Baumes angekommen, ließen sie sich durch Ausspannen ihrer Flatterhaut wie mittelst eines Fallschirmes auf die untern Aeste oder auf den Boden nieder. Der ganze Knochenbau der Pterodaktylen spricht entschieden dagegen, daß diese Thiere wie die Fledermäuse anhaltend in der Luft umherschwirrten, er spricht ebenso entschieden auch dagegen, daß sie, wie man ganz neuerdings noch zu beweisen suchte, aufrecht am Boden umherspazierten. Sie fingen kletternd und von höhern Aesten sich herabstürzend Insecten, nicht anders als die noch gegenwärtig lebenden Drachen, waren aber, nach ihrem starken Gebiß und kräftigen Knochenbau in der vordern Leibeshälfte zu schließen, viel gefräßiger, als diese, und bedurften daher auch eines größeren Fallschirmes.
Man hat bereits eine ziemliche Anzahl von Arten der Flugsaurier unterscheiden können, aber keine einzige derselben war häufig, ihre Ueberreste gehören in den Sammlungen noch immer zu den seltensten und kostbarsten Versteinerungen, so sehr aufmerksam man auch in den Steinbrüchen, wo sie vorkommen, auf sie achtet. Die Unterschiede, welche sie im Bau unter einander bieten, sind sehr erheblich. So trennt man eine Art von den übrigen ab, weil ihr Flugfinger nur zweigliedrig statt viergliedrig ist; einige andere Arten haben einen über körperlangen, sehr steifen, unbeweglichen Schwanz und kurzen Hals, und nur diese scheinen eine hornige Schnabelspitze, womit sie vielleicht Insectenbaue aufwühlten, besessen zu haben; die übrigen endlich sondern sich in solche mit vier- und in solche mit fünfzehigen Füßen und unterscheiden sich weiter noch nach der Anzahl und Form der Zähne und andern Eigenthümlichkeiten.
Die Schöpfungsperiode, während welcher die Flugsaurier lebten, war die jurassische. Ihre Ueberreste lagern spärlich im Lias Englands, Würtembergs und bei Banz in Baiern, dann im braunen Jura bei Stonesfield und am zahlreichsten bei Solenhofen in den weltberühmten Steinbrüchen des lithographischen Kalkes, die jüngsten endlich noch in der Kreideformation Englands. So sind die Pterodaktylen also Zeitgenossen der kolossalen, plumpen Riesensaurier oder Landsaurier und der ungleich seltsameren Meeresdrachen oder der Ichthyosauren und Plesiosauren. Diese drei gänzlich untergegangenen Saurierfamilien vertraten während der Jura- und Kreideperiode die erst in der folgenden tertiären Schöpfungsperiode erscheinenden Säugethiere und Vögel, denen sie sich in Lebensweise und Knochenbau mehr näherten, als irgend ein gegenwärtig lebendes Amphibium, ohne daß sie deshalb aber in ihren wesentlichsten und allgemeinsten Merkmalen von dem Amphibien-Typus abwichen.
Der echte Amerikaner – ich meine nicht den Yankee, das friedlich „blaubauchige“ Kind des Nordens, sondern den echteren, den Republikaner des Südens der Union, und zwar den gemeinen oder Americanus vulgaris – ist oft geschildert worden, am feurigsten [74] und individuellsten von dem deutsch-amerikanischen Sealsfield; aber ich habe sie doch besser kennen gelernt, ohne jemals in den vereinigten Republiken gewesen zu sein.
Mir liegt nämlich das wahre Muster des echten südlichen Americanus vulgaris auf dem Halse und besucht mich öfter, als mir lieb ist. Meine Frau haßt ihn und flieht, sobald er erscheint, denn er spuckt natürlich auf den Teppich, wobei es ihm den göttlichsten Spaß zu machen scheint, immer neben den expreß für ihn angeschafften und hingeschobenen Speinapf zu zielen. Ich will seine andern liebenswürdigen Eigenschaften nicht besingen, auch nicht seinen „Zahnstocher“ von Stahl, dreischneidig und 141/2 Zoll lang, ebensowenig verrathen, weshalb der braunschwartige Sohn des Südens in London wohnt und bleibt, da man hier „Mord“ nennen würde, was in jenen glücklichen Gegenden der weißen Aristokratie und schwarzer Sclaverei als jugendlich-ritterliche Extravaganz in den Zeitungen gepriesen wird. Er wollte sich hier in London an die amerikanische Gesandtschaft attachiren und gibt sich auch die Miene, als hätte er sehr wichtige diplomatische Functionen, aber er hat sich blos an mich attachirt, seitdem ich ihn einmal einlud, um mir Einzelnheiten aus seinem und seines Onkels Heldenleben zu notiren und wo möglich schriftstellerisch zu verwerthen.
Leider hab ich aus ihm selbst noch nichts machen können, aber sein Onkel, Onkel Chunk, ist ein Artikel, wie ich hoffe.
Alles Unglaubliche und Unmenschliche, worüber wir immer den Kopf schütteln, hat Onkel Chunk gethan; „Onkel Chunk that es, er that,“ ruft er mit grimmigem Blick, „und ich vermuthe, er verstand’s!“ (zweimal neben den Spucknapf.)
Freund Blibb (so heißt mein Americanus vulgaris) spricht natürlich däs Englische immer amerikanisch, d. h. unnachahmlich, unsäglich durch die Nase, aber für die Schilderung der Heldenthaten des Onkel Chunk hat er immer außerdem eine hohe Fistel mit gelegentlichen Baßtönen und furchtbaren Positionen und Gesticulationen. Daß er nie auf einem Stuhle sitzt, wie andere Menschen, versteht sich von selbst. Die Verrenkungen sind zahllos. Nur wenn er in’s höchste Feuer und die höchste Fistel über Onkel Chunk’s Heldenthaten geräth, setzt er sich in der Regel verkehrt auf den Stuhl, nimmt die Lehne in beide Arme und legt einen oder beide Füße (auch wenn draußen Thauwetter ist) auf den Tisch und wischt die Hacken auf der Decke ab. Ueber die Hälfte von meinen hiesigen Freunden und Bekannten sind in Amerika gewesen. So wie Freund Blibb einen solchen bei mir erwischt, fängt er nasal und fistulirend an: „Also auch drüben gewesen. Fremder? Da nehme ich natürlich an, daß Sie meinen Onkel Chunk gesehen haben.“
Mancher, vorher nicht gewarnt, antwortet ganz ehrlich, daß er nicht die Ehre gehabt habe.
„Aber von ihm gehört, von seinem letzten Duell?“
Personen, so angeredet, haben zuweilen die Kühnheit, zu gestehen, daß sie von Onkel Chunk nicht einmal sprechen gehört.
„Nu denn. Fremder, so vermuth’ ich, daß Sie Ihre Ohren ziemlich fest verstopft gehalten. Sie wollen in Amerika gewesen sein?“
Eines Abends, kurz nach Neujahr, hatt’ ich ihn wieder bei mir. Ein Freund’, der über Land bis Californien gekommen war, findet sich bald darauf ein und wird von mir zu rechter Zeit gewarnt, die Bekanntschaft mit Onkel Chunk nicht zu leugnen. Dieser behauptet also auf die bald genäselte Frage ganz bestimmt, daß er den berühmten Oberst und Onkel Chunk nicht nur gesehen, sondern auch eine lange Unterhaltung mit ihm gehabt habe.
„Wann war das ungefähr?“ frug Blibb ungläubig.
„I nun, ich denke, es war erst vorigen Sommer auf meiner Reise von Tennessee nach –“
„So haben Sie gar nichts gesehen. Fremder, gar nichts gesprochen,“ fistulirt Blibb mit großer Entrüstung. „Mein Onkel wurde schon vor zwei Jahren in dem berühmtesten aller Duelle ausgewischt! Ausgewischt in der berühmtesten aller Höhlen. Sie haben doch von dieser Höhle gehört?“
„Nu, das versteht sich. Bin ich doch selber darin gewesen, in den tiefsten Theilen –“
„Halt, Fremder; Onkels Höhle war drei Treppen hoch, und tief gar nicht.“
Kurz, er fiel mit allen Versuchen, gegen Freund Blibb verbindlich zu sein, durch und rettete sich blos durch eine ungeheuere Wißbegier, die Heldenthaten dieses weltberühmten Onkels zu erfahren.
Seine Geschichte ist echt amerikanisch, die Laufbahn eines süd-nordamerikanisch-aristokratischen Taugenichtses von Sclavenbesitzers-Sohn und deshalb sehr lehrreich und bezeichnend für die ganze amerikanische Politik, die vom Süden beherrscht, wenigstens demoralisirt und „majorisirt“ wird.
In der poetischen Weise der Blibb’schen Schilderung kann ich diese Geschichte nicht wiedergeben, aber in der Sache hoff’ ich sehr genau und gewissenhaft zu sein.
