Die Gartenlaube (1864)/Heft 35

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[545]
Nobles Blut.
Schloßgeschichte aus den Erinnerungen meines Vaters.


1. Geheimnisse des Schlosses.

In dem schönen Weserthale blühte seit dem frühen Mittelalter das mächtige Geschlecht der edlen Herren von Frankenberg, das im siebenzehnten Jahrhundert in den Grafenstand erhoben worden war. Die reiche Herrschaft Frankenfelde, die jetzt landesherrliche Domaine ist, war ihr Eigenthum.

An einem Sonnabende des Monats August, im Jahre 1808, war ein Franziskanermönch auf dem Wege zum Schlosse Frankenfelde, um dort am folgenden Morgen die Messe zu lesen. Er kam aus einem Kloster auf der anderen Seite der Weser, das schon seit langen Zeiten jeden Sonnabend einen Mönch nach Frankenfelde sandte, daselbst den sonntäglichen Gottesdienst zu besorgen. Warum schon seit vielen Jahren nicht mehr, wie früher, ein eigner Hausgeistlicher im Schlosse war, – darüber wurde in der Gegend viel gesprochen.

Der Mönch, welcher sich auf dem Wege nach Frankenfelde befand, war ein langer, hagerer, alter Mann; seine wenigen Haare, die ihm die breite Tonsur auf dem Haupte gelassen hatte, waren schneeweiß. Er schien gleichwohl noch kräftig zu sein und schritt rüstig einher, ohne auf den schweren Knotenstock, den er in der Hand trug, sich stützen zu müssen. Er mußte in früheren Jahren eine hohe, stolze Gestalt gewesen sein, denn er erhob sich noch manchmal plötzlich wie hoch und stolz in der groben grauen Mönchskutte, und die alten dunklen Augen blitzten dann wunderbar in dem blassen Gesichte.

Es war später Nachmittag geworden, als er die Weser erreichte, an deren anderem Ufer Frankenfelde lag. Er mußte in einer Fähre übergesetzt werden, deren Fährmann eben aus dem Fährhause trat.

„Gelobt sei Jesus Christus, Herr Pater!“ grüßte der Mann.

„In alle Ewigkeit, Amen!“

Der Fährmann stutzte, er sah den Mönch verwundert an. Die Kinder des Fährmanns waren herbeigekommen und wollten dem Pater die Händchen reichen, aber sie wichen fremd zurück. Das „Habit“ war ihnen wohl bekannt, aber der Mann war ihnen fremd.

Der Mönch hielt ihnen freundlich seine Hand hin.

„Wie sagt Ihr sonst zu dem Pater, Ihr Kinder?“

„Gelobt sei Jesus Christus, Herr Pater!“

„Amen, Ihr Kinder! Und so sagt es immer und vergeßt ihn nie. Denn er ist der beste Freund der frommen Kinder.“

Er zog hinten aus seiner Kapuze sein kleines altes Brevierbuch hervor, und aus dem Buche nahm er kleine Heiligenbilder, für jedes der Kinder eins, und schenkte sie ihnen. Die Kinder eilten glücklich zum Fährhause zurück, um die Bilder der Mutter zu zeigen.

Während der Ueberfahrt über den Strom sah der Fährmann den Mönch neugierig an, wagte aber keine Frage an ihn zu richten. Als sie das andere Ufer erreicht hatten, sagte er nur, als wenn er Jemanden vor sich habe, der in der Gegend fremd sei: „Sie müssen durch den Wald dort rechts, Herr Pater. Gleich hinter dem Walde liegt Frankenfelde. Den Weg werden Sie nicht verfehlen können, er führt mitten durch den Wald.“

„Ich danke,“ sagte der Mönch.

Der Fährmann fuhr zurück, und der Mönch schlug den Weg ein, den der Fährmann ihm bezeichnet hatte. Er ging ihn sicher, als wenn er ihn auch ohne die Bezeichnung des Fährmanns gekannt hätte. Trotzdem blickte er aufmerksam nach allen Seiten umher; jeder Baum, jeder Graben, jedes Acker- und Wiesenfeld, die Steine am Wege schienen ein eigenthümliches Interesse für ihn zu haben.

Der Feldweg, in dem er ging, brachte ihn nach rechts zu einer breiten Waldung. Eine Landstraße, die nach der Hauptstadt der Provinz führte, lief am Walde vorbei. Als der Mönch sie überschreiten wollte, bog um eine Krümmung des Waldes und der Straße die Spitze eines Haufens Reiterei. Der Mönch trat hinter ein paar Weidenbäume zurück, die am Wege standen und ihn verbargen.

Eine Escadron französischer Kürassiere ritt langsam und still in der Straße an dem Mönche vorüber. Es waren schöne, stattliche Leute in den blanken, schimmernden Kürassen, mit den stolzen rothen Federbüschen auf den hohen Helmen, mit den großen, kräftigen Rappen, auf denen sie so leicht saßen und so still und doch so stolz einherritten. Der Mönch sah sie mit einer edlen Trauer, mit einem stillen Zorne und murmelte einige Worte.

Die Escadron war vorüber geritten und in einer neuen Krümmung der Landstraße verschwunden. Nur ein einzelner Officier war zurückgeblieben und hielt mitten im Wege; er schien auf etwas zu warten. Gleich darauf erschienen auch unter den Bäumen des Waldes an der andern Seite der Landstraße zwei Reiter, die nicht zu der eben gesehenen Truppe gehörten. An den dunkelblauen Röcken mit den rothen Rabatten und an den hohen dreieckigen Hüten erkannte man französische Gensd’armen. Der Officier ritt auf sie zu. Sie sprachen eilig und angelegentlich mit ihm, dann kehrten sie in den Wald zurück, und der Officier sprengte im Galopp der Escadron nach. Alles war ganz still und heimlich geschehen.

[546] Die Gegend war menschenleer. Häuser standen nicht da. Der Abend war nahe, und am Sonnabende hatten die Arbeiter in Feld und Wald früh Feierabend gemacht, um noch im Hause Alles für die morgende Sonntagsruhe bestellen zu können.

Der Mönch setzte seinen Weg fort. Er durchschnitt die Landstraße und ging in tiefem Nachdenken in den Wald hinein. Er dachte wohl an die Heimlichkeit der Fremden in dem deutschen Lande, die hier Herren und doch Feinde waren, weil sie wußten, daß sie selbst, gerade als Herren, die verhaßtesten Feinde waren. Was konnten sie da Gutes vorhaben? Er wurde in seinen Betrachtungen unterbrochen. Zur Seite im Gebüsche vernahm er einen leichten, behenden, raschen Schritt, der sich dem Wege näherte, den der Mönch verfolgte. Nach wenigen Augenblicken erschien hier ein Mann in ländlicher Tracht, mit einem langen Korbe, einer sogenannten Kiepe, auf dem Rücken. Er sah sich in dem Wege um, erblickte den Mönch und stutzte einen Moment; dann blieb er stehen, den Mönch zu erwarten, der zu ihm herankommen mußte.

„Guten Abend, Herr Pater,“ begrüßte ihn der Fremde.

„Guten Abend, und gelobt sei Jesus Christus.“

„Amen, Herr Pater. Aber ich bin lutherisch.“

„Der Herr Christus hat für uns Alle gelebt, ist für uns Alle gestorben.“

„Hm, ja –“

Der Mann wollte noch etwas hinzusetzen. Der Mönch sah ihn streng an. Der Mann schwieg, aber mit einem eigenthümlichen Lächeln des klugen Gesichtes und der fast lauernd forschenden Augen.

„Wir gehen einen Weg?“ fragte er dann.

„Ich weiß nicht, wohin Sie gehen,“ sagte der Mönch.

„Ich? Ich gehe nach Frankenfelde. Ich bin Lumpensammler, wie Sie hier in meiner Kiepe sehen können, und in Frankenfelde mache ich immer gute Geschäfte.“

Die Kiepe des Mannes war bis oben hin mit Lumpen gefüllt. Der Mönch antwortete ihm nicht. Er hatte sich die volle Kiepe angesehen und mochte wohl Vergleichungen anstellen über die Lumpen und über das kluge Gesicht und das leichte, gewisse Wesen des Mannes, der sie trug.

„Und wohin wollen Sie?“ fragte der Lumpensammler mit diesem dreisten Wesen.

„Ich gehe ebenfalls nach Frankenfelde,“ erwiderte der Mönch.

„Ah, Sie wollen da morgen den Gottesdienst halten?“

„Ja.“

„Lesen Sie jeden Sonntag die Messe dort?“

„Das Kloster schickt jeden Sonntag einen Pater hin.“

„So sind Sie wohl bekannt im Schlosse?“

„Ich bin heute zum ersten Male hingeschickt.“

„Potz Velten, Herr Pater, wie käme denn das? In Ihrem Kloster drüben – Heiligenkreuz heißt es ja wohl?“

„Heiligenkreuz heißt es.“

„Nun, da sind, so viel ich weiß, nur noch drei oder vier Paters?“

„Vier!“

„Also vier. Da müßte alle vier Wochen die Reihe an Sie kommen.“

„Ich bin erst seit drei Tagen im Kloster.“

„Potz Velten, und wie käme denn das? Das Kloster darf keine Mönche mehr annehmen. Es soll aussterben. Es ist ja schon todt.“

Der Mönch hatte schon lange den dreisten Frager mit scharfen Augen angesehen, aber nur anfangs mißtrauisch. Er antwortete ruhig und unbesorgt: „Ja, und darum bin ich da. Ich habe mit einem jüngeren Pater tauschen dürfen.“

„Und woher sind Sie gekommen?“ fragte der Lumpensammler, der in seiner Neugierde und in seinem Fragen unermüdlich war.

„Ich komme weit her,“ sagte der langmüthige Mönch.

„Aus – ?“

„Aus Polen.“

„Hm, das ist allerdings weit her. Aber Sie gehen so allein? Sie kennen die Wege?“

Der Lumpensammler sah den Mönch mißtrauisch von der Seite an. Der Mönch mußte es nicht bemerken.

„Ich habe sie mir zeigen lassen,“ sagte er unbefangen. „Jetzt führen Sie mich ja.“

„Freilich! – Waren Sie lange in Polen, Herr Pater?“

„Manches Jahr.“

„Und was führte Sie nach Deutschland zurück? Sie sind doch ein Deutscher?“

„Man stirbt am liebsten im Heimathlande.“

„Unter den Seinigen, Herr Pater. Haben Sie die Ihrigen hier?“

„Ich habe keine Verwandten mehr.“

In dem alten Mönche schienen wehmüthige Erinnerungen aufzutauchen.

Der Lumpensammler begann ein anderes Gespräch.

„Sahen Sie vorhin die französischen Soldaten, Herr Pater?“

„Ich sah sie.“

„Tüchtige Soldaten, diese Franzosen! Der deutsche Soldat ist nichts gegen sie.“

„Es war doch einmal anders,“ fuhr der Mönch etwas auf.

„Wann wäre das gewesen?“ forschte der Lumpensammler.

„Bei Roßbach zum Beispiel.“

„Hm, da waren die Reichssoldaten eben so schlecht.“

„Die Führer!“

„An den Führern liegt es immer. Wenn Deutschland noch einmal einen alten Fritz bekommen könnte, so würde ihm die Welt gehören. Aber treiben wir keine Politik, Herr Pater. Es ist gefährlich jetzt. Französische Spione treiben sich überall umher –“

Der Lumpensammler schwieg plötzlich. Er war stehen geblieben und horchte in den Wald hinein. Hinter den beiden Fußwanderern hörte man den Galopp eines Pferdes näher kommen. Der Lumpensammler schien ängstlich geworden zu sein.

„Treten wir einen Augenblick in das Gebüsch, Herr Pater.“

„Warum?“

„Es ist ein Franzose; er darf uns nicht sehen.“

„Und warum nicht?“

„Nachher. Kommen Sie.“

Der Lumpensammler sprang hinter ein Gebüsch, das ihn verbarg. Der Mönch blieb ruhig im Wege und trat nur zur Seite, um von dem mitten im Wege heransprengenden Reiter nicht überritten zu werden. Der Reiter war ein französischer Kürassierofficier, ein noch ziemlich junger Mann mit einem hübschen, kecken, südlich geformten und südlich gebräunten Gesichte. Mit seinen großen, blitzenden Augen sah er im Vorübersprengen den Mönch zuerst neugierig, dann mit einem leisen Spotte an. Der Mönch sandte ihm einen nachdenklichen Blick nach. Der Lumpensammler kam wieder aus dem Gebüsche hervor.

„Haben Sie sich den Reiter angesehen, Herr Pater?“

„Ja.“

„Es war der Oberst des Regiments, von dem Sie die Schwadron sahen. Einer der jüngsten, aber auch der tüchtigsten Obersten in der Armee des Kaisers. Darum auch der Liebling seines Kaisers und – hm, Herr Pater – und aller schönen Frauen.“

„Warum verbargen Sie sich vor ihm?“ fragte der Mönch.

Der Lumpensammler ließ die Frage unbeantwortet.

„Ja, Herr Pater,“ fuhr er in seiner fast ebenso leichtfertigen, wie dreisten Weise fort, „solch ein hübscher und tapferer französischer Officier kann von den deutschen Frauen erzählen, und wenn Sie hier Beichtvater wären, auch in dem Schlosse da hinten, von dem wir nicht mehr weit sind, hm, Herr Pater, Sie würden noch mehr erzählen können. Das Beichtgeheimniß freilich macht Sie stumm?“

Er sprach die Worte fragend. Diesmal antwortete der Mönch nicht. Aber er hatte eine strenge Bemerkung.

„Sie sind ein Deutscher, und sprechen so von deutschen Frauen!“

„Pah!“ sagte der Lumpensammler, „ich bin kein Deutscher, ich bin ein Holländer. Aber wenn ich auch ein Deutscher wäre, sollte ich loben, was Schlechtes in meinem Vaterlande ist? Und man lobt manchmal auch, wenn man verschweigt. Aber da ich ein Holländer bin, so schweigen wir von der Sache. Sie werden im Schlosse Frankenfelde ohnehin genug erfahren, mehr, als einen so frommen Pater lieb sein kann. Aber noch eine Frage, Herr Pater. Sie hatten vorhin die Kürassiere früher gesehen, als ich. Da ich sie sah, kam ein einzelner Officier hinterher gesprengt; hatten auch Sie ihn bemerkt?“

„Ich hatte ihn bemerkt,“ antwortete der Mönch.

[547] „Und warum war er zurückgeblieben?“

„Er hatte ein Gespräch mit zwei Gensdarmen.“

„Ah!“ wollte der Lumpensammler ausrufen. Er erstickte den Ruf und fuhr gleichgültig fort: „Sehen Sie, Herr Pater, sagte ich Ihnen nicht, daß die Franzosen überall spioniren? Sprachen die Gensdarmen lange mit dem Officier?“

„Wie es schien, nur wenige Worte.“

„Und dann?“

„Kehrten sie in den Wald zurück.“

Der Lumpensammler fragte nicht mehr. Er war nachdenklich geworden, und damit still und sogar ernst. Die beiden Wanderer gingen schweigend neben einander weiter und kamen nach einer Weile an das Ende des Waldes. Noch unter den Bäumen machte der Lumpensammler Halt.

„Herr Pater, Sie sind ein frommer, gottesfürchtiger und auch ein ehrlicher Mann.“

„Ich denke es,“ sagte der Mönch.

„So werden Sie mir eine Bitte erfüllen. Verschweigen Sie im Schlosse, daß Sie mich gesehen haben.“

„Ich werde es.“

„Auch wenn Sie nach mir gefragt werden.“

„Ich spreche nie eine Unwahrheit.“

„Hm, Herr Pater, man kann viel verschweigen, ohne gerade die Unwahrheit zu sprechen. Sie werden hier ein gutes Werk thun.“

„Seien Sie beruhigt,“ sagte der Mönch.

„Und wenn Sie mich wieder sehen sollten, so kennen Sie mich nicht.“

„Beruhigen Sie sich auch darüber.“

„So leben Sie wohl, Herr Pater. Wir müssen uns hier trennen. Wenn ich katholisch wäre, so würde ich Sie um Ihren Segen bitten.“

„Der Segen ist des Himmels,“ sagte der Mönch, „und ihn erflehe ich täglich für alle Menschen. Er sei auch mit Ihnen.“

„Ich danke Ihnen, mein guter Pater.“

Der Lumpensammler verließ den Weg, in dem sie waren, aber nicht den Wald; er ging seitab unter den Bäumen weiter und war bald den Augen und den Ohren des Mönchs entschwunden.

Der Mönch verfolgte den Weg. Nach wenigen Minuten hatte er den Saum des Waldes erreicht und ließ sich unter einem der letzten Bäume nieder, um sich das Land anzusehen, in das er hineintreten sollte. Die Abendsonne sandte ihre letzten Strahlen über die Gegend.

