Die Gartenlaube (1871)/Heft 42

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 42.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


18.

Am andern Morgen sagte mir mein Vater, daß mich die Prinzessin Margarethe Abends um sechs Uhr zu sehen wünsche. Zum Ueberfluß kam auch noch ein Lakai, um mir selbst die Stunde meines Erscheinens anzuzeigen, da die Prinzessin dem Gedächtniß meines Vaters offenbar nicht traute. Er war aber auch seit gestern viel zerstreuter und in sich gekehrter als bisher. In den Nachmittagsstunden war ein sehr elegant gekleideter Herr mit einem Kästchen unter dem Arme in die Bibliothek hinaufgestiegen und sehr lange droben geblieben, und als dann später mein Vater zu dem Herzog ging, da vergaß er völlig, mir Adieu zu sagen. Ich hörte seine Schritte und lief hinaus in die Halle, und da sah ich, daß eine fieberhafte Röthe auf seinen Wangen lag; er hatte einen seltsam funkelnden Blick, und in dem zerflatternden Haar mußten die Hände unablässig gewühlt haben.

Nun saßen wir Mittags bei Tische. Ich konnte nur wenig essen; mir war beklommen und ängstlich zu Muthe – ich fürchtete mich entsetzlich vor der Prinzessin, die ich mir nicht anders als im goldbrokatenen Kleide, mit der steinfunkelnden Krone auf dem Kopfe denken konnte. Zudem befremdete mich das Wesen meines Vaters. Er rührte keinen Bissen an, unermüdlich drehte er Brodkügelchen zwischen den Fingern, wobei er in das Leere starrte. Er rang offenbar mit sich selbst, etwas auszusprechen; sein Blick streifte dann und wann forschend Ilse’s Gesicht, die arglos, mit mit gutem Appetit aß und dabei wiederholt versicherte, daß es doch in der ganzen Welt nicht so mehlreiche Kartoffeln gebe wie auf dem Dierkhof, weil da sandiger Boden sei.

„Liebe Ilse, ich möchte Sie um etwas bitten,“ hob plötzlich mein Vater an – das klang so kurz und gepreßt, als kämen die Worte nur in Folge eines gewaltsamen innern Ruckes über seine Lippen.

Sie sah von ihrem Teller auf.

„Nicht wahr, Sie haben die Werthpapiere, den letzten Nachlaß meiner verstorbenen Mutter, mitgebracht?“

„Ja, Herr Doctor,“ sagte sie aufhorchend und legte die Gabel hin.

Er griff in die Brusttasche und zog behutsam einen in Papier gewickelten Gegenstand hervor; seine Hände zitterten und die Augen leuchteten auf, als er die seidenweiche Hülle auseinanderschlug – eine prachtvolle, sehr große Denkmünze lag darin.

„Sehen Sie sich das an, Ilse – was sagen Sie dazu?“

„Was Schönes ist’s,“ meinte sie und wiegte mit beifälliger Miene den Kopf.

„Und denken Sie sich, das ist spottbillig zu haben. Für dreitausend Thaler kann ich einen Münzenschatz bekommen, der unter Brüdern mindestens zwölftausend Thaler werth ist.“ – Sein sonst so sanftes, stilles Gesicht hatte etwas Verzücktes angenommen. – „Es ist der erste glückliche Zufall in meinem Leben; bis jetzt habe ich Alles sehr schwer, oft mit unsagbaren Opfern erringen müssen – und gerade in diesem Augenblicke steht mir kein größeres Capital zur Verfügung. … Liebe Ilse, Sie würden mich zu lebenslänglichem Danke verpflichten, wenn Sie mir von dem Ihnen anvertrauten Gelde dreitausend Thaler in die Hände geben wollten. Leonore ist nicht im Mindesten gefährdet, denn ich gebe Ihnen mein Wort, daß das Werthobject wenigstens dreimal so viel in sich enthält, als der dafür gezahlte Preis beträgt.“

„Ja, ja, das mag schon sein, aber wie ist’s denn, gilt denn das auch?“ fragte sie und tippte mit dem Finger auf die Münze, was meinem Vater eine Art von Nervenzucken verursachte.

„Wie verstehen Sie das?“ fragte er langsam.

„Je nun, ich meine, so, daß es der Kaufmann nimmt, wenn man bezahlen will.“

Mein Vater prallte zurück, als habe sie ihn gestochen.

„Nein, Ilse,“ sagte er nach einer Pause niedergeschlagen; „da machen Sie sich eine falsche Vorstellung. Ausgeben kann man diese Art von Geld nicht – man kann es nur wieder verkaufen.“

„So – da bleiben also die dreitausend Thaler im Kasten liegen und sind nur da zum Ansehen, nicht um ein Haar anders, als das zerbrochene Zeug droben in dem großen Saale auch? … Davon aber kann sich das Kind nicht satt essen und keinen Schuh an die Füße kaufen. … Herr Doctor, ich habe Ihnen gleich gesagt, daß das Geld nicht angerührt wird! Wenn ich in Hannover so Päckchen um Päckchen mit den fünf Siegeln, die ich zuletzt nicht ausstehen konnte, auf die Post trug und schließlich ein brummiges Gesicht machte, da sagte meine arme Frau allemal: ‚Ilse, das verstehst Du nicht! Mein Sohn ist ein berühmter Mann, und das gehört dazu.‘ – Und ich bin auch so stockdumm geblieben, Herr Doctor, und hab’s in meinem Leben nicht begriffen, warum meine gnädige Frau so arm werden mußte, warum sie das schöne [698] alte Silberzeug von den Jacobsohns und die Ringe und Armbänder und Ketten verkaufen mußte, weil Sie ein berühmter Mann sind – sehen Sie, und noch weniger will mir’s in den Kopf, daß nun auch das Kind sein Bischen Ererbtes hergeben soll. Nehmen Sie mir’s nicht übel, Herr Doctor, aber es ist mir immer gewesen, als fiele das unmenschlich viele Geld in ein großes, grundloses Loch, denn man sieht und hört nichts wieder davon, wenn es einmal geschluckt ist. … Es kann ja sein, daß es in Ihrem Geschäft steckt, und daß es später einmal, wenn das verkauft wird –“

Mein Vater fuhr in die Höhe – Alles konnte er ertragen und hinnehmen, nur den Gedanken nicht, daß sich je eine fremde Hand an seine Sammlungen legen würde. Er streckte Ilse entrüstet und unterbrechend beide Hände entgegen. Sie verstummte für einen Augenblick, dann aber fuhr sie unerschrocken fort. „Ich habe übrigens auch gar keine Macht mehr über das Geld – es liegt im Vorderhause im Geldschrank – Sie wollten es ja nicht annehmen, Herr Doctor – und da hab’ ich’s Herrn Claudius gegeben. Der ist aber nicht der Mann, der mit sich spaßen läßt, der heute nimmt und morgen wieder herausgiebt, wie Andere gerade wollen.“

Mein Vater schlug, ohne noch ein Wort zu verlieren, das Papier wieder um das Goldstück und steckte es in die Tasche. Seine Verstimmung und wortlose Niedergeschlagenheit gingen mir tief zu Herzen – allein da war nichts zu machen. In Ilse’s ganzem Wesen lag die tiefste Genugthuung darüber, daß sie das Geld in Sicherheit gebracht hatte. Ich fürchtete mich vor den harten, hellen Augen und wagte auch nicht ein Wort der Fürsprache, als mein Vater wieder in die Bibliothek gegangen war. –

In der vierten Nachmittagsstunde trat das hübsche Stubenmädchen, das bei Charlotte auch den Dienst der Jungfer versah, in mein Zimmer. Sie hatte eine kleine verdeckte Korbwanne im Arm, und als sie das verhüllende Tuch lüftete, da bauschten mir weiße mit kleinen schwarzen Blättern besäete Gazewogen entgegen.

„Fräulein Claudius schickt mich – ich soll Anprobe halten,“ sagte sie und kramte den Korb aus. Währenddem versicherte sie Ilse, daß es heute „ein Tag zum Davonlaufen“ im Vorderhause sei.

„Denken Sie sich,“ sagte sie, „wir haben Herrendiner. Alles ist auf den Beinen und läuft und rennt – da befiehlt auf einmal in aller Frühe Herr Claudius – werden Sie’s wohl glauben? – daß die Schreibstube nach dem Hofe zu verlegt werden soll, und zwar sofort – unsere sämmtlichen Männer wollten auf den Köpfen stehen! Ich bitte Sie, die Schreibstube, in der alle Claudius weit über hundert Jahre gearbeitet haben! Und Keiner hat gewagt, auch nur einen Schrank anders zu stellen, und nun auf einmal werden alle die bröckligen, morschen Sachen behutsam aus der alten dunklen Stube in eine sonnenhelle getragen – die werden sich schon wundern! … Und grüne Vorhänge hat der Tapezierer sofort aufstecken müssen, weil es gar zu hell ist und Herr Claudius mit seinen schwachen Augen das Licht nicht vertragen kann. … Darauf mache sich Einer einen Vers – Niemand im Hause kann’s, aber der alte Erdmann geht ganz blaß herum und meint, das deute auf den Untergang der Welt.“

Ich hörte nur mit halbem Ohr hin – was kümmerte mich denn die Schreibstube des Herrn Claudius? … Meine Augen verschlangen die Wunderdinge, die sich unter den Händen der Sprecherin entfalteten. Auch Ilse verfolgte jeden Gegenstand mit prüfenden Blicken, und ihre Finger zogen und zupften zu meinem Schrecken an dem leichten Stoff des Kleides, in wie weit er wohl haltbar sei; als aber die Zofe schließlich ein paar wunderkleiner schwarzer Atlasstiefelchen mit spitzen Fingern vom Boden des Korbes aufnahm und mir lächelnd vor die Augen hielt, da verließ sie, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer.

Ich war doch schrecklich verhärtet – dieses Hinausgehen machte mir nicht den geringsten Kummer, im Gegentheil, ein Stein fiel mir vom Herzen, als Ilse’s härener Rockzipfel hinter der Thür verschwand. Rechts und links polterten die gediegenen Schöpfungen des Haideschusters auf die Dielen – Ilse hatte Recht, in „den Spitzen“ und dem Atlas war es genau so, als sei ich wieder barfuß, als flösse die Haideluft schmeichelnd um meine Füße. Dann tauchte mich die Jungfer in die Gazewolke und steckte hier und da eine schwarze Taffetschleife auf – Duft, wohin ich sah! Er floß um die Arme und Schultern und von der Taille bis auf die Zehenspitzen nieder – und da drin sollte ich stecken? Ich? … Ach, das war ja gar nicht zum Aushalten, das war wirklich zum Davonlaufen! … „Halt, halt!“ schrie die Zofe, „noch die Schleife auf die linke Achsel! So können Sie sich doch vor Niemandem sehen lassen!“

Aber dafür hatte ich keine Ohren. Ich lief bereits durch die Halle, dann über die Brücke und durch den Blumengarten, und um mich her wogte und wallte es, als habe mich eine weiße Sommerwolke aufgenommen.

Heute graute mir nicht vor dem Vorderhaus. Ich rannte die gewundene Steintreppe hinauf nach Charlottens Zimmer. In dem dunklen Corridor stand freilich der alte Erdmann, stets wie aus Holz geschnitzt, und hielt eine Serviette in der Hand – er riß die Augen weit auf vor Erstaunen, und es kam mir vor, als griffe er nach meinem Kleid, um mich zurückzuhalten, als ich an ihm vorüberflatterte – ei, was ging mich denn der alte Isegrimm an? … Ich stürmte ohne Weiteres in das Zimmer hinein.

Seine Fenster gingen nach Hof und Garten hinaus, und wenn auch durch dunkle Tapeten und schwere, braune Damastgardinen abscheulich verdüstert, war es doch das freundlichste im ganzen Hause. Ein prachtvoller Flügel stand an der Wand mir gegenüber. Charlotte saß davor und ihre Hände lagen auf den Tasten, als wolle sie eben beginnen zu spielen. Nicht weit von ihr saß Fräulein Fliedner im perlgrauen Seidenkleid und duftigen Blondenhäubchen – weiter sah ich nichts.

„Ach, Fräulein Charlotte,“ rief ich, „sehen Sie mich doch nur an! … Was sagen Sie denn nur?“ – Ich faßte eine der abstehenden Aermelbauschen. – „Ist’s nicht, als hätte ich Flügel, wirkliche Flügel? … Ach, und die Schuhe – nein, die Schuhe müssen Sie sich ansehen!“ – Ich hob leicht den Saum des Kleides und ließ den Atlas im Licht spiegeln „Nun geht’s nicht mehr: ‚Trab, trab‘, wie in meinen schrecklichen Nägelschuhen! … Passen Sie auf, ob Sie auch nur einen Laut hören, wenn ich über die Dielen gehe.“ – Mit festem Schritt, wie ein Soldat, marschirte ich auf sie zu. – „Nicht wahr, nun bin ich nicht mehr die lächerlich herausstaffirte Kindergestalt, wie Herr Eckhof sagt?“

„Nein, Haideprinzeßchen, nein!“ rief sie. „Wer hätte denn gedacht, daß in der schwarzen Puppe solch ein Schmetterling stecke?“ Sie lachte, lachte, daß sie sich die Seiten halten mußte, und auch Fräulein Fliedner hielt sich ihr Taschentuch vor den Mund und sah mit lächelnden Augen neben mir hin – ich meinte, nach der Wand.

„Haben Sie sich denn schon im Spiegel gesehen?“ fragte Charlotte.

„Ei bewahre – so viel Zeit blieb mir nicht; ist auch gar nicht nöthig. Ich sehe ja das Kleid und die Schuhe so auch, da brauche ich doch nicht erst den Spiegel dazu.“

„Na, aber ansehen müssen Sie sich doch einmal,“ kicherte sie und zeigte nach dem deckenhohen Spiegel, der den Raum zwischen den zwei Fenstern einnahm. Arglos lief ich hin und sah in das Glas – ich stieß einen Schrei aus und steckte den Kopf tief in die verschränkten Arme – o Gott, nicht mit dem leisesten Gedanken hatte ich an die Herrengesellschaft im Vorderhaus gedacht, und nun stand ich mitten drin. Hinter mir, dem Spiegel genau gegenüber, führte eine Thür in die Gesellschaftsräume des Hauses – ich hatte sie bisher nur geschlossen gesehen – jetzt waren beide Flügel zurückgeschlagen, und auf der Schwelle stand Dagobert; seine braunen Augen begegneten lächelnd den meinen. Ein rother Kragen leuchtete unter seinem Kinn, und auf der Brust und an den Schultern blitzte Gold – er war in Uniform. Hinter ihm aber tauchten noch andere lachende Männergesichter auf, und in einem Eckdivan, neben einem alten Herrn, saß Herr Claudius. … Das Alles hatte ich mit einem einzigen Blick erfaßt.

Ich zitterte am ganzen Körper, und in meine Augen traten Thränen der Scham und des Aergers. Da legten sich ein Paar weiche, kühle Hände auf meine Arme und zogen sie vom Gesicht. Herr Claudius war aufgesprungen und stand vor mir.

„Sie haben sich erschreckt, Fräulein von Sassen,“ sagte er. „Es war ein übler Scherz von Charlotte, den sie Ihnen abzubitten hat.“ Er führte mich zu einem Fauteuil und drückte mich sanft in die Polster.

[699] „Ich meine, Du könntest Deinen Vortrag nun beginnen,“ wandte er sich an Charlotte.

