Die Gartenlaube (1890)/Heft 7

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[197]

Halbheft 7.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Madonna im Rosenhag.

Roman von Reinhold Ortmann.


Wer sich um die achte Abendstunde eines unfreundlichen und regennassen Berliner Herbsttages von der gewaltigen Menschenwelle forttragen läßt, welche unaufhörlich durch die lange, schnurgerade Friedrichstraße fluthet, der darf nicht fürchten, durch sein Aussehen oder sein Gebahren die Aufmerksamkeit gar so leicht auf sich zu lenken. In diesem unendlichen Strome geschäftigen Vorwärtstreibens, in diesem beständigen Drängen, Hasten und Durcheinanderwinden ist für den einzelnen kaum die Möglichkeit zu müßigen Betrachtungen gegeben. Selbst über auffällige und sonderbare Erscheinungen, wie sie in der Hauptverkehrsstraße einer Millionenstadt niemals fehlen, gleitet das Auge in flüchtigem Erstaunen hinweg, und schon die nächste Sekunde verwischt mit einem völlig veränderten Bilde den befremdlichen Eindruck, welchen eine Seltsamkeit vielleicht erzeugte.

So konnte denn auch eine hagere, schlottrige Männergestalt, nach der sich auf einer weniger belebten Promenade wahrscheinlich mancher neugierige Blick gewendet haben würde, unbelästigt und unbemerkt durch das Gewühl dahinwandern. Selbst da, wo die elektrischen Bogenlampen am Eingang einer Bierstube oder die blendenden Reflektoren eines prächtigen Schaufensters ihr scharfes Licht voll auf den Vorübergehenden warfen, wäre es schwer gewesen, mit einiger Wahrscheinlichkeit auf sein Alter oder seinen Stand zu schließen. Der magere Körper mit den langen Armen, den abfallenden Schultern und der flachen Brust hatte etwas von dem Aussehen einer in ihrer Entwicklung verkümmerten Jünglingsgestalt; aber in dem blassen, bartlosen, hohlwangigen Gesicht waren einige fast greisenhafte Züge. Und doch war dies von leicht gewelltem, dunklem Haar umgebene Antlitz nicht eigentlich häßlich zu nennen. Es trug das unverkennbare Gepräge eines geweckten Geistes, und der kleine, fast weibisch zart gebildete Mund gab ihm einen merkwürdig rührenden Ausdruck von Sanftmuth und Geduld. Dafür, daß er nicht den vom Glücke Auserwählten unter den Sterblichen beizuzählen sei, sprach die mehr als bescheidene Kleidung des Mannes deutlich genug. Sie war aus schlechtem Stoffe und schlotterte so ungeschickt und faltig um seine Glieder, als sei sie für einen ungleich

Nach des Tages Mühen.0 Von Ed. Grützner.
Photographie im Verlage der „Photographischen Union“ in München.

[198] beleibteren Träger angefertigt worden. – Mit leicht gesenktem Kopfe, über dessen Stirn der weiche, breitrandige Filzhut tief herabgezogen war, wand sich der Mann durch den Menschenstrom. Sicherlich war von all den Tausenden kaum ein einziger so ängstlich wie er darauf bedacht, den Entgegenkommenden aus dem Wege zu gehen und jede unsanfte Berührung mit einem von ihnen zu vermeiden. Nicht auf seiner Seite konnte deshalb das Verschulden liegen, als ein vierschrötiger, gefährlich aussehender Bursche mit hoher, weit auf den Hinterkopf zurückgeschobener Stoffmütze breit und wuchtig gegen seinen gebrechlichen Körper prallte. Der Gestoßene taumelte um ein Stück zurück, und ein leiser Ausruf des Schmerzes oder des Schreckens kam von seinen Lippen. Der andere aber, der den kleinen Unfall anscheinend absichtlich herbeigeführt hatte, faßte den Griff seines derben Knotenstockes fester und pflanzte sich in drohender Haltung vor seinem Opfer auf.

„Was haben Sie gesagt?“ herrschte er ihn an, und seine stieren, vom Glänz des Branntweins erfüllten Augen weissagten nichts Gutes. „Wollen Sie etwa schimpfen?“

Die zunächst Befindlichen blieben stehen, und innerhalb einer einzigen Sekunde hatte sich ein dichter Kreis um die beiden geschlossen. Einzelne Rufe wurden laut, die sehr unzweideutig verriethen, daß die Stimmung der Zuschauer eine für den Burschen mit der Mütze wenig günstige sei und daß der andere auf den nachdrücklichen Beistand der Menge rechnen könne, wenn er die Frechheit des Raufbolds gebührend zurückwies.

Aber es hatte nicht den Anschein, als ob der greisenhafte Jüngling sich dadurch ermuthigt fühlte. Mit einem Ausdruck namenloser Angst irrten seine Augen an der lebendigen Hecke dahin, die so plötzlich um ihn her emporgewachsen war, und seine Gestalt fiel noch mehr in sich zusammen, während er sich mit zitternder Hast gegen seinen Angreifer wandte:

„Ich habe gar nichts gesagt – nicht ein einziges Wort. Und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie belästigt habe. Es – es ist gewiß nicht mit Absicht geschehen.“

„Hasenfuß!“ rief in verächtlichem Ton einer aus der Menge, und spöttisches Gelächter folgte der allzu bereitwilligen Entschuldigung. Der Bursche mit der Mütze schaute triumphirend umher, klemmte seinen Knotenstock wieder unter den Arm und brach sich, einige unfläthige Worte vor sich hin brummend, rücksichtslos Bahn durch die Menge. Der andere aber war in dem nämlichen Augenblick, in welchem die Gasse sich geöffnet hatte, verschwunden, als ob die Erde ihn verschlungen hätte.