Onkel Chunk also war ein talentvoller, nichtsnutziger Sclavenbesitzers-Sohn und deshalb natürlich Officier geworden. Aber mit seiner Unbändigkeit, Renommisterei und Raufboldigkeit konnt’ es Niemand aushalten, so daß er bald mit dem Titel „Colonel“ (Oberst) „ehrenvoll“ entlassen ward und privatim als famoser „Ripper“ und „Whipper“ („Bauchaufschlitzer“ und „Peitscher“, d. h. Duellant und Krakehlsucher), gelegentlich auch als Speculant und Wettvirtuose „sein Leben machte“. So hatte er Geld und Ruhm erworben. Sein größter Stolz war, binnen zwölf Jahren sieben freie Republikaner- und unzählige Negerköpfe „ausgewischt“, d h. Erstere im Duell erlegt, Letztere zerschlagen oder erschossen zu haben.
Das meiste Geld verdankte er fünf „betrügerischen“, d. h. mit „smartness“ und „sprightness“ (Pfiffigkeit und Scharfsinn) durchgefochtenen Bankerotten im Schweine-, Eisen- und Meubelhandel. Endlich verachtete er ganz, sich vom allmächtigen Dollar beherrschen zu lassen, und machte ausschließlich in Whig-Politik mit Bowie-Messern und Sechsschuß-Revolvers. Er hatte gehofft, sich damit in den Congreß und später gar auf den Präsidentenstuhl hinauf zu schießen, aber die südlichen Republiken und Sclavenstaaten sind zu reich an Helden ähnlichen Ehrgeizes, die Onkel Chunk nicht alle beseitigen konnte, so daß er als berühmter Privat-Whipper lebte und das heldenmüthigste Ende fand.
Durch eine Klemme in Massachusetts ward er 1856 bewogen, sich davon zu machen und den Hauptschauplatz seiner früheren Heldenthaten wieder aufzusuchen, Tennessee. In einem Duell mit Septimus Whet im Staate Massachusetts schoß sein Gegner fehl, indem er zugleich ausglitschte. Colonel Chunk benutzte diese Gelegenheit, schreitet dicht an seinen sclavenfreundlichen Gegner heran und schießt ihn sicher und fest, kaltblütig wie ein alter Römer, durch die Schläfe. Freunde des Gefallenen erklärten dies für Mord und machten Anstalt, ihn zu „lynchen“, da die „Gerechtigkeit“ nicht einschritt. Letztere rieth ihm nur, zu verreisen. So kam er zunächst nach Tennessee. Hier ward sein Ruhm überschwenglich durch eine einzige That. Nachdem er mit seinem Gegner die üblichen Kugeln gewechselt und Beide noch lebten, faßt er seinen Feind bei der Gurgel und dreht ihm das Halstuch so fest, daß dieser ganz zu athmen vergaß und so den Tod eines Gehangenen starb. Die Presse erklärte dies in ihrer Parteilosigkeit nicht für unbedingt nobel, setzte aber hinzu, daß Colonel Chunk blos eine peinliche Pflicht erfüllen zu müssen geglaubt habe, um das Land von einem Sclavenaufwiegler zu befreien. Onkel Chunk war der erste „Whipper“ in Tennessee, worüber sich die Duell-Helden von Illinois mit der Zeit so ärgerten, daß sie beschlossen, ihn von Antonius Rix, ihrem Ersten, abthun zu lassen. Antonius Rix macht sich also eines Tages mit einem Dutzend Freunden auf den Weg nach Tennessee, um Onkel Chunk zu demüthigen und den größten Peitscher zu peitschen.
Das erste Zusammentreffen der beiden Helden war kurz und entscheidend. Der schon mittelalterliche Chunk blickt verachtungsvoll auf seinen jugendlichen Concurrenten, aber zugleich mit einem gewissen Interesse, das Jeder erregt, der nur noch vierundzwanzig Stunden zu leben hat, während der junge Illinoiser den alten Oberst als die reichste Beute betrachtet, der nur deshalb so viel Ruhm auf sich gehäuft, um ihm plötzlich Alles erblich zu hinterlassen. Der größte Peitscher brauchte ja eben nur gepeitscht zu werden. Freilich war Onkel Chunk zugleich kein Spaß, da er sich notorisch nie genau an die Ehrengesetze des Duells hielt und es bekannt war, daß er im Nothfalle einen Gegner erwürgte oder in den Rücken schoß. Aber die Wetten, die auf ihn (Rix) gemacht worden waren, und die Vorsichtsmaßregeln, die man brauchte, um dem Oberst keine besondern Vortheile zu lassen, beseitigten jede Furcht und Bedenklichkeit.
Die Sache war kurz eingeleitet. Rix stellt sich dicht vor Chunk hin und sieht ihn an, als wär er ’ne Wand. Chunk fragt, ob er „gepeitscht“ sein wolle. Hieraus dreht sich Rix um und schickt als der Beleidigte eine Forderung, die Chunk mit vieler Zuvorkommenheit annimmt.
[75] Der Beleidigte hat die Wahl der Waffen und des Duell-Modus, der durch ein Comité von Freunden auf folgende Weise festgestellt ward, um dem Onkel Chunk jeden Vortheil, den er durch Praxis im Erwürgen etc. sich erworben hatte, zu nehmen. Das Duell sollte mit den üblichen Waffen stattfinden, Sechsschuß-Revolvers und Bowie-Messern, aber ganz im Dunkeln und ganz ohne Kleider.
Diese Bedingungen machten ungeheueres Aufsehen in der ganzen Umgegend. Duell zwischen den beiden größten „Peitschern“ in absoluter Finsterniß und Nacktheit! Die ganze kleine Stadt, in welcher Onkel Chunk residirte und wo das Duell executirt werden sollte, füllte sich mit Fremden und Wettenden.
Zur bestimmten Stunde, Nachts um 11 Uhr (um absolute Dunkelheit zu sichern), drängten sich Fremde und Freunde in das Gasthaus, auf dessen Boden in einem absolut bretervernagelten Raume die beiden Helden über einander entscheiden sollten. Plätze dicht an den Bretern und an den Eingängen in die „Höhle“ stiegen um hundert Procent, als die beiden Gegner von verschiedenen Seiten eingelassen und absolut verschlossen wurden.
Hier ließ mein Freund, dem die Geschichte speciell zum Besten gegeben ward, einen unmelodischen Pfeifton hören, der sich leicht übersetzen und verstehen ließ.
„Ach, Sie calculiren, daß es nun ’n Bischen in’s Aschgraue zu gehn anfängt?“ fragt Blibb triumphirend und vollkommen vorbereitet.
Wir nicken Beide. Blibb holt eine Zeitung, den „Tennessee Argus“ aus der Tasche: „Ich vermuthe, Ihr werdet das glauben. Da hier steht’s, Alles haarklein. Lesen Sie just weiter von der Stelle hier. So weit bin ich gekommen.“
Wir lasen die Geschichte im Tennessee-Argus zu Ende. Ich übersetze die Stelle möglichst wörtlich:
„Wie ein urweltlicher Bürger des Urwaldes, der mit nobler Verachtung alle verweichlichenden Künste und Hüllen der Civilisation von sich weist, tritt der patriotische Sohn Tennessee’s – „das ist mein Onkel Chunk,“ schaltete hier Blibb ein – in die Nacht des Kampfraumes mit der Miene eines Mannes, der sicher ist, seinen Feind zu Splittern aufzulösen. Mit nicht geringerer nobler Kühnheit riß sich der jüngere Held, frisch von den grünen Hügeln Illinois’, aus den Armen seiner theilnehmenden Freunde, um die Schwelle in die verhängnißvolle Höhle der Nacht zu überschreiten, den Tempel des Sieges oder die Vorhalle des Todes. Beide sollten fünfunddreißig Minuten eingeschlossen bleiben. Die ersten fünf Minuten sollten ohne Kampf oder Schuß hingehen, just zur Orientirung. Ein Schlag von außen sollte als Zeichen dienen, daß fünf Minuten verflossen seien.
„Niemals werden wir vergessen, mit welchen Gefühlen wir, Notizbuch in der Hand, in der Passage dicht am Breterverschlage der Kampfhöhle mit klopfendem Herzen während der fünf Minuten standen. Die Standplätze um mich wurden zuletzt à 20 Dollars abgegeben. Der Ertrag sollte gleichmäßig an den Wirth des Gasthauses und den Ueberlebenden vertheilt werden. Kurz vor Ablauf der fünf Minuten schrie Epaminondas Tilt neben mir, Busenfreund des jungen Helden von Illinois, daß hier der Verschlag blos ein Bret dick sei und jede Kugel durchdringen könne. So mußte die Passage geräumt werden, aber der Wirth, der den Schlag nicht eher geben wollte, bis es wieder voll wäre, ließ Andere à 20 Dollars herauf und machte so doppelten Profit (was im amerikanischen Englisch noch viel pfiffiger klingt: „realised twice over“, realisirte doppelt über). Endlich ward das Zeichen gegeben. Absolute Stille, nur daß wir zuweilen ein Gleiten an der Wand vernahmen, ein Gleiten und Schleichen der Helden innerhalb der absoluten Nacht. Die Wetten, anfangs Zwei oder Drei zu Eins auf den Oberst, fielen, als man zu bemerken glaubte, daß der junge Illinoiser ungemein pfiffig und sorglich war. Rix hatte ungemein viel Freunde, die, wie die Sache verlief, in der That einen guten Haufen Dollars gemacht haben müssen. Jetzt hörten wir einen Revolver zweimal knacken und den Oberst lachen. Sofort stiegen die Wetten auf Zehn zu Eins mit tüchtig viel Acceptanten. Kurz darauf ein einziger Schuß, worauf Rix jubelnd ausruft, daß man getrost aufmachen könne, da Chunk richtig „ausgewischt“ sei. Aber wir warteten die fünfunddreißig Minuten pflichtschuldigst aus. Wie wir öffnen und hineinleuchten, sitzt Rix mit übergeschlagenen Armen auf dem Boden und ruft nach seinen Kleidern. Oberst Chunk lag total „ausgewischt“.