„Gleich, lieber Onkel!“ Sie flog auf mich zu, sank auf die Kniee und erfaßte meine Hand. „Geruhen Euer Durchlaucht, mir armen Sünderin zu verzeihen,“ bat sie schelmisch. „Ich thue hiermit Abbitte; aber nur vor Ihnen, Haideprinzeßchen – von allen Anderen beanspruche ich Dank dafür, daß ich eine Augenweide verlängert habe.“

Ich mußte lachen, obgleich mir noch die Thränen an den Wimpern hingen. … Wie sie es nur fertig brachte, so vor Aller Augen auf die Kniee zu fallen – das erschien mir ganz besonders bewundernswürdig – ich wäre am liebsten in ein Mäuseloch gekrochen. Sie fuhr mir mit beiden Händen liebkosend durch die Locken, dann erhob sie sich und setzte sich wieder an den Flügel.

Sie spielte fertig, aber mit zu großem Kraftaufwand; das Instrument dröhnte unter ihren Händen, und es wäre mir lieber gewesen, wenn all das Rauschen und Tosen in der weiten Haide hätte verklingen können – hier kam es nervenerschütternd von den Wänden zurück. Aber ich war der Musik von Herzen dankbar, sie hatte die Aufmerksamkeit der Anwesenden von mir abgelenkt, und nachdem ich eine Zeitlang, tief im Fauteuil wie in einem schützenden Hafen gebettet, regungslos verharrt hatte, wagte ich auch einmal, die Augen aufzuschlagen.

Das Erste, was ich sah, war der alte Buchhalter; er saß in der Fensternische, von dem Vorhang halb verdeckt – Charlotte hatte Recht gehabt, „er war wüthend“. – Gestern hatte seine Entrüstung einen ziemlich grandiosen Styl angenommen – wie eine Art Prophet war er anzusehen gewesen, und das beschwörende Pathos in seiner Stimme und Haltung hatte mich eingeschüchtert und mit Furcht erfüllt. In diesem Augenblick aber war er nur ein tiefgeärgerter Mann, der mit Mühe seinen Groll hinunterwürgte – die Linke, an der kostbare Steine funkelten, lag festgeballt auf dem Fenstersims; das mir halb zugewendete, classisch edle Profil war entstellt durch grollend herabgesenkte Mundwinkel, und die ganze Gesellschaft schien seine Gnade verwirkt zu haben, denn er wandte ihr den Rücken. … Der Gegenstand seines Hasses, der junge Helldorf, lehnte an der Thür, durch die ich gekommen. Er war vielleicht der aufmerksamste und dankbarste Zuhörer, denn er stand unbeweglich, und seine Augen hingen wie festgezaubert an der Spielerin – er mochte anderer Meinung sein, als Herr Claudius, der bei jeder Steigerung, die unter den kraftvollen Händen erdröhnte, finster die Brauen zusammenzog und mißbilligend den Kopf schüttelte – also auch hier spielte er sich auf den Sachverständigen, der – Krämer!

Ich fühlte plötzlich eine leichte Erschütterung des Fauteuils, und sah seitwärts. Dagobert stand neben mir, er hatte den Ellenbogen vertraulich auf die Lehne meines Stuhles gelegt. Bei meinem Aufblick sah er mir tief in die erschrockenen Augen, bog sich ohne Weiteres nieder, und, gedeckt durch rauschende Accorde, flüsterte er mir in das Ohr: „Sie gehen heute noch zu der Prinzessin?“

Ich neigte den Kopf.

„Dann denken Sie auch ein klein wenig an mich in dem Paradies, das Sie betreten werden – ich bitte darum!“

Es kam eine Art von Schwindel über mich. Diese flüsternden Laute, die weich und innig baten, übten eine unbeschreibliche Wirkung auf mein Inneres. Ich sollte ihm, der mir in der Haide so spöttisch und unnahbar gegenüber gestanden, eine Gunst gewähren, ihm, dem Tancred, der in seiner Schönheit und Officierswürde wie ein König unter all den Krämern stand? – Das Blut stürmte mir nach den Schläfen, und ohne zu antworten, senkte ich den Kopf tief auf die Brust – ich war stolz und glücklich, aber das brauchten ja die Anderen nicht zu sehen.

Nach Beendigung des Musikstückes und den üblichen Danksagungen für den Genuß brachen die Gäste auf. Auch Helldorf griff nach seinem Hut. Herr Claudius gab ihm einen Wink, und ich hörte, wie er leise zu dem jungen Mann sagte: „Bleiben Sie noch, ich möchte Sie auch einmal singen hören; man spricht viel von Ihrem Bariton.“

Während des allgemeinen Aufbruchs schlüpfte ich in das anstoßende Zimmer; vielleicht konnte ich von dort aus eine Thür erreichen, durch die ich in den Corridor gelangte. Meine ganze Situation, das unvermuthete Hereinplatzen in die Gesellschaft war doch zu lächerlich gewesen, ich fürchtete Charlottens Spott, wenn wir allein sein würden, und ging ihr für heute lieber ganz aus dem Wege.

An das Zimmer, durch das ich huschte, stieß ein großer Salon, in welchem gespeist worden war. Eine offene Thür führte nach dem Corridor, wo noch der alte Erdmann wie eine Schildwache auf- und abging. … Welch ein Reichthum von Silbergeschirr bedeckte die Tafel inmitten des Zimmers und die Nebentische! Mein Blick streifte im Vorbeigehen darüber hin, dann aber blieb er auf der einen Seitenwand hängen, und ich konnte nicht weiter. …

Das war „der prachtvolle Officier“, wie Charlotte ihn genannt hatte, der aus dem geschnitzten, schweren Rahmen niedersah! – Ein schöner, stolzer Mann mit dem Lächeln der Lebenslust und Siegesgewißheit auf den schwellenden Lippen! … Und die weiße Hand, die sich so kräftig und doch mit so viel ungezwungener Grazie auf die Tischplatte stützte, sie hatte wirklich die Waffe gehoben und mit einem einzigen Druck diese strahlend heitere Stirn zerstört? … Hatte er die grause That in der Karolinenlust verübt? War mein Fuß vielleicht über die Stelle geschritten, wo der Mann mit dem zerschmetterten Kopf gelegen? … Wie oft hatte mir Heinz gruselnd versichert, daß die Selbstmörder Nachts „umgehen müßten und keinen Frieden fänden“! … Und wenn es nun wirklich um Mitternacht durch die versiegelten Säle schlich und die schmale, dunkle Treppe herabkam, und den Schrank neben meinem Bett lautlos auf die Seite rückte? – Fast hätte ich aufgeschrieen vor Entsetzen – ich wandte das Gesicht weg von dem Bild, das mich mit lebendig funkelnden Augen anstarrte – da trat Herr Claudius mit suchenden Blicken in das Zimmer. Alle Scheu und Vorsicht vergessend, deutete ich zurück auf die gefürchtete Gestalt.

„Ist das Unglück in der Karolinenlust geschehen?“ fuhr es mir heraus.

Er wich mit rothüberströmtem Gesicht zurück, und seine Augen schossen Blitze.

„Kind, an was rühren Sie da!“ sagte er finster. „Ich werde diese unberufenen Zungen denn doch bitten müssen, sich ein wenig zu menagiren!“ Er schwieg einen Augenblick und heftete sein Auge auf das Gesicht des Bruders. „Nein,“ sagte er dann milder, „es ist nicht in der Karolinenlust geschehen – ängstigt Sie der Gedanke?“

„Ich – ich fürchte mich vor Gespenstern und Heinz auch, und Ilse, die sagt’s nur nicht!“

Ein ernstes Lächeln schwebte um seine Lippen. „Ich sehe bisweilen auch Gespenster, die ich fürchte, und in diesem Augenblick mehr als je,“ sagte er – ich wußte nicht, ob er im Scherz oder Ernst sprach – „Sie gehen heute noch an den Hof?“

Ich mußte innerlich lachen, er stellte dieselbe Frage, wie Dagobert.

„Ja,“ versetzte ich, „und ich werde mich sputen müssen, um sechs Uhr sollen wir im Schlosse sein.“

Ich wollte rasch über die Schwelle schreiten, er hielt mich mit sanfter Hand zurück.

„Denken Sie an sich, damit Sie sich in der Hofluft nicht selbst verlieren!“ warnte er mit einer eigenthümlichen Betonung und hob den Zeigefinger. Es war seltsam, fast, und zwar zum ersten Mal, wäre mir diese Stimme zu Herzen gegangen – ah bah, das rieth mir der Mann, der auch immer nur an sich dachte! Wie ganz anders hatte doch Dagobert gebeten! …

Ich schüttelte den Kopf, lief hinaus und sprang die Treppe hinab. … Ein Glück aber war’s, daß Ilse mein widerwilliges Kopfschütteln nicht sah – o, die Moralpredigt, die es da abermals gegeben hätte!



19.

In meinem Zimmer fand ich die Zofe noch vor. Sie bemächtigte sich meiner, steckte die fehlende Schleife fest, und setzte mir ein rundes, weißes Strohhütchen auf die Locken.

Ich warf einen Blick in den Spiegel und fand plötzlich, daß mein nie beachtetes Haar, das mir stets eine unliebsame Last gewesen, doch eigentlich in prächtigen, glänzend schwarzen Ringeln über den Nacken hinabwoge, und daß es vorzüglich schön von den milchweißen Bändern des Hutes absteche. Ilse mit ihren scharfen Augen ertappte mich sofort auf dieser allerersten Selbstbeäugelung, das harte Gesicht mit den carmoisinrothen Backenknochen erschien [700] auf einmal mit einem bitterbösen Ausdruck über meinem geschmückten Kopf im Spiegel.

„Nun ist wohl auch schon der Spiegelnarr fertig?“ schalt sie. „Das ist sein Lebtag kein ehrbares Frauenzimmer, das sich neugierig beguckt, ob ihm auch die Nase schön im Gesicht stehe. … Sünde ist’s, weißt Du das? … Wenn meine arme Frau der Christine bei Zeiten den Spiegel weggenommen hätte, da wäre auch Vieles anders gekommen. … Zuhängen werd’ ich das Glas, ehe ich fortgehe, daß Du’s weißt!“

Das brauchte sie nicht. Daß es Sünde sei, konnte ich nicht einsehen; denn die Nase und die ganze Gestalt hatte mir ja der liebe Gott gegeben; aber eine Lächerlichkeit war’s, mit sich selbst zu liebäugeln; ich errötete vor meinen eigenen Augen und schämte mich, als hätte ich etwas Dummes gesagt.

Das Stubenmädchen entfernte sich mit einem mitleidig lächelnden Blick auf mich, der der Text so scharf gelesen wurde, und ich ging hinauf in die Bibliothek, um meinen Vater abzuholen.

Schon draußen vor der Thür hörte ich ihn mit raschen Schritten hin- und hergehen und laut sprechen. Ich meinte, es sei Jemand bei ihm, und öffnete leise die Thür, – er war allein, aber in nicht zu verkennender Aufregung. Unablässig durchmaß er das weite Zimmer und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Manchmal blieb er stehen, nahm die Goldmünze, die er heute Ilse gezeigt, vom Tische auf, besah sie, als wolle er das mattblinkende Metall mit seinem Blick durchdringen, und legte sie tief aufseufzend wieder nieder. Dann schlug er mit seinen fleischlosen Knöcheln so hart auf die Tischplatte, daß sie erdröhnte, und die Wanderung begann von Neuem. Mich bemerkte er nicht, obwohl ich schon einige Minuten im Zimmer stand.

„Vater, was hast Du?“ fragte ich endlich schüchtern.

Er fuhr herum. Im ersten Augenblick erkannte er mich nicht in dem neuen Costüm, ich lachte und lief auf ihn zu. Sein verdüstertes, sehr erhitztes Gesicht erheiterte sich, ein wohlwollendes Lächeln, das mich tief beglückte, flog wie ein Sonnenstrahl darüber hin.

„Ei sieh da, Lorchen! … Was bist Du für ein hübsches, kleines Mädchen!“ rief er. Er erfaßte meine beiden Hände und betrachtete mich von Kopf bis zu Füßen. … Wie unsäglich dankbar schlug ihm mein Herz entgegen! Inmitten seiner wissenschaftlichen Sorgen und Kümmernisse hatte er doch Augen für meine kleine Person.

„Wollen wir noch nicht gehen, Vater?“ fragte ich, nahm allen meinen Muth zusammen, strich ihm das Haar glatt und zog die verschobene Atlascravatte unter seinem Kinn zurecht. „Die Prinzessin wartet vielleicht – o, wie mein Herz klopft vor Angst!“

„Ich erwarte erst noch einen Herrn, den ich zum Herzog führen will,“ sagte er kurz, ohne meinen letzten Ausruf zu beachten – weg war die heitere Stimmung! Er entzog sich meinen ordnenden Händen, fing wieder an zu wandern, und nach zwei Secunden starrten die glattgestrichenen Haare zu meinem Leidwesen nach allen vier Winden.

„Willst Du mir denn nicht sagen, was Dich so sehr bekümmert?“ fragte ich bittend.

Er schritt gerade mit rückwärts verschränkten Armen an mir vorüber.

„O mein Kind, das kann ich Dir nicht sagen! … Ich wüßte gar nicht, wie ich es anfangen sollte, mich Dir verständlich zu machen! – War es doch heute Mittag eine wahre Riesenaufgabe Ilse gegenüber!“ rief er fast ungeduldig nach mir zurück und ging weiter.

Ich ließ mich nicht so ohne Weiteres abfertigen. „Es ist wahr, ich bin entsetzlich dumm in der Haide geblieben!“ sagte ich aufrichtig. „Aber wer weiß, vielleicht verstehe ich Dich doch besser, als Du denkst – probir’s einmal!“

Er lächelte halb verdrossen und unlustig, nahm aber doch die Münze auf und hielt sie mir hin.

„Nun, da sieh her! … Das ist ein wunderseltenes Stück – ein sogenanntes Medaillon. … Es ist in meiner Sammlung nicht vertreten, weil ich bis zur Stunde seiner nicht habhaft werden konnte.“ Mit strahlenden Blicken hielt er es gegen das Licht. „Köstlich! – Es hat seine Stempelblume fast unberührt erhalten! … Der Herr, den ich erwarte, verkauft diese Medaillen, lauter unschätzbare Exemplare – verstehst Du mich, mein Kind?“

„Die Ausdrücke nicht, Vater, aber was Du schließlich willst, weiß ich ganz genau – Du möchtest die Goldstücke um Alles nicht wieder aus der Hand lassen –“

„Kind, ich gäbe freudig Jahre von meinem Leben darum, wenn ich sie kaufen könnte!“ unterbrach er mich schwärmerisch. „Aber ich bin leider außer Stande – binnen einer Stunde wird der Herzog die auserlesensten Stücke für sein Medaillencabinet erworben haben – und ich –“

Er verstummte, denn der Herr mit seinem Kästchen unter dem Arm, der gestern schon in der Bibliothek gewesen war, trat herein. Ich sah, wie mein Vater erblaßte.

„Nun, wie ist’s, Herr von Sassen?“ fragte der Herr im Eintreten.

„Ich – muß davon absehen –“

„Vater,“ sagte ich rasch, „ich verschaffe Dir, was Du brauchst!“

„Du, mein kleines Mädchen? … Wie wolltest Du denn das anfangen?“

„Das lasse meine Sorge sein! Aber die Münze muß ich haben, damit ich mich auf sie berufen kann!“ … Ei, wie ich plötzlich resolut und praktisch wurde! Ich war ganz stolz auf mich selbst – das hätte Ilse sehen sollen!

Mein Vater lächelte ungläubig, aber es war doch ein Strohhalm, an den er sich noch für einen Augenblick anklammern konnte. Er sah den Herrn fragend an – derselbe neigte zustimmend den Kopf, wickelte die Münze in das Papier und übergab sie mir. Ich umschloß sie in der Tasche krampfhaft mit meiner Hand, denn ich wußte ja, daß sie unschätzbar sei, und lief nach dem Vorderhause.