Wie ein Verfolgter schlüpfte er, dicht an die Mauern der Häuser gedrückt, durch die volkreiche Straße weiter. In seinem Gesicht zuckte es seltsam, und seine Fäuste hatten sich krampfhaft geballt; aber seine Haltung war scheu und gedrückt wie zuvor, und sein Kopf war so tief zwischen die Schultern gezogen, als hätte er sich am liebsten völlig unsichtbar gemacht vor allen zudringlichen und neugierigen Blicken.

In eine der letzten Seitenstraßen vor dem Belle-Allianceplatze bog er ein, und hier verlangsamte sich um ein Geringes die Hast seiner Schritte. Die Häuser waren da zum größten Theil alt und unansehnlich; nur in wenigen von ihnen hatte man die Gepflogenheit der vornehmeren Städttheile nachgeahmt, die Straßenthür verschlossen zu halten, und fast überall war darum der Einblick in die dunklen, wenig einladenden Höfe freigegeben.

In einen dieser weitgeöffneten Thorwege spähte der Mann so vorsichtig hinein, als gehörte es zu den wahrscheinlichsten Dingen, daß sich dort Diebe und Meuchelmörder versteckt hielten. Aber es war nichts da als ein kleiner dicker Bäckerlehrling mit nackten Armen und mit mehlbestäubten Pantoffeln an den bloßen Füßen, der pfeifend auf- und niederging. Der Mann auf der Straße blieb eine Weile unschlüssig im Schatten der Mauer stehen; dann aber, da der Bäckerbursche durchaus nicht Miene machte, seinen Posten zu verlassen, huschte er rasch hinein und eilte an dem jungen Menschen vorbei die Treppe hinauf. Sein Athem ging schnell von der Anstrengung des hastigen Steigens, als er auf dem Flur des dritten Stockwerks stehen blieb. Er lüftete den Hut und wischte sich den Schweiß ab, der in dicken Tropfen auf seiner hohen, schmalen Stirn perlte. Es war das Gebahren eines Menschen, welcher das Bewußtsein hat, soeben einer furchtbaren Gefahr mit genauer Noth entronnen zu sein.

Unter dem Griff des Glockenzuges im dritten Stock war eine ganze Reihe von Visitenkarten befestigt; die Glasthür aber war unverschlossen. Sie öffnete sich auf einen langen, halbdunkeln Gang, an dessen beiden Seiten man nur unbestimmt eine Anzahl von Thüren erkennen konnte. Behutsam tastete sich der Mann bis zu der letzten derselben hin und öffnete sie mit einem aus der Tasche gezogenen Schlüssel. Ein schmales, enges Zimmerchen, das nicht mehr als die nothwendigsten Einrichtungsgegenstände enthielt, nahm ihn auf. Wohl eine Viertelstunde lang blieb er wie in völliger Erschöpfung auf einem Stuhl im Finstern sitzen, ehe er sich dazu aufraffte, mit unsicheren Bewegungen die auf dem Tische stehende Kerze anzuzünden. Schreibgeräthe und einige Blätter weißen Papiers lagen daneben, und der Bewohner des Stübchens rückte sie zurecht, als wollte er bei dem unsicheren Licht des flackernden Kerzenflämmchens zu schreiben versuchen. Aber er legte die tintennasse Feder wieder hin, ohne einen Strich gethan zu haben. Die Erregung zitterte wohl noch zu heftig in seinen Nerven nach. Drei- oder viermal ging er in dem kleinen Raume auf und nieder; dann rückte er seinen schlechtsitzenden Halskragen zurecht, zupfte an dem schlotternden Rocke, ohne ihm damit freilich ein besseres Aussehen geben zu können, und ging nach sekundenlangem Zaudern auf den Fußspitzen hinaus und die Hälfte des finsteren Ganges zurück.

Sein Klopfen an die Thür, vor der er eine geraume Weile regungslos gestanden hatte, war in seiner Zaghaftigkeit kaum vernehmlich. Von drinnen aber klang sogleich eine jugendlich helle, wohltönende Frauenstimme:

„Wer ist da? – Sind Sie es, Herr Hudetz?“

„Ja, Fräulein von Brenckendorf, ich bin es!“ erwiderte er fast flüsternd. „Aber wenn ich Sie auch nur im geringsten störe –“

Ein Riegel wurde zurückgeschoben und ein Strom freundlich hellen Lampenlichtes fiel aus der geöffneten Thür auf die demüthige Gestalt des Einlaß Heischenden.

„Nein, Sie stören mich durchaus nicht. Treten Sie nur näher! Mein Tagewerk ist gethan, und ich kann mir’s wohl gönnen, eine halbe Stunde zu verplaudern.“

Die so mit gewinnender Liebenswürdigkeit zu dem scheuen Besucher gesprochen hatte, war eine junge Dame von höchstens zwanzig Jahren. Obwohl ihr Anzug nicht gerade fein zu nennen war, denn sie trug eine große graue Malschürze über dem einfachen Kleide, sah sie doch vornehm genug aus, um den Gegensatz zu ihrem Gaste noch auffälliger und wunderlicher hervortreten zu lassen. Ihre hohe, schlanke und bei aller jungfräulichen Zartheit prächtige Gestalt, ihr zierliches, mit reichem, lichtblondem Haar geschmücktes Köpfchen, auf dessen schönem Gesicht ein warm rosiger Hauch von Jugendfrische und lebensprühender Gesundheit lag, machten den andern neben ihr noch hundertmal armseliger und hinfälliger, als er vorhin im Gewühl der Straße erschienen war. Und die gebeugte Haltung seines hageren Körpers, die hastigen, anmuthlosen Bewegungen seiner langen Glieder nahmen sich ungeschickt und plebejisch aus neben ihrer ruhigen, anmuthigen Sicherheit, die in solcher Vollendung nur das Ergebniß eines Zusammenwirkens von natürlicher Anlage und vortrefflicher Erziehung sein konnte.

Sie hatte ihm unbefangen die schmale, weiche Hand zum Gruße geboten, und er nahm sie für einen Augenblick in die seine, die so abgezehrt und so brennend heiß war wie die eines Fieberkranken.