Es war eine weite Ebene, in die der Mönch hineinblickte.

Blaue Berge begrenzten sie in der Ferne, Aecker und Wiesen bedeckten sie, von Waldungen durchschnitten. Im Vordergrunde lag ein weitläufiger Edelsitz. Bäume und Buschwerk, die sich noch vor ihm befanden, ließen ihn nur halb erkennen. Man sah nur eine Menge zusammenliegender Gebäude, die sich um ein großes, hohes, altes Schloß zu gruppiren schienen, das mit seinem grauen Dache und mit seinen Spitzen und Thürmen weit über alle die anderen Dächer empor ragte. Schloß und Gebäude lagen zur Seite des Weges, der durch die Ebene führte; eine dichte Allee von Pappeln verband ihn mit dieser.

Der Edelsitz war noch ungefähr zehn Minuten von der Stelle entfernt, an welcher der Mönch unter dem Baume saß. Der Blick des Greises war wie festgebannt auf das alte hohe Schloß, auf die Gebäude, die es umgaben, auf die Pappelallee, die hinführte.

Die Augen waren ihm feucht geworden. Er saß lange so. Der Abend war ruhig, tiefe Stille herrschte umher, auf den Feldern ruhte auch hier die Arbeit; die Sonne schien kaum noch; morgen war Sonntag. Von dem weitläufigen Edelsitze tönte kein Laut herüber.

Die Sonne ging unter. Ihr letzter Strahl war durch die Bäume auf das Schloß gefallen, dunkelroth auf die alten grauen Mauern und Thürme. In der Secunde darauf lagen sie wieder grau und fahl da, wie unter einem Leichentuche. Heute roth, morgen todt! sagt ein Sprüchwort.

Der Mönch hatte stumm gesessen. Als das graue Leichentuch sich über das Schloß legte, fuhr er mit der Hand über die Augen; sie waren ihm wieder trocken. Er wollte sich erheben, um seinen Weg fortzusetzen, wurde aber daran gehindert.

Von dem Schlosse her kam in der Allee ein Reiter in bürgerlicher Kleidung. Er ritt in scharfem Trab, als wenn es eilig sei. Als er das Ende der Allee erreicht halte, bog er in den Landweg nach der Richtung des Waldes ein und ritt dann in diesen hinein.

Er war nahe an dem Mönche vorbeigekommen, hatte diesen aber nicht gesehen. Er konnte in dem Walde kaum hundert Schritte zurückgelegt haben, als er angerufen wurde.

„Doctor, halt!“ hörte der Mönch rufen.

Der Mönch erkannte die Stimme des Lumpensammlers. Der Reiter hielt sein Pferd an. Der Mönch blieb noch einmal auf seiner Stelle. Das Gespräch des Reiters und des Lumpensammlers fesselte ihn.

„Wie steht es, Doctor?“ sagte der Lumpensammler.

„Schlecht, sehr schlecht!“ war die Antwort.

„O, Sie haben doch noch Hoffnung?“

„Wenige. Bis Mitternacht hat sie die Krisis überstanden, oder sie ist todt. Und er, wenn er sie noch sehen will –“

„Herr des Himmels!“ unterbrach der Lumpensammler den Doctor.

„Was giebt’s, Hauptmann?“

„Was es giebt? Er kann heute unmöglich kommen.“

„Er muß, er muß.“

„Es ist nicht möglich, Doctor, sage ich Ihnen.“

„Es muß möglich werden. Hören Sie, Hauptmann, bis Mitternacht ist sie todt, wenn sie ihn bis dahin nicht gesehen hat. Kann in der Welt etwas ihr zu Hülfe kommen, die Krisis zu überwinden, so ist es dieses Wiedersehen. Und welch ein entsetzlicher Tod wäre es, Hauptmann! ich habe bei manchem schweren Todeskampfe stehen müssen, stehen können, heute Nacht würde ich es nicht können. Ich beschwöre Sie, Hauptmann.“

Der Hauptmann, oder Lumpensammler, was er war, antwortete lange nicht. Er sann wohl nach, dann fragte er: „Hat man im Schlosse Nachrichten über ihn?“

„Man erwartet sie von Ihnen.“

„Ich habe nur schlechte.“

„Sie sind?“

„Vorhin zog jenseits des Waldes eine Schwadron Kürassiere vorüber.“

„Kürassiere? Wozu die hier?“

„Hören Sie weiter. Der Adjutant des Obersten war dabei. Er blieb eine Weile zurück. Dann trafen zwei Gensdarmen zu ihm. Sie kamen aus dem Walde und sprachen eilig mit ihm; verschwanden wieder im Walde; er sprengte der Schwadron nach.“

„Was hat man vor?“ fragte der Doctor.

„Hören Sie noch mehr. Vor einer halben Stunde kam der Oberst hier durch den Wald. Er war nicht bei der Schwadron gewesen und jagte eilig dem Schlosse zu.“

„O, das war es also!“ hörte der Mönch den Doctor ausrufen.

„Was war?“ fragte der Lumpensammler.

„Die Gräfin – Aber was geht sie uns an? Sprechen wir von der Anderen –“

„Erzählen Sie von der Gräfin! Was war es mit ihr?“

„Was es denn war? Ich hatte sie am Nachmittage wenig gesehen. Sie war unruhig, verdrießlich; sie schien etwas zu erwarten. Als ich vor zehn Minuten fortreiten wollte, begegnete sie mir zufällig; sie sah so glücklich aus, sie strahlte vor Freude.“

„Ja, ja, Freund Doctor, und wenn Weibern eine Lust im Busen brennt – mir will es fast grausig werden. Doctor, wenn sie zur Verrätherin würde?“

„Es ist nicht möglich!“

„Es ist Alles möglich, Alles einem Weibe, das von der Leidenschaft verblendet ist. Sie fragten, was man vorhabe? Fragen Sie es noch? Die arme Frau liegt im Sterben, bis heute Nacht ist es wahrscheinlich vorbei mit ihr. Heute Abend muß sie noch ihren Mann wiedersehen; sie könnte nicht leben, nicht sterben ohne ihn. Er muß sie wiedersehen; könnte er noch einen einzigen ruhigen Augenblick im Leben haben, wenn er sie nicht gesehen hätte und hinterher jenen entsetzlichen Tod der Frau erführe, von dem Sie eben selbst sprachen? Das Alles ist im Schlosse bekannt. Man erwartet ihn, sobald es dunkel geworden ist. Da sind jene Gensdarmen im Walde; es sind ihrer noch mehrere da; da ziehen die Kürassiere am Walde entlang, unter irgend einem Vorwande, aber in Wahrheit, weil man den Gensdarmen nicht traut, oder ihrer nicht genug hat; da kommt gerade heute der Oberst an, hat die schöne Frau sofort flüchtig gesehen, das Versprechen eines längeren [548] Rendezvous für den späteren Abend von ihr erhalten, wohl wenn der Mann gefangen, die Frau todt ist, ah, zum Teufel, vielleicht während die arme Frau, nachdem die Gensdarmen den Mann ihr aus den Armen gerissen, im Todeskampfe liegt – Doctor, ich zittere vor Wuth bei dem Gedanken. Und – und – Doctor, wenn Weiber verblendet sind! – Aber wie könnte er bis zu ihr kommen? Alle Zugänge zu dem Schlosse sind besetzt, vielleicht in einem Umkreise von einer Meile; ich kenne diese französischen Gensdarmen und Spione. Man sieht keinen einzigen von ihnen. Auch Sie, Doctor, haben keinen gesehen, und sind in den fünf Minuten vom Schlosse bis hier vielleicht schon an fünfen vorbeigekommen. Die Burschen liegen im sichersten Versteck. So wie der Rechte kommt, dann sind sie da, wie der Dieb in der Nacht, wie der Blitz aus heiterem Himmel. Da sollte ich ihn hierher, den Menschen in die Hände, den Bluthunden in die Fänge führen? – Aber, Doctor, wenn es denn einmal so ist, wenn in diesem Schlosse denn einmal der Verrath, die Untreue, die Gemeinheit, der Wahnsinn herrschen sollen, dann mögen sie ganz darin herrschen, mit ihrer ganzen Gewalt, mit ihrer Gewalt der Vernichtung; dann mag auch Alles darin zu Grunde gehen. Aus den Ruinen wird dann kein neues Leben mehr erblühen. – Der Freiherr soll seine Frau wiedersehen, Doctor, damit sie in Ruhe sterben und damit er – sich, damit sie ihn todtschießen können. Um welche Zeit soll er da sein, Doctor?“

„Haben Sie ihn in der Nähe?“ fragte der Doctor.

„So ziemlich.“

„Kann er um neun Uhr heute Abend da sein?“

„Es ist jetzt halb acht. Ich denke.“

„Gut. Er muß kommen, Hauptmann. Es geht nicht anders. Und Sie werden ihn sicher hin- und zurückbringen. Ich werde um halb neun wieder im Schlosse sein. Ich bin auf dem Wege zu einer armen Wöchnerin, die meiner Hülfe bedarf. Auf Wiedersehen, Hauptmann.“

„Gott sei mit Ihnen bei der armen Frau, Doctor. Sie sind ein braver Mensch; Sie vergessen die Armuth nicht über den Reichthum.“

Der Mönch hörte den Doctor weiter sprengen. Den Lumpensammler hörte er in die Tiefe des Waldes zurückgehen, in einer anderen Richtung, als die der Doctor eingeschlagen hatte.

Der Mönch hatte sich erhoben. Er setzte seinen Weg nach dem Schlosse fort. Er ging langsam, in tiefen Betrachtungen. Die Augen wurden ihm nicht wieder feucht; aber wie schwer ihm das Herz war, sah man dem langsamen Gange, der gedrückten Haltung, dem tief, fast ängstlich bekümmerten blassen Gesichte des alten Mannes an.

Auch der letzte Schimmer der Abendröthe war im Verschwinden, als er das Ende der Pappelallee erreichte. Er stand vor einem hohen, breiten, offenen Thore von Stein; durch das Thor blickte er in einen weiten Hof, der rund umher von Gebäuden umgeben war. Er trat in den Hof. In dem ersten Zwiedunkel des beginnenden Abends konnte er seine Umgebung noch unterscheiden. Der Hof war ein längliches, unregelmäßiges Viereck. Er hatte seine Gestalt durch die Gebäude empfangen, die um ihn herum gebaut waren; die Gebäude waren hingebaut, ganz wie Zufall oder Laune der Besitzer des Schlosses seit manchem Jahrhundert es eingegeben hatten. Das älteste und zugleich größte von ihnen war das Schloß selbst. Es lag an der rechten Seite des Hofes und war ein weitläufiges, hohes, unregelmäßiges, graues Gebäude, mit einem hohen, spitzigen Dache, mit runden und viereckigen Thürmen. So ragte es über alle die anderen Gebäude ringsum hoch empor.

Der Mönch sah keinen Menschen in dem weiten Hofe; er vernahm kein Geräusch in den sämmtlichen Gebäuden umher. Es war eine eigenthümliche Stille, in der er sich befand. Dazu das Zwielicht des Abends. Der Mönch stand zweifelhaft, wohin er sich wenden solle, um seine Ankunft anzukündigen und um Anweisung seines Quartiers zu bitten.

Hinten in dem Hofe sah er einen Menschen sich bewegen. Es war an der rechten Seite, an der das Schloß lag. Zu Ende des Schlosses und des Platzes trat dort ein dicker, runder Thurm hervor. Man konnte in der Entfernung und in dem Halbdunkel nicht unterscheiden, ob er frei oder noch mit dem Schlosse in Verbindung stand. An dem Thurme war die menschliche Gestalt erschienen, die der Mönch sah und die er ebenfalls nicht näher unterscheiden konnte. Er ging auf den Menschen zu, um weitere Nachricht von ihm zu erhalten. Als er ihm näher kam, glaubte er einen alten, gebückten Mann zu erkennen, der aber, wie gekrümmt der Rücken sein mochte, noch immer eine hohe Gestalt war. Der Mönch wollte ihn näher betrachten.

„Fass’, Hannibal!“ rief plötzlich mit einer rauhen Stimme der gebückte alte Mann.

Ein großer Hund sprang an seiner Seite hervor auf den Mönch zu, der seinen Knotenstock faßte. Der Stock war wohl derb und der Mönch war noch kräftig; sein Kampf mit der großen wild anspringenden Bulldogge wäre dennoch ein ungleicher gewesen.

„Zurück, Hannibal!“ sagte ruhig befehlend eine Stimme hinter dem Mönche.

Der Hund kehrte still und gehorsam zu dem alten Manne zurück, welcher schweigend auf seinem Platze an dem runden Thurme geblieben war. Der Mönch aber, als er sich nach dem umsah, der ihn von dem Hunde befreit hatte, stand einem Herrn in den dreißiger Jahren gegenüber.

„Sie sind der Pater, der hier morgen die Messe lesen wird?“ fragte der Herr.

„Der bin ich,“ erwiderte der Mönch.

„Folgen Sie mir.“

Damit wandte sich der Herr. Der Mönch folgte ihm, und beide schritten quer über den Hof zu einem kleinen Gebäude, das dem Schlosse gerade gegenüberlag. Sie traten in das Gebäude, stiegen eine Treppe hinauf und schritten bis an das Ende eines Ganges. Dort öffnete der Herr, der auf dem ganzen Wege kein Wort gesprochen hatte, eine Thür.

„Das ist Ihr Zimmer,“ sagte er jetzt. „Ein Diener wird gleich kommen.“

Er kehrte zurück. Der Mönch sah ihm eine Weile sinnend nach. Er hatte nur einen Augenblick in das Gesicht des Herrn blicken können und hatte vornehme Züge gesehen, aber mit einem stillen, trüben, melancholischen Ausdruck. Der Blick des Auges war ihm besonders eigen vorgekommen. Dem stillen, melancholischen Wesen des Herrn hatte der Ton der Stimme entsprochen, mit der er jene wenigen Worte gesagt.

Der Mönch trat in sein Zimmer. Es war, soviel er in der schon mehr als halben Dunkelheit unterscheiden konnte, ein sehr einfach, aber bequem möblirtes kleines Stübchen. Ein Bett stand darin, dem Bett gegenüber ein kleiner Altar, auf dem Altar ein Crucifix, vor ihm ein Betpult. Das einzige Fenster ging auf den Schloßhof.

Der Mönch warf einen Blick durch das Fenster auf den Hof, auf das hohe alte Schloß, dessen Portal dem Fenster in der geradesten Richtung gegenüberlag. Der Hof war dunkel und leer, wie er gewesen war; kein Mensch war darauf zu sehen. Das Portal war nicht erleuchtet, kein Fenster hell. Der Mönch sah nur wenige Augenblicke hin. Ein Seufzer wollte sich aus seiner Brust hervorringen; er drängte ihn zurück, ging zu dem Altar und kniete auf beiden Knieen vor dem Bilde des Gekreuzigten.

Sein Gebet wurde unterbrochen. Ein Diener trat in das Stübchen mit Licht und mit dem Abendbrode für den Mönch. Es war ein alter Mann mit nur noch wenigen schneeweißen Haaren. Der Mönch schien zusammenzufahren, als er ihn sah. Der alte Diener hatte es nicht wahrgenommen. Als er aber Licht und Speisen auf den Tisch gestellt hatte und nun den Mönch näher ansah, stutzte auch er und zuckte leicht zusammen.

„Sie waren noch nicht hier, Herr Pater?“ fragte er.

Der Mönch war wieder vollkommen ruhig.

„Ich bin der Nachfolger des Pater Ambrosius im Kloster,“ sprach er.

„Ja, ja,“ erwiderte der alte Diener. „Der Pater Ambrosius sagte das letzte Mal, daß er wegkommen werde, und an ihm wäre heute hier die Reihe gewesen.“

Er warf dennoch sonderbar zweifelhafte Blicke auf den Mönch. Er schien ihn etwas fragen zu wollen; er gab es wieder auf. Aber ehe er ging, hatte er noch etwas zu sagen.

„Herr Pater, wenn Sie heute Abend oder morgen früh in’s Freie gehen wollen, der große Hund wird Ihnen nicht wieder im Wege sein.“

(Fortsetzung folgt.)
[549]

Markungs-Umgang.

Sie hielten Markungs-Umgang

Und setzten Steine ein,
Der Freiherr und die Bauern,
Jung Volk viel hinterdrein.

Und wo vom Zahn der Zeiten
Ein Stein zu Schanden war,
Und wo durch Pflug und Wagen
Die Grenze nimmer klar:

Da ward nach altem Brauche,
Daß Keines Recht verletzt,
Nachdem man streng gemessen,
Der Markstein neu gesetzt.