Wie wollte ich Herrn Claudius bitten, mir dreitausend Thaler von meinem Gelde zu geben! Wie wollte ich ihm den Kummer meines Vaters in beweglichen Worten vorstellen! Wenn er nicht durch und durch von Stein war, da mußten ihn doch die Bitten der Tochter rühren, die ihren Vater um Alles gern glücklich sehen wollte. … Freilich hatte mich noch nie eine so unsägliche Scheu vor ihm erfaßt, als gerade in diesem Augenblick, wo ich, in mich hineinfröstelnd, als Bittende die kühle dunkle Hausflur wieder betrat, die ich kaum erst im offenkundigen und übermüthigen Widerspruch verlassen. … Aber vorwärts! – Es mußte ja sein! Ich hatte meinen Vater schon viel zu lieb, um ihm nicht jedes Opfer zu bringen, selbst das, vor der kalten Geschäftsmiene des Herrn Claudius geduldig auszuharren. … Ach was! Hatte er mir doch auch die vierhundert Thaler für meine Tante gegeben – weshalb sollte er mir da die Dreitausend verweigern! Ich unterschrieb eben einfach wieder, und damit war die Sache abgemacht.

(Fortsetzung folgt.)




Die jüngste „Königin der Instrumente“.


Die ernste Stille des herrlichen Domes zu Schwerin wurde in den Tagen des Monats Mai vom frühesten Morgen bis in die späten Abendstunden durch Schläge des Hammers und der Axt verscheucht. Bald sollte nach rastlosem Schaffen das rauhe Getöse dem wunderbarsten Orgelklange weichen, denn schon verkündeten unter des Künstlers Hand die ersten Stimmen aus metallenem Munde, wie herrlich sie gelungen! Da traten, vom Landesfürsten, dem im letzten Franzosenkriege vielgefeierten Großherzog geleitet, der Kronprinz des deutschen Kaiserreichs und seine Gemahlin in den Dom. Der Besuch desselben galt dem genialen Orgelbauer Fr. Ladegast. Bald stand der Künstler im bescheidenen Werkeltagskleide vor seinen Gästen und bald konnte er hocherfreut wahrnehmen, wie Alle teilnehmend den großartigen Orgelbau mit all seinen neuen Schöpfungen hinsichtlich Größe und Anzahl der Principal-, Gamben-, Flöten- und Zungenstimmen, sowie der neuen Constructionen innerer Theile in einem vollen Bilde zu erfassen suchten. Der Wunsch derselben, daß der Meister sein großes Werk glücklich vollenden möge, ging schon nach einem

[701]

Die neue Orgel im Schweriner Dom.
Nach der Natur aufgenommen von E. S.

[702] Vierteljahre in Erfüllung. Am 3. September ertönte zum ersten Male bei kirchlicher Feier der Chorus der Stimmen des gewaltigen Werkes unter der Künstlerhand des Organisten Hepworth. Erschütternd umwogte die andächtigen Hörer das Tonmeer, doch nimmer wurde es eine unfaßbare Tonmasse, Sinn und Gehör verwirrend. Urmächtig, doch wohlthuend blieben die vollen Accorde, in mannigfachste Klangfarben gekleidet, die klaren Leiter der begeistert singenden Gemeinde. Ladegast’s Meisterschaft ist oft, auch an dieser Stelle, anerkannt worden: in diesem Werke feiert seine Kunst höchste Triumphe. – Es ist hier nicht am Orte, diese Orgel in ihren Theilen und deren Verbindung zu schildern, es wird dies in einer vom großherzoglichen Musikdirector und Orgelrevisor Dr. Maßmann verfaßten Broschüre geschehen, doch sei ihrer Vorzüge in Kurzem gedacht.

Die vierundachtzig klingenden Stimmen der Orgel sind auf vier Claviere und ein Pedal so vertheilt, daß ein jedes der beiden Hauptclaviere in zwei Abtheilungen gruppirt ist, die zweiundzwanzig Stimmen des Pedals aber in drei Abtheilungen zerfallen. Sechs sanfte Stimmen bilden die dritte Abtheilung, ein vortrefflich wirkendes Piano-Pedal.

Die eben genannten und andere Stimmengruppen können durch besondere Tritte regiert, d. h. zum augenblicklichen Erklingen und plötzlichen Schweigen gebracht werden, ohne daß die den Abtheilungen angehörenden Register erst kurz zuvor gezogen oder entfernt werden müssen. Solcher Collectivtritte sind fünfzehn vorhanden, und dieselben beherrschen die verschiedenen Theile aller Manuale und des Pedals. Waren schon bisher die Ton- und Klangverbindungen einer größern Orgel unberechenbar und in ihren Verbindungen von staunenswerther Wirkung, so erweitert sich durch die Vorrichtung der Combinationen die Macht und die Wirksamkeit derselben zu einer wunderbaren Tongewalt.

Nicht nur diese Combinationen werden durch ein pneumatisches Werk für die Registratur geschaffen, vor Allem muß erwähnt werden, daß dasselbe Werk eine Crescendo- und Decrescendo-Einrichtung regiert, die bedeutendste Erfindung und großartigste Errungenschaft, welche die Orgelbaukunst gerade in dieser vollkommenen Gestalt Herrn Ladegast verdankt. Um eine größere Stärke der Töne nach und nach zu erlangen, war bisher nöthig, die verschiedenen Register in gewisser Reihenfolge zu ziehen, eine besonders bei größeren Orgeln höchst zeitraubende und die Hände störende Thätigkeit. Mittels eines einzigen Zuges oder Trittes wird hier das pneumatische Werk in Thätigkeit gesetzt und es treten nach und nach, je nach dem Willen des Spielers, zu der sanftesten Flötenstimme alle übrigen Stimmen in wohlberechneter Ordnung hinzu, so, daß zwar im Nu das ganze Werk ertönen, aber auch jede einzelne Stufe des erreichten Crescendo beliebig beibehalten oder auch zu einem schwächeren Stärkegrade zurückgeführt werden kann. Die Anwendung dieser Construction ist von unbeschreiblicher Wirkung und erhebt die Orgel in der That zu der Stellung der „Königin der Instrumente“. Combinationen auch für das Crescendo und Decrescendo herzustellen, war man in Paris mehrfach bemüht, doch blieb es bei wenig ergiebigen Versuchen. Die Orgelbaukunst sah zu keiner Zeit solchen Erfolg, wie hier nie rastender Fleiß und ausgesprochene Genialität errangen. Zu beiden Eigenschaften gesellt sich Accuratesse, Solidität und Eleganz der Arbeit. So entstand unter specieller Aufsicht des Meisters in der Werkstatt zu Weißenfels ein deutsches Kunstwerk. Das fabrikmäßige Schaffen ist an dieser Stelle nicht zu Hause. Leider können nur wenige, aber dann auch wahre Werke der Kunst von hier aus der Welt geboten werden!

Es würde zu weit führen, dem Leser mehr des Neuen dieser Kunst vorzuführen (wie die Leistungsfähigkeit eines neuen Windapparates in Gestalt von vier doppelt wirkenden Luftpumpen etc.), nur auf den im Bilde beigegebenen großartigen Prospect sei noch aufmerksam gemacht. Ein Werk des Herrn Baurath Krüger in Schwerin ist er in reiner Harmonie zu den Räumen und dem Baustil des Domes gedacht und ausgeführt.

Dr. Maßmann schreibt am Schlusse seines officiellen Gutachtens, das Resultat der achttägigen gründlichsten Prüfung: „Das kolossale Werk ist unbestreitbar die großartigste und hervorragendste Orgel im ganzen deutschen Vaterlande!“
Dr. H. Langer.




Briefe eines Wissenden.
Zweiter Brief. Eulenburg. – Mühler. – Adelheid. – Moltke’s Schweigsamkeit.


Soeben komme ich von meinem alten lieben Freunde Eulenburg und habe mich wieder recht von Herzen an seinem unverwüstlichen Humor erquickt. Welch angenehmer Gesellschafter! Wie gefällig sind seine Formen, wie heiter fließt seine Unterhaltung! Immer wieder und wieder kommt mir der Gedanke: „Schade, daß mein lieber Freund Minister, und nun gar Minister des Innern und der Polizei, geworden ist! Da muß er arbeiten, sich quälen und ärgern, und die Welt hat auch nichts als Aerger von ihm.“ Wie seitab vom rechten Wege oft das Leben den Menschen führt, und Eulenburg’s Beruf war doch so klar ausgesprochen. Wo hätten Könige und Kaiser einen vortrefflicheren Truchseß finden können, um „des perlenden Weines zu schenken“, wo einen geistvolleren grand-maître des menus plaisirs? – Polizeiminister! Was bedarf es in solchem Amte der Liebenswürdigkeit? Sie verträgt sich eigentlich nicht mit solcher Stellung, in der die lachenden und erheiternden Gaben der Geselligkeit ungenützt und unbenutzbar verkommen müssen. Zudem kann ein Minister sich einer ganzen Reihe von unschuldigen Belustigungen nicht füglich, ohne Anstoß zu erregen, hingeben, und darf selbst keine schlechten Witze machen, ohne die schlechten Witze Anderer zu provociren. In solcher Zwangsjacke kann ein Mann wie Fritz Eulenburg nicht gedeihen. Seine schönen Gaben müssen schimmlig werden, und er selbst kommt in die schiefe Lage, daß er, statt der allgemeine Liebling zu sein, doch hie und da zum Aergerniß wird. Niemals hat ein fatalerer Mißgriff stattgefunden, als da man ihn in sein heutiges Amt berief, verhängnißvoll für ihn selbst wie für das Land. Seine Jugend, seine Vergangenheit und Gegenwart, Alles in und an ihm wies darauf hin, daß in seiner jetzigen Stellung keine richtige Verwendung seiner Fähigkeiten und Kräfte, die in der That gar nicht unbedeutend sind, erfolgen konnte.

Eulenburg war, als ich ihn auf der Universität Königsberg kennen lernte, allgemein beliebt, unter seinen Studien- und Kneipgenossen sowohl wie in der Gesellschaft. Auf der Mensur und bei dem Glase hatte er kaum seines Gleichen, und es gehörte seine starke Natur dazu, um ohne Schaden an der Gesundheit die durchschwärmten Nächte zu verwinden. Der Rohheit, die damals unter den Studenten Königsbergs in der widerlichsten Weise förmlich gefeiert wurde und in einem Grade herrschte, wie man sie auf anderen Universitäten schon zu jener Zeit nicht mehr kannte, heute aber Niemand begreifen würde, ergab er sich nicht, hatte vielmehr in der dortigen besten Gesellschaft, der er als Sprößling einer der ältesten und vornehmsten Familien Ostpreußens angehörte, Gelegenheit, sich in feiner Sitte und gutem Tone zu bilden. Von Königsberg ging Eulenburg nach Bonn, arbeitete später in verschiedenen Provinzen als Auscultator und Referendarius und erwarb sich zuerst einen gewissen Ruf in Köln, wo er als Assessor bei der Regierung Censor der „Kölnischen Zeitung“ wurde, eine Function, die er mit aller nach den damaligen Vorschriften zulässigen Liberalität wahrnahm. Seine persönliche Liebenswürdigkeit, die ihm überall Freunde schuf und nirgends Gegner erweckte, half ihm über manche Schwierigkeit hinweg, die Anderen Verlegenheiten bereiten kann. So gerieth er beispielsweise eines Nachts, in sehr angeheiterter Gesellschaft aus einem Weinhause kommend, mit einem Nachtwächter in einen Conflict, der schließlich solche Dimensionen annahm, daß Eulenburg genöthigt wurde, den kleinen Rest der Nacht auf der Wache zuzubringen. Daß dieser Vorfall, so unerheblich er in den Augen jedes Billigdenkenden ist, bei der damaligen gereizten öffentlichen Stimmung und der Stellung Eulenburg’s zu der Presse von dieser in keiner feindseligen Weise gegen ihn ausgebeutet wurde, ist gewiß ein sprechender Beweis, daß man seine amtliche Thätigkeit von seiner Person zu scheiden allen Grund hatte.

Später ward Eulenburg in das Ministerium, dem er jetzt vorsteht, von dem Minister v. Westphalen als Hülfsarbeiter berufen [703] und erhielt das wichtige Decernat der Personalien. So vielfach in dieser schwierigen und einflußreichen Stellung seine Humanität gerühmt wurde, so wenig schien es dem lebensfrohen Manne darin zu behagen, und bald veranlaßten ihn Differenzen mit seinen Vorgesetzten seine Entlassung zu nehmen und sich nunmehr in der diplomatischen Carrière zu versuchen, von der er 1862 zurückkehrte, um in das Ministerium einzutreten.

Herr v. Bismarck hatte soeben die Erbschaft des Prinzen Hohenlohe angetreten und ein Unicum von Ministerium vorgefunden – Holzbrück, Mühler, Jagow, Itzenplitz, Lippe – eine Sammlung berühmter Namen und erleuchteter Köpfe, Staatsmänner von wirklich seltenem Werthe. Ueber einen Nachfolger Jagow’s aber, der zuletzt als Oberpräsident in Potsdam doch verwendbarer erschien, denn als Mitglied des Ministercollegiums, schwankte man lange, bis endlich Eulenburg auf der Bühne erschien.

Er trat, aus den Ländern der Antipoden kommend, in einen romantischen Nimbus gehüllt hervor und wußte die Neugierde, die ihm entgegenkam, geschickt zu benutzen. Eine frische und obendrein eigenthümliche Erscheinung ist an einem Hofe stets willkommen und kann von vornherein auf einen gewissen Erfolg zählen. Kommt Verstand, Unterhaltungsgabe und geselliges Benehmen hinzu, so ist das Glück des Neulings gemacht. So spielte das Glück mit Eulenburg, der zu der Rolle, die ihm ein freundliches Geschick zutheilte, wie geschaffen war. In kürzester Frist hatte er sich das Wohlgefallen des Königs, der Königin und sämmtlicher Prinzen und Prinzessinnen erworben, ganz besonders aber der kronprinzlichen Herrschaften, die in ihm sogar die geeignete Persönlichkeit zu sehen glaubten, mit deren Hülfe Herr v. Bismarck, gegen den, wie bekannt, damals eine scharfe Abneigung vorhanden war, ersetzt werden könnte. Die im Grunde liberal angelegte Natur Eulenburg’s schien dieser Absicht zu entsprechen, die Gunst, welche der König ihm unzweideutig zeigte, die Sache zu erleichtern, Widerstreben von seiner Seite unwahrscheinlich. So wurde ihm denn alsbald ein Portefeuille angeboten, und er fühlte sich so sicher, daß er sogar das ihm zuerst angetragene landwirthschaftliche Ministerium ablehnte. Seine Wünsche gingen auf das Handelsministerium; doch konnte dies dem Grafen Itzenplitz, der schon Landwirthschaftsminister war, nicht füglich vorenthalten werden, und Eulenburg gab sich daher mit dem Innern zufrieden. Wie und in welchem Sinne er seine Verwaltung geführt hat, gehört der Geschichte und einer ernstern Kritik an, als ich in diesen Briefen zu üben mich veranlaßt sehe; doch wird die Meinung, daß er jede andere Stellung mehr zum Heile des Landes bekleidet hätte, bei Ihren Lesern wohl auf ungetheilten Beifall rechnen können. Daß er die ihm von einer Seite zugemuthete Aufgabe, Bismarck in liberalem Sinne entgegenzuwirken, nicht lösen würde, mußte übrigens Jeder, der ihn genauer kannte, voraussetzen; er ist kein Mann der Intrigue und dem Reichskanzler im geistigen Kampfe doch nicht gewachsen.

Seine Freunde aus älterer Zeit hat es allerdings überrascht, daß Eulenburg als Minister sich zu einem so entschiedenen Werkzeuge der Reaction hergegeben hat. Ich glaube aber eine Erklärung dieser Thatsache, die freilich in keiner Weise vorausgesehen werden konnte, in zwei Umständen zu finden.