„Während der ersten Vorbereitungsminuten – den aufregendsten außerhalb – hatte sich Rix geradezu an das andere Ende der Höhle geschlichen, um in möglichst größter Ferne vom Oberst ihn kommen zu hören. Er war aber nicht wenig erstaunt, nach einigen Minuten aus dem Athem des Oberst zu schließen, daß dieser just denselben Kniff befolgt hatte und dicht neben ihm war.“
Hiermit schloß plötzlich der Bericht.
„Wie kommt es aber, daß uns nicht gesagt wird, wie eigentlich Ihr großer Onkel zu seinem Schicksale kam?“ fragte mein Freund den stolzen Neffen des großen Onkels.
„O, das steht erst in der zweiten Ausgabe des Tennessee-Argus, die erst erschien, als Rix mit seinen Freunden und Dollars über der Grenze war. Rix hatte ’nen Busenfreund, Epaminondas Tilt, der so fest neben dem Berichterstatter aushielt, weil er da etwas zu thun hatte (für ein Drittel des Antheils, wie ich später erfuhr). Er hielt einen Faden, der durch die Breterwand in den Kamin der Höhle lief und an einen Stein gebunden war. Ein Weilchen nach den fünf Minuten zuckte Tilt an dem Faden, so daß der Stein im Kamin etwas rutschte, was Onkel Chunk für eine Bewegung seines Gegners hielt. So regt er sich nun selbst, um loszudrücken, verräth dadurch seine Position und wird „ausgewischt“. Ein verdammt pfiffiger Einfall! Rix ward deshalb abgöttisch verehrt und blieb seitdem unangefochten auf seiner Höhe. Hätt’s Onkel Chunk überlebt, ich wette, Keiner hätte den Rix mehr bewundert, als Onkel Chunk. Onkel Chunk war ’n Mann, wie ihn sämmtliche vereinigte Republiken – die bald am längsten vereinigt gewesen sein werden – nicht wieder zu Stande bringen, nie!!“
Der Gedanke, das Uebel der Welt im Keime zu vernichten durch Erziehung und Arbeit, gehört Pestalozzi an, aber zu dessen tüchtiger Ausführung fehlte dem großen Menschenfreund praktischer Sinn und Geschick. Diese besaß in reichem Maße sein Freund und Mitstreiter Fellenberg; seine Armenschule, deren Zöglinge neben dem Unterricht den Landbau betrieben, ward zum sicheren Fundament des materiellen Gedeihens in dem großen Erziehungsstaate Hofwyl und insbesondere unter und durch Wehrli’s Leitung zum Muster für alle nachentstandenen Anstalten dieser Art. Die große Frage, ob Feldgärtner-Colonien, d. h. Anstalten, welche vermittelst gärtnermäßigen Landbaus ihren Zöglingen sowohl Mittel zur Erziehung, als auch zum theilweisen Unterhalt liefern sollen, möglich oder rathsam seien, bewegte lange die pädagogische Welt. Fellenberg machte den Versuch in der Praxis; er kaufte ein heruntergekommenes bäuerliches Anwesen zu Maykirch, einige Stunden von Hofwyl, und setzte dahin einen Lehrer mit elf erwachsenen Knaben seiner Armenschule. Das Experiment gelang vollständig, die kleine Cclonie erhielt sich selbst und wurde nach einigen Jahren als verbessertes Gütchen zu höherem Preise wieder veräußert. Auch andere Beispiele haben die oft bezweifelte Möglichkeit der Sache erwiesen. Allein dennoch stehen der allgemeineren Einführung solcher Feldgärtner-Colonien zwei große Hindernisse entgegen. Das erste ist das Finden des richtigen Mannes, der an ihre Spitze gehört, und dies ist keine Kleinigkeit. Er muß Vater und Mutter, Lehrer und Freund, Vorarbeiter und Spielgenosse seiner Zöglinge sein; sie werden für ihn die ganze Welt, und das Gelingen ihrer Erziehung muß ihm Alles ersetzen, was das Leben sonst zu bieten vermag. Nicht allein gründliche Kenntniß der Elementarwissenschaften, sondern auch der Landwirthschaft, des Gartenbaus, des Hauswesens muß er besitzen; neben eisern konsequentem Charakter die Liebe einer Mutter, die Geduld eines Weisen und den Scharfblick eines Menschenkenners. Wo diese Eigenschaften dem Hausvater fehlen, da wird und muß eine derartige Anstalt zu Grunde gehen. Aber wie selten sind sie in einem Menschen vereinigt, und wie noch seltener wird ein solcher jenen mühevollen und mindestens vor der Welt nicht dankbaren [76] Beruf ergreifen wollen! Ein zweiter Uebelstand ist, daß bei der Selbsterhaltung einer Kindercolonie die Arbeit die Hauptsache sein muß, die Lehre nur eine Nebensache sein kann. Während der Sommermonate wird sich die letztere zum größten Theil auf die gesprächsweisen Anleitungen während der Beschäftigung zu beschränken haben, und selbst im Winter wird nur geringe Zeit für den Unterricht übrig bleiben, wenn die Wirthschaft im gedeihlichen Zustand erhalten werden soll. Hierbei ist namentlich noch zu bedenken, daß Halberwachsene weder mit körperlicher noch mit geistiger Anstrengung überbürdet werden dürfen, sonst ist ein sieches Leben die unausbleibliche Folge. In gerechter Würdigung dieser beiden Haupteinwendungen hat daher die Humanität der neueren Zeit bei der Gründung von Bildungs- und Rettungsanstalten für verwahrloste Kinder von der Selbsterhaltung abgesehen, hingegen die Beschäftigung in Feld und Garten als eine Quelle der Gesundheit, als ein wichtiges Förderungsmittel des Anschauungsunterrichts und als einen immerhin werthvollen Beitrag zur Kostenverringerung weislich beibehalten.
Eine der berühmtesten derartigen Anstalten ist diejenige von Mettray, eine Meile von Tours in Frankreich entfernt. Sie wurde im Jahre 1840 von dem Gerichtsrath Demetz mit Aufopferung seines ganzen beträchtlichen Vermögens und Beihülfe einer Subscription gegründet. Der Graf von Bretignères schenkte ein Gut dazu. Gegenwärtig umfaßt diese Anstalt, deren palastähnliche Gebäude von einem begrünten Hügel herab sich in der Loire spiegeln, Raum für siebenhundert Knaben mit ihren Hausvätern und Lehrern. Vorzugsweise werden verwahrloste, gerichtlicher Bestrafung übergebene Kinder aufgenommen und bis zum zwanzigsten Lebensjahre in der Anstalt behalten. Die Ergebnisse sind vortrefflich; es ist z. B. noch kein Fall vorgekommen, daß von den Zöglingen einer entflohen wäre, so leicht ihm dies sein würde. Das Gut, welches sie bewirthschaften, umfaßt 200 Hectaren oder 800 Morgen; alle Bedürfnisse der Anstalt werden darauf erzeugt, und wenn auch immerhin ein Zuschuß nothwendig ist, so hat sich dieser mit der wachsenden Zahl der Zöglinge von Jahr zu Jahr bedeutend verringert. Die Nachwirkung der Erziehung ist eine zufriedenstellende; im Durchschnitt kommen auf 140 Entlassene nur 18 Rückfällige nach den sorgfältig geführten Listen. Mettray ist eine glückliche Verschmelzung der schweizerischen Landbau-Colonien mit den englischen Besserungsschulen, deren Name Ragged Schools, Lumpenschulen, das Schlechteste an ihnen ist.