Und wenn er stand im Boden
Und wies in steinerner Ruh
Dem Freiherrn wie den Bauern
Gleich recht das Seine zu –

Dann sprach, wie’s stets geschehen,  
Hindeutend auf den Stein,
Der Freiherrn ernsten Tones
Zum schlanken Sohne sein:

„Halt feste allerorten,
Was Dir von Gott bescheert,
Doch zu unrechtem Raube
Sei nie Dein Arm bewehrt!“

Und zu des Worts Bekräftigung
Gab er dem Jungen darnach
Nach altem Brauch auf die Schulter
Biderben Ritterschlag.


Und gleichermaßen zum Sohne
Der ältste Bauer gewandt,
Und ließ den blonden Krauskopf
Gar mächtig fühlen die Hand:

„Halt fest mit Deinen Zähnen,
Was Dir nach Rechten ward,
Halt’s fest mit Deiner zähen,
Echt deutschen Bauern-Art!“

Dann zogen sie des Weges
Und setzten Stein auf Stein
Und prägten dem Junker und Bauer
Mannlich die Grenzen ein. –

Weh, daß die Väter hatten
Nicht stets des Brauches Acht,
Nicht auf dem Markungs-Umgang
Des Reiches Grenze bewacht!

Allüberall haben Feinde
Die Markung frech verletzt,
Bis in das Herz des Landes
Den Markstein oft gesetzt.

Wohlan, ihr deutschen Mannen,
Zum Umgang seid bereit,
Zu setzen sind manche Steine,
Zu wahren manche in Streit!

Wohlan, du deutsche Jugend,
Zieh treu den Vätern nach,
Empfang von ihren Händen
Den Markungsritterschlag:


 „Halt fest zu allen Zeiten
 Dein deutsch ureigen Land
 Und schirme Deine Marken
 Mit eisenstarker Hand!“

 Mit eisenstarker Hand!W. B.

[550]
Deutscher Menschenhandel der Neuzeit. [1]
Aus der Mappe eines Wiesbadener Curgastes.
2.

Am Abend traf ich in der auf deutschem Fuße eingerichteten „Bibra’s Restauration“ (Upper St. Martin’s Lane, beim Leicester-Square) deutsche Landsleute, Kaufleute und Fabrikanten, welche ebenfalls der Ausstellung halber da waren. Ich erzählte ihnen meine Begegnung mit den unglücklichen Musikanten aus Nassau und wie dieselben meine angebotene Hülfe zurückgewiesen, dagegen das Geld zum Frühstück bereitwillig angenommen hätten. „Ah, ich kenne diese Vögel,“ sagte mir ein Mainzer Kaufmann, „sie stammen aus unserer Nachbarschaft, aus Kleinrußland, wie man bei uns scherzweise Nassau nennt, übrigens, was sie Ihnen von ihrem Elende vorgesungen haben, ist gewiß zur Hälfte nicht wahr und war nur darauf berechnet, Ihr weiches landsmännisches Herz zu rühren und Ihren Geldbeutel um ein paar Schillinge leichter zu machen. Es ist eine Menge dieses miserabeln Gesindels in London, um den deutschen Namen im Auslande herabzuwürdigen. Man ärgert sich, so oft man sie sieht, und man sollte ihnen statt Geldes etwas Anderes geben. Und erst die verworfenen Eltern, die ihre Kinder auf diese Weise hinausstoßen. Pfui! Auch eine Menge von deutschen Frauen und Mädchen treibt sich auf solche Art hier herum. Sie hausiren mit allerlei albernen Dingen, wie mit Strohmatten, Besen, aus Holz geschnitzten Fliegenwedeln, bunten Papierzierrathen, künstlichen Blumen plumpster Art, Wachsfigürchen und dergleichen mehr. Alles das ist aber nur Vorwand. In Wirklichkeit treiben sie den Bettel und Schlimmeres. Sie sind aus Nassau und den althessischen Provinzen. In Rheinhessen weiß man von dieser Krankheit der fahrenden Bettler und Musikanten nichts. Uebrigens hat dieses Volk auch seine Vergnügungen. Abends sammeln sie sich in den schmutzigen Höhlen hinter dem Tower, welche gehalten werden von deutschen Wirthen, die eines solchen Publikums würdig; und wenn sie dann dort beisammen sind, die deutschen Jünglinge, welche der Musik, und die deutschen Mägdlein, welche dem Fliegenwedelhandel obliegen, dann soll es recht lustig, aber durchaus nicht anständig zugehen. Man muß sich wirklich im Auslande manchmal schämen, ein Deutscher zu sein.“

Das einmal angeschlagene Thema wurde ausführlich besprochen. Jeder hatte seine Wahrnehmungen gemacht und theilte sie mit. Alle kamen darin überein, daß dieses meistens aus Nassau stammende Gesindel in großer Zahl vorhanden sei und den Engländern einen uns keineswegs schmeichelhaften Begriff von der Moral und den politischen und wirthschaftlichen Zuständen Deutschlands beibringe. Allein dies Unwesen erstreckt sich nicht allein auf England. Auch Holland, Dänemark, Schweden und Rußland werden davon heimgesucht, und selbst aus Californien, Mexico und Südamerika kommen zuweilen Nachrichten herüber, daß dort nassauische und hessische Kinder, welche von solchen „Unternehmern“ den Eltern um einen Sündenlohn abgeschachert und dort importirt worden sind, mit den Niggers und Kulis auf dem Sclavenmarkte concurriren.

Eine russische Zeitung, erzählte einer der bei Bibra Anwesenden, habe neulich die Unverschämtheit gehabt, zu behaupten, das deutsche Volk bestehe vorwiegend aus Musikanten, Schulmeistern, Kellnern und Apothekern. Was die Apotheker anlange, so habe das für Rußland einigermaßen Sinn. Peter der Große habe eine Verordnung erlassen, wonach nur Deutsche als Apotheker im ganzen russischen Reiche zugelassen werden durften. Es liege darin die Anerkennung, daß solche Stellen, welche einen gleichmäßigen, ruhigen, andauernden Fleiß, eine pedantische Besonnenheit, fern von jedem Leichtsinn, erforderten, selbst bei sonst gleicher Befähigung, besser mit Deutschen besetzt würden, als mit Russen. Die Verordnung stehe zwar nicht mehr in Kraft, allein die deutschen Apotheker seien geblieben und seien respectirte Leute bei den Russen. Im Uebrigen aber hätten die Russen eine starke Abneigung gegen den Deutschen, den „Niemetz“. Dieselbe sei um so weniger gerechtfertigt, da Rußland seine Cultur doch großentheils den von Peter I. mit besonderer Vorliebe bedachten und zur Einwanderung eingeladenen Deutschen und Holländern zu verdanken habe. Veranlaßt sei sie aber wohl zunächst durch den deutschen Adel aus Livland, Esthland und Kurland, welcher den Altrussen die besten Stellen im Hof-, Civil- und Militärdienst wegschnappe und mit junkerlichem Hochmuthe auftrete. Aber um diesem Haß den Schimmer der Verachtung zu geben, dazu benutze man vorzugsweise jene widerliche Schaar von Musikanten und Bettlern, mit welchen Deutschland St. Petersburg zu überschwemmen pflege und unter denen die Harfenistinnen eine hervorragende Rolle spielen, die sich keineswegs auf das Singen und das Handhaben ihres musikalischen Instrumentes beschränke. Dieselben seien meistens in Elz, einem großen Dorf in Nassau, das in nächster Nähe des katholischen Bischofssitzes Limburg a. d. Lahn gelegen, zu Hause. Kein Mensch in der Welt bringe eine solche Elzer Künstlerin dazu, an einem Freitag Fleisch zu essen, sonst seien dieselben aber durchaus nicht skrupulös. Dasselbe Dorf liefere auch ganze Trupps von Seiltänzern und Gliederverrenkungskünstlern nach Rußland, und das Alles gereiche keineswegs in majorem Germaniae gloriam.

Ein Dritter der Abendgesellschaft in Bibra’s Restauration kannte genau das Treiben dieser qualificirten Bettler in Holland und schilderte uns dasselbe wie folgt: „In Holland haben sie sich mehr auf den Hausirhandel geworfen. Sie kommen aus den nassauischen Verwaltungsbezirken Montabaur und Selters und handeln mit Steingeschirr und Thonwaaren, welche dort fabricirt werden. Ein ‚Unternehmer‘ hat so und so viele gedungene Personen jüngeren Alters um sich. Sie werden mit einer Kietze mit Thonwaaren beladen und sind angewiesen, durch deren Verkauf und sonstwie, so gut es geht, Geld zu erwerben, das sie an den Unternehmer abzuliefern haben. Dabei werden nicht immer nur erlaubte Mittel angewendet, um zum Zwecke zu gelangen. Man nennt diese Menschen die ‚Landgänger‘, auch die ‚Kannenbäcker‘; letzteres mit Unrecht, denn sie fabriciren die Kannen, welche sie verkaufen, nicht selbst. Sie verlassen mit der Jugend, welche sie gedungen haben, im Frühjahr ihre Heimath und kehren im Herbste dahin zurück.“ –

Soviel über meine Beobachtungen und Unterredungen in England. In Wiesbaden machte mir schon früher der Medicinalrath Dr. Zais, einer der angesehensten dortigen Aerzte und zugleich Eigenthümer zweier großer und eleganter Gast- und Badehäuser am Theaterplatze, des „Hôtel Zais“ und der „Vier Jahreszeiten“, unter Vorlage vieler amerikanischer Zeitungen nähere Mittheilungen über das Treiben dieser unseligen Zugvögel jenseits des Oceans. Danach geht besonders in Californien der „Import“ von deutschen Kindern, namentlich aus Nassau und Hessen, sehr schwungvoll. Die Unglücklichen werden von den Unternehmern, die sie gedungen haben, unter Anwendung der abscheulichsten Grausamkeiten angehalten, auf den öffentlichen Plätzen und Straßen, noch mehr aber in jenen aus Holz und Baumwollenzeug bestehenden, über Nacht aus der Erde wachsenden Tanz-, Spiel- und Branntwein-Salons in St. Francisco, wo die „Digger“ (Goldsucher) ihre Beute verthun, durch die niedrigsten Verrichtungen und Preisgebung ihrer Person den Sündenlohn für ihre unmenschlichen Herren zu verdienen.

Die „Illinois Staatszeitung“ meldete vor einigen Jahren, daß in St. Francisco, aufgeregt durch einen besonders schreienden Fall, in welchem die Eheleute Hillebrand als Seelenkäufer und zwei noch nicht völlig erwachsene Mädchen aus Butzbach im Großherzogthum Hessen als Opfer figurirten, die öffentliche Meinung sich lebhaft mit diesen „weißen Sclaven“ beschäftigte und die Presse sich erhob, um dem Gräuel ein Ende zu machen. Am 13. August 1859 hatte sich die erwachsene männliche deutsche Jugend von St. Francisco in der dortigen Turnhalle in Masse versammelt, um unter dem Vorsitze des Dr. Löhr zu berathen, welche Maßregeln dagegen zu ergreifen seien. Es wurde beschlossen, alle gesetzlichen Mittel gegen diese Schändlichkeit aufzubieten, und ein Aufruf erlassen, in welchem alle Deutsche, sowohl in der Hauptstadt, als [551] in den Landstädten und den Bergwerks-Districten, dringend um Beistand gebeten wurden, „um diese Schande an der deutschen Nation abzuwerfen“. Es wurde ein „Executiv- und Ueberwachungs-Ausschuß“ niedergesetzt, mit dem Auftrag, sich namentlich auch mit der Presse, den Polizeibeamten und den Frauen, welche in Amerika überall eine Macht sind, zur Abstellung des Unfugs in Verbindung zu setzen. Endlich wurde beschlossen, „jeden Deutschen zu ersuchen, in dieser Angelegenheit durch Druck und Schrift nach Deutschland hin zu wirken, namentlich aber nach jenen Ländern (Hessen und Nassau), von wo die unglücklichen Opfer der Schandthaten durch gewissenlose Agenten hierher (nach Amerika) gebracht werden.“

Ein Correspondent des „Philadelphia-Democrat“ läßt sich um dieselbe Zeit ausführlich aus dem nämlichen Anlaß über diese traurige Erscheinung aus, indem er die Agenten mit Namen bezeichnet und die hessischen Dörfer Niederweisel, Münster und Feuerbach bei Friedberg in der Wetterau, in der Nähe der kurhessischen Spielhölle Nauheim, nennt, wo jene Menschen ganz behäbig dem Menschenfleischhandel wie einem erlaubten Geschäfte nachgehen und von wo die meisten der armen Kinder kommen, welche in Californien, Australien, Mexico und Südamerika für die Seelenverkäufer sich einem ehrlosen Erwerbe hingeben müssen. In Californien allein sollen über dreihundert solcher „deutscher Tanzmamsells“ sein, welche von ihren Eltern in Deutschland an die „Unternehmer“ vermiethet wurden.

Der Correspondent schließt mit den Worten: „Die Presse sowohl, als die deutschen, namentlich hessischen und nassauischen Consulate und jeder Deutsche überhaupt, dem die Ehre seines Vaterlandes und das Wohlergehen seiner Landsleute am Herzen liegt, sollten von diesem Zustande der Dinge Notiz nehmen und zur Abstellung dieses schändlichen Mißbrauches mitwirken. Wem schnürt es nicht das Herz zusammen, zu wissen, daß ganze Schaaren junger deutscher Mädchen hier die Nächte hindurch in den Tanzkellern herumgeschleppt werden, um durch Aufopferung ihrer Ehre und ihrer (Gesundheit ihren grausamen Miethsherren zum Wohlstande zu verhelfen! Haben die hessischen und nassauischen Behörden davon noch keine Notiz genommen? Wir erinnern uns in der Presse unseres alten deutschen Vaterlandes vor Jahren den bittersten Tadel gelesen zu haben über die Tscherkessen, daß sie ihre Mädchen in die Harems der türkischen Großen verkaufen (wo dieselben wenigstens ein behagliches Dasein führen), und über die Russen, daß sie diesen Handel nicht unterdrücken. Will denn diese Zeitungs-Presse, welche sich so eifrig um das kümmert, was zwischen Kaukasus und Dardanellen und ‚da hinten weit in der Türkei‘ geschieht, ignoriren, was unter ihrer eigenen Nase, am Rhein und an der Lahn, auf dem Westerwald, am Taunus, in der Wetterau vor sich geht und doch an Schändlichkeit und Contrast zu dem ganzen Zustande des Landes und der Bevölkerung das weit hinter sich läßt, was man an den Tscherkessen, Tschetschenzen und Russen zu tadeln findet?“

Aus diesen Aeußerungen der amerikanischen Presse, aus verschiedenen Referaten der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ über diesen Menschenhandel und aus sonstigen Mittheilungen nahm der inzwischen verstorbene Medicinalrath Dr. Zais in Wiesbaden, der auch Mitglied der zweiten nassauischen Kammer war, Veranlassung, diese Sache auf dem nassauischen Landtag zur Sprache zu bringen. Er stellte am 8. März 1860 in Gemeinschaft mit anderen Kammermitgliedern die Motion: „Da die bisherigen polizeilichen Maßregeln gegen das Verdingen von Kindern von Seiten der Eltern und Vormünder an Subjecte, welche diese Kinder in fremde Länder ausführen, um sie daselbst zu schändlichen Zwecken zu mißbrauchen, erfolglos waren, so beantragen wir: – die Regierung wolle strengere Maßregeln gegen diesen Unfug ergreifen; namentlich halten wir es für nothwendig, daß die Verdingungsverträge für ungültig erklärt und die verdingenden Eltern oder Vormünder sowohl wie die dingenden Menschenhändler mit angemessenen Strafen belegt werden. Der Sclavenhandel mit Negern“ – so schloß Zais seinen Antrag – „wird von den Deutschen allgemein verabscheut, der Handel mit diesen deutschen Kindern ist noch schlimmer. Der Neger wird als Arbeitsvieh verkauft. Das Schicksal der verkauften deutschen Kinder aber ist, zur Prostitution verdammt zu sein. Die deutsche Nation, die sich die gebildetste und humanste der ganzen Welt nennt, sieht hier in ihrem Schooße einen Menschenhandel betreiben, der den Negerhandel in nichtswürdigen Motiven noch weit übertrifft.“

Die nassauische Kammer, welche unmittelbar vorher eine sehr ausführliche und gründliche Debatte gepflogen hatte über die wichtige Frage, ob es zweckmäßig sei, eine gesetzliche Minimalbreite der Radfelgen vorzuschreiben, und wie groß diese Breite wohl am besten zu bestimmen sei, schien hierbei ihre besten Kräfte erschöpft zu haben. Sie schenkte dem Antrag nur eine geringe Aufmerksamkeit und ging schließlich zur motivirten Tagesordnung über, nachdem vorher ein klerikaler Abgeordneter die Sache für bei Weitem nicht so schlimm erklärt hatte, wie sie dargestellt werde. „Es seien,“ meinte er, „gegenwärtig nur etwa 100–120 junge Leute im Alter von 16–18 Jahren (also doch auch Mädchen in diesem Alter!), welche von ihren Eltern an dergleichen Unternehmer verdingt würden.“ Ebenso hatte ein anderer dem geistlichen Stande angehörender Deputirter, der Vorsitzende der im September 1863 zu Frankfurt a. M. abgehaltenen Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands, ausgesprochen, „daß es kaum nöthig sein möchte, den Gegenstand von Neuem der Sorgfalt der herzoglichen Regierung zu empfehlen!“

Die Wirkungen dieses Beschlusses waren unschwer vorauszusehen. Die Regierung that das Nämliche, wie bisher, d. h. nichts. Die mit einer Mißbilligung bedrohten Unternehmer fuhren fort, Böses zu thun, und die mit einem Bedauern beglückten Kinder, Böses zu leiden. Der Beschluß wurde am 13. März 1860 mit Stimmeneinhelligkeit gefaßt, und vier Jahre später steht die Sache noch gerade so, wie damals. In Holland speculiren noch die listigen nassauischen Landgänger auf das gute Herz des dicken Niederländers; in St. Petersburg spielen noch die Harfenmädchen, die Seiltänzer und Purzler aus Elz und geben den Russen Anlaß, ihre Verachtung gegen den gehaßten „Niemetz“ auszudrücken; in Californien werden noch die armen hessischen Tanzmamsells in den Tanzkellern und Spielhöllen herumgezerrt; in Dänemark sagt noch der hauptstädtische Mob: „Was thut der Deutsche nicht für’s Geld!“ und in London quälen nach wie vor die nämlichen nassauischen Straßenmusikanten das Publicum mit den Dissonanzen ihrer zersprungenen Clarinetten und verbogenen Hörner!