Einmal ist Eulenburg nicht ein so selbstständiger, festgegliederter Charakter, um mächtigen Einflüssen zu widerstehen, und sein Eintritt in das Amt fiel gerade in die Periode, als die reactionären Elemente in der Hauptstadt wie in den Provinzen, ganz besonders aber bei Hofe, sich mit frischer Kraft und im Bewußtsein des gegen die neue Aera erkämpften Sieges erhoben. Eulenburg war viele Jahre von Berlin und aus Preußen abwesend gewesen, und als er ersteres wieder betrat, kamen ihm in langen Zügen aus allen Winkeln des Landes die Deputationen mit den sogenannten Loyalitätsadressen entgegen, die damals täglich den König zum Festhalten an den conservativen Maximen bestürmten und das ganze Volk wie eine Landwehr der Reaction schilderten. An der Spitze dieser Schaaren sah und sprach Eulenburg viele alte Freunde und Bekannte, die nach Kräften bemüht waren, den an dem politischen Himmel neu aufgehenden Stern zu gewinnen, und deren Darstellungen, Schmeicheleien und Lockungen sicherlich nicht ohne nachhaltigen Eindruck geblieben sind. Sodann unterlag Eulenburg wohl nicht minder als die meisten Personen, welche das Schicksal mit dem Fürsten Bismarck in dauernden Verkehr gebracht hat, der geistigen Uebermacht des Letzteren und lenkte mehr oder minder willig in die von diesem damals gesteckten Bahnen ein.

Zum anderen nahm die liberale Opposition in dem preußischen Abgeordnetenhause Eulenburg gegenüber sofort eine Stellung ein, die ihr mehr von der ehrlichen Ueberzeugung, als von der politischen Klugheit bezeichnet wurde. Wäre der neue Minister nicht sofort auf das Schonungsloseste angegriffen worden, so hätte er vielleicht einen wünschenswerthen Vermittelungspunkt zwischen Regierung und Opposition abgegeben; die scharfe Feindschaft aber, welche ihm von Hause aus entgegentrat, trieb ihn um so schneller in das conservative Lager.

Immer wieder liebt es die Presse, Gerüchte von einem baldigen Rücktritte Eulenburg’s zu verbreiten; wer aber die Verhältnisse in den maßgebenden Kreisen kennt, weiß, daß solche Erwartungen vorläufig jedes Grundes entbehren. Eulenburg steht bei Hofe fortdauernd in allseitiger großer Gunst; nicht nur der Kaiser, auch die Kaiserin, der Kronprinz und die Kronprinzessin haben ihn gern; und von dem Reichskanzler hat er gleichfalls nichts zu befürchten. Ueberhaupt hüte man sich vor der Ansicht, als könne der Letztere nach Belieben einen ihm unbequemen Minister beseitigen; dem ist durchaus nicht so. Eine Hauptstärke Bismarck’s und des ganzen Ministeriums ist die dem Kaiser beigebrachte Ueberzeugung von der Einigkeit seiner Räthe. Nachdem dieser Jahre lang sich mit Ministerien, deren Mitglieder unter einander im Hader lagen, abgemüht hatte, fühlte er sich angenehm erleichtert, als ihm endlich eines mit der Versicherung voller Einmüthigkeit entgegenkam. Diesen vortheilhaften Eindruck muß der Ministerpräsident zu erhalten suchen, und er wird deshalb nicht so leicht angriffsweise gegen einen seiner Collegen vorgehen. Die Entlassung des Grafen Lippe war ein Ausnahmefall. Es galt damals, auch in dem Ministerium die neuen Provinzen vertreten zu sehen; von der Zweckmäßigkeit einer solchen Maßnahme war auch der König zu überzeugen, und für Lippe bot sich auch gerade ein passend scheinender Ersatz. Ein Zwiespalt in den Principien ist nicht Ursache seines Rücktritts gewesen, und sein späteres Auftreten in dem Herrenhause ist nur der Ausfluß des Aergers darüber, daß man ihn, ohne daß er Veranlassung dazu gegeben, hatte fallen lassen.

Eulenburg ist heute am Hofe der am liebsten gesehene Mann. Neben den vielen langweiligen Gästen ist er einer der wenigen, wo nicht der einzige, der Munterkeit und Leben in das ewige Einerlei bringt, und man ist ihm für diese Störung der fast unerträglichen Gleichförmigkeit höchst dankbar. Wie jedem Lieblinge wird ihm sogar manche Unart verziehen, die bei jedem Anderen vielleicht mit Verbannung bestraft würde.

Seine Untergebenen sind mit ihm stets zufrieden. Er ist wohlwollend und höflich, und die Freiheiten, die er sich selbst erlaubt, gestattet er auch seinen Umgebungen. Vor einiger Zeit ging ich in sein Hôtel, um ihn zu sprechen, und durch den Anmelderaum, in dem ich Niemand traf, gleich hindurch in das dahinter gelegene Zimmer, das für gewöhnlich mit als antichambre benutzt wird. Wie erstaunte ich aber, als ich dasselbe mit Tabaksrauch gefüllt und eine Anzahl Herren, sämmtlich mit brennenden Cigarren bewaffnet, um den großen Tisch sitzend fand. Ich zog mich eilig zurück und hörte nun, daß der Herr Minister mit einigen seiner Räthe eine Session abhalte, und daß bei solchen Gelegenheiten das Rauchen stehender Gebrauch sei. Gewiß eine den Herren Räthen nicht unwillkommene Neuerung. – Sie sehen, daß mein alter Freund Eulenburg kein ganz übler Mann ist, wenn ich schon mein Gewissen nicht mit einer Vertheidigung seiner Politik beschweren will.

Mit Eulenburg zusammen oft genannt, obwohl kein Geistesverwandter, wird Herr v. Mühler, der unter den leitenden Größen des preußischen Staats sich vorzugsweise der zweideutigen Ehre erfreut, von rechts und links zugleich angegriffen zu werden. „Viel Feind’, viel Ehr’“ ist aber nur eine Wahrheit, wenn die Feinde auch Feinde der Wahrheit sind; ist dies nicht der Fall, steht der Angegriffene den Freunden der Wahrheit gegenüber, so bringt die Zahl der Feinde nicht Ehre, sondern das Gegentheil; sie giebt dann nur den Maßstab für die Verblendung oder Verhärtung des Widerstrebenden. Wo, wie hier, eine Nation zu Gericht sitzt, kann der Einzelne sein Urtheil sparen, und es würde nur Eulen nach Athen tragen heißen, wenn ich in eine Kritik einer allseits abfällig beurtheilten Amtsthätigkeit eintreten wollte. Nur [704] über gewisse Verhältnisse und Beziehungen, die vielfach unrichtig aufgefaßt werden, möchte ich mich auslassen.

Herr v. Mühler, ein Sohn des früheren Justizministers Mühler, ist vor allen Dingen nicht Theologe, sondern Jurist und war vor seiner Ernennung zum Cultusminister Justitiarius im Oberkirchenrathe. Sein Interesse für kirchliche Dinge bethätigte er auch außer seinem Amte mehrfach, unter Anderem durch die Mitbegründung des „Evangelischen Vereins“, eines Instituts, das noch heute eine ausgebreitete Wirksamkeit übt. Als er im Jahre 1862 in seine jetzige Stellung berufen wurde, geschah dies keineswegs, weil in ihm der Vertreter einer extremen kirchlichen Richtung herangezogen werden sollte, sondern weil man in ihm einen Mann von so gemäßigten Ansichten zu finden glaubte, daß er eine wenigstens äußerliche Versöhnung der im Kampfe liegenden kirchlichen Parteien herbeizuführen geeignet sein würde. Einen Bekenner der ultraorthodoxen Anschauungen würde der König unter keinen Umständen gewählt haben; und ebensowenig würde von Herrn v. Bethmann-Hollweg, Mühler’s Vorgänger, der diesen dem Könige empfohlen hatte, ein solcher Vorschlag ausgegangen sein. Mühler steht auch in der That nicht mit einem Knak, Steffan und Genossen auf gleicher Linie und kann sich der Gunst der „Evangelischen Kirchenzeitung“ und des „Volksblattes für Stadt und Land“ nicht rühmen. Wenn diese Organe der reinsten Orthodoxie ihn trotzdem glimpflich behandeln, so ist doch nicht außer Acht zu lassen, daß sie den größten Theil seiner Maßnahmen und Erlasse bekämpfen und ihre der Person gezeigte Milde wohl nur eine Aeußerung der Klugheit ist. Gerade dieser überall hervortretende Gegensatz dient zur Befestigung der Stellung Mühler’s, weil sie an entscheidender Stelle den Glauben an seine Mäßigung erhält. Auch weiß er geschickt nachzugeben und einzulenken, wenn er an eben dieser Stelle die Mißbilligung eines eingeschlagenen Weges bemerkt. Dies fand zum Beispiel vor zwei oder dritthalb Jahren statt, als der König ihm seine Unzufriedenheit mit dem Verfahren in den Synodal-Angelegenheiten zu erkennen gab; es trat sofort eine Wandlung zu Gunsten einer freieren Richtung ein.

Es verstößt nicht allein gegen die Grundsätze des constitutionellen Staatsrechts und führt zu Inconsequenzen, die in verwirrender Weise auf die Verwaltungsmaschinen einwirken müssen, sondern es ist auch kein Beweis männlich festen Charakters und gereifter Ueberzeugung, wenn der politisch verantwortliche Beamte sich an sein Amt in dem Maße festklammert, daß er lieber langvertheidigte Anschauungen preisgiebt, als diesem entsagt. In solchem Fall aber hat Herr v. Mühler sich schon öfters befunden. Ein Beispiel – die Behandlung der Synodal-Einrichtung in der evangelischen Kirche – ist schon angeführt. Aus dem offenen Gegner der Synodal-Verfassung wurde zunächst ein widerwilliger Förderer und dann ein durchgreifender Parteigänger derselben, und nicht etwa allmählich, in Folge eines Wechsels des Urtheils, sondern urplötzlich und zusammenfallend mit kundgewordenen allerhöchsten Meinungs- oder Willensäußerungen. Gegenwärtig vollzieht sich vor den erstaunten Augen Deutschlands eine gleiche, vielleicht noch schroffere Wandlung – in der Auffassung und Leitung der katholischen Angelegenheiten.

Es ist wohl als bekannt vorauszusetzen, daß unter Herrn von Mühler’s Aegide der katholische Klerus sich bis vor Kurzem der zartesten Rücksichten erfreute, die Bischöfe beinahe nicht wie Unterthanen des Staats, sondern wie gleichberechtigte Mächte behandelt wurden, daß die größte Sorgfalt, jede Einmischung in das Regiment der katholischen Kirche zu vermeiden, vorherrschte und diese daher eine bei Weitem größere Selbstständigkeit und Freiheit als die evangelische Landeskirche genoß. Dazu kam, daß der Chef der katholischen Abtheilung im Ministerium, Geheimrath Krätzig, mit dem Minister innig befreundet war und in seinem vollkommenen Vertrauen stand. Mit einem Schlage hat sich dies geändert. Fürst Bismarck erklärt sich bereit, die Altkatholiken gegen die Infallibilisten zu schützen, und sofort schwenkt Herr von Mühler in wahrhaft naiver Weise herum, macht gegen das Episcopat Front, löst die ganze katholische Abtheilung in seinem Ministerium auf und stellt seinen Freund Krätzig zur Disposition. Merkmale einer inneren Umkehr sind bei dem Herrn Minister nirgends wahrnehmbar, und man giebt sich auch nicht die Mühe, solche zu suchen; für Herrn v. Mühler’s Bekannte erklärt der Wille des Reichskanzlers die eingetretene Wendung genügend. Die Abneigung, den einflußreichen Posten aufzugeben, ist schließlich das Motiv, welches die Stellung des preußischen Cultusministers bestimmt, und das öffentliche Mißtrauen, welches seine Operationen begleitet, ist deshalb der berechtigte Ausdruck des Zweifels an seiner Aufrichtigkeit.

Will man – und meinerseits bin ich gern dazu bereit – Herrn von Mühler auf das Günstigste beurtheilen, so muß man ihn für einen schwankenden, unselbstständigen Charakter von nicht ganz klaren Anschauungen und ohne den Muth, seinen Ueberzeugungen ein Opfer zu bringen, erklären. Seine Geschäftsführung spricht für die Richtigkeit dieses Urtheils.

Für jede Verwaltung ist es ein großer Uebelstand, wenn sie nicht in einheitlichem Sinne geführt wird; jedes Regiment muß aus einem Gusse sein, wenn es etwas taugen soll. Zumal wenn die Wogen der Zeit hoch gehen, darf nur ein fester Wille das Steuer lenken; kommt der Wille Vieler zur Geltung, so wird das Fahrzeug gefährdet. In dem preußischen Cultusministerium aber fehlt der klare einheitliche Wille; Herr von Mühler besitzt nicht die erste nothwendigste Eigenschaft eines Staatsmannes, seine Gehülfen zu Werkzeugen seiner Absichten zu machen; es werden vielmehr alle denkbaren Schattirungen der Ansichten über Grenzen und Ziele von Kirchenregiment und Schulverwaltung durch seine Räthe vertreten und ungescheut offen ausgesprochen. Neben Stiehl, dem Verfasser der Regulative, sitzt von Wussow, ein eifriger Gegner der Bevormundung der Schule durch die Kirche. Ein Zusammenwirken so auseinander gehender Kräfte kann zu keinem heilsamen, ja überhaupt zu keinem Ziele führen. Wie aber soll einem solchen Uebelstande abgeholfen werden, wenn der Herr und Meister selbst nicht weiß, was er will; wenn er hier einem Allerhöchsten Winke, dort dem Drängen des Oberkirchenraths, bald dem Zureden seiner Räthe, bald den Strafpredigten der „Evangelischen Kirchenzeitung“ nachgiebt; wenn er in Berlin und Pommern den Nationalismus verfolgt und in Hessen die Altgläubigen absetzt; wenn er Kreis- und Provinzial- und Generalsynoden organisirt und dem einzelnen Geistlichen sein Maß von Glauben zudictirt!

Die „Gartenlaube“ ist keine Kirchenzeitung, und ich enthalte mich daher schicklicherweise jeder Würdigung theologischer Systeme und kirchlicher Glaubenssätze; aber das darf ich behaupten, daß Herrn von Mühler’s System gar kein System ist, sondern nur in haltlosem Schwanken zwischen den auf ihn eindringenden Mächten besteht. Jeder treue Freund seiner Ueberzeugungen, nicht allein der Jünger eines sich historisch fortbildenden Christenthums, sondern auch der an den alten Symbolen Hangende, muß das baldige Ende dieser unseligen Verhältnisse herbeiwünschen; der Anfang dieses Endes könnte nur der Rücktritt des jetzigen Cultusministers sein.

Ehe ich mit diesem abschließe, muß ich noch für eine gekränkte Unschuld eine Lanze brechen, nämlich für die vielberufene Adelheid, nehme aber dabei die Nachsicht in Anspruch, die einem alten Verehrer nicht versagt werden darf. Es war ein reizendes, gescheidtes und aufgewecktes Mädchen, Fräulein Adelheid von Goßler, und das Haus ihres Vaters am Leipziger Platze (jetzt das Palais des Prinzen Adalbert) ein mächtiger Anziehungspunkt für junge Männer. Wie hätte das Herz eines Studenten, an sich so leicht entzündbar, zwei so lieblichen Gestalten gegenüber, wie die beiden Töchter des Hauses waren, nicht in Feuer gerathen sollen! Aber tempi passati! Es sind nun vierunddreißig Jahre; die Jugend ist hin, und auch die Erinnerung ist verblaßt!