Diese Anstalt besuchte im Jahre 1847 ein wackerer Holländer, Herr Suringar aus Amsterdam. Ergriffen von dem, was er dort sah und hörte, beschloß er, wennschon ein Greis, die Gründung einer ähnlichen Schule zur Aufgabe seines übrigen Lebens zu machen. Er war der Mann dazu. Der Verfasser, welcher das Glück gehabt hat, ihn persönlich kennen zu lernen, gedenkt mit Ehrfurcht und Liebe noch immer des unvergeßlichen Eindrucks, den die jugendfrische Gestalt, das blitzende Auge, die hohe von weißem Haar umwallte Stirne und die gewaltige Macht der Rede dieses merkwürdigen Mannes auf ihn gemacht hat; er erinnerte ihn auf das Lebhafteste an Fellenberg, seinen gleichstrebenden Vorgänger. In sein Vaterland zurückgekehrt, besprach sich Suringar, welchem die nothwendigen Mittel nicht zu Gebote standen, mit Freunden; seine begeisterte Darstellung fand fruchtbaren Boden: ein reicher Handelsherr, Schüller in Amsterdam, bot ihm sein Landgut Keyenberg oder dessen Taxwerth mit 16,000 Gulden zu dem edlen Zwecke an. Das steigerte den Muth des braven Mannes, er reiste in seinem ganzen Vaterlande umher; in Städten und Dörfern predigte er seine neue frohe Botschaft; er achtete weder Mühe noch Erniedrigung und sammelte, wie jener fromme Mönch, der, als er einen Schlag für seine Bitte erhielt, demüthig sprach: „Das war für mich, nun gebt mir auch für meine Armen.“ Der Erfolg krönte sein Werk. Die königliche Familie betheiligte sich königlich, 460 Subscribenten zeichneten von 50 bis 500 Gulden, 1200 jährliche Gaben von 5 Gulden, 200 Handwerker, arme Leute, versprachen täglich zwei Centimen für das schöne Ziel zurückzulegen etc. Unter Mitwirkung des Grafen Schimmelpennink van der Oije wurde das Gut Rysselt bei Zütphen angekauft und schon am 21. Juni 1850 der Grundstein der Anstalt unter würdigen Feierlichkeiten gelegt. Am 18. Januar 1852 ward dieselbe eröffnet mit 21 theils von den Gemeinden gesandten, theils zusammengelesenen verwahrlosten Knaben; zum Dircetor war J. W. Schlimmer, früher Vorstand des Besserungshauses in Rotterdam, ernannt worden, und eine bessere Wahl hätte man nicht treffen können.
Auf freundliche Einladung Suringar’s hin besuchte ich in seiner Begleitung im Herbst 1855 die Colonie, welcher er dankbar den Namen „Niederländisch Mettray“ gegeben hat. Sie liegt mitten im wasserreichen Flachland, und ihre netten, von jedem Prunk frei gebliebenen zahlreichen Gebäude, die Ordnung und Reinlichkeit, welche überall in der Umgebung herrschten, das offene, vertrauensvolle Entgegenkommen der Zöglinge nahmen schon von vornherein den Besucher ein. Um den Mittelpunkt des Schulgebäudes, welches zugleich den Betsaal, die Directorwohnung, das Lesezimmer etc. enthält, reihen sich die sechs Familienwohnungen, in [77] welchen die Knaben untergebracht sind. Es ist nämlich ein Hauptmoment der dortigen Erziehungsmethode, daß die Kinder nicht alle zusammen leben, sondern in Abtheilungen, je nach Alter, vielleicht auch Charakter gesondert, verschiedene Familien bilden, die unter der speciellen Obhut eines mit ihnen zusammenwohnenden und lebenden Familienvaters stehen. Die Zahl der Familienglieder war damals sechszehn und soll die Zwanzig nicht übersteigen, wodurch die Aufsicht und die ganze Erziehung wesentlich erleichtert und begünstigt wird. Jede Familie trägt den Namen eines Wohlthäters, dem sie das Haus verdankt, worin sie wohnt; eine einfache Inschrift an jedem derselben nennt die folgenden Geber: 1. König Wilhelm II., 2. Prinz Moritz, 3. Prinz Alexander, 4. Prinz Friedrich, 5. J. C. Walkart in Amsterdam und Gattin (zum Andenken ihrer fünfundzwanzigjährigen Ehe am 25. Mai 1852), 6. J. H. van Boelens (Bürgermeister von Leeuwarden) und Gattin (mit dem Gedenkstein: filio unico filiabusque parentes). – Das Innere dieser Wohnungen ist äußerst einfach, aber genügend und in wahrhaft holländischer Sauberkeit gehalten. Sie umfassen ein Zimmer für den Hausvater, ein Arbeitszimmer, eine Küche, den gemeinschaftlichen Schlafsaal und ein Waschzimmer, alle sehr praktisch und bequem eingerichtet, aber ohne das unbedingt Nothwendige zu überschreiten. Das Tagewerk beginnt im Sommer um 5 Uhr, im Winter um 6 Uhr, es wird geschlossen Abends um 8 und um 9 Uhr: im Durchschnitt finden täglich 4 Unterrichtsstunden statt, die sich auf Lesen, Schreiben, Rechnen, Vaterlandskunde, Geschichte, Geographie, Naturwissenschaften in Bezug auf den Landbau und namentlich Religion erstrecken. An Werktagen sind die Kinder in grobes Wollenzeug gekleidet, wie die gelderländischen Bauern, und tragen Holzschuhe, für die Sonntage erhalten sie eine bessere Kleidung. Zu ihrem Frühstück trinken sie im Sommer Wasser, im Winter Kaffee; ihre Hauptnahrung besteht aus selbstgebauten Gemüsen, Kartoffeln, Brod, Grütze, Reis, Milch etc.; nur zweimal in der Woche, Mittwochs und Sonntags, erhalten sie Fleisch. Nach der Durchschnittsberechnung stellen sich die Kosten einer Mahlzeit auf 14 Centimen per Kopf.
Das Zeichen zum Beginn der Arbeit, zur Heimkehr aus Feld und Garten wird mittelst eines Hornes gegeben, welches dem Aeltesten der Familie anvertraut ist. Eine halbe Stunde täglich wird dem Turnen oder dem Exerciren mit Gewehr gewidmet, um die Körper der Knaben geschmeidig und für späteren Dienst des Vaterlands geschickt zu machen. Neben dem Landbau beschäftigen sich die Zöglinge mit Gärtnerei, Baumpflege, Zimmerei und Tischlerei. Einige von ihnen helfen schon an den Neubauten; alle kleineren Holzarbeiten, Tische, Bänke, Werkzeuge, Hühnerställe, Bilderrahmen etc. werden von ihnen selbst gefertigt, da der Grundsatz festgehalten wird, so wenig fremde Hände als nur möglich in der Wirthschaft zu verwenden. Ebenso haben sie die Küche, die Bäckerei, die Ausbesserung der Kleidungsstücke, der Schuhe etc. alles selber zu besorgen. Sind sie einmal daran gewöhnt, sich auf ihre geschickte Hand zu verlassen, so darf mit Sicherheit angenommen werden, daß sie nach der Entlassung aus Mettray den richtigen Weg durch’s Leben finden. Abwechselnd verrichtet einer der Zöglinge das Amt des Schließers der Gebäude und des Thorwächters; bei dem großen Zufluß von Besuchern werden sie dadurch auch an Höflichkeit und an den Umgang mit fremden Menschen gewöhnt. Der Familienvater übergibt jede Woche einem seiner Kinder das Amt der Säuberung und Reinhaltung der Wohnung.
Alle Morgen versammeln sich bei dem Director der Ausseher der Landarbeiten, der Buchhalter und die Familienväter; er bestimmt dann das Tagewerk, notirt dasselbe und verkündet es darauf den Zöglingen bei dem Zusammenruf. Die Oberaufsicht und die ganze Verantwortlichkeit hinsichtlich der Handarbeit und der Unterweisung ruht auf dem Director. Seine Hauptaufgabe ist, beide Thätigkeiten gleichmäßig so zu vereinen, daß nicht eine auf Kosten der anderen bevorzugt wird. Bei diesen Kindern ist es, mit Hinblick auf ihre wahrscheinliche spätere Lebensstellung, nicht darum zu thun, den Kopf mit vielem Wissen anzufüllen, aber ein leerer Kopf bringt auch der Arbeit keinen Segen. Blos eine harmonische Vereinigung der körperlichen Anstrengung mit der geistigen verheißt den Zöglingen eine glückliche Zukunft. Nehmen Felder und Garten alle Kräfte der Colonie in Anspruch, wie z. B. in der Saat oder Ernte, so bindet man sich natürlich nicht an die vorgeschriebenen täglichen vier Arbeitsstunden; bei hartem Winterfrost oder anhaltendem Regen wird das Versäumte wieder nachgeholt.
Im Winter beschäftigen sich die jungen Colonisten mit der Anfertigung oder Ausbesserung der Geräthe, mit Weben, Flechten etc.
Die Leitung der landwirthschaftlichen Arbeiten und die Erklärung derselben ist Herrn Brantz, einem tüchtigen Agronomen, anvertraut. So lange die Kinder noch gar keine Kenntniß darin haben, werden sie zur Ebnung des Bodens, zur Reinigung der Wege und Pfade, der Wassergräben, der Bäume etc. verwendet, und lernen dadurch spielend die schwierigeren Arbeiten. Außerdem ist jedem Knaben ein Gärtchen zugetheilt, das er in den Erholungsstunden bebaut, wie er Lust hat und es versteht. Den naturwissenschaftlich-landwirthschaftlichen Unterricht ertheilt Herr van Konijenburg möglichst vereinfacht und der Fassungsgabe der Kinder angemessen. Die Zöglinge schreiben sich das Wesentlichste davon auf und vergleichen es später mit den Erfahrungen in der Praxis.