Der damalige Regierungspräsident von Witzingerode, ein wohlmeinender, aber außerordentlich schwacher Mann, der nunmehr längst zu seinen Vätern versammelt ist, gestand, daß die nassauische Regierung zur Steuerung dieses schmachvollen Menschenhandels bis jetzt so gut wie nichts ausgerichtet habe; „allein,“ sagte er, „die Armuth und Noth der Eltern ist es, worin die Schwierigkeit liegt.“

Ganz richtig. Aber, fragen wir, warum ist denn in diesem von der Natur so reich ausgestatteten Nassau die Armuth so groß? Warum sind dort die Leute so unmoralisch, warum ist gerade dort eine Mutter unmenschlich genug, für ein paar Silberlinge ihr Kind einem beliebigen Landläufer zu überlassen, den sie entweder nicht kennt, oder von dem sie, wenn sie ihn kennt, sicher weiß, daß er das Kind in’s Verderben führt, daß er es entweder gar nicht wieder mitbringt, oder mit vergiftetem Leibe und Geiste? Warum besteht denn gerade in Nassau nicht eine allgemeine Verachtung gegen dies unehrliche Gewerbe? Oder wenn sie besteht, warum hat die öffentliche Meinung dort nicht die Kraft, selbst habsüchtige und gewissenlose Eltern abzuhalten, ihre Kinder zu verkaufen? Dies sind die Fragen, über welche sich der Arzt klar werden muß, der das Uebel curiren will. Denn wenn solche Dinge in Nassau vorkommen und in den andern deutschen Ländern (einige Orte in Hessen-Darmstadt ausgenommen) nicht, dann muß dies seine ganz bestimmten örtlichen Gründe haben.

Die Untersuchung dieser Gründe, die der Leser übrigens vielleicht ahnt, würde uns indeß auf das rein politische Gebiet hinüberführen, zu dessen Erörterung ein Familienblatt wie die Gartenlaube schwerlich der geeignete Ort ist.




[552]
Der tolle Platen.
Historische Skizze von Ferd. Pflug.

Es war zwischen neun und zehn Uhr Vormittags am 12. Februar 1814. Der Regen, welcher die ganze Nacht angehalten, hatte aufgehört und die Sonne mühte sich vergeblich, die grauen, den Himmel einhüllenden Wolkenschleier zu durchbrechen. Die Fernsicht blieb trotz der schon weit vorgeschrittenen Tageszeit deshalb auch nur beschränkt. Nach links schloß dieselbe eine Reihe kahler, niedriger Hügel, nach rechts blickte man in ein offenes, vielfältig von Gebüsch unterbrochenes Land, ohne daß die über diesem tiefer gelegenen Gelände auf- und niederwogenden Nebel jedoch mehr als die vordersten Gehöfte eines weitläufigen Dorfes und weiter zurück eine ziemlich umfangreiche Fichtenschonung deutlich hätten unterscheiden lassen. Geradeaus schien sich eine endlose Hochebene auszudehnen, und unmittelbar im Vordergrunde traten zwei nur in geringer Entfernung von einander gelegene Pachthöfe daraus hervor. Eine mit Pappeln eingesäumte Landstraße führte endlich mitten zwischen diesen beiden Gehöften hindurch und senkte sich weiterhin niederwärts in das breite Thal der Marne, welcher Fluß selbst gelegentlich in der Ferne aufblitzte und jenseit dessen sich sogar in besonders lichten Momenten die dunklen Häusermassen und spitzen Kirchthürme der Stadt Chateau-Thierry unterscheiden ließen. Das ganze Landschaftsbild trug das Gepräge einer trostlosen Oede und Verlassenheit, das selbst durch das bewegte kriegerische Treiben in demselben in keiner Weise verwischt oder gehoben zu werden vermochte.

Eher das gerade Gegentheil. Das tiefe, nur gelegentlich von einem kernigen Soldatenfluch unterbrochene Schweigen, womit die sich nähernden Marschsäulen sich auf der Landstraße und in den angrenzenden Feldern mühselig durch den Koth fortschleppten, und alle die Spuren von Unordnung und Verwirrung aus der ersteren konnten in einem vollkommneren Einklang zu dem trüben Himmel und dem aufgelösten Boden kaum gedacht werden. Eine so feste Haltung die Truppen auch noch bewahrten, so stand ihnen die erlittene Niederlage doch gleichsam auf der Stirn geschrieben. Vor ihnen mußten aber wohl schon andere Abtheilungen des Weges gezogen sein, welchen der gestrige Tag noch härter als diesen mitgespielt hatte. Die vielen im Schlamm stecken gebliebenen oder umgeworfenen Wagen und selbst Geschütze, die auf den Wegrändern hingesunkenen Maroden und Verwundeten, zerstreute Waffen und hier und dort die Leichen von Mann und Roß bewiesen das. Auch die in ganzen Schwärmen sich noch in dem freien Gelände rechts umtreibenden Versprengten sprachen für diese Vermuthung, und wenn bei der trüben Atmosphäre auch nicht mit bloßem Auge, so doch mit einem guten Glase vermochte man bei der Brücke von Chateau-Thierry zwischen den einzelnen dort gelegenen Häusern ein unabsehbares Gewirr von Menschen und Fuhrwerken zu unterscheiden, zu welchem auf einem zweiten Wege, hinter der etwa auf der halben Entfernung dahin gelegenen Fichtenschonung fort, noch immer neue Massen hinzuströmten.

Die Infanterie der noch zurückbefindlichen Heersäule hatte mit ihren vordersten Bataillonen den ziemlich steilen Abfall der Landstraße gegen das Thal der Marne bereits erreicht, Artillerie folgte, Cavallerie näherte sich in breiter Front über die Felder zur Linken und wurde aus der niedrigen, nach dieser Richtung den Gesichtskreis abschließenden Hügelreihe von ihren bis dahin vorgeschobenen Patrouillen und Sicherheitsposten begleitet. Alle diese Truppen waren übrigens Preußen, wogegen die Maroden und Todten an der Straße wie die auf den benachbarten Feldern sichtbaren Nachzügler und Versprengten ohne Ausnahme russischen Truppenteilen angehörten. Auch die stehengebliebenen Fuhrwerke und Geschütze trugen durchgängig den grünen russischen und nicht den blauen preußischen Anstrich, und die ersteren bekundeten außerdem ihren Ursprung durch die in weißer Farbe mit riesigen Buchstaben auf ihren Deckplänen enthaltenen russischen Inschriften.

Auf einer kleinen Anhöhe, hart hinter dem rechts gelegenen Pachthofe, hielt eine kleine Gruppe höherer Officiere. Zwei derselben, beide in ihre Mäntel gehüllt, aber der eine die einfache preußische Feldmütze von schwarzer Wachsleinwand, der andere den quergesetzten russischen Federhut auf dem Kopfe, waren zehn bis zwölf Schritt den Anderen vorauf in einem halblaut geführten, indeß, nach den blitzenden Augen der Herren zu urtheilen, sehr gereizten Gespräche begriffen.

„Und darum, Excellenz,“ schloß der mit dem Federhut kurz und bestimmt eine längere Ausführung, „sage ich Ihnen, es geht nicht anders, Sie müssen meine Rückendeckung übernehmen. Ich habe ein Recht dies zu fordern. Wenn die Preußen gestern zeitiger auf dem Schlachtfelds eingetroffen wären, so würden wir uns heute nicht geschlagen und auf dem Rückzüge befinden.“

Der Andere begnügte sich mit einem vieldeutigen Seitenblick ein langgedehntes: „Hm! So!“ einzuwerfen. Der Kopf des Mannes mit dem um die Schläfen niederwallenden weißen Haar und den wie in Erz geschnittenen Zügen des ernsten Antlitzes konnte nur einem bedeutenden Menschen gehören. Eine eiserne Entschlossenheit des Willens und hohe geistige Kraft, indeß auch eine stolze, starre Abgeschlossenheit und ein finsteres, galliges Temperament, wo nicht mehr, sprachen sich in dem Gesicht aus. Die fast eisige Kälte in letzterem stand mit dem gelegentlich tief aus dem Grunde der klugen, grauen Augen blitzähnlich aufleuchtenden Funken in einem zu auffälligen Widerspruch, um nicht auf das Vorhandensein einer glühenden Feuerseele in diesem schmächtigen, kaum die Mittelgröße überragenden Körper muthmaßen zu lassen.

Der neben ihm haltende russische Führer war um vieles jünger. Das starke dunkle Haar zeigte kaum hin und wieder einen grauen Schimmer, und die volle feste Gestalt, im Verein mit der gesunden, von Wind und Wetter gebräunten Gesichtsfarbe bekundete noch das kräftigste Mannesalter. Auch dessen Antlitz mußte als ein bedeutendes anerkannt werden, der geistige Anflug in demselben wurde jedoch, namentlich in dem gegenwärtigen Moment, durch eine kaum noch gezügelte Heftigkeit beeinträchtigt. Es lag übrigens etwas Verwandtes in diesem Gesicht mit dem des Andern, nur daß das, was sich bei Letzterem als bewußter Eigenwille ausprägte, bei Ersterem mehr auf Eigensinn gedeutet werden mochte. Nach der stolzen Selbstüberhebung, welche aus den dunklen Augen des jüngern Mannes leuchtete, und dem hochmüthigen Sichgehenlassen in seinen Worten und Gebehrden mußte die Behandlung Beider jedenfalls als gleich schwierig erkannt werden.

„So!“ hatte der Russe die vorige Aeußerung des preußischen Generals aufgegriffen. „Ja gewiß, so. Die Gelegenheit, die ganze französische Macht mit einem Schlage niederzuwerfen, wird uns niemals in gleicher Weise wieder lächeln. Excellenz kennen mich, und Niemand wird mich, den General von Sacken, der Poltronnerie beschuldigen, aber nochmals wiederhole ich Ew. Excellenz, bei einem rechtzeitigen Eintreffen des preußischen Corps war die Niederlage des französischen Kaisers so gewiß wie immer möglich. Ich hielt ihn so fest …“

„Oder vielmehr, Excellenz,“ unterbrach ihn jener mit der vorigen unbeweglichen Ruhe, „er hielt Sie. Meine armen Truppen wissen davon zu erzählen. Wenn Ew. Excellenz nach meinem Rath dem feindlichen Stoß über die Marne ausgewichen wären, so würde heute oder morgen jenseit dieses Flusses die ganze schlesische Armee vereinigt gewesen sein, um dem Napoleon eine Schlacht zu liefern, nach welcher ihm schwerlich noch nach einer zweiten gelüstet haben möchte. Dafür haben nun Ew. Excellenz gestern bei Montmirail die Schlacht verloren, und um Ihr geschlagenes Corps nur vor dem Aeußersten zu bewahren, habe ich ein paar Tausend von den Meinigen mit daran geben müssen.“

„Excellenz von York!“ war Sacken aufgefahren.

„Damit indeß noch nicht genug,“ fuhr jener, ohne den Ausruf des russischen Generals irgend zu beachten, mit der gleichen Eiseskälte fort, „verlangen Ew. Excellenz jetzt von mir noch, auf dem Abhang dieses nach allen Richtungen offenen Plateaus gegen den Feind Stellung zu nehmen, um Ihren Truppen den Uebergang über die Marne zu ermöglichen. Ich hielt denselben längst für beendet und glaubte mich zur Vermeidung jeder weiteren Gefahr ohne Aufenthalt ebenfalls über den Fluß ziehen zu können. Glück genug, daß die Franzosen bei dem Rückzuge dieser schrecklichen Nacht nicht schärfer gedrängt haben; indeß mit jedem Augenblick steht deren erneuter Angriff zu gewärtigen. Dieselben hier abwarten, heißt für mich jedoch nichts anders, als mein Corps einer beinahe sichern Vernichtung aussetzen, und ich respondire für dasselbe meinem Könige. Wie ich es schätze, ist es von dieser Stelle [553] mindestens noch eine gute Stunde bis Chateau-Thierry, und namentlich auf dem Wege über die Hügel dort drüben werde ich sicher vom Feinde umgangen und in die Flanke gefaßt werden …“

Einzelne Schüsse knallten aus der Ferne, und der General unterbrach sich, um das Glas nach der Richtung hinter den heranziehenden Colonnen an das Auge zu führen.

„Da ist der Feind,“ äußerte Sacken, „und Ew. Excellenz bleibt nun keine Wahl mehr.“

„Ja, so geht es immer,“ murrte York, und eine fast bissige Gereiztheit klang aus seinen Worten. „Die Herren Russen salviren sich, und wir Preußen müssen die ganze Last des Kampfes allein auf uns nehmen.“

Die Geduld des russischen Heerführers war erschöpft.

„Sorgen der Herr General nicht,“ brauste er auf, „meine Russen werden den Preußen besser, als diese ihnen gestern, zur Seite bleiben. Und wenn mein ganzes Corps darüber zu Grunde gehen sollte, jetzt mag es sich zeigen, wer dem Feinde standhafter die Stirn bietet. Die Behauptung der Hügel dort übernehme ich; etwaige Meldungen Ew. Excellenz werden mich bei den dahin vorgeschobenen russischen Truppen antreffen. Auch jenes Fichtengehölz rechts werde ich zur Aufnahme Ew. Excellenz mit einigen Bataillonen besetzen. Die Verantwortlichkeit für diesen Tag gegen meinen und Ihren Souverain trage dagegen nicht ich, General, sondern Sie.“

Es war ein böser Blick, welchen York dem mit seinem Gefolge in der Richtung gegen Chateau-Thierry Davonsprengenden nachsendete, jedoch keine Muskel seines Gesichts zuckte. Kalt und ruhig wie immer ertheilte er seine Befehle. Die vorderste preußische Brigade bog von der Straße ab jenen Hügeln zu, um auf denselben etwa in der halben Entfernung von der Stadt Stellung zu nehmen, eine andere Abtheilung schwenkte nach rechts zur Besitznahme des dort gelegenen Dorfes, zwei eben heranziehenden Landwehrbataillonen wurde die Vertheidigung der beiden einzelnen Pachthöfe übertragen. Das Feuer war rasch immer lebhafter geworden und näherte sich mit großer Schnelligkeit. Von Chateau-Thierry aus sah man nach Verlauf einiger Zeit eine starke russische Abtheilung, dabei namentlich viel Cavallerie, sich um jene die Hügel besetzt haltende preußische Brigade herumziehen und zwischen derselben und dem Plateau aufmarschiren. Auch vor dem Fichtengehölz erkannte man Truppen aufgestellt. Der immer höher anschwellende Donner des Geschützes schien durch die Erschütterung der Luft auf die Witterung einen Einfluß zu äußern, die Wolken zogen minder dicht und schwer, und zuweilen blitzte ein leichter Sonnenstrahl über die Landschaft.