„Ich kann nicht arbeiten,“ sagte er, „ich glaube, es ist diese schreckliche Einsamkeit, die keinen vernünftigen Gedanken mehr in meinem Kopfe reifen läßt.“

Ohne ihre Einladung abzuwarten, hatte er sich auf den äußersten Rand eines Stuhles niedergelassen, der in der beschatteten Ecke neben dem Fenster stand. Es war, als ob er stets von einem unbewußten Verlangen geleitet werde, sich so klein und so unscheinbar zu machen, als die Umstände es nur immer erlaubten.

„Die Einsamkeit, Herr Hudetz?“ fragte lächelnd die junge Dame, welche er vorhin als Fräulein von Brenckendorf angeredet hatte. „Klagten Sie nicht erst vor kurzem darüber, daß Sie gezwungen wären, sich fast während des ganzen Tages unter den Menschen zu bewegen?“

Er strich sich das dunkle Haar aus der Stirn und sah mit einem leeren Blick vor sich hin.

„Unter den Menschen – das ist es ja eben! Ich fühle meine Vereinsamung nirgends so tief als gerade da. Haben nicht alle diese Leute tausendfältige Beziehungen unter einander in Freundschaft und Feindschaft, in Liebe und Haß? Ist nicht [199] selbst der Verlassenste unter ihnen durch irgend ein gemeinsames Interesse noch mit hundert Fäden an andere geknüpft?“

„Gewiß! Aber ich meine, das müßte ein wenig doch auch auf Sie zutreffen. Und haben Sie sich denn wirklich jemals ernstlich bemüht, die Freunde zu finden, deren Dasein Sie jetzt vermissen?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich bin einer von denen, die das Recht verwirkt haben, um Liebe und Freundschaft zu werben. Glauben Sie nicht, Fräulein von Brenckendorf, daß es Menschen giebt, die mit dem Unglück behaftet sind wie mit einer ansteckenden Krankheit? Man muß sich hüten, Gemeinschaft mit ihnen zu haben.“

Er sprach immer mit gedämpfter Stimme, in einer eigenthümlich eintönigen Weise, die seine Worte noch melancholischer machte. Auf dem Gesicht seiner jungen Zuhörerin zeigte sich etwas wie ein leichtes Unbehagen.

„Sie sind heute in übler Stimmung, Herr Hudetz, und Sie sehen ein wenig angegriffen aus. Darf ich Ihnen eine Tasse Thee bereiten?“

Hudetz machte eine verneinende Bewegung.

„Sie sollen sich nicht bemühen um meinetwillen! Es ist Güte genug, daß Sie mich zuweilen in Ihrer Nähe dulden. Aber es ist wahr: ich bin schlecht gestimmt heute, und ich hätte Ihnen nicht lästig fallen sollen.“

Er erhob sich von seinem Stuhlrand; aber er machte doch noch nicht Miene, zu gehen. Die junge Dame war an den Tisch getreten, auf welchem, in auffallendem Gegensatz zu der einfachen Zimmereinrichtung, eine schön gearbeitete, silberne Theemaschine stand. Das Licht der Lampe fiel hell auf das hübsche Gesicht des Mädchens und auf die schlanken, weißen Hände, die das Spiritusflämmchen unter dem Kessel entzündeten. Und den Besucher schien dieser Anblick mit magnetischer Gewalt zu fesseln. Den Kopf ein wenig auf die Seite neigend, betrachtete er sie unverwandt, wie man ein prächtiges Gemälde betrachtet, mit weit geöffneten Augen und einem seltsam weltvergessenen Ausdruck des blassen Antlitzes.

Fräulein von Brenckendorf hatte ihn nicht aufgefordert, zu bleiben; da er aber trotz seiner letzten Worte nicht geneigt schien, zu gehen, sagte sie, ohne daß der Klang ihrer Stimme an herzlicher Freundlichkeit verloren hätte: „Sie sind ja ein Kunstverständiger, Herr Hudetz! – Wollen Sie mich nicht Ihr Urtheil über die kleine Malerei da vernehmen lassen, mit der ich heute glücklich – oder muß ich sagen: unglücklich? – fertig geworden bin?“

Bei ihrer Anrede war er sichtlich zusammengefahren wie jemand, der aus tiefem Nachdenken aufgeschreckt wird. Nun aber trat er ohne weiteres an die im hellen Lichte stehende Staffelei und entfernte die leichte Hülle von dem darauf befindlichen winzigen Rahmen. Das weißseidene Blatt eines Ballfächers kam zum Vorschein, und einige in zarten Farbentönen ausgeführte, geflügelte Amorettengestalten, die zwischen den Ranken eines blühenden Apfelzweiges ihr Wesen trieben, bildeten die von der jungen Dame erwähnte Malerei.

Hudetz betrachtete das kleine Werk sehr lange; aber er sagte kein Wort.

„Nun?“ kam es endlich ermunternd vom Theetische herüber. „Wenn es Ihnen so schwer wird, Ihre Kritik zu äußern, muß ich ja wohl fürchten, daß sie nicht sonderlich günstig sei.“

Er wandte ihr das Gesicht wieder zu und entgegnete in seiner melancholisch eintönigen Weise: „In der That, Fräulein von Brenckendorf, ich finde das Bildchen nicht gut, wenigstens nicht gut genug für ein Werk von Ihrer Hand.“

„Ist das etwa eine verschleierte Schmeichelei?“ fragte die Getadelte ohne Empfindlichkeit zurück. „Meinen Sie, daß ich Talent genug habe, Besseres zu leisten?“

„Nein! Nach allem, was ich bisher von Ihnen gesehen habe, fürchte ich eben, Sie haben es nicht. Es ist nichts als mittelmäßige Dilettantenarbeit, und gerade Sie sollten die edelste aller Künste nicht zu solchen Handwerksdiensten erniedrigen. Ist es denn möglich, daß Sie diese Art unfruchtbaren Schaffens nicht selber wie eine beständige Demüthigung empfinden?“