„Ach, wie der Jugend Ruf verhallt,
Und wie der Blick sich trübt!“ –

Es ist durchaus unrichtig, was in den Witzblättern und in Bierkneipen von dem Einflusse der Frau von Mühler auf die amtliche Thätigkeit ihres Mannes geschwatzt wird. Sie ist eine viel zu verständige Dame, als daß sie sich um Dinge bekümmern sollte, die einer braven Hausfrau und Mutter eines ganzen Häufchens Kinder gerade so fern liegen, wie irgendwelche Alfanzereien. Weiß der Himmel, wer dies thörichte Gerede aufgebracht hat; jedenfalls kein Wissender.[1]

Ich wundere mich öfters, wie Geschichten, die auch nicht eine Spur von Wahrheit an sich haben, plötzlich auftauchen, sofort die Runde durch weite Kreise machen und, ohne auf Widerspruch zu stoßen, so allgemeinen Glauben finden, daß sie bald als unumstößliche Facta dastehen. Was diesen Geschichten die weitverbreitete [705] Geltung schafft, ist offenbar eins mit der Macht der Phrase, der unheimlichen Gewalt, die in unseren Tagen mehr zu herrschen scheint, als je in anderen Zeiten geschehen ist. Eine solche auf Nichts basirte Geschichte ist die Adelheid-Sage; und doch ist sie überall erzählt und geglaubt, und Niemand hat ihr meines Wissens bis jetzt öffentlich widersprochen.

Dabei fällt mir eine andere gleich unwahre und noch viel weiter gedrungene Fabel ein, nämlich die von Moltke’s Schweigsamkeit. Alle Zeitungen erzählen Wunderdinge von dieser Eigenthümlichkeit des großen Schlachtendenkers; der Oberbürgermeister von Berlin begrüßt ihn selbst bei feierlicher Gelegenheit (1866 bei einem Festmahle im Kroll’schen Locale) als den „Schweiger und Macher“; in Gesellschaften, die durch keine besondere Kluft von ihm getrennt sind, hört man hübsche Anekdoten zum Belege seiner Kunst zu schweigen; in Schulbüchern und Compendien, die auf den Namen von Geschichtswerken Anspruch erheben, wird diese Kunst als ein höchst bedeutender Charakterzug betont; im Auslande wird die Fabel eifrig nachgebetet; – und doch ist nichts in der Welt unwahrer als sie. Graf Moltke ist nicht nur kein besonders schweigsamer Mann, obwohl er natürlich zu verschweigen wissen wird, was er am zweckmäßigsten für sich behält, sondern er ist sehr gesprächig, besitzt eine angenehme, lebhafte Unterhaltungsgabe und theilt sich gerne mit. Von den Hunderttausenden, die von seiner Schweigsamkeit erzählen, hat unmöglich auch nur ein Einziger Gelegenheit gehabt, ihn in engerem Kreise zu sehen, oder eine etwas längere Zeit sich in seiner Nähe befunden, oder gar selbst mit ihm gesprochen. Wäre dem Herrn Oberbürgermeister Seydel früher ein solches Glück zu Theil geworden, oder hätte er nicht die Fabel ohne Prüfung geglaubt, so hätte er solch thörichtes Zeug nicht dem General ins Gesicht geredet, und es wäre ihm das verwunderte Lächeln erspart worden, das Bismarck und Stolberg, die dabei standen, austauschten. – Und nun soll man nicht zum Ungläubigen und Skeptiker werden, wenn man solche Dinge erlebt!




Unter den Wellen des Niagarafalles.


Wir hatten in Buffalo, dieser hellen, freundlichen Stadt am Erie, nach anstrengender Eisenbahnfahrt gerastet und nun durchschnitt unser Dampfer die silberhelle Welle des Sees. Im prachtvollen Panorama versank die lachende Stadt mit ihrem regen Hafenverkehr allmählich den Blicken, nur reizende Villen umsäumen noch hie und da das diesseitige Ufer, das jenseitige ist nach einer genußreichen etwa einstündigen Seefahrt erreicht und wieder nimmt uns der Eisenbahnwaggon am Lande in sich auf und trägt uns zwischen blühenden Gefilden weiter und weiter, bis uns die räthselhafte Donnerstimme gemahnt, daß wir uns dem Niagarafall nahen, nach dem es uns in brennender Ungeduld und Sehnsucht hinzieht. Aber wir haben immer noch eine Strecke von vier deutschen Meilen zurückzulegen. Plötzlich eine Biegung des Wegs, da wo die Waldumsäumung sich leicht herabsenkt, und das Weltwunder zeigt sich blitzartig momentenlang, um ebenso schnell wieder in aufsteigendem Grün zu versinken. Wir standen Alle aufrecht, zu Stein gewandelt, starr und stumm und die Alltagsphrase verbarg sich unter dem Ueberwältigenden des ersten Eindrucks.

Das Endziel ist am Bahnhofe auf der canadischen Seite für heute gefunden. Wir fliegen, ja rasen den Abhang hinunter, der uns den Anblick der Fälle noch immer verdeckt hält, und stehen in der Entfernung einer halben englischen Meile vom Fall am canadischen Uferrande, der viele hundert Fuß über dem Niagarastrom ragt. Uns gegenüber, am jenseitigen Ufer, der amerikanische Fall. Die volle Breite der Bucht umspannend, in angegebener Ferne rechts, der sogenannte Hufeisenfall, auf dessen nähere Beschreibung ich später eingehender zurückkomme. Beide umrahmend und wie mit einer magischen Brücke verbindend, ein unbeschreiblich farbenreicher Bogen, der durch den Reflex des warmen Nachmittagssonnenscheins auf die bewegliche Wasserwüste erzeugt wird.

Links ein neues Wunder! Hoch zwischen Himmel und Fluth schwebt – weiter hinab, wo der Fluß sich ebnet – über dem Abgrunde, in der Leichtigkeit seines Stils einem graciösen Balcon vergleichbar, jene berühmte, eintausendzweihundertvierzig Fuß lange Hängebrücke, deren Anblick allein die mühselige Reise lohnen dürfte. Worauf nur stützt sich der kolossale Bau? – kein Pfeiler, kein Stein, der ihm zur Befestigung dienen könnte. Welcher Pfeiler auch hätte zweihundertdreißig Fuß in der Höhe vom Niveau des Flußbeckens ab dem wuchtigen Anprall des wildesten Stromes der Welt in ausreichender Widerstandskraft Stand halten können? Das Räthsel löst sich uns, da wir die Brücke betreten und am Thurme das Brückengeld für die Passage entrichten. An senkrecht hängenden und in ihrer Länge sich gegen die Brückenmitte verringernden Stricken aus starkem gewundenem Gußeisen wird sie sicher in den Lüften von Fels zu Fels getragen. Der weiße Anstrich aber läßt diese Stütze in einiger Entfernung unsichtbar.

Wir betraten nun amerikanischen Boden, nachdem wir vor Kurzem noch auf dem Gebiete des grünen Albions gestanden. – Durch köstliche Waldungen wand sich der Pfad bergauf zur Dorfstraße; noch eine Viertelstunde länger und wir hatten endlich das Endziel unserer ersten Wanderung erreicht, den deutschen Gasthof, ein liebliches zweistöckiges Häuschen, das seine Front dem Dorfe zukehrt und gar so einladend aus rosenrothem Hain von blühendem Oleander uns entgegenlacht, in seltsamen Gegensatz zu dem Tosen des flüssigen Elementes ringsum!

Wir hatten diesem Bastardkinde des aristokratisch-geräuschvollen Katarakthauses vor letzterem selbst den Vorzug gegeben, weil hier das deutsche Element in seiner freundlich feinen Wirtin und ihrem Töchterlein seine Vertretung fand, weil Alles anheimelnd in prunkender Sauberkeit den süßesten Frieden athmete in ausgesprochenem Gegensatze zur amerikanischen Rastlosigkeit und ihrem Sensationsfieber. Durch den Eßsaal schreitend traten wir hinaus auf die luftigen weingekränzten Galerien, welche um beide Etagen die ganze Breite des Hôtels auf der den Katarakten zugewandten Seite umgaben. Sie hingen buchstäblich über den Schlünden, die ihren Gischt feuchtend bis zu uns hinauf sandten. Die Katarakte bilden auf diesem Punkte die Rapids und diese gewissermaßen die Höllenküche für die weiter liegenden Fälle. Sie stürzen in weitem Bogen aus unermeßlicher Höhe über ragende Felsplateaus hinab in die gähnende Tiefe und spiegeln dort wunderbare Farben. Um das ganze Landschaftsbild spannt sich ein ewiggrüner Rahmen saftiger Matten und uralter Waldungen. Es brauste und gährte rings um uns in markerschütterndem Donnergebrüll; in schneeweißen Schaumwogen stürzten die Katarakte, sich wild um sich selbst wie im Trichter drehend, unaufhörlich herab. Die hemmenden Steinblöcke überschütteten sie dabei mit ihren Schaumkronen.

Welch eine Wunderwelt! Ich wollte, die Naturkraft, die diese in’s Dasein rief, liehe meiner Feder momentelang nur Zauberfarben, um im schwachen Abglanz das Bild annähernd malen zu können, das die trunkenen Blicke dort eingesogen. Wie arm aber wird die Sprache, wenn man solche Natur in ihren gigantischen Ausbrüchen zu schildern versucht!

Der Abend war hereingebrochen, nachdem wir uns ein wenig restaurirt; es war zu spät, um heute noch die Gemseninsel, auf der der Hufeisenfallthurm sich befindet, zu besuchen, da die Sorglosigkeit der Bewohner, die Jeden für sein Leben selbst verantwortlich und sich zu keinen Vorsichtsmaßregeln verpflichtet hält, diese Tour zu einer nicht ungefährlichen in der Nacht macht. Wir kehrten also zu dem amerikanischen Fall zurück, von dem aus wir – vom Schicksal durch Vollmond begünstigt – ein Schauspiel genießen sollten, wie es dort einzig in der Welt. Langsam stieg der Mond; zuerst berührten seine Strahlen durchleuchtend ganz schüchtern die anschwellenden, noch völlig durchsichtigen Wassermassen der Rapids, die sich bis zu dem ragenden Felsplateau der amerikanischen Seite in anwachsender Gewalt vorwälzen und von dort in die gähnende Tiefe brüllend herabstürzen, aus dem es wie der Dampf eines Vulcans zum Himmel emporqualmt. Höher steigend tanzten sie feenhaft jetzt bis zu dem Punkt, mit dem wir am Plateau des Fahrhauses ziemlich auf gleicher Höhe standen. Keine Balustrade, keine Warnungstafel, nichts als die eigene Vorsicht trennte uns von dem lockenden Element, in das die Trauereschen am Ufer ihre graziösen Hängezweige tauchten, über die es silberhell dann und wann hinfluthete. [706] Das Mondlicht lag endlich in breitem, hellem Streifen auf den herabgießenden Strudeln und glitzerte spukhaft in phantastischem Spiel darüber hin. Plötzlich erhob sich das Wunder der Wunder: in zarteren, schattenhafteren, aber nicht minder schönen Farbentönen erglänzte jener Doppelbogen, den wir am Tage schon im Sonnenlicht bewundert und der von seinem Ursprung, dem keuschen Kuß der Luna, seinen Namen trägt. Wo reichte die Sprache aber zu würdigen Schilderung dieses zauberischen und erhabenen Anblicks aus, der einmal nur im Monat bei Vollmond und ganz klarem Himmel – auf diesem Punkt der Erde allein – dem verstummten Beschauer entgegentritt!

Lange noch kniete ich in jener Nacht auf meinem Lager und starrte hinaus auf die kochenden Wasserschlünde, die an meinem Fenster herabgossen, bis ihr grausig schönes Wiegenlied mich in den Schlaf gesungen.

Den nächsten Morgen sollten wir unserer Sehnsucht nach dem Anblick des Hufeisenfalls Genüge thun. Durch einen prachtvollen Laubhain, an Abgründen vorbei, führte der Weg immer bergauf über Goat-Island (Gemseninsel) fort, bis ihm durch die Fälle die Grenze gesteckt wurde. – Ueberall tritt Einem der Mangel der Culturpflege an diesem vielbesuchten Platz auffällig entgegen; nirgends ein geebneter Pfad; höchstens ein schlaff gespannter Strick, der an eine besonders gefährliche Stelle mahnen soll. Ueber Felsgeröll und durch dichtverschlungene Rankengewächse hatte der Fuß sich den Weg zu bahnen, bis er die Brücke endlich erreichte, von der ein Steg zum Thurm führt. Aus den gurgelnden Wassern und zwischen Felsriffe eingekeilt taucht in gleicher Linie mit dem Gipfel des Hufeisenfalls, wie eine Oase, das rundliche Gebäude fünfundvierzig Fuß hoch empor. Seine Spitze umgiebt eine Galerie mit eisernem Gitter. Der Schwindel, der Furchtsame und Nervöse hier auf der Piazza oft ergreift und zu dem Glauben veranlaßt, der Thurm erbebe unter dem Anprall der Fluthen, blieb uns glücklich fern und wir konnten uns ungehindert dem Vollgenuß des Anschauens hingeben, dem nirgends und auf keinem Punkt solche Genüge geschieht als hier, wo man in gleicher Höhe mit dem Anfang des imposantesten Falles steht und gleichzeitig im Rundblick die schöne Scenerie der beiderseitigen Ufer und die Tiefe zu Füßen des Thurmes beherrschen konnte. Seine Breitenausdehnung beträgt, in der Form eines Hufeisens, wie schon erwähnt, hundertvierundvierzig Ruthen; was diesem Fall aber gerade einen so bizarren Reiz leiht, ist, daß er, in der Mitte in ruhigerer Schönheit, ein glasheller breiter Strom, smaragdgrün über die Felsblöcke fluthet, während er wieder zu beiden Seiten im kochenden Schneeschaum unter wüthendem Getöse, in die wie mit Rauch und Dampf gefüllten Schlünde herabstürzt. Auf diesem schwebend breitete sich unter uns ein magischer Bogen, der dieses gesegnete Thal wie im ewigen Friedenszeichen umspannt halten will.

Nachdem wir uns satt, oder eigentlich nicht satt gesehen, kehrten wir heim zum Diner und schlugen nach Tische, trotz heftigem Protestiren meines Begleiters den Weg zu dem gefährlichen Durchpaß, d. h. zu der Stelle am Fuße der Katarakte ein, wo man etwa dreißig Yards hinter die riesenhafte Wasserschicht der in gerader Linie herabstürzenden Fluthen vordringen kann und wo sich eine Höhle von etwa dreihundert Fuß Länge gebildet hat. Auf der Höhe, auf halbem Wege zu den Hufeisenfällen, zwischen diesen und dem amerikanischen Falle, liegt das sogenannte Costümhaus, das die Pforte eben zu der „Höhle der Winde“ und zu der gefahrvollen Reise unterhalb dieses Falles bildet.

Ein menschliches Ungeheuer in einer – mir schien es – maskeradenartigen Vermummung maß meine kleine zarte Gestalt mit prüfendem Blick, als ich dort eintretend ihm meinen Wunsch hinsichtlich dieser Tour zu erkennen gab.

„Es ist sehr beschwerlich – Damen unternehmen es selten,“ remonstrirte er zögernd in englischer Sprache, und mein Begleiter fiel ihm mit einem freudig zustimmenden „Nicht wahr, auch gefahrvoll?“ in die Rede.