Eine Stunde oder anderthalb mochten so verflossen sein. Die den Nachtrab bildenden preußischen Truppen und ihnen gegenüber die feindlichen Linien waren längst sichtbar geworden. York hielt der besseren Uebersicht wegen schon seit dem Anfang des Gefechts auf einer der vordersten Kuppen jener Hügel, und seine Blicke schweiften immer erwartungsvoller und besorgter nach links, wo, von diesem neuen Standort aus, ein von dem äußersten Horizont in langhingestreckten Bogen ausgebreiteter Wald und näher gegen die Anhöhen zu, wie bis zu dem Flusse niederwärts, ein buschiges, vielfach durchschnittenes Terrain die Wahrscheinlichkeit einer aus dieser Richtung zu erwartenden feindlichen Umgehung nur noch bestimmter hervortreten ließen.

Plötzlich nahm der General das Glas an’s Auge und blickte angestrengt in die Richtung des erwähnten Waldes, wo in der That sich seit einigen Augenblicken eine Bewegung bemerkbar machte und gleich einer rasch aufsteigenden finsteren Wetterwolke eine schwarze, noch ununterscheidbare Masse sich den Hügeln zu immer weiter ausbreitete.

„Endlich!“ das Gesicht des Feldherrn erwies sich fast unbeweglicher und kälter noch als zuvor. „Hauptmann von Schack,“ hatte er sich zu seiner Umgebung gewendet, „die mecklenburgischen Husaren, die westpreußischen Dragoner und die zwei Landwehr-Cavallerie-Regimenter brechen links ab, um der feindlichen Umgehungscolonne dort entgegen zu gehen. Nur die brandenburgischen Husaren und die lithauischen Dragoner bleiben fortan der Nachhut zugetheilt. Botschaft zugleich an den General Sacken mit seiner Cavallerie sich der unsrigen anzuschließen, um den Feind da in der Flanke im Vorschreiten aufzuhalten. Der Rückzug wird sofort angetreten.“

Das erste Anzeichen einer rückgängigen Bewegung hier schien den Feind zu einer verdoppelten Thätigkeit angespornt zu haben. Angriff folgte auf Angriff, in einem Augenblick hatte sich das Gefecht bis zu den beiden Pachthöfen übertragen, wo die bis dahin mit deren Behauptung beauftragten Landwehren, im Begriff sich ebenfalls abzuziehen, von feindlicher Cavallerie angefallen, wie unter einem jäh über sie losbrechenden Wirbelwind verloren schienen.

„Attakirenl Attakiren!“ Der General war, seinem Pferde die Sporen einhauend, selber dem Orte der Gefahr zugeflogen. So schnell diese Bewegung aber auch erfolgte, so war die Rettung derselben dennoch zuvorgekommen. Hinter der geworfenen feindlichen Reiterei blitzten die hochgeschwungenen Klingen der wie ein Wetterstrahl auf sie eingesprengten lithauischen Dragoner. In aufgelöster Ordnung flüchteten die befreiten Landwehren den nächsten preußischen Vierecken zu. Bereits wurde bei den siegreichen Geschwadern auch Appell geblasen, und einen Moment darauf sah man dieselben, geordnet wie auf dem Exercirplatze, quer über Feld von ihrem glücklichen Handstreich wieder zurücktraben. York war den Reitern in Person einige Schritte entgegengeritten, es zuckte etwas wie Sonnenglanz in seinen Zügen. „Brav, meine alten Litthauer! brav, Major von Platen!“ rief er denselben zu.

„Regiment, halt! Front!“ Der Regimentscommandeur musterte mit scharfem Blick die Linie seiner aufgerittenen Dragoner. „Bah!“ kehrte er sich gleichmüthig zu dem Feldherrn, „die Kerle soll ja die … Himmel-Schwerenoth!“ donnerte er auf einen Mann des nächsten Zuges ein, „wo hat der Kerl seine Pfeife gelassen? Wachtmeister, der Mann wird für die nächsten drei Tage zur Feldwache notirt.“ In seinem einmal erwachten Inspectionseifer sprengte er die Front des Regiments hinunter. Mann für Mann desselben trug in der That, wie der Führer selbst, eine kurze Tabakspfeife im Munde, und jeder mühte sich unter den auf die Säumigen niederfahrenden Donnerwettern die dichtesten Dampfwolken aus deren Mundstück aufqualmen zu lassen. Das Regiment hätte es in dieser Beziehung für den Moment mit dem besten Fabrikschornstein aufnehmen können.

Die Inspektion war bei alledem nicht genügend ausgefallen, eine gute Zahl der Leute hatte bei dem vorigen raschen Sturmritt ihre Nasenwärmer verloren, oder doch deren Brand zu unterhalten vergessen. „Dragoner wollt ihr sein,“ wetterte der Commandeur, „und besitzt nicht mal Contenance genug, um für eine solche lumpige Attake euere Pfeifen im Maule zu behalten! Wozu anders commandire ich jedesmal vor dem Anreiten: ‚Pfeifen festgefaßt!‘ als um euch Contenance zu lehren? Die ist das erste Erforderniß für einen rechtschaffenen Dragoner. Der Deibel soll den bei lebendigem Leibe fricassiren, der mir heute seine Pfeife verliert oder ausgehen läßt!“

Die Dinge hatten sich im rapiden Verlauf immer bedrohlicher gestaltet. York war auf die Reitersignale von jenseit der Hügel schon lange dahin zurückgesprengt. Auch um das Dorf zur Rechten knatterte und knallte es bereits in allen Tonarten. Die preußische Infanterie befand sich in Quarré formirt und das Geschütz zwischen ihren Vierecken gegen Chateau-Thierry im möglichst beschleunigten Abzuge begriffen. Um die letzten in das Thal der Marne niedersteigenden Bataillone noch zu überraschen, war in der Front die französische Cavallerie abermals zum Angriff übergegangen. Das Regiment attakirte von Neuem, und der Feind wurde, diesmal jedoch nicht ohne einen harten Zusammenstoß, wiederum zurückgetrieben. Der Major war durch den Ausfall des letzten Sturmritts sehr unbefriedigt. Auch die Ordnung in den Schwadronen wollte sich diesmal nicht gleich schnell wie vorhin wieder herstellen lassen. „Was habe ich Euch anempfohlen?“ lobte er. „Sobald ich Marsch! Marsch! blasen lasse, geht es wie ein Donnerwetter auf die feindliche Cavallerie los, jeder giebt Einem davon etwas auf die Mütze, dann lasse ich Appell blasen und rasch wieder zurück und Ordnung gemacht. Himmel-Schwerenoth! es war dies die schlechteste Attake des Regiments während des ganzen Feldzugs. Diese französischen Kerle nicht gleich im ersten Anprall über den Haufen zu werfen!“

Er strich sich den langen, grauen Knebelbart, das dunkle Gesicht des untersetzten kräftigen Mannes war noch dunkler geworden, ein wüthender Zorn loderte in seinen schwarzen Augen. Nach den Pfeifen der Leute mochte er erst gar nicht sehen, über dem Herumhauen von vorhin zeigte sich gut die Hälfte derselben ohne diese Zugabe, und seine Laune wurde durch diese letzte Wahrnehmung keinesfalls gebessert. Grimmig sog er selber an der Spitze [554] seines Meerschaumkopfes. Endlich brach der Sturm doch noch über die Uebelthäter los, die vorige Scene erneute sich im verzehnfachten Maße.

Wieder attakirte das Regiment und abermals. Nur die brandenburgischen Husaren unter dem berühmten Sieger von Möckern, dem tapferen Obersten Sohr, befanden sich demselben noch zur Seite, und von dem Feinde waren diesen beiden Regimentern gegenüber mindestens schon fünf bis sechs Cavallerie-Regimenter, Chasseurs à cheval, Dragoner und Uhlanen vorgezogen worden. Auch das Dorf rechts hatte denselben preisgegeben werden müssen. Immer weiter breitete sich die feindliche Schlachtlinie aus, bereits näherte sich eine nach rechts vorgeschobene französische Umgehungscolonne, ebenfalls mit mehreren Cavallerie-Regimentern an der Spitze, dem mehrerwähnten Fichtengehölz. Die eigene preußische Infanterie mochte in ihrer rückgängigen Bewegung mit ihren vordersten Massen etwa die gleiche Höhe erreicht haben, und die beiden vorhin schon in so großer Gefahr schwebenden Landwehrbataillone sah man auf halbem Wege nach jenem Gehölz aufgestellt, um den Vertheidigern desselben zur Stütze zu dienen. Das Knatterfeuer der Tirailleurs setzte keinen Augenblick aus, und die Salven der Infanterie dröhnten dazwischen. Die Schwierigkeit, die Artillerie in dem aufgelösten Boden schnell genug von der Stelle zu bewegen, verhinderte glücklicherweise die Franzosen von ihrem Geschütz den entsprechenden Gebrauch zu machen, wogegen namentlich in der festen Stellung auf den Hügeln die preußisch-russischen Geschütze ein nicht abreißendes Feuer unterhielten. Die bunt durcheinander geblasenen Reitersignale von jenseit der Höhen ließen dort auf nicht minder hartnäckige Kämpfe als hier schließen. Die Sonne leuchtete jetzt hell und warm von dem fast wolkenlosen Himmel, und nur der über den kämpfenden Massen dicht geballte Pulverdampf erschwerte noch die allgemeine Uebersicht. Chateau-Thierry erwies sich jetzt nahe genug, um zwischen den Häusern der diesseits der Marne gelegenen Vorstadt das noch immer wenig gelichtete Gewirr der vorausgezogenen, durch die gestrige Schlacht aufgelösten russischen Truppen mit bloßem Auge deutlich unterscheiden zu können.

Der Ernst des Moments und die mit jedem Augenblick gesteigerte Gefahr hatten bei den lithauischen Dragonern längst die Pfeifen vollends verschwinden lassen, nur der Major qualmte als Ersatz dafür gleich einer Schmiedeesse und fluchte als gelegentliches Intermezzo alle Teufel der Hölle über seine Leute. Das Regiment, so brav es sich bisher gehalten, vermochte ihm heute nichts recht zu machen. Allmählich begann seine Gereiztheit indeß auch bei seinen Untergebenen die gleiche Empfindung zu wecken. Die Officiere hatten ihres Unwillens gar kein Hehl. Die Dragoner murrten, von all den in den Bart gebrummten Flüchen und Verwünschungen grollte es wie ein fort- und fortrollendes Donnerwetter in den Gliedern.

„Da haben wir die Geschichte! Daß doch gleich neun und neunzig …“ Die von dem Major ausgestoßene merkwürdige Fluchcomposition ist in der Schriftsprache nicht gut wiederzugeben. „Regiment, Marsch! Marsch!“ Die Attake ließ die gleiche Absicht des Feindes gar nicht erst zur Ausführung kommen. Der blitzschnelle Angriff durfte als ein Meisterstück genommen werden. Das nächste französische Reiterregiment sah sich auf das zweite geworfen, und bevor das dritte sich noch aus diesem Knäuel von ansprengenden Reitern und Pferden herauszuwickeln vermochte, waren die Dragoner schon wieder gerichtet und geordnet. Indeß hinter denselben sauste es die Hügel niederwärts, die dort postirte russische Abtheilung schien in einem Augenblick aufgelöst. Alles flüchtete, rannte, wogte an den noch fest geschaarten preußischen Massen vorüber nach Chateau-Thierry zu. Auch in der entgegengesetzten Richtung vor dem Fichtengehölz und diesseit desselben erblickte man ein unentwirrbares Getümmel.

„Major, mit dem Regiment in Zügen links abgebrochen! Dragoner, auf, rettet die Schlacht!“ York war mitten durch das Getümmel auf diese seine alten Schlachtgefährten zugesprengt. „Hauptmann von Schack,“ kehrte er sich zu seinem ersten Adjutanten, „die brandenburgischen Husaren zurück hinter die Infanterie! Dieselbe muß fortan die feindlichen Angriffe mit Kugel und Bajonnet allein abwettern, dann die Cavallerie schwadronsweise nachgehalten. Sie bleiben bei Sohr.“

Ein Regiment Dragoner der Kaisergarde, auf welches die Litthauer jenseit der Hügel zuerst gestoßen waren, hatte schlimme zwei, drei Minuten zu verleben gehabt. Grimmig klapperten die wuchtigen Plempen derselben auf den blankpolirten Helmen der stolzen Gardereiter, nicht wenige derselben bezeichneten, todt oder verwundet, am Boden ausgestreckt, die Richtung dieses ebenso glücklichen wie kühnen Sturmritts.

„Ihr seid doch immer auf dem rechten Fleck!“ begrüßte York die wackern Degen bei ihrer Rückkehr. „Major von Platen, ziehen Sie sich mit Ihrem Regimente mehr rechts an die übrige preußische Reiterei heran …“

Der General batte sich unterbrochen. Die Feinde hatten weiter abwärts von Neuem angegriffen. Die Flucht zeigte sich diesseits dort allgemein. Salve um Salve krachte von der auf den Hügeln aufgestellten preußischen Infanterie, zwei mehr in der Mitte vorgeschobene preußische Cavallerie-Regimenter, das eine die durch ihre weißen Kragen und Aufschläge erkennbaren westpreußischen Dragoner, das andere ein schlesisches Landwehr-Cavallerie-Regiment, versuchten die die preußischen Vierecke bestürmenden feindlichen Reitermassen in die Flanke zu fassen; allein es lag kein rechter Schwung in ihrem Anreiten und das Mißlingen ihrer Attake durfte deshalb gleich mit deren Beginn gemuthmaßt werden. Drei oder vier Reiter sprengten, was die Pferde laufen wollten, hinter den vorgegangenen Schwadronen weg, gerade auf die um den General versammelte Gruppe zu. „Excellenz,“ rief der Vorderste diesem schon aus der Ferne zu, „es bleibt mir nichts, als an Ihrer Seite bis zum Letzten auszuhalten! Meine Russen sind mir unter den Händen zerstoben.“ Es war der General Sacken, statt des Federhuts trug er jetzt eine wahrscheinlich vom Schlachtfelde aufgeraffte Soldatenmütze auf dem Kopfe, sein halb abgerissener Mantelkragen bewies, wie sehr er sich dem Feinde ausgesetzt haben mußte. Die Verzweiflung stand in leserlichen Zügen auf seinem Antlitz geschrieben.

„Noch ist nichts verloren, Excellenz,“ versuchte York den russischen Führer aufzurichten. Sein Gesicht wies noch dieselbe unzerstörbare Ruhe wie vorhin, nur der scharfe Blick, womit er augenblicklich mehr noch die Vorgänge hinter sich im Thale der Marne, als sich gegenüber verfolgte, verrieth die Spannung seines Innern.

„Brav!“ murmelte er hochaufathmend, „das waren die Füsiliere des Leibregiments, sie haben die feindliche Cavallerie mit dem Bajonnet durchbrochen. Braver Sohr! Wie seine Husaren den Franzosen in die Eisen sitzen! So recht! kehrt und wieder Ordnung gemacht. Der arme Wollzogen mit seinem Landwehr-Regiment ist freilich abgeschnitten, es ist unmöglich, daß er sich an die übrigen Truppen noch wieder heranzieht, allein wenn er und seine beiden Bataillone sich dort an dem Saume des Fichtengehölzes nur noch fünf Minuten behauptet und die Brigade dort auf den Hügeln nur noch ebenso lange ausdauert, ist der Rest des Corps gerettet.“

„Heiliges Kreuz-Million …“ – das „Donnerwetter“ folgte erst noch nach wer weiß wie vielen Zwischengliedern – „haben die Kerle denn keine Sporen an den Beinen?“ war der Major von Platen vorhin bei dem Anreiten der beiden preußischen Regimenter aufgefahren. „Das ist der Unruh mit seinen Weißkragen. Diese …“ Die gebrauchte Bezeichnung spottet erneut jeder schriftlichen Wiedergabe. „Pfui Deibel! Wer dem“ – abermals ein wahrhaft ungeheuerliches Kraftwort – „ein Regiment anvertraut hat, der mag’s noch am jüngsten Tage verantworten. Da – da – da haben wir die Geschichte!“

Der Boden erbebte von dem Hufschlag der heranstürmenden feindlichen Geschwader, in einem Augenblick stürzte die preußische Reiterlinie, vom Feinde fast getragen, zurück. Wie die brandende See wogte es hoch auf um die preußischen Vierecke unterwärts auf den Hügeln. Der Ruf der Trompete, das Wirbeln der Trommeln, das Gekrach der Salven gingen völlig in dem rasenden „vive l’Empereur!“ der siegestrunkenen französischen Eisenreiter verloren.

„I, Ihr verdammten Racker, Euch soll ja … Regiment Trab! Marsch! Marsch!“ Ein breiter Graben hielt die heranstürmenden Litthauer auf. Noch eine ziemliche Strecke dahinter hatte, um deren Anprall zu erwarten, ein französisches Reiterregiment, den Karabiner am Backen, Halt gemacht. Die gewaltigen Bärmützen der bärtigen Gesellen, die prallen Lederhosen mit den großen Reiterstiefeln und die blaue Uniform mit den breiten weißen Rabatten ließen in diesen im Sonnenlicht funkelnden Schwadronen das berühmte Regiment der französischen Grenadiers à cheval, [555] nächst den Garde-Jägern zu Pferde Napoleon’s unmittelbare Leibwache, unterscheiden.