Das schöne Gesicht des jungen Mädchens war nun doch sehr ernst geworden, und die Tassen, mit denen sie sich zu schaffen machte, klirrten leise zusammen. „Es ist mein Broterwerb, Herr Hudetz,“ sagte sie, „die Waffe, mit der ich den Kampf ums Dasein führe. Es ist nicht meine Schuld, wenn das Schicksal mich nicht besser ausgerüstet hat für diesen Kampf.“

„Nein, Sie können wahrhaftig nicht geschaffen sein, um zu kämpfen!“ erwiderte er, indem er abermals mit dem vorigen weltvergessenen Ausdruck zu ihr hinüberstarrte. „Ich weiß nicht, wie es zugeht; aber so oft ich Sie sehe, ist es mir immer, als wären Sie nur in einer Verkleidung oder in einer Verzauberung, wie die Königstöchter aus den Kindermärchen. Kennen Sie Rubens’ Porträt der Elisabeth von Frankreich?“

„Nein, ich kenne es nicht,“ gab sie zurück, und es war trotz aller Freundlichkeit etwas wie vornehme Ablehnung in ihren Worten, „aber ich bin nichts destoweniger überzeugt, daß Sie mir ganz unverdiente Ehre erweisen, wenn Sie mich etwa mit demselben vergleichen wollen. Seien Sie versichert, daß ich nichts anderes bin, als ich augenblicklich zu sein scheine, und daß ich mich leider niemals als eine verkleidete oder verzauberte Prinzessin entpuppen werde!“

„Sie wissen wohl, daß meine Worte nicht buchstäblich zu nehmen waren,“ beharrte er, ohne Verständniß für ihren Wunsch, dies Thema abgebrochen zu sehen. „Auch war es nicht gerade meine Absicht, Sie mit dem Bilde jener spanischen Königin zu vergleichen. Das ist ja eben das Wunderbare, daß Ihre Züge nicht die geringste Aehnlichkeit mit demselben haben, und daß ich doch den Gedanken an das Bild nicht los werden kann, sobald ich Ihnen ins Gesicht blicke. Etwas rein Geistiges, Unfaßbares muß es sein, das Sie mit ihm gemeinsam haben – das Anmuthig-Hoheitsvolle vielleicht, das bei aller Zartheit und Weiblichkeit wahrhaftig Königliche, welches jenes Porträt für mich zum herrlichsten aller Fürstenbildnisse macht. Ich würde es nicht glauben, wenn die Weltgeschichte erzählte, diese Elisabeth habe je etwas Unweibliches oder Unkönigliches gethan, und ebensowenig vermag ich es zu fassen, daß Ihre Hände es gewesen sein sollen, welche für den rohen Geschmack einer verständnißlosen Menge jene abscheulichen Photographien mit schreiend bunten Farben übermalt oder jene Putten mit der gezierten Haltung und dem unmöglichen Gliederbau geschaffen haben.“

Vielleicht würde die junge Dame sich nun doch veranlaßt gesehen haben, weitere Bekenntnisse ihres sonderbaren Besuchers durch eine unzweideutige Entgegnung abzuschneiden; aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen, als sie in diesem Augenblick draußen auf dem Gange eine kräftige Männerstimme sagen hörte:

„Jawohl, das Freifräulein Marie von Brenckendorf – mit Ihrer gütigen Erlaubniß! – Wollen Sie nicht die Freundlichkeit haben, mir mitzutheilen, durch welche von diesen dreihundert Thüren man zu ihr gelangen kann?“

„Ein Besuch für Sie!“ flüsterte Hudetz, sich hinter der Staffelei an die Wand drückend. In seinem auf die Thür des Zimmers gehefteten Blick war dieselbe tödliche Angst, mit welcher er vorhin auf der Straße das Zusammenschließen des fluchthemmenden Menschenringes beobachtet hatte.

Nun wurde ziemlich ungestüm geklopft, und ehe noch die junge Malerin ein „Herein!“ hatte aussprechen können, trat der neue Besucher über die Schwelle.

„Guten Abend, mein Herzensmariechen! – Wirf mich hinaus, wenn es nicht anders sein kann; aber gestatte mir wenigstens zuvor, Dir einen Kuß zu geben!“

Mit ausgebreiteten Armen war er neben der Thür stehen geblieben, und mit dem jubelnden Ausruf: „Wolfgang – lieber Wolfgang!“ flog Marie an seine Brust.

Hätte nicht die ungewöhnlich hohe und breitschultrige Gestalt des Fremden den einzigen Ausgang versperrt, welchen das Gemach außer der Thür zum Schlafzimmer besaß, so würde Hudetz unzweifelhaft diesen Augenblick benützt haben, um sich hinaus zu stehlen. Mit seinem scheu blickenden Augen, seiner in furchtsamer Erregung gekrümmten Gestalt und seinen schlaff herabhängenden Armen, deren Hände sich doch unwillkürlich zu Fäusten geballt hatten, gemahnte er an das Aussehen einer geängstigten Katze, die sich vielleicht widerstandslos todtschlagen, vielleicht aber auch von der Verzweiflung hinreißen lassen wird, ihrem Gegner ins Gesicht zu springen und ihm mit scharfen Krallen die Haut zu zerreißen.

Die Malerin mochte unter dem Eindruck mächtiger Ueberraschung seine Anwesenheit vergessen haben, die Augen des stattlichen Herrn aber, dem sie so bereitwillig erlaubte, ihre Lippen zu küssen, hatten die dürftige Gestalt rasch genug erspäht.

„Ah, ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er, ohne das Mädchen freizugeben, „Du hast einen Besuch.“

Mit einem kleinen Anflug von Verlegenheit hob Marie das Köpfchen.

[200]

Photogravüre im Verlage von Rud. Schuster in Berlin.
Des Königs jüngster Rekrut.
Nach einem Gemälde von Robert Warthmüller.