Diese Lebensweise hat einen unverkennbar guten Einfluß auf das Wohlbefinden der Kinder; alle sehen merkwürdig gesund und kräftig aus, sind immer sauber und betragen sich sehr anständig; jene bäuerische Verlegenheit Fremden gegenüber, die man so häufig bei der Dorfjugend findet, noch weniger aber das kecke ungebundene Wesen der Producte gewöhnlicher Erziehungsanstalten werden hier keineswegs bemerkt. Alle hängen, wie es scheint, mit großer Liebe an ihren Familienvätern und namentlich an dem trefflichen Suringar, dessen Erscheinung jedes Mal das Signal zur allgemeinsten herzlichsten Freude ist. „Kann ich mir einen besseren Lohn auf dieser Erde wünschen?“ frug er, als er mit einer Thräne im Auge sich den stürmischen Liebkosungen der durch ihn zu Menschen werdenden Kinder entzog.
Niederländisch Mettray ist eine noch zu junge Anstalt, um schon Erfolge ihres Wirkens in der späteren Lebensperiode der Zöglinge aufweisen zu können; daß dieselben aber sicherlich die besten sein und sogar diejenigen verwandter Anstalten übertreffen werden, scheint unzweifelhaft. Schon um eines Umstandes willen: in Niederländisch Mettray finden keine körperlichen Strafen und kein Gefängniß mit Einzelnhaft statt, wie im französischen Mettray und im Rauhen Haus bei Hamburg; ein ernstes Wort, höchstens der Ausschluß von einer gemeinschaftlichen Freude bewirkt dort mehr, als alle Zwangsmaßregeln. Das ist gerade die Aufgabe solcher Anstalten, größeren Fehlern vorzubeugen, sie unmöglich zu machen durch Erziehung. Wo dies nichts hilft, da ist auch die härteste Strafe vergeblich und macht das Uebel nur ärger.
Was ich, der ich selber früher Lehrer an ähnlichen Anstalten gewesen bin, an der Mehrzahl derselben auszusetzen habe, ist, um es gerade herauszusagen, ihre allzuweit getriebene Frömmigkeit. Erschrick nicht, lieber Leser, ich bin kein Gottloser, aber ich halte es für Zeitvergeudung, für lächerlich und sogar für unwürdig, den lieben Gott unaufhörlich im Munde zu führen und ihn wegen jeder Lappalie zu beschreien. Das allzuviele Demüthigen und auf den Knieen Umherrutschen ist ungesund und bildet meistens Heuchler. Der Zwang, den man sich auferlegt, um jeden Unterrichtsgegenstand in ein Capitel aus der Religionslehre umzuwandeln, die unaufhörliche Vermengung des Heiligen mit dem Profanen kann unmöglich gute Folgen haben. Es genüge diese kurze Andeutung, obgleich sich über den Gegenstand noch gar Vieles und Ernstes reden ließe.
Das Werk des wackeren Suringar, des populärsten und geliebtesten Mannes in seinem ganzen Land, schreitet, wie die neuesten Berichte melden, immer freudiger voran, und die Zahl der Familien der Colonie vermehrt sich von Jahr zu Jahr. Sein Mettray ist eine Perle der schönen Niederlande, eines Reichs, von dessen Bestrebungen und inneren Bewegungen man gar zu selten etwas im Ausland erfährt. Wer aber einmal den reizenden Park des Geldernlandes durchwandert, der versäume nicht. Niederländisch Mettray zu besuchen und sich dort einen wahrhaft frohen Tag, erhebende Gedanken und gute Vorsätze zu holen.[78]
Die schmale Panara bildet die Grenze zwischen Modena und der Romagna. Man passirt die kleine Brücke und die großen Zollgebäude, an denen man sonst allerlei Paßplackereien ausgesetzt war, und es ist wunderbar, wie rasch man es fühlt, daß man sich in einem anderen Staate befindet. Boden, Klima, Volk sind dies- und jenseits der Panara dieselben; beide Staaten wurden despotisch regiert – aber der Despotismus hatte verschiedene Formen, und schon das reichte hin, beide äußerlich wie innerlich so sehr zu unterscheiden. Die Straße wird gleich an der Brücke etwas schlechter, und die vielen Ausbesserungen, welche die neue Regierung jetzt vornehmen läßt, tragen für den Moment zum bequemen Weiterkommen nicht viel bei. Die vielen einzeln zerstreuten Häuser und Ortschaften wissen nichts von Fensterscheiben; das Glaserhandwerk scheint hier ganz unbekannt. Die großen leeren Fensterlöcher, die schwarz auf die Straße sehen oder mit Bretern geschlossen sind, lassen jedes Haus öde und verlassen erscheinen. Die Tracht der Einwohner nimmt jenen pittoresk-zerrissenen Charakter an, den die Maler so sehr lieben, der aber zur Erwärmung in kalten Wintertagen, wie sie bereits eingetreten sind, wenig beitragen mag. Die Scheibenlosigkeit der Fenster und diese allgemeine Armuth erinnerte mich lebhaft an das Innere der Türkei; so hatte mich auch schon die kleine Festung Urbano, auf deren Wällen noch vor Kurzem österreichische Schildwachen auf- und abgingen, auf’s Lebhafteste an türkische Festungen erinnert. Ach, wie elend sah sie aus, als ich an ihr vorbeikam! Große Stücke der Mauer waren in die Gräben gefallen und ragten aus den Pfützen derselben wie Klippen hervor. Das Ganze schien sich demnächst in einen chaotischen Erdhaufen verwandeln zu wollen.
Von all diesem Erdenjammer wendete man sich gern dem himmlischen Schauspiele zu, das die Sonne auf den Spitzen und in den Thälern der Apenninen mit Feuersäulen, Wolken, Schatten, vergoldeten Bäumen, Fata-Morganaschlössern, luftigen Rosenbüschen und phantasmagorischen Arabesken und Fabelthieren ausführte. Sie schien es vergessen zu haben, daß sie den Tag hindurch mit verfrühten winterlichen Strahlen geleuchtet, oder wollte es im Augenblicke des Scheidens gut machen. Die Apenninen, so verklärt, rückten uns immer näher, und plötzlich lagen die Hügel mit Madonna di San-Luca und San Michele di Bosco, mit den unendlichen Arkaden, die auf den Hügel führen, und mit der ganzen zaubervollen Decoration von Bologna vor uns.
Die Stadt der Pepoli’s, Bentivoglio’s, Lambertazzi’s, die Stadt Giovanni’s, Caraccio’s, Guido’s, Guercino’s, Domenichino’s, war bei meiner Ankunft noch die Stadt Garibaldi’s. Aber man merkte nicht viel davon. Das eigentliche Lager der italienischen Liga befand sich in Rimini; die Bataillone, die noch in Bologna standen, verloren sich in den unendlichen Straßen der großen Stadt und in den Arkaden, welche keinen Ueberblick gewähren und die Mitte der Straße immer etwas öde erscheinen lassen. Ein Wallensteinsches Lager, oder daß Bologna in dem Momente ein Pilsen war, erkannte der tiefer Eingeweihte nur an den Ottavio’s und Quästenbergen, die daselbst ihr Wesen trieben. Bologna sah wie in den gewöhnlichsten Zeiten aus. Die Arkaden mit ihren Dämmerungen, die an beiden Seiten fast aller Straßen Bologna’s hinlaufen, vereiteln alles Auffallende, das sich im Straßenleben zutragen mag. In ihnen kann sich eine große Volksmenge aufgeregt und wild dahinwälzen, ohne daß man von einem nahen Standpunkte aus in der Mitte der Straße oder an einem Fenster etwas davon bemerkt. Bei schlechtem Wetter wird selbst der Markt leer, und Käufer und Verkäufer verschwinden in den Wölbungen.
Wie sonst saßen die Müßiggänger Bologna’s in den Kaffeehäusern und bei den Friseuren, denn Bologna ist nicht nur die Stadt der Caracci’s, sie ist heute vor Allem die Stadt der Müßiggänger und der Friseure. An der Stelle des Wortes Libertas, das groß und breit und seit Jahrhunderten wie ein Hohn im Wappen der Stadt prangt, sollte das Wort Otium stehen und zwar sine dignitate. Es ist die zahlreiche Aristokratie Bologna’s und das päpstliche Regiment, welche das Heer von Müßiggängern schufen und den Müßiggang zur normalen Beschäftigung der Bologneser Jugend machten. Die Aristokratie mit so großen Namen wie Pepoli, Bentivoglio etc., die ihre Stammbäume bis in die ältesten Zeiten der Longobarden zurückführt, die in den frühesten Kämpfen der Welfen und Ghibellinen, der Geremei und Lambertazzi eine Rolle spielt, konnte sich nach dem Falle Bologna’s und dem Verfalle Italiens nicht entschließen, von ihrem Piedestale herabzusteigen. Ihre Söhne hatten diese Stadt oft unumschränkt beherrscht, wie sollten sie jetzt ruhige Bürger und nützliche Menschen werden? Die Paläste, obwohl sie verfallen und zum Theile öde stehen, die unzähligen Thürme, von denen aus sie einander bekriegten und die über die Stadt drohen, wie aufgehobene Arme, obwohl sie heute Ruinen gleichen, erinnerten sie allzulange an die entschwundene Größe. Im Kriegsdienste des Papstes mit dem Schlüssel auf der Uniform war nicht viel Ruhm und Ehre zu holen, so blieben sie daheim und lebten von einem Tage zum andern von den Resten der Besitzthümer ihrer Ahnen und von schalen Erinnerungen. Die Besitzthümer verfielen, die Renten verschwanden, aber der Müßiggang blieb, und mancher Träger großen Namens lebt so fort von dem Miethzins, den ihm ein noch halb und halb bewohnbarer Theil seines großen Palastes abwirft, oder von der Villa, deren prächtiger Garten in einen Gemüsegarten oder in Ackerland verwandelt und verpachtet wurde. Hätte die päpstliche Regierung irgend welche Bildung oder Unterricht aufkommen lassen, hätten Gesetze und Zustände nicht die hiesige Jugend vom Rest der Welt abgeschnitten: in mancher jungen Seele wäre wohl mit der Erinnerung an alte Zeiten und mit den Pflichten, die diese auferlegt, ein neues Streben erwacht; so aber erstarben alle Keime in Herz und Geist, und was aufwuchs, war Müßiggang.