„Dragoner wollt Ihr sein!?“ schnaubte der Major, das, was sie wirklich sein sollten, ist aus ästhetischen Rücksichten wiederum nicht auszudrücken. „Haben die Kerle nicht reiten gelernt? Donnerwetter, vor einem solchen lumpigen Graben zu stutzen. Vorwärts!“ Mit der Spitze seiner Pfeife deutete er den Seinen die Richtung an und setzte, der Erste voran, über den Graben.

Ein Wuthgebrüll seines endlich zum Aeußersten gereizten Regiments hatte seine letzten Worte verschlungen. Der Graben und dahinter noch ein zweiter wurden von den Dragonern überflogen. Von seinem edlen Renner pfeilschnell über alle Hindernisse des Bodens fortgeführt, war ihr Führer ihnen jedoch an die fünfzig Schritt voraufgeblieben. Blindlings warf derselbe sich auf den vor der Front seines Regiments haltenden feindlichen Commandeur, ein rasch ausgetauschter Hieb und der Franzose wankte im Sattel. Doch Platen hatte in seinem Eifer auf dessen Adjutanten nicht geachtet, im selben Augenblick klaffte von dessen Klinge sein Gesicht von der Stirn bis zum andern Backen, seine bloßgelegten Zähne vermochten über den wüthenden Schmerz die auch unter diesem letzten Sturmritt treu bewahrte Pfeife nicht zu halten, der Meerschaumkopf glitt zur Erde, sein scheugewordenes Pferd führte den Verwundeten gerade seinem anstürmenden Regiment entgegen.

„Kiek, kiek, jetzt is em ooch die Piepe utgegangen!“ Wie Donnerruf pflanzte der Jubel sich fort durch das Regiment. Den Anprall der Dragoner hätten die französischen Leibwächter wohl, wie so manchen früheren wüthenden Angriff, ruhig abgewettert, indeß dies Höllengelächter machte sie verwirrt, bestürzt. Die Karabinersalve, womit sie nach althergebrachter französischer Reitersitte den Gegner zu erschüttern gedachten, ging beinahe wirkungslos in die Luft, im nächsten Moment sahen sie sich gesprengt und Schulter an Schulter mit dem siegreichen Feinde eine weite Strecke zurückgerissen.

Der Triumph der braven Litthauer würde vollständig gewesen sein, wofern sie ihr bis dahin immer mit Glück beobachtetes Verfahren, unmittelbar nach gelungener Attake wieder in die eigne Schlachtordnung zurückzukehren, auch diesmal eingehalten hätten. Allein im Feuer des Sieges und der Verfolgung dachte Niemand daran, den Befehl hierzu zu ertheilen. Platen zum allerwenigsten. Rasend vor Wuth, befand er sich vielmehr unter den Vordersten, welche blind und toll den Franzosen nachjagten. Bei der Uebermacht des Feindes konnte die üble Frucht dieser schlimmen Versäumniß ganz unmöglich ausbleiben. Eben noch Sieger, sahen sich die Dragoner plötzlich von zwei feindlichen Regimentern von links und rechts zugleich angegriffen. Die Grenadiere zu Pferde, außer sich vor Zorn und Beschämung über die erlittene Niederlage, drehten wieder um. Mann schlug sich wider Mann, doch der ungleiche Kampf schwankte keine Minute. Der Schwall wälzte sich rückwärts. Indeß noch nicht genug. Der französische Kaiser war selber zur Stelle geeilt und hatte die seine Begleitung in den Schlachten bildenden reitenden Garde-Jäger dem Feinde in den Rücken geworfen. Der Weg über die Gräben zeigte sich abgeschnitten. Die Richtung nach der weiter unterhalb noch auf den Hügeln aufgestellten preußischen Infanterie mußte mitten durch den Feind genommen werden. Die Tapfersten drängten sich um die Standarte zusammen. Wie viele in dem Bemühen, sich durch die feindliche Uebermacht, den Säbel in der Faust, Bahn zu brechen, stürzten, dennoch glückte das verzweifelte Wagstück. Nahe an die Hälfte der tapfern Männer war darüber freilich verloren gegangen.

Vielleicht, daß es indeß auch dem geretteten kleinen Rest nicht gelungen wäre, sich durchzuschlagen, wenn York in Person nicht, was von den beiden vorhin geworfenen Regimentern sich noch unter seinen Händen befand, zusammengerafft und sich damit dem Feinde in den Rücken und in die Flanke geworfen hätte. Der unerwartete Stoß wirkte freilich nur einen Moment, und schon im nächsten sah sich dieses ohnehin bereits so schwer erschütterte Häuflein in nicht minder furchtbar drangvolle Enge genommen. Der Oberst Unruh von den westpreußischen Dragonern erhielt in diesem Getümmel einen Lanzenstich in den Unterleib und verdankte seine Rettung nur der Schnelligkeit seines Pferdes; kaum daß die beiden Generale noch den Anschluß an die Infanterie wieder zu gewinnen vermochten.

„Der Major ist todt oder gefangen, rettet den Major!“ Was von den Litthauern noch zusammenhielt, hatte sich, den Vermißten herauszuhauen, nochmals in den Feind gestürzt. Im Grunde war der kühne Führer jedem dieser tapferen Reiter doch tief in’s Herz gewachsen. Die lithauischen Dragoner und der „tolle Platen“, wie der Major in der ganzen preußischen Armee genannt wurde, gehörten eben einfach zusammen. Das Aeußerste mußte zu seiner Rettung versucht werden. Auch dieser letzte Sturm war wirkungslos von den feindlichen Massen abgeprallt. Als die Letzten flüchteten auch die Litthauer der gänzlich geworfenen preußisch-russischen Cavallerie nach auf Chateau-Thierry zu. Nur die brandenburgischen Husaren hielten im Thale der Marne bei dem jetzt auf sich allein angewiesenen Fußvolk noch aus. Das erste ostpreußische und das westpreußische Grenadierbataillon wurden gesprengt, doch das Leib-Regiment warf sich erneut mit dem Bajonnet auf die feindlichen Geschwader und trieb dieselben zurück. Die brandenburgischen Husaren hieben nach, und unter der nicht minder standhaften Haltung der preußischen Infanterie auf den Hügeln ward endlich der Eingang zur Stadt gewonnen.

Es war ein böser Unglückstag für den wackeren Platen, dieser 12. Februar. Durch die Grenadiere hatte er sich zwar glücklich durchgeschlagen, allein Niemand kann seinem Schicksal entfliehen. Das Blut aus seiner Wunde blendete ihm die Augen, und statt sich links zu halten, war er nach rechts, gerade mitten unter die Gardejäger hineingestürmt. Zehn, zwölf derselben hatten sich auf ihn geworfen, der Degen ward ihm aus der Hand gewunden. An jedem Arm von einem der bärtigen Burschen gehalten, wurde er, er wußte selber nicht wie ihm geschah, im Fluge dem Standorte des Kaisers zugeführt. Die Eile der Feinde war zu groß und ihr Fang schien ihnen zu sicher, als daß sie daran gedacht hätten, ihren Gefangenen nach altem Kriegsgebrauch zuvor von seinem Pferde absitzen zu lassen, vielleicht, daß sie dies auch aus Rücksicht auf die anscheinend schwere Verwundung des Majors unterlassen haben mochten.

Der Mann im grauen Ueberrocke und dem kleinen Hütchen hatte unter dem Flammeneifer, mit welchem er die Vorgänge auf dem Schlachtfelde verfolgte, nur einen kalten gleichgültigen Blick auf Platen und seine Begleiter geworfen. Das Glas kam kaum von seinen Augen. Adjutanten stürmten heran und wurden mit zwei Worten abgefertigt. Mit jeder neuen Wendung des Kampfes schien sich die Ungeduld des großen Schlachtenfürsten zu steigern. Am Ende litt es ihn nicht mehr auf derselben Stelle, quer über Feld sprengte er den Truppen nach.

Der Major war zwischen seinen beiden Wächtern der vorigen Bewegung gefolgt, allmählich sammelten sich seine Gedanken wieder. Er schaute sich um. Nach rechts, in der Richtung nach Chateau-Thierry, versperrten die im Gefecht befindlichen feindlichen Truppen jeden Ausweg, jedoch nach links breitete sich unter dem hier sehr steilen Abfall der Hügel eine von unzähligen Gräben, Hecken, Dämmen durchschnittene Fläche aus, und weiterhin, dem Flusse zu, reichten die letzten Ausläufer des vorerwähnten Waldes bis fast unmittelbar an das Ufer.

Es war das so recht ein Terrain, um den besten Fuchsjäger für seinen Hals fürchten zu lassen, allein um so sicherer erschien für Platen die Aussicht, einmal wieder frei, seinen Verfolgern das leere Nachsehen zu lassen. Noch fühlte er sein gutes Roß zwischen den Schenkeln, und die paar Hecken und Gräben – pah! er hatte gelegentlich wohl schon um geringeren Preis einen noch gefährlicheren Ritt unternommen. Der Zufall zeigte sich ihm überdies günstig, der einzige Knopf, der seinen Mantel über der Brust zusammengehalten hatte, war unter dem Hin- und Herzerren bei seiner Gefangennahme abgerissen. Leise, fast unmerklich, lockerte er das Kleidungsstück um die Schultern, er brauchte – freilich bei dem steilen Abhang unmittelbar vor ihm ein furchtbares Wagstück – bei dem ersten scharfen Satz seines Pferdes nur die Arme nach hinten auszustrecken, um den beiden reitenden Jägern den Mantel statt des Mannes in Händen zu lassen.

Mit einem kurz ausgestoßenen „Ha!“ hatte Napoleon den Kopf aufgeworfen. Seine flammenden Blicke flogen rückwärts. „Die Artillerie heran! Wo bleibt die Artillerie?“ herrschte er zu seiner Umgebung gewandet. „Schnell! schnell!“ Die Stimme klang wie belegt unter der ihn verzehrenden Ungeduld. Wieder tönte das „Ha!“ Es war der Moment, wo die Spitze der preußischen Infanterie sich in die Vorstadt von Chateau-Thierry hineinzuziehen begann, nur noch einige Minuten und dieselbe mußte sich hinter den hier der Reiterei entgegentretenden vielen Annäherungshindernissen [556] wenigstens vor deren Angriffen in einer verhältnißmäßigen Sicherheit befinden. Aller Blicke hafteten in höchster Spannung an dem Punkte der Entscheidung.

Ein Ruf der Ueberraschung erschallte plötzlich hinter Napoleon, wie eine Rakete war Platen an ihm vorüber den Abhang hinuntergesaust. Der eine Jäger war durch den unvermutheten Ruck bügellos geworden, der andere hielt mit starren Blicken die leere Hülle in der noch ausgestreckten Rechten. Indeß der Major hatte auf das zur Sicherung des Kaisers weit nach links vorgeschobene Seitenpiket nicht geachtet. Auf den Ruf: „Halt! Haltet auf!“ lösten sich sechs bis acht Reiter von demselben los und verrannten ihm den Weg. Von links und rechts stürmten die Verfolger hinter ihm drein. Einer Jagd galt’s auf Tod und Leben. Wie ein Vogel trug ihn sein schnelles Roß über alle Hindernisse fort, noch einen letzten breiten Graben mit hohem jenseitigen Rande, und keiner wagte es ihm nachzuthun. Die Gebehrde, mit welcher er von den unentschlossen an dem diesseitigen Grabenrande hin- und hergaloppirenden Franzosen Abschied nahm, konnte nicht unanständiger sein, im nächsten Moment war er denselben hinter den Bäumen und Buschpartien des nahen Flußufers vollends aus dem Gesicht verschwunden. –

Es war gegen Mitternacht nach diesem ereignißreichen Tage. Mit dem Abend war erneuter Frost und Kälte eingetreten. Das Corps York’s hatte vor der Fortsetzung des nach Rheims gewandten Rückzugs bei einem kleinen Dorfe an der Landstraße eine kurze Rast angetreten. Die Truppen ruhten um die schnell entzündeten Wachtfeuer auf dem eisigen Boden. Der General weilte, umgeben von den Officieren seines Stabes, mitten unter ihnen.

Als einzige Auszeichnung hatte man dem Feldherrn eine Schütte Stroh als Sitz untergebreitet; nachdenklich schürte er mit der Säbelscheide die Flamme des Feuers.

„Also, Schack,“ kehrte er sich nach einem langen Schweigen zu seinem Adjutanten, „so würden sich unsere heutigen Verluste Alles in Allem auf dreizehn Kanonen und über 2000 Mann belaufen?“

Der Gefragte bejahte. „Aber mindestens ist keine Fahne oder Standarte in des Feindes Hand gefallen,“ fügte er hinzu.

„Ein harter Verlust,“ murmelte York, „mit gestern sind das aber 4000 meiner besten Streiter. Und der tapfere Schon, der Arnim, der Marwitz, wie viele meiner braven Officiere haben mich diese beiden unglücklichen Tage gekostet – der verwundete Oberst von Unruh ist doch in meinem Wagen untergebracht worden?“ fragte er. „Der Platen,“ nahm er nach der bejahenden Antwort sein Selbstgespräch wieder auf, „um den thut es mir zum Meisten leid. Die Armee hat viel an diesem einen Mann verloren. Ob er todt oder gefangen sein mag?“

Ein tobender Jubel hatte dem General die Frage fast von den Lippen genommen. „Der Platen ist wieder da! Der tolle Platen! Hurrah! Hussa!“

„Was?“ York war vom Feuer aufgesprungen. „Platen, seid Ihr’s wirklich? Herr Du mein Gott! Mann, wie seht Ihr aus!“

Der Ausruf des Generals war nur zu gerechtfertigt. Blut überklebte das Gesicht des Majors bis zur Unkenntlichkeit, mit der Kälte der Nacht hatte die unverbundene Wunde sich heftig entzündet und die Geschwulst der durchschnittenen Muskeln verlieh dem ohnehin gerade nicht holdseligen Antlitz einen wahrhaft schrecklichen Ausdruck. Die beim Durchschwimmen der Marne durchnäßten Kleider steiften, starr gefroren, von dem Körper ab, und die dadurch bewirkte Unförmlichkeit der Gestalt erhöhte noch die Ungeheuerlichkeit der Erscheinung des Mannes.

Sprechen konnte der Major nicht, der Versuch dazu führte nur zu einer entsetzlichen Grimasse. Auch mit dem Trinken aus einer der zwanzig und mehr ihm zugereichten Feldflaschen wollte es nicht glücken. „Ruft den Doctor!“ hatte York den Befehl gegeben, „der Major muß vor allen Dingen verbunden werden, und dann, lieber Platen, in meinen Wagen.“

Der Verband war unter den Heftnadeln des Arztes leider nicht ohne ein geheimes Kichern abgegangen. Der Teufel hätte bei den seltsamen Verzerrungen dieses schrecklichen Gesichts auch ernsthaft bleiben mögen. Selbst von der verlornen Tabakspfeife und dem „Kiek, kiek!“ seiner Dragoner hatte das feine Ohr des Majors etwas aufgefangen. Und dann, o all ihr gnädigen Götter! saß sein Todfeind, der Unruh, in dem Wagen des Generals! Den entsetzlichen Fluch, der ihm bei diesem Anblick schon auf die Zunge getreten, mußte er bei der Unmöglichkeit die Lippen zu bewegen freilich wieder niederwürgen, allein ausspeien und zu seinem Pferde eilen, um sich wieder in den Sattel zu schwingen, konnte er dennoch. Am nächsten Morgen erst gelang es, den vom heftigsten Wundfieber Geschüttelten in einem hierzu mit Stroh ausgepolsterten Bagagewagen auf ein Lager zu bringen.




Die unterseeische Schifffahrt und W. Bauer’s Küstenbrander.
Nach schriftlichen und mündlichen Mittheilungen des Erfinders.
Von Dr. Friedrich Hofmann.

Nicht zu neuen Kriegesschrecken
Einzig lockt sein Wasserhaus:
Zum Erschließen, zum Entdecken
Ziehet der Erfinder aus.
Hat der Brander seine Wache
Treu gethan am deutschen Strand,
Fährt er mit der Friedensflagge
In der Tiefe Wunderland.
In der Tiefe„Dorfbarbier“ Nr. 33, 1861.