[201] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [202] „Es ist mein Nachbar, Herr Joseph Hudetz – Journalist, wenn ich nicht irre! Gestatten Sie mir, lieber Herr Hudetz, Sie mit meinem Bruder Wolfgang bekannt zu machen!“

Der Letztere neigte artig das Haupt, und auch Hudetz bewegte die Schultern in einer Weise, die wohl eine Verbeugung darstellen sollte. Aber seine Augen blieben nichtsdestoweniger unverwandt auf die Thür gerichtet, und als die beiden anderen nun weiter in das Zimmer herein traten, schob er sich bastig dem Ausgange zu.

„Sie werden verzeihen – ich kann – ich darf – ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.“

Mit lautlosen Schritten war er hinaus gehuscht wie ein Schatten. In lebhaftem Erstaunen blickte ihm Wolfgang von Brenckendorf nach. Aber rasch wandte er sich wieder seiner Schwester zu und rief in fröhlichem Tone:

„Da wäre ich also wieder, um nach fünfjähriger Trennung mein Schwesterchen zu umarmen. Nun, ich muß Dir auf Ehre und Gewissen versichern, daß Du Dich in diesen fünf Jahren viel prächtiger herausgemacht hast, als ich’s dem mageren Backfischchen von damals je zugetraut hätte. Bist Du zufrieden?“

„Von dem eigenen Bruder kann man sich’s ja am Ende gefallen lassen.“

„Natürlich erwarte ich, daß Du mir das Lob zurückgiebst. Ist mir die amerikanische Luft nicht recht gut bekommen?“

Sie gab sich neckend den Anschein, als ob sie ihn erst jetzt betrachte, und doch leuchtete ihr der freudige Stolz auf des Bruders schöne, männlich kraftvolle Erscheinung schon seit dem Augenblick der ersten Begrüßung aus den Augen.

„Nun ja, man muß sich nicht gerade schämen!“ meinte sie, ihm einen leichten Schlag auf die Wange versetzend. „Du hättest auch in einem schlimmeren Zustande wiederkommen können.“

„Auf zerrissenen Schuhen etwa, mit einem ungeheuren Knotenstock und einer rothen Nase! Ehrlich gesprochen, Schwesterchen: hast Du nicht manchmal im Stillen gefürchtet, daß sich eines Tages etwas derartiges ereignen könnte?“

„O nein, Deine Briefe ließen mir ja keinen Zweifel darüber, daß Du Dich in vortrefflichen Verhältnissen befindest.“

Sie hatte diese Worte etwas zögernd und nicht mehr mit jener übermüthigen Heiterkeit gesprochen, von welcher bis dahin ihr Geplauder erfüllt gewesen war. Wolfgang aber bemerkte es nicht, oder er gab sich doch den Anschein, es nicht zu bemerken.

„Ja, meine Briefe!“ meinte er, seine geschmeidige Gestalt behaglich in den Stuhl zurücklehnend. „Es ist doch ein eigen Ding um solche Schreiberei aus weiter Ferne! Wenn ich mir den Inhalt der kurzen Schriftstücke ins Gedächtniß zurückrufe, mit denen mich das gnädige Fräulein in nur zu langen Zwischenräumen beehrte, so müßte ich eigentlich zugleich erstaunt und zerknirscht sein über den freundlichen Empfang, der mir verirrtem und verlorenem Schäflein aus der edlen Brenckendorfschen Herde hier zu theil geworden ist.“

„Ich hoffe, Du hast niemals im Ernst an meiner schwesterlichen Liebe gezweifelt, Wolfgang!“

„Im Gegentheil! Ich hielt mich immer überzeugt, daß alle die unangenehmen Dinge, die Du mir zu sagen oder vielmehr zu schreiben geruhtest, nur ein rührender Ausfluß eben dieser treuen schwesterlichen Liebe seien. Aus Deinen ernsthaften Vorstellungen schaute mir trotz alledem das Bild eines lieben, rosigen Geschöpfchens entgegen, dem die Unschuld und die Unerfahrenheit hell aus den Augen guckten, eines holdseligen kleinen Mädchens, das in seiner Herzensgüte und Herzenseinfalt von dem rauhen, unerbittlichen Ernst des Lebens nur gerade so viel wußte, als man gemeinhin mit neunzehn Jahren davon erfahren hat.“

Marie legte ihm die Hand auf den Mund.

„Genug, Du Spötter! Glaubst Du denn, daß ich trotz der haarsträubenden Schmeichelei die Bosheit nicht verstände? Also nach meinen Briefen war ich in Deinen Augen ein Gänschen, das vom Leben nicht mehr weiß, als der Blinde von der Farbe! – Und daß ich mich schon seit zwei Jahren mutterseelenallein mit diesem unerbittlichen Leben herumschlage – daß ich mich, wie ich denke, dabei ganz tapfer gehalten habe, obwohl es mir durch meine Erziehung sicherlich nicht leichter gemacht worden ist als Dir – das kam dem hochmütigen Herrn der Schöpfung natürlich nicht in den Sinn!“