Dem Adel wie dem strebsamen Bürgerlichen waren auch alle Staatsämter verschlossen, da diese nur mit geweihten Häuptern, nur vom Clerus besetzt wurden, und so lagen, dem Staate gegenüber, bürgerlicher und adliger Geist gleich einem Brachfelde da, und die Unfruchtbarkeit solchen Lebens war durch das Dasein und Beispiel der Canonicate und zahllosen Klöster sanctionirt und vom Staate gern gesehen. Der Bürgerliche hätte sich in moderner Zeit wohl aufgerafft, wie in andern Ländern, wenn unter pontificalen Zuständen an ein modernes Regen, an Handel und Industrie zu denken gewesen wäre. Das Land, das ein Garten Gottes und von einem bis acht Fuß dicken fruchtbaren Humus bedeckt ist, bringt gerade so viel hervor, als der Bewohner braucht, um zu leben; denn warum sollte er sich um mehr bemühen, da er mit dem Producte nichts anzufangen weiß, da es ihm an Märkten und Verbindungswegen fehlt und da das rohe Material zu Hause nicht verarbeitet wird? Die Hauptproducte des Landes, welche allein es bereichern könnten, sind Flachs und Seide, und siehe da, es besteht in der Romagna nicht eine einzige Spinnerei, geschweige eine Weberei! Die Ausfuhr dieser Producte und einigen Weines bringt einen gewissen Geldverkehr hervor, der in Bologna mehrere reiche Banquierhäuser geschaffen. Aber die Sache ist so einfach, die Beschäftigung ist so gering, daß der Banquiersohn und Commis mit einer und zwei Stunden Arbeit des Tages hinlänglich auskommt, und da er hier, wie überall, gern den Patrizier nachahmt, vermehrt er das große Contingent der Müßiggänger, und so entsteht das faule Heer, als dessen Eigenthum wir die alte Stadt bezeichnet haben.
Das Leben eines solchen noblen Lazzarone ist sehr einfach und einförmig, ob er nun große oder kleine Renten habe. Er erhebt sich gegen zehn Uhr aus dem Bette, wäscht sich wenig oder gar nicht, wirft einige Fetzen um und geht in der nachlässigsten Toilette von der Welt zum Friseur. Er hat sich beim Friseur nicht zu geniren; dieser ist sein Freund, sein Vertrauter; die Boutique ist seine Heimath, und die er dort findet, sehen so aus wie er und sind wie er. Der Friseur ist der Angel- und Mittelpunkt des Faulenzerlebens. Er hat gestern Abend so und so viel Damen frisirt, mit so und so vielen Kammerkatzen geplaudert; er hat heute Morgen schon so viele Köpfe unter seiner Hand gehabt und er weiß Alles, was in Bologna und Umgegend, vielleicht was in Rom und Paris vorgeht und vorgehen wird, und er hat die Gabe, sich lebhaft und verständlich mitzutheilen. Seine Zunge ist in fortwährender Bewegung [79] und ruht nur aus, wenn ein Neuangekommener seinen Schatz von Neuigkeiten bereichern kann. Während er die dunkle Mähne des einen Löwen mit Kamm und Eisen bearbeitet, sitzen die andern mit ausgestreckten Beinen, die Cigarre im Munde, auf Sophas und Stühlen und warten ruhig ab, bis die Reihe an sie kommt. Theaterklatsch, Liebesgeschichten, Raub und Mordthaten und dergleichen Dinge füllen ganze Stunden aus und sind so anziehend, daß der Löwe, selbst frisirt, noch die Boutique nicht verläßt, sondern seinen Kaffee aus dem nahen Kaffeehause herüberkommen läßt, um ihn in der wahlverwandten Gesellschaft langsam hinabzuschlürfen. Einige schöne Tagesstunden werden auf diese Weise glücklich todtgeschlagen. Dann erhebt man sich und, bedeckt vom stolzen römischen Mantel, der manche Aermlichkeit verhüllt, macht man in Gruppen einen Spaziergang durch die eleganten Arkaden bei S. Petronio, bleibt vor den Auslegekasten stehen und blickt den vorübergehenden Schönen unter den Hut.
Gegen drei Uhr kehrt man auf seine Stube zurück, die selten ein fremder Fuß betritt und die darum mit einer Matratze, einem dreibeinigen Stuhl und dergleichen Einrichtung hinlänglich möblirt ist. Vor einem blinden oder zerbrochenen Spiegel wird der Hemdkragen umgebunden, der ein reines Hemd heuchelt, wird die Toilette überhaupt in diesem Geist und Systeme fortgesetzt und vollendet. Als ziemlich stattliche Figur tritt man wieder in die Straße, um in dem oder jenem Palazzo einen Besuch zu machen, eine Dame über ihr gestriges Aussehen im Theater zu becomplimentiren, Schmeicheleien zu sagen und die Neuigkeiten anzubringen, die man beim Friseur an bester Quelle geschöpft hat. Dann geht es zu Tische, dann wieder in’s Kaffeehaus, dann in’s Theater. Da gibt es große Löwenhöhlen, d. i. große Logen, die aus drei und vier vereinigten Logen bestehen, deren Zwischenwände gefallen und die mit glänzenden Tapeten ausgelegt und auffallend hell erleuchtet sind. Die Löwen associiren sich und pachten diese Logen für die ganze Staggione um einen Spottpreis. Herrlich beleuchtet, geben sie da ihre Schönheit zum Besten, ziehen die Aufmerksamkeit durch lautes Plaudern auf sich, entscheiden das Geschick der Sängerinnen und zertheilen sich in den Zwischenacten in die andern Logen, um den Hof zu machen.
Die Bedürfnisse eines solchen Löwen können selbst bei kleiner Rente befriedigt werden, da das Leben in Bologna für den Einheimischen sehr billig ist. Nur die äußere, sichtbare Toilette verursacht einige Kosten; auf die unsichtbare wird wenig verwendet, sowohl was die Näherei, als was die Wäscherei betrifft. Der Müßiggänger ißt und trinkt wenig, wie jeder Italiener, und erschrickt nicht vor der kleinsten, schmutzigsten Trattoria, wo er zu zwei Paoli seinen Leib ernährt. So ist es Jedem leicht gemacht, in den Orden zu treten, und so erklärt sich auch die große Anzahl seiner Ordensbrüder.
Im vorigen und noch zu Anfang dieses Jahrhunderts, hatte das Müßiggängerthum Bologna’s etwas Romantisches und Classisches zugleich. Der Patrizier, wie einst der römische, hatte seine Clientel, die aus ärmeren Patriziern und Plebejern bestand. Er war ihr Haupt und Schützer, und sie hingen ihm treu an. Von ihnen umgeben und gefolgt zeigte er sich unter den Arkaden, durchzog er das Land, machte er sich der Polizei, in politischen Dingen manchmal selbst der Regierung, und immer den Vätern, Ehemännern und seinen Feinden und Nebenbuhlern furchtbar. Nur wenige Patrizier brauchten sich zu verabreden, um einen großen Tumult, eine Demonstration, selbst einen Aufruhr hervorzubringen; sie versammelten ihre Clienten und zogen auf den Markt. Viele dumme und manche kecke und romantische Streiche wurden da aufgeführt. Im Jahre 1848 hat sich die Erinnerung an jene Zeiten geltend gemacht, und unternehmende Revolutionäre warben solche Clientelen mit Hülfe ihrer Beredsamkeit. Heute ist von dieser aus altpatrizischer, guelfischer, vielleicht römischer Zeit stammenden Institution wenig oder nichts mehr zu merken; der junge Mann aus dem Volke ist ernster und strebsamer geworden, und der elegante Müßiggänger steht allein da, ohne Classicität und Romantik, langweilig, platt, nichtssagend, wie in allen andern Ländern der Welt, selbst jener Philosophie baar, die den neapolitanischen Lazzarone auszeichnet.