„Seitdem wir gesehen haben, wie man mit dem Dampfe fährt, mit dem Blitze spricht und mit der Sonne malt – was man vor fünfzig Jahren für Wahnsinn erklärt haben würde –, seitdem haben wir nicht mehr das Recht, irgend eine Erfahrung kurzweg abzuleugnen, sondern nur noch die Befugniß, den Beweis durch das Experiment zu fordern.“ Diesen Satz müssen wir, vereint mit dem Ausspruche Humboldt’s Kosmos, I, S. 140): „Eine vornehm thuende Zweifelsucht, welche Thatsachen verwirft, ohne sie ergründen zu wollen, ist in einzelnen Fällen oft noch verderblicher, als unkritische Leichtgläubigkeit“ – an die Spitze dieses Aufsatzes stellen, weil solche Zweifelsucht gerade von wissenschaftlicher Seite her dem Erfinder der unterseeischen Schifffahrt vom ersten Anfang bis in die jüngste Zeit am schroffsten entgegengetreten ist.

Trotz dieser wenig ermuthigenden Thatsache, von der wir Proben, die uns von unserer Theilnahme für die Erfindungen Wilhelm Bauers abzulenken eifrig bemüht waren, in allerlei Form vorliegen haben, ließen wir uns keinen Augenblick in unserer Ueberzeugung von der principiellen Richtigkeit dieser kühnen Versuche eines Mannes aus dem Volke beirren, sondern förderten sie nach unseren Kräften, weil wir dies für unsere nationale Pflicht hielten.

Im Jahrgang 1861 (Nr. 41) machte die Gartenlaube zum ersten Mal ihren großen Leserkreis mit dem „deutschen Erfinder“ bekannt, indem sie den Untergang desselben mit dem ersten (schleswig-holsteinischen) Brandtaucher im Kieler Hafen und seine Rettung aus jener argen Gefahr schilderte und zur werkthätigen Theilnahme für den Mann aufrief.

Bauer hatte sich, durch die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen für die Ausführung seiner unterseeischen Kriegsfahrzeuge zum deutschen Küstenschutz von ferneren Versuchen dafür abgeschreckt, der industriellen Ausbeute seiner Erfindung zugewandt. Die Gartenlaube nahm sich derselben sofort an, und die Gründung des „Central-Comité’s für Bauers deutsches Taucherwerk“, die Sammlung der nöthigen Mittel dazu und endlich die Hebung des baierischen Dampfers „Ludwig“ aus dem Bodensee waren die Erfolge ihrer Bestrebung.

Nach der Hebung des Ludwig, die in den Sommer des erregten Jubeljahres 1863 fiel, sollte in Bremen eine Aktiengesellschaft zur Ausbeute der in England patentirten Bauer’schen Erfindungen über Schiffhebung, Taucherkammer u. s. w. gegründet werden. Da führte der Tod des Dänenkönigs zum jüngsten schleswig-holsteinischen

[557]

Angriff in der Tiefe.     Wilhelm Bauer’s Küstenbrander.     Angriff am Niveau.

[558] Kriege, jenes Unternehmen mußte verschoben werden, die unterseeischen Kriegswerkzeuge traten wieder in den Vordergrund.

Der Charakter jenes Kriegs, der die Nation zu keiner opferfreudigen Begeisterung für denselben erheben konnte, drückte hemmend auch auf Bauer’s Plan, jetzt der anfänglichen Schutzlostgkeit der deutschen zur See mit seinem Küstenbrander abzuhelfen. Desto deutlicher hatte sich die Machtlosigkeit der Deutschen zur See herausgestellt; es bedurfte der äußersten Anstrengung der beiden deutschen Großmächte, um, und zwar erst am Ende des Kriegs, eine Seewehr aufzustellen, welche der des kleinen Dänemark im offenen Kampf die Spitze zu bieten vermocht hätte. Jeder stärkeren Seemacht gegenüber liegt Deutschland mit seinem blühenden Seehandel, mit der drittgrößten Handelsflotte der Welt, schutzlos da.

Zu dieser traurigen Aussicht tritt die Lehre für uns, die der nordamerikanische Krieg für den künftigen Seekampf giebt. Die Holzkolosse der alten Marine, aus denen größtentheils noch die deutsche Seemacht besteht, sind ohnmächtig geworden den Panzerschiffen gegenüber, und diese erkennen bereits in dem geschützteren Thurmschiffe, dem Monitor, den Stärkeren an. Wie viel Milionen würde Deutschland aufwenden müssen, um nur mit diesen gleichmächtigen Seewaffen seine Küsten gegen einen großen Feind schützen! Und doch kann nur wiederum ein Stärkerer uns den Sieg sichern.

Und dieser Stärkere ist’s, den Bauer’s kühne Erfindung uns bietet. In dem Küstenbrander kann Deutschland die Seewaffe gewinnen, die ihm, um den zehnfach geringeren Aufwand, die zehnfach stärkere Macht giebt, eine Uebermacht über jeden Gegner, und darum nehmen wir auch dieser Erfindung uns mit allem Eifer an.

Mögen nun unsere Leser uns gestatten, sie in das Wesen der in unterseeischen Schifffahrt von Bauer selbst einführen zu lassen, indem wir hinsichtlich der Persönlichkeit und Schicksale desselben auf das verweisen, was wir in frühern Artikeln (namentlich 1862, Nr. 36 und 39) der Gartenlaube über ihn mitgetheilt haben.

Die hohe Schule unsers Erfinders war die Natur; Forschungstrieb und glückliche Auffassung führten ihn, oft auf mühevollem Pfade, oft auf leichten Wegen, zu Resultaten, welche dem Gelehrten seine Bücher bieten. Erst viel später griff auch er zu diesen Büchern, und er mußte darnach greifen, weil er die Pflicht fühlte, die Lücken, die sein Bildungsgang in seinen Kenntnissen gelassen, auszufüllen. Immer aber blieb die Natur seine hohe Schule, sie allein hat ihm den Weg zu seiner Erfindung, der unterseeischen Schifffahrt, gezeigt. Folgen wir einer seiner originellen Auseinandersetzungen hierüber. Er sagt in seiner drastischen Weise:

„Die Natur hat uns keine Thiere in die Meere gegeben, welche, ähnlich wie unsere Schiffe, gehalten sind, lediglich auf der Oberfläche des Wassers ihr Leben zu führen, sondern hat sie strenge zertheilt, indem die einen als Wasserthiere ihre freie Bewegung zwischen Oberfläche und Grund der See, die andern als Luftthiere zwischen der Wasseroberfläche und dem Aether angewiesen erhielten, selbst in diesem Bewegungskreis sind wieder Räume von bestimmten Größen den einzelnen Arten der Thiere angewiesen; der Sperling steigt nimmermehr zur Höhe des Adlerfluges auf, ein flachgebauter Fisch nimmermehr in die Tiefe der Grundfische hinab. Der Einwurf, es gebe fliegende Fische und tauchende Vögel, fällt von selbst, sobald die Frage des ständigen Verhaltens dieser Thiere zu den kleinen Ausschreitungen ihrer Fähigkeit aufgeworfen wird; ist diese erweiterte Ausrüstung ihrer Bewegungsfähigkeit ein Naturspiel, aber kein absolutes Bedürfniß für dieselben und uns.

Alle Seethiere, von der Qualle bis zum Walfisch, entziehen sich bei Eintritt des Sturmes der schlagenden Wirkung der Wellenbewegung, weil diese auf ihren Mechanismus erschütternd und schädlich einwirken würde. Aber auch der Adler zieht sich in seinen Horst, der Sperling unter sein Dach, der Waldvogel geht herunter auf die sturmgeschützten Aeste und Sträucher.

Nur der Mensch als schaffender Geist versuchte es, die von der Natur nicht sehr benützte Oberfläche der See zu seinem Arbeitsfelde zu erheben. Er schuf schwimmende Schiffe und vertraut diesen seine Werthe im Handel und Leben; – aber schwach, wie er selbst, hinkt sein Machwerk nur langsam dem Naturvorbild nach, es ist der Spielball der Wellen und des Windes, es ist kaum eine Sandkorngröße den Gewalten der Natur gegenüber, es zerstäubt am Felsenriff wie Meeresschaum, und doch ist es trotz all seines Nichts und seiner Gebrechlichkeit eine menschlich große werthe Schöpfung. Doch wie der Geist des Menschen sich höher und höher schwingt, so dringt er auch immer tiefer ein in die Naturkräfte der Thiere wie der Welten.

Ich bin in diesem Dränge zunächst den Seethieren gefolgt und fand, daß es möglich sei, durch die heutigen Mittel der Technik ein vom Menschen beseelbares Gebäude zu schaffen, welches uns gestattet, gleich dem Fisch der sturmgepeitschten Woge und ihren Schlägen uns zu entziehen; ich fand, daß es möglich sei, dieses vom Menschen beseelte Thier in allen Richtungen auf und unter der Oberfläche des Wassers zu bewegen, und wagte es, das schwächliche Geschöpf der Welt zur Ausbildung und Erstarkung, ,dem Freund zu Wehr und Nutz, dem Feind zu Schad’ und Trutz’, zu übergeben. Ich lernte durch eigene praktische Erfahrung den Werth eines solchen Seegebäudes immer mehr und mehr erkennen, und aus der kleinen Puppe von 1849 (wie sie in der Erzählung vom Untergang des ersten Brandtauchers im Hafen von Kiel – Gartenl. Nr. 41. 1861 – geschildert ist) entwickelte sich als ein strammer Knabe der Küstenbrander, der, an des Vaters Hand erstarkend, der Schrecken der alten Tante Flotte werden wird, denn auf seiner Stirn ist der Todespfeil gezeichnet, den er als Mann ihr in das Herz drückt. Aber mächtig, wie der Mann im Kampfe ist, schützt er sein Haus und dessen Wohlfahrt im Frieden. Jedes Glied an seinem Körper ist dann dem Dienst des Fortschritts geweiht, er leiht seine Arme der Industrie für Perlen-, Gold- und Korallenfischen, für Telegraphie und baut sein unterseeisches Haus, die Taucherkammer, zur Erforschung der Natur in den noch undurchschauten Tiefen der Meere. Naht aber mit feindseliger List die alte zänkische Tante Flotte dem deutschen Strand, dann tritt er ihr mit seinem eisernen Leib als Küstenbrander entgegen, während er dem Freunde sich erschließt und ihm die Seele öffnet, die ihn schützt und nährt, wenn Sturm und Graus den Wogenbusen der See hebt und senkt zum frühen Grab für Tausende.“

In dieser Erklärung Bauer’s ist die unendliche Tragweite der unterseeischen Schifffahrt greifbar klar vor unser Auge geführt. Wir haben aber von den vielen Richtungen, nach welchen hin die Submarine auszubeuten ist, hier vor allen die des Küstenbranders näher zu beschauen. Unsere Illustration stellt uns denselben in seiner doppelten Thätigkeit dar.

Der Küstenbrander, sagt Bauer, ist in der Form annähernd der des Walfisches und aus Eisen gebaut, besitzt eine Maschine von circa 100 Pferdekraft, welche das Fahrzeug so lange auf der Oberfläche der See mit großer Schnelligkeit fortbewegt, bis es in die Kanonenschußweite zum feindlichen Schiff gelangt. Dort angekommen, oder auch bei Nacht ganz nahe an dem Schiff, taucht es bis unter den Tiefgang desselben, d. h. bei Linienschiffen bis 30 Fuß Tiefe, fährt dann unter demselben entweder längs dem Kiel oder auch quer hin, ohne sich selbst mit dem feindlichen Schiff in Verbindung zu setzen. Ist der Brander nun an der gewünschten Stelle angekommen, so entzündet der im Kopf desselben durch die Fenster schauende Führer die Explosionsladung des im Vordertheil ersichtlichen Geschützschwimmers, durch welchen nun ein ungeheueres Sprenggeschoß von unten auf in den Schiffskörper eingetrieben und ein Loch von circa 1½ bis 2 Fuß Durchmesser eingebrochen wird. Dem Wasser ist somit ein so geräumiger Zutritt gestattet, daß an ein Verstopfen des Lecks oder Auspumpen des Schiffs kaum gedacht werden kann.

Die Eigenthümlichkeit der hier angewendeten Triebkraft und Maschinen gestattet, daß der Küstenbrander in Fällen, wo sich die feindlichen Schiffe entweder nahe an seichtes Land legen oder unterseeische Sandbänke aufsuchen, um gegen die gefürchteten Angriffe von unten geschützt zu sein, erst recht gereizt gleich einem Raubfisch die Macht seiner Bewegungs- und Angriffsfähigkeit entwickelt, indem er in solchen Fällen durch seine verlicalwirkenden Schrauben sich aus der Tiefe in die Höhe schwingt, hierdurch mit seinen Geschützen, welche nach vorn, seitwärts und rückwärts angebracht sind, bis hoch über die Oberfläche des Wassers auftaucht und während dieser parabolischen Bewegung wie ein schießender Walfischrücken seine Geschosse nach dem feindlichen Schiff in ganz directer Nähe absendet. Im nächsten Zeitraum schon wieder unter die Wogenfläche verschwunden, besorgt er das Laden seiner Geschütze, ohne dem Feind auf dem überseeischen Schiff Gelegenheit zu bieten, seine üblichen Vertheidigungsmittel gegen ihn in Anwendung zu bringen. Schutzlos steht der Koloß der alten Marine dem neuen [559] rührigen und doppellebigen Kämpfer gegenüber, bis das Untertauchen auch an ihn kommt, aber zum Nimmerwiedererscheinen.

Weil der Küstenbrander, gleich der von Bauer in Rußland 1857 im Modell ausgeführten Corvette von 24 Kanonen, auch einen weitvorragenden Vordersteven und Sporn besitzt, so dürfte den bei Nacht oder Tag ausgesendeten Patrolbooten nicht allein ein Kartätschengruß aus den hart am Niveau hinstreichenden Geschützen, sondern auch der wuchtige Anprall dieses Sporns eine unliebsame Begegnung auf offener See sein.

So lange die unterseeischen Kriegsfahrzeuge nicht gleich den Fischen auch zum unterseeischen Kampf gegen einander ausziehen, sondern nur zum Angriff mit der oberseeischen Flotte verwendet werden, so lange ist es eben ein Kampf zwischen einem mächtigen Fisch und einem gebundenen Schwimmvogel. Doch bald genug wird sich das unterseeische Turnier eröffnet zeigen, und die eisernen Ungeheuer werden nach dem deutschen Vorbild weiter und weiter vordringend in allen Meeren sich bekämpfen, zerfleischen und begraben. – Die Furchtbarkeit der Waffe wird zunächst für viele Jahre den Seekrieg in begrenzte Räume führen, Deutschland aber kann durch energisches Erfassen dieser neuen Marine sich zum Herrn der Meere aufschwingen, wenn es endlich einmal sich zu dem Willen dazu ermannt.

Soweit Bauer. Wie groß sind nun die Ansprüche, welche er auf die Opferfähigkeit der deutschen Nation erhebt? Die Summe von 100,000 Thalern würde genügen, um wenigstens ein in allen Theilen vollendetes Probeschiff dieser neuen Art herzustellen.

Kein Mann, dem für die Ehre und Macht der Nation das Herz noch warm schlägt, wird der Meinung entgegen sein, daß eine solche Erfindung wohl werth ist, daß an ihre Erprobung jene für das große Deutschland so geringe Summe gewagt werde. – Um diese Summe durch Sammlungen in ganz Deutschland aufzubringen, hat sich in Leipzig ein Comité gebildet, das seine Aufrufe dafür mit der vollen Ueberzeugung von der Tüchtigkeit der Sache erließ, nachdem der Erfinder einem Kreise von wissenschaftlichen und technischen Fachmännern (zunächst in Leipzig, Dresden und Breslau) die eingehendsten Eröffnungen über die ganze innere Einrichtung des Schiffs gemacht, namentlich das Geheimniß seiner neuen Motionsmaschine ihnen entschleiert hatte, und von den Mitgliedern der in Leipzig zusammengetretenen Prüfungs-Commission über W. Bauers Küstenbrander einstimmig das Zeugniß ausgestellt worden war: „daß sie von der technischen Ausführbarkeit desselben vollständig überzeugt seien, auch einen Verstoß gegen irgendwelche ihnen bekannte Gesetze der Physik darin nicht gesunden hätten.“

Wie von allen ursprünglichen Zweifeln gegen die unterseeische Schifffahrt der letzte noch der der Möglichkeit genügender Fortbewegung war, so ist es eben gerade die neue Motionskraft, mit welcher wir der großen Erfindung erst ihre letzte Vollendung gegeben sehen. Ueber Bauer’s Sicherheit in der Beherrschung seines Submarineboots im Sinken, Steigen und besonders in dem anfangs vielangefochtenen Beharren in einer bestimmten Tiefe ist man jetzt beruhigt; man glaubt auch an die Möglichkeit des beliebigen Inclinirens und des Wendens mittelst der im Brandtaucher ersichtlichen Steuerschraube. Alle Zweifel darüber sind überwunden.