„O doch, meine wackere kleine Marie, und es erfüllte mich sogar jederzeit mit unbedingter Hochachtung und Bewunderung! Aber ich meine, wir müßten einen kleinen Unterschied machen zwischen Deinem Kampfe ums Dasein und dem meinigen. Für ein mittelloses junges Mädchen bedeutet es ja unter den bestehenden Verhältnissen gewiß einen sehr achtungwerthen Erfolg, wenn es sein Leben zu fristen vermag, ohne dafür Freiheit und Selbständigkeit bis auf den letzten Rest drangeben zu müssen. Ein Mann aber, der es zu nichts Besserem brächte, hätte doch wohl wenig Ursache, sich seiner Kraft zu rühmen. Und ich hätte die Heimath nicht erst zu verlassen brauchen, wenn es nicht mit dem festen Entschluß geschehen wäre, es zu etwas Besserem zu bringen. Es war noch recht viel Ballast in meinem Lebensschifflein, als ich damals halb freiwillig und halb gezwungen aus dem Elternhause absegelte: einige Kisten voll jugendlichen Leichtsinns und voll höchst unklarer und unfruchtbarer idealistischer Schwärmereien, vor allem aber ein gewaltiger Sack voll verrotteter Anschauungen und überlebter Vorurtheile, dessen schätzenswerthen Besitz ich meiner Erziehung im Elternhause, dem studentischen Verbindungsleben und meinen beiden Lieutenantsjahren zu danken hatte. Aber der Wind blies mir scharf entgegen, die Wellen drohten über Bord zu schlagen und ich sah bald, daß mein Schifflein gefährlich überladen war. So wanderte denn der Ballast nach und nach ins Meer – der Sack mit den Vorurtheilen zuerst, dann der göttliche Leichtsinn und zuletzt – weil ich mich von ihnen am schwersten zu trennen vermochte – all meine schönen idealistischen Schwärmereien! Ich lernte erkennen, daß es reiner Unsinn sei, mit den Lerchen oder auch nur mit den Spatzen um die Wette fliegen zu wollen, so lange man bis zu den Knieen im Sumpfe steckt. Und statt des alten Brenckendorfschen Wahrspruchs: „Demüthig und muthig“ wählte ich mir die Losung „Fleißig und beharrlich“. Sie klingt vielleicht nicht ganz so feudal, aber ich bin doch weiter damit gelangt, als ich mit der Demuth und dem Muthe gekommen wäre. Reichthum und Unabhängigkeit, das sind meine Ziele; sie gefallen Dir nicht recht, wie Du mir wiederholt mit edler Entrüstung geschrieben hast, aber Du darfst mir getrost glauben, daß alle anderen begehrenswerthen Dinge an der nämlichen Straße liegen.“

„Und um reich und unabhängig zu werden, mußtest Du nothwendig den Beruf eines – eines Zahnarztes ergreifen?“

„Nicht gerade nothwendig, denn die Gastwirthslaufbahn ist unter Umständen auch nicht übel. Und Leute, die mit Schweineschmalz gehandelt oder alte Kleider zu Kunstwolle verarbeitet haben, sind bekanntlich schon zu großem Vermögen gelangt. Aber für jede dieser aussichtsreichen Bahnen fehlten mir die geeigneten Vorkenntnisse. Ich war zu alt und zu steif, um einen brauchbaren Kellnerburschen abzugeben, welche Stufe man unbedingt durchmachen muß, um ein steinreicher Gasthausbesitzer zu werden – und ich fürchte, daß ich trotz des redlichsten Bemühens niemals sachverständig genug in Bezug auf Schweineschmalz oder alte Kleider geworden wäre. Von meinen fünf Bonner Semestern her aber wußte ich ganz gut einen Backenzahn von einem Schneidezahn zu unterscheiden und auch sonst war da noch dies oder jenes haften geblieben, das mir einen Theil meiner zahnärztlichen Lehrzeit ersparen konnte. So entschied ich mich denn schnell für diesen ebenso nützlichen als ehrenwerthen Beruf, eingedenk der trefflichen Wahrheit: Time is money! Zeit ist Geld.“

„Es ist schrecklich, dergleichen anhören zu müssen, und noch schrecklicher, nicht einmal böse werden zu können, wenn man Dich so leibhaftig vor sich sieht. Reden wir denn nicht mehr davon – wenigstens heute nicht mehr. Wie lange gedenkst Du Dich hier aufzuhalten?“

„So lange es Gott gefällt, mein Liebling! Eine von den alten Jugendschwärmereien ist nämlich doch an mir haften geblieben: die Liebe für mein deutsches Vaterland! – Und ich denke, es wird auch hier genug hohle Zähne geben, um meine Kunst zu Ehren kommen zu lassen.“

Marie schien in allem Ernst ein wenig erschrocken.

„Wie? Du denkst daran, Dich dauernd hier niederzulassen? Du willst in Berlin Zahnarzt werden?“

„Gewiß! Würdest Du Dich etwa schämen, vor aller Welt bekennen zu müssen, daß Dein leiblicher Bruder Zähne plombiert und falsche Gebisse fertigt?“

„Ich – o nein! Aber was würde der Papa sagen, Wolfgang, wenn es ihm beschieden gewesen wäre, das zu erleben?“

Das frische, heitere Gesicht des jungen Mannes wurde ein wenig ernster.

[203] „Es ist möglich, daß er es für einen unauslöschlichen Schandfleck auf dem Brenckendorfschen Ehrenschilde hielte. Aber er ist todt, Marie, und mein Gewissen spricht mich von dem Vorwurf der unkindlichen Lieblosigkeit vollständig frei. Wenn unser trefflicher Vater aus irgend einer besseren Welt auf uns herabzuschauen vermag, so hat er in dieser besseren Welt auch sicherlich längst einsehen gelernt, daß ein adliger Zahnarzt hundertmal ehrenwerther ist als ein adliger Faullenzer und Tagedieb.“

Sie antwortete ihm nicht, und es gab ein kleines, drückendes Schweigen, bis er in seinem früheren, leichteren Tone fortfuhr:

„So viel von mir! Nun möchte ich endlich von Deinen Erfolgen hören! Du hast also Dein Talent entdeckt und bist unter die Künstler gegangen?“

„Das heißt, ich übermale dreißigmal hintereinander dieselbe Photographie, auf welcher der Trompeter von Säkkingen sein ‚Behüt Dich Gott‘ über den Rhein hinüber bläst, und ich schmücke Ballfächer mit Amoretten, von denen mir ein aufrichtiger Freund soeben sagte, daß sie gezierte Stellungen und unmögliche Glieder haben.“

„Neben Angelika Kauffmann also wirst Du Deinen Platz am Ruhmeshimmel nicht erhalten? – Schade! Es wäre doch so etwas wie ein Ausgleich mit meiner Unwürdigkeit gewesen. Uebrigens ein sonderbarer Geselle, Dein Herr Nachbar von der Presse, liebe Marie! Geschieht es etwa um der wohlwollenden Kunstberichte willen, daß Du solche Gesellschaft duldest?“