„Hm, es ist überall gefährlich, wo man sich nicht in Acht nimmt,“ murmelte er unentschieden und schwankend zwischen dem lockenden Tone meiner raschelnden vier Papierdollars und der Stimme des Gewissens. „Sichere Führer – ich bin auch einer – bekommen Sie mit und Gesellschaft finden Sie auch, aber wenn Sie nicht vielen Muth haben, lassen Sie’s lieber bleiben, es ist heute gerade sehr stürmisch!“

Mein Entschluß stand fest, ich wollte den Becher, selbst auf die Gefahr des Lebens, bis auf die Neige leeren. Man wies mir ein Zimmerchen an, in dem ich „Toilette“ machen sollte, und bei der drolligen Metamorphose diente mir ein allerliebstes gazellenäugiges Indianermädchen zur dienstwilligen Zofe. Sie brachte mir ein Eisenkästchen, in dem ich meine Börse und Werthsachen deponirte, legte ein Vorhängeschloß davor und frug mich schüchtern, ob ich Adressen oder irgend ein Vermächtniß dem „Unternehmer“ mit dem Kästchen zu übergeben wünschte. Das Zurückbleiben meines Reisegefährten, der sich zu schwach oder zu alt fühlen mochte, machte diese Vorsichtsmaßregel für alle „Eventualitäten“ bei mir überflüssig; das Erinnern an dieselben dämpfte aber dennoch etwas die tolle Laune, in der ich mein sonderbar herausstaffirtes Ich im Spiegel bewunderte. Ein Schwimmcostüm, bestehend aus kurzem Kittel und Pantalon von zottigem brandrothen Flanell und mit einem dicken Strick um die Taille gegürtet, darüber ein kleines Rittermäntelchen von schwarzem getheerten Wachsleinen, an das eine Capote, das Gesicht bis fast zur Nase fest umgebend, von gleichem Stoffe sich anschloß, abscheuliche graue Wollsocken und Filzsandalen, die wieder mit dünnen Stricken den Fuß umwunden hielten – das war die vorschriftsmäßige Hoftoilette, in der man dem Berggeist der „Höhle der Winde“ seine devote Aufwartung zu machen hatte.

Mit hörbarem Herzklopfen trat ich zu den drei Herren und den beiden Führern hinaus, die die Reise in die Tiefe mit mir wagen wollten. Wir lachten Alle hell auf in wiedergekehrtem Humor, als wir, die eben noch völlig Fremden, in unserm Reisecostüm uns gegenseitig anstaunten, und flogen, trotz der Abmahnung der Führer, die uns vor verfrühter Uebermüdung und Erhitzung warnten, die vielen, vielen Stufen bis zu einem Thürmchen hinab, das noch dem Publicum zur Benutzung freigegeben war.

Auf der Wendeltreppe im Thürmchen begegneten wir einem eben zurückkehrenden Touristen und seinem Führer. Er hätte als abschreckendes Beispiel dienen müssen, wenn Einem von uns der moralische Muth zur Umkehr zu Gebote gestanden; Jeder aber fürchtete das Spottlächeln des Andern. Der Mann sah gräßlich aus, mit wogender Brust, keuchendem Athem; aus den zusammengeklebten Haarstreifen, die ihm unordentlich über die Stirn hingen – die Capote war vom Kopfe zurückgeglitten –, triefte es unaufhörlich Gesicht und Bart entlang; aus seinen Kleidern, von seinen Händen, aus seinen Schuhen goß es in Bächen herab, und er selbst bot ein zwar tragikomisches, aber auch jammervolles Bild totaler Erschöpfung. Wir schritten tapfer vorwärts, klirrend fiel hinter uns die eiserne Pforte in’s Schloß, die uns von der übrigen Welt abschnitt.

„Will Einer von den Herrschaften doch lieber zurückbleiben? Noch ist es Zeit!“

Der Frage des Führers – der den Pförtner spielte und unsere Regenmäntel in dem kleinen Wachthäuschen aufhing – antwortete ein beklommenes Schweigen. Langsamer als vorher stiegen wir den sandigen Abhang hinab und jetzt – jetzt kam die erste Taufe! Donnerartig, mit wahrem Wuthgebrüll stürzte es dreihundert Fuß hoch über und von oben über unsere Köpfe fort. In wildem Bogen stürzte der Fall über uns hin in die Tiefe. Das eisige Sturzbad, das der Wind prasselnd auf uns herabgoß, nahm nach wenigen Minuten schon Athem und Besinnung. Mit wogender Brust nach Luft ringend, erreichten wir endlich das Ende des Hügels; an diesen schloß sich ein schwanker hölzerner Steg, kaum breit genug für den Passirenden, den des Führers Faust am Strickgürtel gepackt hielt. Die gebrechliche Brücke schwankte und bebte über der reißenden Fluth, die sie glatt und schlüpfrig wie ein Parquet gespült hatte. Von der einen Seite nur schützte ein rundes Holzgeländer (eigentlich nur ein glattgeschälter langlaufender Baumstamm) gegen den Sturz in die grause Tiefe, und an ihm konnte die gleitende Hand dem vorsichtig tappenden Fuße zur Stütze dienen.

Unsäglich mühsam ging es vorwärts auf der schlüpfrigen Bahn. In den Ohren begann es zu summen; schwarze Kreise zog der Schwindel vor unsere Augen. Das Sturzbad machte erst blind, dann taub, dann besinnungslos – nun trieb auch der Sturm im „Käfig der Winde“ sein gefährliches Spiel und schleuderte uns hin und her. Der Fuß hielt nur mühsam Stand in der eiskalten Douche, die über ihn hingurgelte. Bedrohlich hingen über unseren Köpfen, wie von der Luft getragen, vorspringende [707] kolossale Felsmassen, deren Haltung jeden Augenblick ihren Sturz und für uns Zerschmetterung befürchten ließ. Von dem Donnergebrüll, das uns umgab, wird man sich dann eine Vorstellung machen können, wenn man bedenkt, daß die ungeheure Masse des sich herabstürzenden Wassers den Tag über auf zweitausendvierhundert Millionen Tonnen (à 4000 Pfund), die Stunde auf einhundertzwei Millionen angeschlagen wird.

Meine Kräfte erlahmten, die Arme meines Führers umklammerten mich mit eisernen Banden, da ich allmählich alle eigene Widerstandskraft verlor und willenlos mich weiterzerren ließ, sie preßten mich fester und fester gegen die schwankende Balustrade, während sein eigener, des Weges kundiger Fuß an der ungeschützten Seite des Abgrundes entlang glitt.

Wir hatten die Hälfte des Weges nun glücklich zurückgelegt. Mit beiden Händen am Geländer angeklammert hielten wir kurze Rast und sammelten unsere Kräfte.

„Wollen Sie mit zurück? nicht für die Welt gehen ich und mein Sohn einen Schritt weiter,“ keuchte eine heisere Stimme an mein Ohr. Ich riß die geblendeten Augen gewaltsam auf; einen Moment kurzen Besinnens, kurzen Kampfes nur – ich wollte doch die Todesangst nicht ganz umsonst ausgestanden haben! Mit dankendem „Nein“ hatte ich die Möglichkeit der Umkehr mir schon geraubt; denn wie schwarze Schatten im Sprühregen schwebten die Enteilenden – durch den Stand des Windes jetzt begünstigt – zehn Schritte hinter uns auf dem Rückzug.

Zu drei Personen, aber zu drei todesmuthigen, entschlossenen, war unsere kleine Gesellschaft nun zusammengeschmolzen. Mit vollem Aufraffen aller moralischen Kraft traten wir unverschüchtert weiter und weiter den Weg in die Tiefe bis zu dreihundert Fuß an. Ich beherrschte mit fester Willenskraft die zuckenden Nerven, wollte ich doch das Abenteuer, da es nun einmal begonnen, auch unerschrocken zum Ende führen.

Der Sturzregen von oben minderte sich zwar, aber die Gefahren nahmen zu, jetzt wo der tastende Fuß nur in den Löchern des Felsgerölls einen Anhalt fand, über das es zudem noch brüllend und rauschend fortbrandete. Jeder Fehltritt, jedes Ausrutschen schon hätte grauenhaften Sturz und ein sicheres feuchtes Grab nach sich gezogen. Dennoch drangen wir vor und vor, jetzt erreichten wir den letzten Felsen, unter dem einige Fuß tiefer ein ausgewaschener Stein das Endziel unserer Reise in die Tiefe werden sollte.

Mein einer Begleiter hatte mit kühnem Sprunge in die Tiefe ihn jetzt erreicht; der Führer schwang sich im nächsten Moment an seine Seite und ein bewunderndes „Ah!“ hallte zu mir empor, die ich, beide Füße in die kleine Steinhöhlung geklemmt, die Hände an die überhängenden Felsriffe geklammert, die Entfernung von mir bis zum festen Plateau mit den Blicken abmaß. Meine Begleiter waren schlanke hochgewachsene Gestalten mit langen Gliedmaßen; ich selbst leider – wie schon erwähnt – bin von winzigen Proportionen. Der Sprung, der für sie ein Wagniß war, ward meinen kurzen Gliedern zur Unmöglichkeit.

Der Führer stand jetzt, der Tiefe ab- und mir zugewandt, mit zurückgezogenem Oberkörper in der Stellung eines Fechters. Beide ausgebreitete Handflächen hatte er mir zugehoben.

„Lasten Sie sich fallen, ich fange Sie auf.“ Jede Muskel und Ader schwoll zu Strängen an dem Athleten, als er sich nun zum unerschütterlichen Stützpfeiler zu stählen trachtete.

Die eine Minute langen Zauderns ward mir zur Ewigkeit. Wenn seine Hand nicht eisern sicher war, wenn er seine Kräfte überschätzte und die nervigen Finger dem wuchtigen Anprall meines sinkenden Körpers nicht gewachsen waren! Ich schloß vor dem gräßlichen Bilde die Augen, es drehte sich in wilden Kreisen um mich und das erstarrende Blut trieb den Angstschweiß in Bächen über das Antlitz. Dort oben konnte ich nicht mehr lange kleben zwischen Himmel und Wasser; die wunden Hände erlahmten im Griff der zackigen Schroffen, noch wenige Secunden und sie verloren den Halt. Ein, zwei Minuten athemlose Erwartung; im verzweifelten Entschluß sinkt der Oberkörper vorwärts, die Füße lösen sich aus ihrem Stützpunkt – ich gleite der Rettung oder der Ewigkeit entgegen!

Ein eherner Griff und die Besinnung kehrt mir zurück; von den Händen des Mannes, dessen herculischer Kraft ich allein die Erhaltung meines Lebens danke, sank ich herab auf meine Kniee, und, als wolle das höchste Wesen in seiner vollen Glorie und Nähe sich gerade jetzt uns offenbaren, spannte es, in nie geahnter Pracht, seinen schillernden Friedensbogen über und unter uns aus. Es war ein Moment der höchsten Weihe; in uns und um uns lebte und webte der einzige Gott!

Noch eine kurze Zeit des Kampfes hatten wir gegen das Wüthen der Elemente zu bestehen, als wir von Stein zu Stein emporklommen, zu denen ich mich an den herabgestreckten Händen des Führers von jedem Vorsprung neuerdings aufzuschwingen hatte. In weitem Bogen ging es langsam bergauf. Noch einmal bückte ich mich im Sturzbad, um einen kleinen Stein zur Erinnerung an die überstandenen Gefahren als Trophäe heimzutragen. Wir standen auf demselben Fleck, von dem wir ausgegangen. Jetzt fielen die letzten Tropfen, der rieselnde Staubregen hörte plötzlich auf. Nach zwanzig Minuten, die sich zur Ewigkeit in der Todesangst ausgedehnt, zerschunden, abgehetzt, vor Kälte klappernd und bebend, in triefenden Kleidern, erreichten wir, mehr todt als lebendig, die sichere Höhe.

Wir athmeten lang und athmeten tief
Und begrüßten das rosige Licht!

„Sie sind eine kleine couragöse Frau,“ begrüßte mich mein Begleiter und schüttelte mir treuherzig die Hände zum Abschied. „Sie sind eine kleine Heldin,“ bewillkommneten uns Jene, die uns so muthlos auf halbem Wege verlassen hatten.

„Der Mensch versuche die Götter nicht“, war Alles, was ich zur Entgegnung zu stammeln vermochte. Meine Kräfte waren völlig dahin, meine Glieder gelähmt; ich schleppte mich mühsam die Treppen hinauf. Meinen lieben Verwandten sank ich jauchzend in die Arme; war es mir doch, als wäre ich nach dieser Reise in die Unterwelt dem Leben auf’s Neue zurückgeschenkt, als hätte ich es als kostbares Pfand, dessen Werth ich ehedem unterschätzte, neuerdings erst vom Himmel zurückempfangen.

Die Höhle der Winde ist für mich aber die Feuerprobe der Ausdauer und des Muthes geworden. Ein Testament war glücklicherweise für dieses Mal überflüssig.
C. Löwenherz.




Die Sühne durchs Leben.
Von Gottfried Kinkel.
(Schluß.)


Mit diesen Worten blickte Conrad Wölfling in die Augen des Jünglings, der sein Sohn nicht war. Aloys sah ihn mit ernster Aufmerksamkeit an, aber erschüttert war er nicht, und kein Ausruf verrieth sein Erstaunen.

„Aloys,“ fuhr der Capitain fort, „ich habe gearbeitet, meine Schuld gut zu machen vor Gott und den Menschen. Das Gesetz verfolgt mich nicht mehr. Daß die Nachbarn es jetzt wissen, das will ich gerne tragen als letzte Buße. Aber ein Mensch ist noch, vor dem ich mich fühle als vor meinem Richter, und das bist Du. Aloys, ich habe damals, glaube ich, die Mutter und Dich gerettet; kannst Du mir heute in Deinem Gemüth verzeihen, daß ich Deinen Vater gemordet habe?“

Da knieete der starke männliche Jüngling vor den zitternden Mann, legte sein Haupt in dessen Schooß, und seine Thränen flossen. „Ihr,“ sagte er, „seid mein Vater, mein lieber Vater, und nicht der Mann, der mich verstoßen hat, als ich noch im Schooße der Mutter war. Und redet nicht von Verzeihung, denn das ziemt Euch nicht gegen mich. Den Mann, dessen Blut in mir ist, habe ich lange in meinem Herzen begraben, denn daß Ihr ihm das Leben nahmt, das weiß ich seit vier Jahren!“

Der Capitain sprang vom Stuhle auf. „Und woher?“ fragte er.

„Die Mutter selber hat es mir gesagt am Tage vor ihrem Tode. Ihr waret ausgeritten, um die letzte Arznei für sie zu holen, da war ich wohl eine Stunde mit ihr allein, und so hat sie mir’s anvertraut.“

[708] „Aber warum?“ fragte Conrad erstaunt.

„Sie meinte, einmal möchte es doch herauskommen, so daß ich’s erführe, und weil ich ein wilder und trotziger Junge war dazumal, so fürchtete sie, ich könnte an Euch unrecht thun. Sie hat mir auch gesagt, was ich Euch schuldig bin, und hat mir das Versprechen abgenommen, daß ich nie gegen Euch hart sein wollte mit Rache oder Vorwurf.“

„Und das hast Du in Dir überwunden, mein tapferer Junge, und geschwiegen all die Jahre her?“

Aloys ging an den Schrank und holte ein zweites Glas. Er stellte es auf den Tisch und schenkte sich Wein aus des Vaters Flasche ein. „Stoßt an, Vater,“ sagte er, „mit diesem Glas trinken wir Vergessenheit auf ewig!“

Conrad zögerte erstaunt. „Seit vier Jahren hast Du Wein und Whisky nicht angerührt,“ sagte er, „und heut trinkst Du?“


Streifzüge eines Feldmalers. Nr. 3. Jacques Dubois.
Von Chr. Sell in Düsseldorf.


„Ja, Vater, heut trinke ich wieder. Damals war ich im Gemüth sehr verwüstet, und als die Mutter todt war, da ritt ich hinaus in die Prairie, und in der Einsamkeit sind mir auch böse Gedanken gekommen. Ich bin nicht heimgeritten, bis ich sie heruntergezwungen hatte. Aber ich fürchtete, wenn ich Wein oder Whisky tränke, es könnte meine Zunge einmal los werden, und ich könnte zu bösen Stunden sagen, was Euch wehe thäte. Darum ging ich unter die Temperancer. Jetzt ists vorüber zwischen Euch und mir, und nun laßt mich um Euch trinken auf herzliche Liebe.“

Die Gläser klangen zusammen, der Mann legte seine Hand auf des Jünglings Haar, und Aloys umfaßte den Vater mit beiden Armen. Eine dunkle Schuld war gesühnt.