Man fühlt sich von Ekel erfüllt, wenn man in einer Zeit, wie die jetzige, diese gesunden, kräftigen Gestalten nach wie vor beim Friseur und im Theater sieht, während sie in Rimini unter Waffen stehen sollten. Es ist das eine der schönen Erbschaften der klerikalen Herrschaft, die darauf ausging, die Fäulniß jeder jungen Kraft zu beschleunigen, und der neuen Regierung ist es schwer, hier zu helfen, da ihr kein Gesetz zur Seite steht, das sie zur Benutzung dieser brachliegenden Kräfte anwenden könnte. In Modena und Parma hat sie die Conscription bereits eingeführt; in der Romagna soll es jetzt geschehen, aber zur Zeit ist das eine pure Unmöglichkeit, da kein Geburtsregister, kein état civil, überhaupt keine Einrichtung besteht, die der Behörde einen Blick in Bevölkerungs-, Alters- und Vermögensverhältnisse erlaubte; auch in dieser Beziehung hatte die Regierung des Papstes die größte Ähnlichkeit mit der Regierung des Großtürken. Doch muß dieser Relation Bologneser Müßiggängerthums zur Steuer der Wahrheit beigefügt werden, daß sich ein bedeutender Theil der bisherigen Faulenzer freiwillig aufgerafft, daß ihn der Patriotismus erhoben und daß der Bewegung aus seinen Reihen manche Kraft zu Gute gekommen. In den Bureaux wie in der Armee der Liga findet sich heute mancher junge Mann arbeitend und begeistert, der noch vor wenigen Monaten mit Seinesgleichen zu verfaulen drohte. Das ist einer der Anfänge des Freiheitssegens.
Von Bologna als der Stadt der Müßiggänger sprechend, könnte ich jetzt noch Manches von den zahllosen Mönchen, Nonnen, Klöstern und Canonikern erzählen, aber das sind bekannte Leiden. Auch macht sich dieser Theil der Bevölkerung im jetzigen Augenblick weniger geltend. Die Bettelmönche, mit ihren großen weißen, über die Schulter geworfenen Bettelsäcken, gehen zwar noch von Haus zu Haus; aber die anderen, besonders die politischen, wie z. B. die Jesuiten, halten sich stille, wenn auch wahrscheinlich nicht unthätig, in ihren Klausen und Hallen und Sälen. Die Dominikaner haben dieser Tage einen tiefen Seelenschmerz erlitten, indem der Dictator Farini durch ein Decret die Inquisition aufhob, jenes Institut, mit dessen Ruhm vorzugsweise der historische Glanz dieses Ordens zusammenhing. Liest man dieses und die vielen anderen Aufhebungsdecrete, die alltäglich die Straßenecken bedecken, so glaubt man von alten Zeiten zu lesen oder im 15. Jahrhundert zu leben, und ist erstaunt, wie Vieles die neue Zeit noch zu thun und zu vernichten hat. Wenn die jetzige Bewegung glückt und Italien zu einiger Freiheit gelangt, werden nur böswillige Verleumder den Muth haben, auf die schlimmen Zustände aufmerksam zu machen, die sich selbst unter der Freiheit noch lange, lange Zeit erhalten werden, denn es ist unmöglich, in kurzer Zeit das Unkraut auszujäten, das eine der unglücklichsten Regierungen der Welt nicht nur aufwuchern ließ, sondern systematisch pflegte und aussäte. Man lese nur diese Decrete des Dictators, der sehr gut weiß, daß man mit Decreten nicht an einem Tage abschafft, was durch Jahrhunderte verderbt ist, der aber auf die innere Verfassung aufmerksam und die Nothwendigkeit einer radicalen Reform durch Bloßstellung der Schäden klar machen will; man lese das Circulaire des Marchese Pepoli und die angehängten officiellen Documente, um sich einen Begriff von der Justiz zu machen, die bisher im Kirchenstaate geherrscht und welche die türkische beschämt; man lese endlich im Monitore di Bologna die Correspondenz der Cardinäle und Legaten, um sich zu überzeugen, wie bewußt dieses System der Gewaltsamkeit, der Verfolgung, der summarischen Justiz, der Verdummung etc. aufrecht erhalten worden, ja, wie es den Regierenden noch nicht genügt und wie sie sich als tiefe Psychologen über fernere und gründlichere Ausbildung dieses Systems berathen. Wie eigenthümlich klingen diesen Thatsachen gegenüber die Klagen Roms über die Undankbarkeit der Völker! Die Undankbarkeit! Wir wollen hier nur eine kleine Geschichte erzählen.
Im Jahre 1857 kam Pius IX. dessen persönliche Herzensgüte man auch hier rühmend anerkennt, nach Bologna. Eine Deputation der Stadt erlangte endlich Gehör und sie bat Se. Heiligkeit, doch einige kleine Reformen einzuführen, Reformen, welche er doch selbst in seinem Motuproprio aus Portici versprochen hatte. Nachdem die Deputation sich in Bitten und Vorstellungen erschöpft, antwortete ihnen der heilige Vater, er sehe wohl, wie sehr sie vom bösen Geist verblendet seien, und er wolle Gott, seinen Sohn und die heilige Jungfrau um Erleuchtung der Verblendeten bitten. Doch hat Pius IX. Bologna nicht verlassen, ohne drei Gnaden über die Bevölkerung der Legation auszugießen: er verordnete, daß aus seiner Casse eine gewisse Summe zum Ausbaue der Façade von S. Petronio, der großartigen Kirche Bologna’s, beigesteuert werde, daß der Flecken Crevacuore den besser klingenden Namen Buonocuore, der Flecken Malalbergo den ebenfalls gemüthlicheren Namen Buonalbergo erhalte.
Die ausgesetzte Summe Geldes ist bis auf den heutigen Tag nicht angekommen, und wäre sie gekommen, der Papst hätte sich die Dankbarkeit der Bevölkerung schwerlich damit erworben. [80] Jedermann sah ein, daß ein Klerus, der in dem kleinen Kirchenstaate liegende Güter im Werthe von fünfhundert Millionen besitzt, dem außerdem vom Staate jährlich ein Budget zugewiesen wird und der sich noch dazu der größten Einkünfte an freiwilligen Gaben, Erbschaften, Sammlungen. Gebühren etc. erfreut, eines solchen Zuschusses zum Ausbau einer Kirche nicht bedarf. Was die beiden umgetauften Gemeinden betrifft, so betrachteten sie die Gnade als einen Hohn auf die Gnade und beeilten sich, den Dictator um Rückgabe der schlechtklingenden alten Namen zu bitten.
Noch eigenthümlicher als jene Klagen über Undankbarkeit klingt die römische Versicherung: „das Volk will mich!“ dem Briefe des Cardinal Massimo, Gouverneurs der Provinz Ravenna, gegenüber, in welchem dieser behauptet, daß, „die Greise, die Frauen und die Kinder ausgenommen, der ganze Rest der Bevölkerung vom achtzehnten Jahre aufwärts, der Regierung auf’s Aeußerste feindselig gesinnt sei – ausgenommen etwa noch einige sehr wenige furchtlose Legitimisten“. An andern Stellen wird versichert, daß, nach verläßlichen polizeilichen Berichten, nicht dreißig Personen in der Provinz dem römischen Regimente günstig seien – daß Alles, vom Patrizier angefangen bis zum niedrigsten Knechte, gegen die Regierung conspirire etc. Der Cardinal versichert auch, daß ein nicht kleiner Theil selbst des Klerus unzufrieden sei. Noch schrecklichere Zeugnisse von der Beliebtheit des römischen Regimentes finden sich in dem nicht minder authentischen Auszuge eines politischen Processes, der bereits aus dem Jahre 1840 datirt. Da wird es zu wiederholten Malen ausgesprochen, daß, wenn man die ganze geheime, der römischen Regierung feindliche Gesellschaft arretiren wollte, man den größten Theil der ganzen Bevölkerung verhaften müßte etc. Und „das Volk will mich!“ – In Parma, in Modena liest man auf allen Häusern die Inschrift: „Es lebe Victor Emanuel, unser legitimer König!“, in Bologna liest man auf den Zetteln, die ebenfalls an allen Häusern, und an manchen Häusern unter jedem Fenster angeklebt sind: „Wir wollen Victor Emanuel zum König! Noi vogliamo Vittorio Emanuele[WS 1] per nostro Re!“ Ist dieses „wir wollen“ nicht vielleicht eine absichtliche Antwort auf das „Will“ Roms?
Die nordamerikanische Barbierstube. Wie in tausend anderen Dingen, so prägt sich auch in den nordamerikanischen Barbierstuben jene Verschiedenheit aus, die äußerst charakteristisch zwischen dem dortigen Wesen und unserer hierländischen deutschen Weise besteht.
„Zeit ist Geld“ gilt in den Vereinigten Staaten als der alle Verhältnisse des dortigen Lebens und Strebens bestimmende, ja durchdringende oberste Grundsatz; und so geschah es denn auch, daß unser, in mehr als einer Beziehung noch wenig entwickeltes und dabei überaus schleppendes deutsches Barbierwesen auf einem Boden nicht Wurzel zu schlagen vermochte, wo die freie Concurrenz das Spiel der Kräfte weckt, beschleunigt und veredelt. wo der herkömmliche Schlendrian, die Faulheit und die Trägheit sich nicht hinter sogenannten „Gerechtigkeiten“ verstecken können.
In den nordamerikanischen Städten, und vollends ganz und gar nicht auf dem Lande, klopft also kein rechtschaffener Barbier an die Zimmerthür, steckt das werthe Haupt hindurch und fragt bescheidentlich an: „Ob der Herr barbirt zu werden wünsche?“ Keinem fällt es ein, den Fuß über seine Schwelle zu setzen, um, wenn kaum der Hahn gekräht, oder noch in später Abendstunde, bei Sonnenschein oder in Sturm und Wetter einer nach allen Richtungen hin zerstreuten Kundschaft keuchend nachzujagen. Der nordamerikanische Barbier läßt sich suchen. Wer rasirt sein will, hat sich männiglich in die Barbierstube zu verfügen.[1] Dafür aber wird man hier wahrhaft salonmäßig empfangen und äußerst prompt, höchst sauber und gentil bedient.