„Ach nein,“ lachte sie in unbefangener Heiterkeit, „und wenn Du nur fünf Minuten früher gekommen wärst, hättest Du seine Kritik selber vernehmen können, die allerdings vielleicht wohlwollend, aber gewiß nichts weniger als schmeichelhaft für mich war.“

„So? – Und dann hat ihn das böse Gewissen in die Flucht getrieben? Er sah ja aus, als säßen ihm alle Furien der Unterwelt auf den Fersen.“

„Eine anscheinend unüberwindliche Schüchternheit! Ich bemerke sie kaum noch; denn trotz der Kürze unserer Bekanntschaft habe ich mich an seine Sonderbarkeiten fast gewöhnt.“

„Hum! – Und wie, wenn ich fragen darf, bist Du überhaupt zu dieser Bekanntschaft gekommen?“

„Dadurch, daß Hudetz mir einen Ritterdienst erwies, der mich ihm aufrichtig verpflichtete.“

„Einen Ritterdienst – der? Das ist drollig!“

„Es hätte sogar leicht sehr tragisch werden können. Um mir meinen entflohenen Dompfaffen wieder zu bringen, den die Krähen schon halb umgebracht hatten, kletterte Hudetz aus dem Fenster seines Zimmers auf das Dach hinaus. Ich kann mich noch jetzt dieser fürchterlichen Augenblicke nicht ohne Herzklopfen erinnern. Eine unglückliche Bewegung oder ein Nachgeben der morschen Dachrinne, gegen welche er sich stemmte, hätten ihn unfehlbar in die schreckliche Tiefe stürzen lassen. War es danach nicht meine Pflicht, den armen, verlassenen Menschen mit einiger Freundlichkeit zu behandeln?“

„Und ihn damit vollends um sein bißchen Verstand zu bringen! Begreifst Du in Deiner Unschuld wirklich nicht, Schwesterchen, was es bedeutet, wenn ein Wesen männlichen Geschlechts um des Dompfaffen einer – verzeih’ mir die Offenheit! – hübschen jungen Dame willen auf Dächern mit morschen Regenrinnen sein kostbares Leben aufs Spiel setzt?“

Marie hatte ihn erst mit ungeheuchelter Verwunderung angesehen; dann aber lachte sie fröhlich auf.

„Du glaubst also wahrhaftig –? – Nun, das ist eine Vermuthung, auf die ich freilich niemals gekommen wäre. Und Du thust ihm bitteres Unrecht! Er war erst an dem nämlichen Tage eingezogen und hatte mich sicherlich kaum gesehen. Als er mir meinen zitternden und halb gerupften Hansel wiederbrachte, sagte er nicht etwa: ‚Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, mein Fräulein, für Sie den Hals zu brechen,‘ sondern er flüsterte nur wie geistesabwesend, ohne mich anzusehen: ‚Sie wollten ihn zerhacken, weil er aus einem Gefängniß kam – lassen Sie ihn nicht wieder hinaus, ich bitte Sie darum, seine Freiheit wäre nichts als ein langsames, qualvolles Sterben!‘ Dann war er fort, noch ehe ich ihm danken konnte, und er hatte gewiß niemals daran gedacht, sich mir aufzudrängen, wenn ich ihn nicht am nächsten Abend auf der Treppe getroffen und ihn durch längeres Zureden vermocht hätte, auf ein Viertelstündchen bei mir einzutreten.“

„Eine sehr rührende Geschichte! – Und das ist alles, was Du von ihm weißt?“

„Für einen so oberflächlichen Verkehr wie den unsrigen ist es doch wohl genug!“

Der Bruder schien nicht ganz zufrieden, aber er ließ den Gegenstand fallen und fuhr in seiner leichten Weise fort:

„Du fühlst Dich also vollkommen glücklich bei Deinem Trompeter und Deinen Amoretten?“

Marie sah zur Decke des Zimmers empor und faltete die Hände im Schoße.

„Glücklich?“ wiederholte sie nachdenklich. „Nun, wenn ich acht oder zehn Jahre älter geworden bin, werde ich dabei wahrscheinlich vollkommen glücklich sein.“

„Eine diplomatische Antwort und doch einigermaßen deutlich. Du würdest also Deine künstlerische Thätigkeit ohne viel Herzweh mit einer andern Lebensstellung vertauschen?“

„Wenn sie mir zusagt und mir meine persönliche Freiheit erhält – gewiß!“

„Zum Beispiel mit der Stellung einer Geschäftsführerin in meinem Atelier und in meinem Hause, dem ich natürlich einen entsprechend vornehmen Zuschnitt geben würde?“

„Nein, Wolfgang! Ich erkenne die Großmuth Deiner Absicht und ich bin Dir herzlich dankbar dafür. Aber es wäre zwecklos, weiter davon zu reden.“

Er zeigte sich durchaus nicht verletzt und ein gutmüthiges Lächeln zuckte um seine blondbärtigen Lippen.

„Nun ja, ich hätte mir’s denken können! Und vielleicht hast Du recht! Eines schickt sich nicht für alle! Du bist wohl eher für wirkliche Vornehmheit geschaffen als für die Frisierstuben-Eleganz, die ein Zahnarzt doch im glücklichsten Falle nur entfalten kann. Und, Hand aufs Herz, Mariechen! – hast Du Dich hier in dem glänzenden, verführerischen Berlin nie nach dem Leben in der großen Welt gesehnt, für das man Dich nun doch einmal erzogen hat? Hast Du Dich nie in die Kissen einer bequemen Equipage gewünscht? Und hat es Dir nie in den Füßchen gezuckt, wenn irgendwoher die Klänge eines Straußschen Walzers zu Dir drangen?“

Sie hob die gefalteten Hände zum Herzen empor und sah ihm mit leuchtenden Augen in das lächelnde Gesicht.