Ein öffentliches Zeugniß der Wissenschaft für die principielle Nichtigkeit und ein Gutachten von Männern der Technik für die Ausführbarkeit der Erfindung stellte sich aber dennoch um so mehr als Nothwendigkeit heraus, als die Presse sich hie und da bereits arg an ihr versündigt hatte. Wir erwähnen u. A. nur ein schlesisches Blatt, in welchem ein angeblicher „Sachverständiger“ ein wahrhaft entsetzliches Zerrbild der Erfindung gab. Ohne die geringste Kenntniß vom innern Bau des Brandtauchers construirte er aus eigener Phantasie ein Seeungethüm, dessen innere Einrichtung aus den wunderlichsten Unmöglichkeiten bestand, das unterm Wasser nicht nur mit Kanonen schoß, sondern sogar mit Dampf fahren sollte! Und nachdem der Mann solchen Unsinn als Hauptsache von Bauer’s Erfindung aufgethürmt, geht er alles Ernstes daran, gegen diesen die bittersten Vorwürfe über das Verfehlte seiner Erfindung zu erheben, ihm den Rath zu geben, sich mit dem Dampfmaschinenwesen erst etwas vertrauter zu machen, und schließt mit der Warnung an das Publicum, für derlei schwindelige Spekulationen das schöne Geld nicht herzugeben.

Solche Thorheit ist leider nicht zum Lachen; die Unkenntniß über unterseeische Schifffahrt ist noch so groß, daß selbst Verzerrungen dieser Art ihre Gläubigen finden; die Kritik der Presse ist nicht immer scharf genug, um so „pikanten“ Artikelchen, wie der angedeutete, nicht zur Verbreitung zu helfen, und – das Vertrauen des deutschen Volkes hat namentlich hinsichtlich des deutschen Flottenwesens schon so harte politische Stöße erlitten, daß es sehr leicht für Dinge lahm zu legen ist, die seine Theilnahme mit dem besten Rechte fordern.

Gerade bei dieser Erfindung ist es mehr, als bei der früher von der Nation unterstützten, nöthig, daß das Volk dem Urtheile der Fachmänner sein Vertrauen schenke. Bei dem „Taucherwerke“ konnte und mußte das ganze Verfahren, mit bildlicher Darstellung, der Oeffentlichkeit preisgegeben werden, um die allgemeine Theilnahme für dasselbe zu erwärmen. Der Erfolg rechtfertigte dies. Allein seitdem ist diese Schiffhebungsweise auch außer Deutschland Gemeingut geworden, Deutschland hat nicht mehr den Alleinvortheil davon, den es ohne die damalige Nothwendigkeit solcher Preisgebung für längere Zeit hätte ernten kennen. – Anders muß es jedoch mit dem Küstenbrander und der von ihm ausgehenden industriellen unterseeischen Schifffahrt gehalten werden. Hier gilt’s, das Geheimniß, das die Seele des Ganzen bildet, so lange als möglich für Deutschland allein zu bewahren, – und darum müssen wir unsere deutschen Landsleute bitten, ja, wir müssen von ihnen erwarten, daß ihre Vaterlandsliebe und ihr Vertrauen zu den namhaften Männern der Prüfungscommissionen größer sei, als der verzeihliche Trieb der Neugierde und das Streben der Wißbegierde nach dem Wesen jenes Geheimnisses. Ist es erst gesetzlich gesichert und ein erster Küstenbrander erprobt, so wird es sammt den großartigen Früchten desselben bald genug Eigenthum der gesammten Nation werden.

Sollte endlich Jemand die Frage aufwerfen: „Wenn nun die 100,000 Thaler für ein solches unterseeisches Kriegsfahrzeug aufgebracht werden und der Bau desselben gelingt: was dann damit anfangen?“ – so fehlt auch dafür die beruhigende Antwort nicht. Als Bauer sich an mehrere deutsche Regierungen mit seinem Antrag um Uebernahme seiner Erfindung wandte, bedeutete man ihn, daß die betreffenden Staaten mit ihren Finanzen nicht so gestellt seien, um Kriegsapparate anzuschaffen, so lange sie noch den Charakter des Experimentalen an sich trügen. In diesen Motten liegt bereits der Hinweis, daß man einen erprobten, des experimentalen Charakters entkleideten Seekriegsapparat wohl für den Staat erwerben werde. Vielleicht hilft unserem Küstenbrander auch folgender bekannte Ausspruch mit zur Empfehlung. Mitte Juli dieses Jahres sprach Kaiser Napoleon III. zu dem italienischen Admiral Vacca: „Ihre Marine ist bereits die drittstärkste in Europa. Sie haben viele gepanzerte Fregatten. Das wird Ihnen bei einem künftigen Kriege mit Oesterreich zu Nutzen kommen.“ – Wenn Napoleon spricht, so spricht er, um in ganz Europa gehört zu werden. Wenn aber die Regierungen der Deutschen Küstenstaaten nicht blos diesen Drohwink, sondern ebenso aufmerksam die Gutachten und dringenden Empfehlungen der Prüfungscommissionen des Bauer’schen Küstenbranders hören, so besitzen sie bis zum Ausbruch des nächsten Krieges, vor dessen Nahen schon heute mitten in der industriellen Emsigkeit die Völker beben, das Seemachtmittel, mit dem sie gegen keine europäische Flotte mehr den Kampf zu scheuen brauchen.

Und somit empfiehlt die Gartenlaube allen ihren Lesern dieses Unternehmen auf das Angelegentlichste. Mögen sich in allen deutschen Städten, auch wenn die directe Aufforderung des Leipziger Comité nicht an sie gelangen sollte, Local-Comités bilden, welche sich mit dem Leipziger Comité in Verbindung setzen. Ihre Zuschriften richten sie an den Verfasser dieses Artikels, als Vice-Vorsitzender des genannten Comité, etwaige Geldsendungen an Herrn Ernst Keil, den Herausgeber der „Gartenlaube“. – Es wird dem Unternehmen nur zum Vortheil gereichen, wenn sie auch dem „geschäftlichen Zusatz“ des Aufrufs Gehör schenken wollen. Nach diesem „sendet jedes Local-Comité, nachdem in einer öffentlichen Versammlung Art und Zweck des Unternehmens erörtert ist, Männer aus seiner Mitte oder dazu herbeigezogene ortskundige Männer mit Zeichnungsbogen von Haus zu Haus, denn die Aufbringung der zur Ausführung des ganzen Baues erforderliche Summe soll durch Zeichnung eines womöglich einmaligen, wohl den Verhältnissen des Beisteurers, aber auch der Wichtigkeit der Sache entsprechenden Beitrags geschehen. In größern [560] Städten theile man diese Arbeit nach den Vierteln oder Bezirken der Stadt. Nur auf diese Weise ist rasch ein Erfolg und rasch ein Ueberblick der Erfolge zu ermöglichen. – Dem Comité zu Leipzig sind von allen Local-Comités wöchentlich Berichte über den Stand der Zeichnungen zu machen, deren Ergebniß durch die Presse (Gartenlaube etc.) sogleich veröffentlicht wird. – In Städten, wo von Flotten-Comités noch Flottengelder zurückbehalten wurden, möge man, nach dem Vorgange von Altenburg, Halberstadt etc., dieselben zur Verwendung für den durch den Küstenbrander zu schaffenden Küstenschutz herbeizuziehen suchen. – Das Comité zu Leipzig besorgt die Leitung der Geschäfte, bis eine Summe von 40,000 Thalern gesichert ist. Alsdann fordert dasselbe alle bis dahin durch Beisteuern betheiligte Local-Comités zur Beschickung einer Delegirten-Versammlung auf, welche über die dann noch nöthigen Schritte in der Angelegenheit zu beschließen hat.

Wie schwer auch diese jüngste Zeit auf den Herzen der Patrioten in Deutschland lastete, erdrückt sind sie nirgends, fähig der Erhebung zu jedem Opfer für das Heil des Vaterlandes überall, – und an dieses unverwüstliche deutsche Nationalgefühl appelliren wir auch in dieser Sache, sie legen wir mit dem vollsten Vertrauen an das treue deutsche Herz! –




Blätter und Blüthen.


Noch einmal Suwarow. In Folge Ihres Suwarow-Artikels in Nr. 26 der Gartenlaube theile ich Ihnen Einzelnes von dieser Persönlichkeit mit und bitte, beliebigen Gebrauch davon zu machen. Ich fahre jährlich mehrere Male nach Rußland, und das Mitgetheilte ist wahr.

Zu Suwarow, als er noch in Riga General-Gouverneur war (Suwarow war ein großer Freund und Gönner des Theaters wie der Schauspieler), kam ein erstes Mitglied des Theaters, welches sich der besondern Gunst des Gen.-Gouv. zu erfreuen hatte, und klagte ihm, daß es entlassen sei, Schulden habe und seinen Paß nicht erhalten könne, weil derselbe von seinen Gläubigern mit Beschlag belegt sei. (In Rußland muß ein Jeder, der in’s Ausland fährt, drei Mal als Abreisender im öffentlichen Blatte stehen.) Der Schauspieler bat nun Suwarow um Beistand und Hülfe. Suwarow fragte nach der Höhe der Schulden, und als ihm die Summe von 600 Rubel Silber genannt wurde, bemerkte er zum Schauspieler, daß er selbst Schulden habe und eine so hohe Summe nicht zur Verfügung hätte. Mit einem Male sagt Suwarow zu ihm: „Gehen Sie schnell nach Hause und packen Sie schleunigst Ihre Sachen.“ – Der Schauspieler, ganz verwundert, eilt nach Hause und packt seine Sachen. Er ist noch nicht ganz fertig damit, so steht auch schon die bekannte russische Kibitka vor der Thür, zwei geheime Polizei-Beamte treten ein und bedeuten ihm, daß sie Befehl haben, ihn als politisch verdächtig sofort über die Grenze nach Preußen zu schaffen, was auch geschah. –

Als vor zwei Jahren Kaiser Alexander II. in Riga war und ihm die Vorstände der Corporationen und Innungen vorgestellt wurden, unterhielt er sich mit einem Jeden auf das Freundlichste. Besonders ungenirt im Antworten war der Vorstand der Knochenhauer-(Schlächter-, Fleischer-)Innung, Meinhardt, daher richtete der Kaiser mehr Fragen an ihn, schien sich überhaupt gern mit ihm zu unterhalten. Zum Schluß fragte ihn der Kaiser, ob er nicht einen Wunsch habe. Meinhardt, sehr wohlhabend, antwortete „Nein“, besann sich aber und sagte: „Doch Majestät, wenn Sie nach Petersburg kommen, grüßen Sie mir unsern guten Suwarow recht herzlich,“ was der Kaiser unter innigem Lachen versprach.


Huhn und Biene. Auf dem Rittergute zu *– hält die Madame sehr viel auf Hühnerzucht. Der Herr dagegen ist großer Bienenfreund. Beide pflegen ihre Lieblinge nach Möglichkeit. Der Herr erzieht seine Bienen nach der Dzierdzon’schen Methode, die Madame ihre jungen Hühnchen nach ihrer eignen, aber sicher ebenfalls sehr guten Art und Weise. Der Herr hat seinen Pfleglingen ein allerliebstes Wohnhäuschen bauen lassen; die Madame den ihrigen ein hübsches Hühnerhöfchen. Aber – o über die Aber! – der Herr hat sein Bienenhäuschen zu nahe an das Hühnerhöfchen gesetzt, und das sollte verderblich werden, – die kleinen Bienchen sahen sich dadurch genöthigt, bei ihrem Aus- und Einfluge über das Höfchen wegzufliegen. Hühner sind aber bekanntlich große Freunde von allerhand Insecten; ergo auch von Bienen. Flogen nun diese über den Hühnerbehälter hinweg und hielten sich dabei nicht in gehöriger Höhe, so wurden sie von Glucke und Küchlein weggehascht und als Delicatesse verzehrt. – Und die kleinen Dinger mußten sich das ruhig gefallen lassen, denn was konnten sie, die Kleinen, gegen die großen Hühner thun! Als aber wieder einmal eine Henne eine von ihren kleinen Nachbarinnen weghascht, stürzten plötzlich aus allen Stöcken, wie gerufen und als hätten sie schon darauf gewartet, die Bienen heraus, fielen über die jungen Hühner her (den Alten konnten sie, das wußten sie recht wohl, der dicken Federdecke halber nichts anhaben) und fingen an, sie mit ihrem Stachel zu tractiren. Die Hühner erhoben ein erbärmliches Geschrei und lockten dadurch ihre Wärterin herzu, welche, als sie die Bescheerung sah, ebenfalls nichts Anderes zu thun im Stande war, als auch ein Geschrei zu erheben, wodurch noch andere Leute herbeigelockt wurden. Man wollte nun den bedrängten Hühnern zu Hülfe kommen und schlug auf die Bienen los, welche aber dadurch nur noch wüthender gemacht wurden und schließlich gar auf die Leute gingen, so daß diese sich schleunigst entfernen und die Hühner ihrem Schicksal überlassen mußten. – Als endlich die Bienen den Kampfplatz verlassen hatten und man nachsehen konnte, wie es um die Besiegten stehe, fand man, daß sie erbärmlich zugerichtet waren, viele waren schon todt, viele starben an ihren Wunden im Federtopf; von 115 blieben nur noch 43 übrig.W. S.     


Der Geschmack ist verschieden. „Nach den Ueberschwemmungen des Nil bleiben in Einsenkungen des Landes und sonstigen Vertiefungen eine Unzahl von größeren und kleineren Fischen zurück, welche die Bewohner der dortigen Gegenden gar nicht im Stande sind alle frisch zu verzehren. Trotzdem aber sammeln sie diese Fische mit der größten Sorgfalt, und trocknen dieselben nicht etwa, oder räuchern sie, sondern graben tiefe Löcher, werfen sie dort hinein, bedecken sie wieder mit Erde und lassen sie vier bis fünf Monate darin ruhig liegen und vollständig faulen.

Ist dieses schöne Ziel nun erreicht, so wird die ineinandergegohrene Masse wieder ausgegraben, und nicht allein von den gewöhnlichen Fellahs verzehrt, sondern auch in den Straßen von Kairo als die größte Delicatesse ausgeschrieen und gierig gekauft.“

Diese Notiz gab mir Naib Effendi, unser Mayor Domo, auf Kasr Nusha in Kairo, und unser Dolmetscher, Reza Effendi, bestätigte sie.

„Aber wie ist es möglich,“ rief ich entsetzt aus, „daß civilisirte Menschen eine solche Scheußlichkeit – verfaulte Fische kaufen und verzehren können? Sie müssen ja die ganze Stadt verpesten.“

„Das thun sie auch,“ versicherte Naib Effendi ruhig, „aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß diese Fische ausgezeichnet schmecken.“

„Aber Sie haben doch nicht etwa davon gegessen?“

„Ich? gewiß! der Geschmack ist verschieden, diese faulen Fische schmecken mir ausgezeichnet ich wäre aber nicht im Stande Ihren faulen Käse zu verzehren, der noch viel ärger stinkt als die Fische, und bei den Europäern doch als Delicatesse gilt. Was ist der anders als verdorbene Milch?“

Und hatte der Mann nicht Recht?Fr. Gerstäcker.     


Berthold Auerbach’s
Volkskalender für 1865.
Mit Bildern nach Originalzeichnungen

von

W. v. Kaulbach und Paul Thumann.

Preis 121/2 Ngr.

Auerbach’s Volkskalender nimmt auch in diesem Jahre unter allen Kalendern den ersten Rang ein. Er bringt wiederum von Männern der Wissenschaft, der Kunst und des praktischen Lebens eine der Blüthe und Bildung Deutschlands würdige Nahrung. Die künstlerischen Illustrationen gereichen dem Büchlein eben so sehr zur Zierde, als sie angenehme Unterhaltung bieten. Er enthält diesmal:

Kalendarium mit 12 Bildern nach Zeichnungen von W. v. Kaulbach und einem Natur- und Gesundheitskalender. – Der gefangene Gevatter. Eine Erzählung von Berth. Auerbach. Mit Illustrationen von Paul Thumann. – Hundert Jahre Krieg gegen die Todesstrafe. Von F. v. Holtzendorff. – Die Rheingrenze. Eine Erzählung von Moritz Hartmann. Mit Illustrationen von Paul Thumann. – Auf der Eisenbahn, von Fr. Gerstäcker. – Die Verlobung auf dem Rigi. Eine Geschichte von unterwegs. – Der Polarkreis. Ein Seebild aus dem Norden. Von M. M. v. Weber. – Die Natur im Winter. Von Berthold Sigismund. – Der Silbergraue. Eine Erzählung von Franz W. Ziegler. – Wie sollen wir unser städtisches Wohnhaus bauen? Von Alfred Woltmann.

Verlagsbuchhandlung von Ernst Keil in Leipzig.

Verantw. Redact. F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. - Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. Gartenlaube 1861, Nr. 33.