„Und, Vater,“ sagte Aloys, „Ihr wißt nicht, wie gut es die Mutter gemacht hat, daß sie mir es sagte. Ich bin ein neuer Mensch geworden von da an. Ich meinte, ich müßte Euch zeigen, daß es der Mühe werth war, daß Ihr Euch am Leben erhalten hattet, und darum beschloß ich etwas Rechtes zu werden und etwas Rechtes zu thun. Wenn Ihr das sähet, müßtet Ihr Euch freuen, daß Ihr Euer Leben gespart hattet für die Mutter und mich.“

[709]

Die letzte Reise. Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Bengt Nordenberg in Düsseldorf.

[710] „Daher also, was Du in der Indianernacht gethan hast, und daß Du mir das Leben rettetest?“

„Ja, daher, Vater. Und ich hoffe, es soll nicht das Letzte sein, was ich thue. Ihr sollt sehen, der alte Abe wird gewählt, und die frechen Tyrannen im Süden heben den Tanz an. Es giebt Krieg um die Union, und dann, Vater, laßt mich hinaus, wir wollen ihnen ein Stückchen aufspielen, daß ihnen die Ohren gellen sollen! Sie haben die Männer drüben zusammengehauen, die sich 1849 für die Republik schlugen. Dafür haben diese Männer hier die Deutschen aus dem Schlafe gerüttelt, und mit denen wählen wir jetzt den Lincoln und stellen die Republik fest auf alle Ewigkeit. Da will ich mit bei sein, Vater, und ob ich in Ehren falle oder in Ehren siege, dann sollt Ihr Euch freuen, daß Ihr den Aloys als Sohn angenommen habt!“

Der Capitain reichte dem Jüngling die Hand. Dann wandte er sich zum Schrank, die Lampe war während dieser Gespräche niedergebrannt, er wollte Oel aufschütten. „Wir brauchen’s nicht mehr, es graut schon der Morgen,“ sagte Aloys. Er stieß den Laden auf, und auf dem Thau der Prairie schimmerte wie ein blasses Mondlicht das Silber der Morgendämmerung.

„Wollt Ihr noch schlafen gehen?“ fragte Aloys. „Oder soll ich heute noch das Ende hören, wie meine Mutter mit Euch nach Amerika ging? Das weiß ich noch nicht. Sie bekam damals das Fieberschütteln, und hernach war sie nicht mehr allein mit mir, sie starb den folgenden Tag.“

„Du sollst Alles hören, und heut noch,“ erwiderte rasch der Capitain. „Dann ist’s vorüber, ein ander Mal würde es mir schwer werden, neu damit anzufangen.“

Aloys setzte sich zum Vater und schlug den Arm über seine Schulter.

„Ich sprang über den Hag auf die Wiese zu Deiner Mutter. Daß sie ein Kind haben könnte, daran hatte ich niemals gedacht. Ich setzte mich zu ihr aufs Heu und sah Dich an. Du warst kein schönes Kind dazumal. Die Hände waren mager, daß man alle Knöchelchen durchsah, das Gesicht war von einem häßlichen Ausschlag bedeckt, daß man keine saubere Stelle an Dir sah, und die Augen waren verschworen, als wärest Du blind. Man hätte nicht denken können, daß Du einmal einen Häuptling der Dacotahs zusammenhauen würdest.

‚Ist das sein Kind?‘ fragte ich. ‚Es sieht seinem stolzen Vater nicht ähnlich.‘

‚Ach,‘ sagte sie, ‚es war ein schönes Kind, wie es auf die Welt kam! Aber es hat zu viel gelitten seitdem.‘

‚Erzähl’ mir,‘ bat ich.

‚Du weißt, daß er todt ist?‘

‚Ich weiß es.‘

‚Hast Du –?‘

‚Ja, ich habe,‘ sagte ich. Am Geheimhalten lag mir ja längst nichts mehr.

Sie rückte mit dem Kinde einen Schritt von mir hinweg. ‚Ich habe mir’s immer gedacht,‘ sagte sie.

‚Glauben es auch die andern Leute?‘ fragte ich.

‚Man weiß nicht, was man denken soll. Das Gericht hat dazumal untersucht; in einem Wirthshaus an der Straße nach Köln bist Du den Abend gewesen und hast gesagt, Du gingest die Nacht noch nach Köln; Deine Kölner Freunde haben freiwillig bezeugt, daß Du am Morgen früh sie daselbst besucht hast. Auf das hin haben sie Dir keinen Steckbrief nachgeschickt.‘

‚Und Du?‘

‚Mich haben sie auch als Zeugen aufs Gericht gefordert und auf den Eid genommen.‘

‚Wie kam aber das?‘

‚Ach,‘ sagte sie und verbarg ihr Angesicht an Deiner Brust, ‚es wußten schon mehr Leute als Du von Fritz und mir. Einer von der Nachtwache hatte ihn einmal Nachts gesehen. Was habe ich noch zu verschweigen nach all der Sünde, die ich an Dir gethan, Conrad? Ich war gegen ihn schon viel zu gut gewesen, als Du den Herbst mit der Landwehr auf dem Manöver warst.‘

Eine fürchterliche Bitterkeit stieg ist meiner Seele auf. Wenn ich damals nicht meinen Blutzins bezahlen mußte, wenn ich meine gute Stelle nicht verlor, so hätte ich vielleicht das Unglück abwenden können.

‚Also vor Gericht mußte ich auf meinen Eid Alles aussagen, auch daß Du mich hattest heirathen wollen und daß der Fritz dazwischen gekommen war. Das kam denn Alles in der Zeitung mit Namen und Vornamen. Ich war vor allen Menschen verloren, noch ehe ich wußte, daß ich dies Kind hatte, und meine reichen Verwandten stießen mich aus dem Haus. Einen Dienst fand ich nicht mehr, und was ich die Jahre her mir erspart hatte, das ging drauf für das Kindbett. Als die Taufgebühr bezahlt war, hatte ich gar nichts mehr, keinen Pfennig.‘

‚Wie hast Du ihn taufen lassen?‘ fragte ich.

‚Aloys heißt er und hat einen guten Schutzpatron. Den Namen habe ich ihm ausgesucht, weil der heilige Aloysius mit den Mädchen so fromm war, daß er dem nachschlägt und nicht seinem Vater. Aber was wird’s ihm nützen? sieh ihn nur an, ich weiß, er muß sterben.‘

‚Sterben?‘ sagte ich.

‚Ja, sterben. Er hat zu viel Noth gelitten, und ich weiß dem armen Würmchen auch nicht mehr zu helfen. Erst wollte ich nicht Säugamme in der Stadt werden, weil ich das Kind nicht abgeben mochte, und jetzt, wenn ein Doctor das kranke aussätzige Kind ansieht, nimmt mich kein Mensch mehr als Amme.‘

‚Aber was hast Du gemacht seither, wo lebst Du?‘

‚Bei der armen Frau oben im Dorf, der diese Wiese gehört. Sie hat mir ein Kämmerchen geliehen und ich darf das Kind bei mir haben, dafür thue ich ihr Abends das bischen Arbeit, und den Tag über gehe ich tagelöhnern, wenn’s auf dem Felde was zu verdienen giebt. Aber ich kann nicht genug verdienen für mich und das Kind, es hat nicht Milch genug, und Brei kann es nicht vertragen, es liegt auch manchmal halbe Tage lang ohne rechte Pflege, wenn ich auf die Arbeit muß. Der Armendoctor sagt, wenn es keine bessere Kost bekommt, kann er es nicht beim Leben erhalten.‘

Als Deine arme Mutter so sprach, fühlte ich ein tiefes herzliches Mitleid mit Dir. ‚Anna,‘ sagte ich, ‚ich habe etwas Geld mitgebracht, nimm soviel Du willst, nimm es alles und halte Dich stark und gesund.‘

‚Nein,‘ rief sie, ‚von allen Menschen könnte ich Almosen annehmen, nur von Dir nicht, nachdem ich Dir so wehe gethan. Und Du bist ja auch jetzt fremd hier und brauchst Dein Geld selber.‘

‚Ich nicht,‘ sagte ich. ‚Mein Ende ist da, ich gehe mich selber angeben wegen der Mordthat, und wenn Du das Geld nicht willst, so nimmt es das Gericht mir ab, da haben sie gleich um den Scharfrichter zu bezahlen.‘

Ich sah, daß sie erschrak. Sie rückte mir wieder näher und sagte: ‚Thu das doch ja nicht, was soll’s ihm nützen, daß Du stirbst?‘

‚Ich kann nicht mehr leben,‘ antwortete ich, ‚ich sehe ihn vor mir Tag und Nacht, er läßt mich nicht, bis ich ihn bezahlt habe. Und jetzt erst recht kann ich das Leben nicht ertragen, da ich Dein Elend sehe und das arme Kind. Hier ist mein Geld; willst Du’s, so sag’s, denn ich gehe.‘

Sie schüttelte mit dem Kopf und wiegte das Kind im Schlaf. Ich stand auf, voll von Galle, und ging wieder dem Dorfe zu.

Aber wie ich näher und näher kam, wankte mir, das Herz in der Brust. Jetzt gehst Du in den Tod, dachte ich, und reißest die Anna und das Kind mit, wenn sie ohne Dich verelenden. Was ist ihm besser, wenn ich für ihn sterbe, ober wenn ich sein Kind rette?

Ich stand still und sann. Ich fühlte, daß ich auf dem falschen Wege ging. Was wäre jetzt leichter, fragte ich mich, der Tod oder das Leben? O, der Tod! rief mein Eigensinn. Das Leben ist ja so schwer auszuhalten! Nein, schrie wieder mein Gewissen dazwischen, ein Leben lang die Schuld tragen und nach besten Kräften gut machen, das ist tapfer, aber in den dummen stummen Tod gehen, weil man eine Sünde vergessen will, das ist feig! So lange ein Mann noch ein recht Gutes thun kann, kommt der Tod zu früh. Ich will’s versuchen!

Wieder wandte ich meine Schritte zu Anna hinauf. Du schliefst jetzt auf dem Heuhaufen, Aloys, Deine Mutter hatte die Hände auf die Augen gedrückt und saß die Ellenbogen auf den Knieen. Sie sah nicht auf, als ich mich wieder neben sie setzte.

‚Anna,‘ sagte ich leise, ‚wollen wir ihm sein Kind am Leben erhalten? Ich kann es, wenn Du mit mir nach Amerika gehen [711] und meine Frau werden willst. Dann soll es mir sein wie mein eigen Kind.‘

Ich sah, daß sie heftig weinte bei diesen Worten, aber sie hielt die Hände fest vor den Augen und sagte leise:

‚Es ist Blut zwischen Dir und mir: er wird zwischen Dich und mich treten und uns trennen, wenn Du mich in die Arme schließest.‘

‚Ich kenne ihn,‘ sagte ich, ‚und ich weiß, wie schrecklich er ist. Aber ich glaube jetzt, daß wir ihn los werden können, und ich sehe Rettung vor mir.‘

‚Ach,‘ sagte sie, ‚und wie könntest Du mir verzeihen, was ich Dir anthat? Wird das Kind uns nicht ein ewiger Vorwurf sein, Dir und auch mir?‘

‚Anna,‘ erwiderte ich, ‚was hätte ich Dir zu verzeihen? Daß Du ihn lieb hattest, daß Du ehrlich meintest, er würde Dich heirathen? Du hast mir schrecklich weh gethan, und ich habe Dir noch schrecklicher weh gethan. Laß uns gleiche Rechnung machen und alle beide uns von Herzen verzeihen.‘

Sie schwieg.

Mir fuhr der Zorn durch alle Glieder. ‚Ich sehe,‘ rief ich unmuthig, ‚es ist aus mit uns. Du denkst noch mehr an ihn als an mich und verweigerst mir aus Rache Deine Barmherzigkeit. Hättest Du noch ein Fünkchen Liebe zu mir, Du würdest nicht drei Menschen hinopfern. Ich muß wohl ein Mörder heißen wie Kain, aber bei Gott, der die Herzen wägt, meines ist weicher als Deins! Sei es denn: auf Dein Haupt lege ich meinen Tod und den Tod Deines Kindes!‘

Ich sprang auf und legte die Hand auf Dein kurzes schwarzes Härchen, dann faßte ich ihre Hände und drückte sie. Sie war kalt wie Eis und zitterte, aber sie sah nicht auf und that die Hände nicht von den Augen. Ich wandte mich abermals zu gehn, und diesmal wäre ich nicht wiedergekommen. Aber hinter mir hörte ich leise Füße auf dem Wiesenpfade mir nachlaufen. Sie umfaßte mich vom Rücken mit beiden Armen, sie sah mir ins Auge und sagte: ‚Also Du hast mich wirklich noch lieb, und Du kannst mir verzeihen?‘

Ich drückte sie herzlich an mich, wie in der Zeit unserer alten Liebe. Sie sah mir fest in die Augen und konnte gut genug lesen, was darin geschrieben stand. Die Pein meiner Seele floß dahin wie ein Bach, ich hatte im Leben wieder etwas zu thun, und mir war es, als könnte ich nicht nur Versöhnung finden, sondern auch Glück.

Aber auch eine jähe Angst befiel mich, daß grade jetzt sie mich fangen könnten, wo ich wieder zu leben wünschte. ‚Wir müssen heute fort,‘ rief ich, ‚gleich. Kannst Du bei Deiner Frau Dich aus dem Dienst losmachen?‘

‚Ach Gott,‘ sagte Anna, ‚ich esse ja eigentlich das Gnadenbrod bei ihr. Sie sagt mir’s auch oft genug, daß ich gehen kann, wann ich will. Mein Bündel ist rasch gepackt.‘

‚Dann trag mir das Kind dort in die Erlen,‘ sagte ich, ‚ich will’s hüten, bis Du mit Deinen Sachen kommst, und dann fort auf der Stelle!‘

Sie ging. Ich war allein mit Dir unter den Bäumen und hatte Dich mir auf die Kniee gelegt. Wenn eine Fliege um Dich summte und Du im Schlaf danach schlugst, hob ich Dich auf die Arme und schaukelte Dich. Wenn dann Dein Köpfchen an meinem Herzen lag, so fühlte ich, es war wie ein Balsam, der die bittere Wunde drinnen kühlte und leise zuschloß. In der Stunde habe ich mit Freudenthränen gelobt, Dir ein treuer und guter Vater zu sein – und ich meine, Aloys, ich habe es gehalten.“

Ein herzlicher Druck von der Hand des Jünglings belohnte den Vater.

„Und so kam die Mutter daher mit einem kleinen Bündel, worin Dein Kindszeug war; ich nahm ihr das Bündel ab, sie nahm Dich auf den Arm, und so bist Du schlafend aus Deiner Heimath getragen worden. Wir wanderten ruhig die Straße im Thal herunter und erreichten noch am Abend den Rhein. In Antwerpen kaufte ich ihr ordentliche Kleider und ging an den Hafen, um ein Schiff zu suchen. Da traf ich den Capitain des Schiffes, mit dem ich zurückgekommen war, er kannte mich und gab mir auch für Mutter und Kind gleich Passage, obwohl sie keinen Paß hatten. Ich hatte Geld genug, um die Mutter als Cajütenpassagier einschreiben zu lassen: da hatte sie mit Dir Raum genug, gute Luft und prächtige Nahrung. Ich selber ging ins Zwischendeck.

Die ersten Tage litt die Mutter wohl von der See, aber dann war es eine Wonne zu sehen, wie sie wieder aufblühte in dem reinen Gottesathem des Meeres, und auch Fülle der Nahrung hatte für Dich. Als wir nach drei Wochen in New-York landeten, war sie wieder eine schöne gesunde Frau, an Dir war kein Mälchen mehr von Ausschlag; Deine Aeugelchen waren rein und munter, und Du warst ein netter kleiner Kerl geworden.