Eigentliche Nichtsthuer, Staatshämorrhoidarier und Individuen ähnlicher Gattung gibt es in den Vereinigten Staaten von Nordamerika kaum. Alle Welt arbeitet und schafft, und man schafft und arbeitet viel: der Unbemittelte, um bemittelt, der Reiche, um reicher zu werden. Die Arbeit, der Verdienst ist die Ehre des Mannes. Darum nimmt man die Zeit so zusammen. Jede Minute hat ihren Werth und ihren Preis. Darum auch genügt man dem Bedürfniß, rasirt zu werden, meist nur im Vorbeigehen, ohne sich dabei an eine bestimmte Stunde zu binden. Die Barbierstuben sind ohne Unterlaß besucht. Dem oft so überaus lästigen Warten auf den Barbier setzt sich kein nordamerikanischer Freibürger aus. Für den Barbier andererseits erwächst daraus der Vortheil, daß er in seinem Local binnen zwei Stunden soviel und mehr Kunden zu bedienen vermag, als ihm sonst den ganzen Tag über möglich sein würde, wenn er dieselben in ihren Behausungen aufzusuchen genöthigt wäre.
Wan nun die Operation des Rasirens selbst betrifft, so geschieht dieselbe mit einer Gewandtheit und Schnelligkeit, die der übergroßen Mehrzahl unserer deutschen Barbiere als wahrhaft mustergültig zur unbedingten Nachahmung zu empfehlen sein dürfte. Zuvörderst ist man nicht der Gefahr ausgesetzt, wie dies in den deutschen Barbierstuben so häufig zu geschehen pflegt, mit einer vielfach begriffenen, unsaubern Serviette, die vielleicht schon mehrtägige Dienste geleistet hat, umhangen zu werden; dem barbierenden Künstler liegt vielmehr stets eine Schicht reiner weißer Leinentücher zur Hand, die er je nach Personen und Umständen fortwährend wechselt. Beim Rasiren ist der sogenannte „Langstrich“ die eingebürgerte Methode, die man mit leichter, aber sicherer Hand zu prakticiren versteht. Alles unzeitige Absetzen und Spielen mit dem Messer ist verpönt. Und wohl gar einem Lehrjungen zum Opfer elementarer Studien anheimzufallen, wird einem Gentleman nie und nimmer zugemuthet werden. Um dem allgemeinen Schaumnapf und dem allgemeinen Pinsel aus dem Wege zu gehen, pflegen die regelmäßigen Kunden ihre bestimmten, häufig numerirten oder mit Namen bezeichneten, höchst zierlichen Schaumtöpfchen aus Porcellan nebst Seife und Pinsel zu haben, die in einem eleganten Regal in bester Ordnung aufgestellt stehen. Ist der Bart abgenommen, so wird das ganze Gesicht mit einem weichen, in köllnischem Wasser getränkten Schwamme übergangen und sodann abgetrocknet. Hierauf überpudert man dasselbe noch mit einem weißen Pulver, das der Haut eine höchst angenehme Weichheit verleiht. Nun geht es an die Frisur des Kopfhaares, die mit dem Rasirproceß stets verbunden wird, und binnen weniger Secunden ist auch diese mit einer bewundernswerthen Fertigkeit vollbracht. Während dem ist auch der Ueberrock, dessen man sich zu größerer Bequemlichkeit zu entledigen pflegt, sauber ausgebürstet worden, und der betreffende dienstbare Geist, meist ein Negerknabe, wartet damit und mit dem Hut, dem ein Gleiches widerfuhr, geschäftig auf.
Für diese ganze Mühwaltung werden als fester Preis zehn Cents bezahlt, was nach unserm Geld vier Neugroschen beträgt. Dies könnte viel scheinen, ist aber insofern wenig, als die Preisverhältnisse in Nordamerika ungleich höhere sind. namentlich jegliche Arbeitsleistung mindestens viermal theurer als in Deutschland ist.
Es bleibt uns nun noch übrig, einige Worte über die Localitäten selbst zu sagen, worin die Barbiere in allen Städten der nordamerikanischen Union von nur einiger Bedeutung ihre Geschäfte zu betreiben pflegen. Jeder eintretende Fremde wird über die außerordentliche Sauberkeit und Eleganz erstaunen, die er hier antrifft. Da gewahrt man weder schmutzige Servietten, noch zersessene Stühle; da spürt man nichts von jenem widerlichen Seifengeruch, der in den meisten deutschen Barbierstubcn die Geruchsnerven der Besucher so sehr belästigt. Auch erblickt man unter den dienstthuenden Personen keine so abgetriebenen invaliden Gestalten, wie sie unter den deutschen Barbiergehülfen heimisch sind. Die Geschäftslocale der nordamerikanischen Barbiere sind Salons im eigentlichsten Sinne des Worts, so fein und elegant wie etwa unsere feinsten und elegantesten Café’s. Alles darin ist Leben; dem unaufhörlichen Kommen und Gehen entspricht ein ununterbrochenes, allseitiges und behendes Bedienen. Wie natürlich, ist ein solcher Salon, dergleichen sich in allen größeren Straßen mindestens einer befindet, mit dem ausgesuchtesten Schmuck-, Spiegel- und Möbelwerk ausgestattet. An den Wänden ziehen sich schwellende Divans und Sophas hin; der Fußboden ist meistentheils mit Marmorplatten belegt. Auf eleganten Seiten- oder Nischen-Tischen liegen wohl ein bis zwei Dutzend verschiedene neueste Zeitungen aus, die zum Lesen einladen und auch viel gelesen werden, wenn der Andrang der Gäste etwa zu groß und ein später Gekommener auf seinen Vorgänger zu warten genöthigt wird. Dies ist namentlich am Sonnabend des Abends und Sonntags früh der Fall, wo diese Barbieranstalten förmliche Lesezimmer zu sein scheinen. Inmitten des Salons nun stehen reihenartig die eigentlichen Geschäftsmöbel: elegant gepolsterte Barbierstühle, deren häufig zwölf und mehr vorhanden sind, und hinter denselben stehen die immerdar munteren und gesprächigen, des Dienstes stets gewärtigen Gehülfen. Diese Barbierstühle sind von einer eigenthümlichen, von unseren deutschen Lehnstühlen weit abweichenden Construction. Zuvörderst haben sie ungleich höhere Beine, sodann eine nach hinten stark geneigte Rückenlehne, die wiederum mit einer besonderen Kopfstütze versehen ist, worauf man während den Rasirens den Kopf legt und die je nach Belieben höher oder niedriger gestellt werden kann. Ein ebenfalls gepolsterter Schemel, dessen Höhe genau jener des Barbiersessels entspricht, dient den Füßen, die wegen der hohen Stuhlbeine den Fußboden nicht berühren können, zum bequemen Ausstrecken. Daß aber ein solcher Sitz dem Zweck weit mehr entsprechend ist, als die antiquirten Gesäße, wie sie in vielen deutschen Barbierstuben eingenistet sind, wird der Bemerkung kaum bedürfen.
Schließlich geschehe für die mit den amerikanischen Zuständen minder vertrauten Leser noch eines Punktes Erwähnung. Dieselben werden es vielleicht gar nicht begreifen können, wie man bei einem so einfachen Geschäft, behufs einer an sich unangenehmen und lästigen Sache, wie doch das Bartabnehmen ist, mit einem so ausgesuchten Aufwand, mit so viel Prunk und Raffinement zu Werke gehen mag. Dies erklärt sich aus einem tiefern Grunde. Wegen ihrer ganz allgemeinen Benutzung, die zu allen Zeiten und für alle Classen der Männerwelt eine Nothwendigkeit ist, sind die Barbiersalons in den Städten der Vereinigten Staaten als eine Art öffentlicher Anstalten angesehen. Nun liebt es der Nordamerikaner, ja es ist ihm charakteristisch, Alles, was zur Oeffentlichkeit in irgend einer nähern oder fernern Beziehung steht, durch Aeußerlichkeiten, die sich oft bis zur Großartigkeit erheben, auszuzeichnen und sichtbarlich in den Vordergrund zu drängen. Dies nun ist die Ursache, wodurch auch die nordamenkanischen Barbierstuben allmählich jenen großartigen Anstrich gewannen, der ihnen gegenwärtig wirklich eigenthümlich ist. Auch der Barbier, als Chef eines Barbiersalons, ist eine Art von public man, und seine Werkstätten sind häufig auch Sprechsäle, wie für die niedere, so auch für die hohe Politik des Landes, insoweit nämlich das Getriebe der Parteien dabei in Frage kommt.- ↑ In Krankheits- oder bei Todesfällen kommt es wohl vor, daß Barbiere zu Dienstleistungen außerhalb veranlaßt sind; dergleichen Dienste müssen indessen außerordentlich hoch honorirt werden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Emanuelle