In New-York ließen wir uns trauen und fuhren mit Dir nach Hoboken in eine deutsche Gartenwirthschaft. Da gaben wir Dir frische Milch von der Kuh zu trinken, und wir tranken Lagerbier und aßen ein gutes Mahl. Sonst war kein Hochzeitsgast bei uns, das war unser Trauungsfest.

Ein paar Jahre haben wir dann noch dienen und sparen müssen, aber es gelang uns, zusammen Arbeit zu bekommen, ich als Knecht und sie auf derselben Farm für die Milchkühe und die Käserei. Als aber mehr Kinder kamen, da dachten wir, es wäre nun Zeit einmal an das eigne Haus zu denken: ich schaffte an, was man für eine Blockhauswirthschaft in den Hinterwäldern braucht, kaufte einen Wagen mit Zugvieh und setzte die Mutter und die kleinen Kinder darauf. Du liefst da schon manchmal nebenher, betteltest mich um die Geißel und hattest große Freude, wenn Du mir halfst die Ochsen treiben. So kamen wir hierher auf die Prairie, und da mit Gottes Hülfe sind wir nun und hoffen zu bleiben. Zwölf Jahre bin ich glücklich gewesen mit der Mutter, bis das Neubruchfieber sie uns nahm. Die alte Angst ist niemals wiedergekommen, und heut hast auch Du Dich mit mir versöhnt. Ich freue mich, daß ich gewagt habe, durchs Leben zu büßen, statt durch den Tod!“




Ueber dieser letzten Erzählung war der Morgen herangekommen; der Kukuk der Uhr, der inzwischen oft gerufen hatte, verkündigte jetzt die fünfte Morgenstunde, und prächtig ging die Sonne östlich über dem Walde auf und warf ein zitterndes Netz von Silber über die bethaute Prairie. Drunten klopfte es an der Hausthüre. Aloys trat ans Fenster, es waren drei Männer aus den Nachbarn. „Oeffne, junger Mann,“ sagte Straites der Amerikaner, „wecke den Capitain und laß ihn wissen, wir kommen als Deputation zu ihm.“

„Der Vater ist wach,“ sagte Aloys und ging hinab, um die Thüre zu öffnen.

Die drei Männer traten ein und boten dem Capitain die Hand. „Wie ich Euerm jungen Mann sagte, Mister Wölfling,“ begann Straites, „wir kommen als Deputation zu Euch von den Männern der republikanischen Partei in unserer Gemeinde, die gestern Abend noch ein Special-Meeting gehalten haben.“

„Setzt Euch, Nachbarn,“ sagte der Hausherr. „Ihr trefft uns noch vom Abend her beim Wein. Aloys, reich’ den Herren die Flasche. Bedient Euch!“

„Danke Euch, nein,“ sagte Straites. „Kein Wein am frühen Morgen, und kein starkes Getränk, ehe die Geschäfte abgethan sind. Hört also, wenn’s Euch gefällig ist.

Wir haben den Mann von drunten aus der Township, der als Euer Gegencandidat für Friedensrichter läuft, ersucht, diese Nacht hier zu bleiben und uns genau zu sagen, wie es mit der Anklage steht, die er gestern Abend gegen Euch erhob. Er ist unser Gegner in der Politik, aber wir sind der Meinung, daß er sonst ein ehrlicher Mann ist und kein schlechter Bürger. Wir calculiren nun, die Sache steht so. Erstlich: Ihr habt in Eurer Heimath drüben einen Mann getödtet, den Ihr wegen Eurer verstorbenen Frau haßtet. Wie es dabei zugegangen ist, weiß der Mann nicht, wir wissen auch nicht, ob es Nothwehr gewesen ist oder Todtschlag oder Mord. Gott allein ist dabei gewesen, und mit dem habt Ihr die Sache abzumachen. Was ein Mann drüben im alten Lande gethan, darüber richten wir nicht; wir urtheilen, daß ein Jeder einen neuen Menschen anzieht im Augenblick, wo er amerikanischer Bürger wird. Wäret Ihr nun noch dem Gesetz Eures Landes verfallen, so möchten wir wohl keinen zum Richter haben, auf den das Gesetz einen Anspruch hätte. Aber Euer Landsmann hat uns berichtet, daß jener Mann ist todt gefunden worden vor mehr als fünfzehn Jahren, und die That ist verjährt auch nach dem Recht Eures Landes. Nun aber [712] haben Eure Nachbarn Euch gesehen und gekannt all die Zeit her, und ich kenne Euch am längsten als Euer ältester Nachbar. Wenn Ihr einmal gefehlt habt gegen Gottes Gesetz, so habt Ihr in einem langen Leben voll Gutthaten das wett gemacht. Euer Landsmann hat uns aber auch gesagt, daß Ihr des Sohnes Eures Feindes Euch menschlich angenommen habt. Eure Nachbarn vermuthen, dies sei der junge Mann Aloys, der hier vor uns steht.“

„Er ist es,“ sagte der Capitain mit Stolz.

„Wenn also dem so ist,“ fuhr der Sprecher mit unerschütterlichem Gleichmuth fort, „so sehen Eure Nachbarn deutlich den Finger der Vorsehung darin, daß dies Kind der Sünde auserwählt war, in jener Nacht uns Allen das Leben zu retten. Daß aber dieser Knabe lebt und als wackerer Bürger sich gezeigt hat schon in den Kinderschuhen, das danken wir nächst Gott Euch und Eurem wackern Herzen, Capitain. Also lassen Eure Nachharn Euch wissen, daß sie heut wie gestern gewillt und, Euch die Ehre anzuthun, die Ihr um uns verdient habt. Wir haben unsern Canvaß gestern Abend neu gemacht, und wir bürgen Euch, daß wir Eure Wahl zum Friedensrichter mit fünfunddreißig Stimmen Mehrheit durchsetzen werden.“

Der Capitain wollte reden, der Amerikaner fiel ihm ins Wort.

„Sprecht nicht zu rasch, Nachbar,“ sagte er. „Wir sehen wohl, daß jetzt, wo Eure deutsche Vergangenheit so plötzlich an den Tag gezogen ist, es Euch schwer ankommen wird, Euer Licht so recht oben auf den Scheffel zu stellen. Aber wir meinen, es sei Eure Pflicht unser Candidat zu bleiben, denn einen andern können wir jetzt in der elften Stunde nicht mehr aufstellen, und wenn Ihr uns Nein sagt, so siegen in unsrer braven Township die Sclavenhalter, was Gott verhüten wolle. Ihr habt einmal in schwerer Stunde an Eurem verstorbenen Weib und an diesem Knaben gezeigt, daß Ihr begreift, was Pflicht heißt, und so vertrauen wir, Ihr werdet auch heut Eure Pflicht kennen als amerikanischer Bürger und als Mann einer wackern Partei, die die Freiheit will für die Union und für die ganze Welt, und werdet diesen Beweis von Achtung annehmen, den Euch Eure Mitbürger darbringen möchten. Und nun Ihr unsre ganze Meinung wißt, Mann, nun sprecht, wenn es Euch gefällig ist. Denn um neun Uhr hebt das Meeting der gesammten Township wieder an, und unsre Committenten müssen wissen, wie sie zu handeln haben.“

Der Capitain stand auf, legte seine Hand auf Aloys’ Schulter und hob sein Haupt freudig empor. „Seit heut Nacht,“ sagte er, „wo ich diesem jungen Mann Alles offenbart, habe ich keine Angst mehr wegen dessen, was hinter mir liegt, und ich fühle mich stark für Alles, was noch vor mir liegen mag. Gebt mir die Hand, liebe Nachbarn und Freunde, und danket den Herren, die Euch gesandt haben, für ihr Vertrauen. Ich weigere mich keiner Pflicht mehr, die das Leben mir bringt, und wollet Ihr mich wählen, so will ich versuchen Euch ein braver und treuer Richter zu sein.“




Blätter und Blüthen.


Streifzüge eines Feldmalers. III. (Mit Abbildung.) Die Details des entsetzlichen Rückzuges der Bourbaki’schen Armee sind unseren Lesern noch in guter Erinnerung. Wir haben in Bild und Text eine ausführliche Beschreibung jenes unglückseligen Uebergangs über die Schweizer Grenze gebracht, der, wie wir schon damals äußerten, in seinen Einzelnheiten gewiß ein noch ergreifenderes Bild von dem Elend und den Scheußlichkeiten des Krieges dargeboten hat, als der berüchtigte Uebergang der weiland großen Armee des ersten Napoleon auf ihrem Rückzuge aus Rußland über die Beresina. Aus diesen Tagen des Schreckens und des Entsetzens nun erzählte ein Husar, der jene Kämpfe unter Werder’s und Manteuffel’s siegreicher Leitung mitgemacht hatte, Folgendes, das unserm Feldmaler Christian Sell als Vorwurf zu seinem heutigen Bilde diente:

„Ueberall stießen wir bei unserer Verfolgung auf die entsetzlichen Trümmer dieser in allen ihren Elementen aufgelösten Armee. Oft genug empfingen wir den Eindruck, wie wenn zuletzt den Fliehenden gar nicht mehr daran gelegen sei, die nahe Grenze der neutralen Schweiz zu erreichen; sie waren so stumpf und willenlos geworden, daß sie sich schließlich in jedes Schicksal fügten und sich wiederholt in Trupps von dreißig und vierzig Mann durch Husarenpatrouillen von zwei und drei Mann gefangen nehmen ließen. Sie wollten nur um jeden Preis ein Ende ihres augenblicklichen Jammers herbeigeführt wissen; denn schlimmer konnte es für sie in keinem Falle mehr kommen. Wie bitter kalt es in jenen Tagen des Januar war, ist bekannt; da suchten denn die herrenlosen, todtkranken Pferde zu großen Haufen in den Dörfern oder Gebirgsschluchten Schutz gegen den eisigen Wind und unerträglich scharfen Frost; Menschenleichen, tief im Schnee liegend, bezeichneten den Weg, den die fliehende Armee genommen; Waffen und Armaturstücke jeder Art bedeckten unabsehbar den Boden.

An der Spitze einer Patrouille passirte ich einen Hohlweg, der voll von Pferdeleichen war. Plötzlich stutzte mein Pferd; schon glaubte ich auf einen Feind gestoßen zu sein, der sich vielleicht in seiner letzten Verzweiflung noch zur Wehr setzen wolle, und machte mein Gewehr fertig, als ich hinter einem Felsblock sich langsam eine Hand emporheben sah. Es war ein ganz erschöpfter französischer Soldat, mit wunden Füßen und halb mit Schnee bedeckt. Der Arme, starr von Kälte, hatte in dieser fürchterlichen Lage schon mehr als vierundzwanzig Stunden zugebracht.

Im Nu war ich aus dem Sattel, meine Feldflasche mit Rothwein in der Hand. Schon ein paar Tropfen, die ich mühsam durch seine Lippen preßte, schienen ihm wohl zu thun. Sprechen konnte er vor Schwäche nicht und so übergab ich die Jammergestalt meinen nachfolgenden Cameraden von der Infanterie, die auch für seine Fortschaffung sorgten. Als ich von meinem Patrouillenritt heimkehrte, vernahm ich, daß man den Kranken an die Aerzte überliefert hatte und daß er in guter Pflege war. Ich ließ mich einen Gang nach der Ambulance nicht verdrießen. Obgleich ich nun schon seit Wochen, ja Monaten so viele französische Kranke und Verwundete um mich gesehen hatte, deren Schicksal mir natürlich durchaus gleichgültig geblieben war, kümmerte mich doch das Loos dieses Einzelnen, dem mich ein glückliches Geschick in dem Augenblick zugeführt hatte, als das Licht seines Lebens gewiß am Verflackern gewesen war. Die Aerzte hofften ihn denn auch zu retten, obschon sein Körper von den überstandenen Strapazen auf’s Aeußerste gelitten hatte. Aber Jacques Dubois – so hieß der Franzose – war noch jung und mit jedem Tage erholte sich seine Gesundheit mehr und mehr. Ich besuchte ihn, so oft es mir der Dienst gestattete, und Dubois erzählte mir von seiner Heimath. Er war der Sohn eines Uhrmachers und in der Nähe von Lyon zu Hause. Er gehörte zu den Vernünftigeren unter den Franzosen, die ich im Laufe des Krieges hatte kennen lernen, und verschloß sich nicht gegen die Erkenntniß der bittern Wahrheit, daß alles dies Unglück sich über Frankreich hatte erfüllen müssen.

‚O,‘ rief er einmal mit blitzendem Auge, ‚wir sind tapfer, wie Ihr, aber wir waren Alle betrogen – von unserer Regierung, von unseren Priestern, von unseren Generälen, von unseren Eltern, von uns selbst.‘

Später ward Jacques Dubois in die Gefangenschaft nach Deutschland gebracht; wir nahmen herzlichen Abschied, und Dubois, so niedergeschlagen ihn der Anlaß machte, der ihn aus Frankreich entführte, schien es doch nicht ungern zu sehen, daß er Gelegenheit erhielt, das von seinen Landsleuten so gründlich geschmähte Deutschland einmal aus eigener Anschauung kennen zu lernen.

Der Eindruck scheint kein ungünstiger gewesen zu sein; denn während der Tage des Friedensschlusses erhielt ich von Jacques Dubois plötzlich und unerwartet einen Brief, in welchem er mir seine Freude aussprach, nun bald wieder in sein schönes Frankreich zurückkehren zu können, und das Bedürfniß, mir für diese Freude, deren Möglichkeit er allein mir, seinem Lebensretter, zuzuschreiben habe, gerade in dem Augenblick, da sich die französische und deutsche Nation wieder versöhnt die Hände reichen wollten, noch einmal herzlich zu danken. ‚Ich habe,‘ schloß sein Brief, ‚Ihr Volk achten und kennen lernen, ich werde das auch zu Hause offen sagen – ach, ich wiederhole es Ihnen, wir waren Alle betrogen.‘

Selbstverständlich ließ ich diese freundlichen Zeilen nicht ohne Erwiderung, weiß aber nicht, ob mein Brief an seine Adresse gekommen ist, denn bis heute habe ich von Jacques Dubois nichts mehr gehört.“




Die letzte Reise.
(Mit Abbildung.)

Der Schlitten harrt am Thore. Geht an’s Scheiden!
Die Fahrt ist kurz, das Ziel ist Allen nah’.
Die Fahrt ist kurz – oft erst nach langen Leiden,
Das Ziel ist nah’ – doch Keiner lebt, der’s sah!

5
Und darum rüstet sich in seiner Weise

Ein jeglich Volk zu dieser letzten Reise.

Denn wo der Himmel ewig blau, da nicken
Die Blüthen heiter auf der Menschen Weh’,
Und wo der Himmel ewig grau, da blicken

10
So ernst von Baum und Dache Reif und Schnee;

Dort unter Palmen, hier in Nordlands Eise –
Und immer ist es doch dieselbe Reise.

Und immer ist es auch dasselbe Klagen,
Ob Reich, ob Arm vor dem Gefährte steht,

15
Und wer zu arm zum Fahren, wird getragen

Auf diesem Weg, den Niemand selber geht.
Bald lang und laut Geleit’, bald einsam, leise –
Und immer ist es doch dieselbe Reise.

Wie wunderbar im Kindesauge spiegelt

20
Sich das Begräbniß ab als Spiel und Zier! –

Ist das Geheimniß ewig doch versiegelt –
Sie wissen ja soviel davon als wir!
Sie sehen’s lächelnd, zitternd sehn’s die Greise –
Und immer ist es doch dieselbe Reise.

25
Großvater, sprich den Spruch und lass’ uns beten!

Was hilft das Jammern, Mutter, lass’ ihm Ruh’!
Er hat nun längst den letzten Weg betreten –
Wer weiß, wie bald ihm folgen ich und du! –
So schlafe wohl in Nordlands Schnee und Eise!

30
Die letzte Thräne dir zur letzten Reise!
Fr. Hfm.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Und die musikalische Affaire mit Joachim?
    D. Red.