„Ach ja!“ sagte sie mit reizender Natürlichkeit. „Recht herzinnig habe ich mich oft danach gesehnt – und namentlich an unendlich langen, einsamen Winterabenden gab es oft Stunden, in denen ich mich wirklich ein bißchen unglücklich fühlte, weil es mir für immer versagt bleiben sollte. – Aber – wie Du siehst – ich bin nicht daran gestorben!“

Wolfgang blickte auf seine Uhr und stand auf.

„Es stirbt sich, Gott sei Dank, nicht so leicht,“ meinte er, „und wir Brenckendorfs zumal sind weder aus dem Geschlechte der Toggenburger noch vom Stamme der Asra, welche ‚sterben, wenn sie lieben‘ – Aber nun ist’s genug für heute! Mein Gepäck liegt noch auf dem Bahnhofe; denn ich bin unmittelbar aus dem Zuge zu Dir geeilt! Ich werde im Kontinentalhotel absteigen und wage zu hoffen, daß Du morgen dort mit mir zu Mittag speisen wirst!“

„Deiner Rückkehr zu Ehren – mit Vergnügen! – Du holst mich doch ab?“

„Selbstverständlich! – Um drei Uhr, wenn’s Dir genehm ist! – Doch – eine beiläufige Frage noch! Unterhältst Du gar keine Beziehungen zu unseren hiesigen Verwandten? – Ich vermied es absichtlich, mich in meinen Briefen danach zu erkundigen.“

„Du meinst den General Brenckendorf, unseren sogenannten Onkel?“

„Er ist Papas leiblicher Vetter – warum sollte man ihn da nicht so nennen?“

„Nun ja, Onkel oder nicht, ich habe ihn nie gesehen, ihn so wenig als die Vettern oder die Base, deren Besuch in unserem Elternhause mir ewig die schwärzeste Erinnerung aus der Kinderzeit bleiben wird.“

„Du trägst ihnen den kindlichen Groll doch nicht etwa heute noch nach?“

Gott bewahre! Ich zweifle keinen Augenblick, daß Vetter Lothar im Verkehr mit jungen Damen heute viel artiger ist als damals, wo er vom Morgen bis zum Abend meinen Lehrmeister spielen wollte, und ich hoffe auch, daß sich Bäschen Cilly inzwischen das Kratzen abgewöhnt haben wird. Aber was hilft mir [204] diese Versöhnlichkeit! Lothar und Cilly kümmern sich um mich ebenso wenig als ihr Bruder Engelbert, in den ich, wie ich glaube, damals mit meinem siebenjährigen Herzen sterblich verliebt war.“

„Sie kümmern sich nicht um Dich – das heißt, man könnte wohl auch mit gutem Recht das Umgekehrte sagen. Hast Du ihnen denn jemals einen Beweis Deines Daseins gegeben?“

„Wie hätte ich dazu kommen sollen? Wußten die Brenckendorfs etwa nicht, daß ich elternlos geworden war?“

„Allerdings; aber sie glauben Dich vielleicht noch heute unter der väterlichen Obhut des würdigen Stadtraths Lehmann in der Heimath.“

„Mag sein! – Jedenfalls war es ihre Sache, mich zu suchen, nicht die meinige, mich ihnen aufzudrängen; denn ich bin arm und sie sind reich! Hatte ich nicht recht. Wolfgang?“

„Wenn Du es sogar verschmähen konntest, meine brüderliche Unterstützung anzunehmen – gewiß! Von einem andern Standpunkte aus und namentlich im Hinblick auf das Brenckendorfsche ‚demüthig und muthig‘ ließe sich allerdings vielleicht auch widersprechen! Aber es fällt mir nicht ein, in der Stunde unseres ersten Wiedersehens dergleichen zu thun – um so weniger, als es nun wirklich die höchste Zeit ist, daß ich gehe! – Gute Nacht, mein stolzes Schwesterchen – gute Nacht!“

Sie küßten sich herzlich, und mit glückstrahlendem Antlitz geleitete Marie den Bruder bis zur Thür.

(Fortsetzung folgt.)




Die Forthbrücke in Schottland.

Der Eiffelthurm ist ein Bau, der die ganze französische Nation mit ungeheurem Stolz erfüllt, und es fehlt sicher nicht an einer gewissen Berechtigung dazu. Aber die Engländer haben eben ein Werk der Baukunst vollendet, das als ein Merkmal wissenschaftlichen Fortschritts und großartigen Unternehmungsgeistes jenem mindestens gleichzustellen, zugleich aber von außerordentlichem praktischen Nutzen ist. Das ist die große Brücke über den Forth, die größte Brücke des Erdenrundes, die aber noch eine besondere Bedeutung dadurch erlangt hat, daß sie durch das System ihrer Bauart ein neues Zeitalter des Brückenbaues einzuleiten verspricht.

Ein Blick auf die Karte von Schottland wird uns zeigen, daß der unmittelbare Verkehr zu Lande zwischen Edinburgh und Perth, Dundee, Montrose, Aberdeen, sowie fast dem ganzen Norden von Schottland durch den nahezu zwei Kilometer breiten Ausfluß des Forth, der hier schon eher einem Meeresarm gleicht, bisher unterbrochen wurde. Aller Eisenbahnverkehr ging weiter landeinwärts über Falkirk und dann entweder bei Alloa oder bei Stirling über den Fluß.

Diesen großen Umweg abzuschneiden, wurde die neue Brücke gebaut. Schon im Jahre 1873 wurde der Bau beschlossen. Es sollte eine Hangebrücke werden ein System, welches sich damals noch der größeren Gunst bei den Ingenieuren zu erfreuen hatte. Doch der Bau wurde nur langsam ins Werk gesetzt und war selbst im Jahre 1879 nicht über seine ersten Anfänge hinausgekommen, als sich der schreckliche Unglücksfall auf dem Firth of Tay ereignete, einem etwas nördlicher gelegenen, der Forthmündung ähnlichen, wenn auch nicht so tiefen Stromausfluß. Die über denselben führende Brücke stürzte während eines Sturmes ein im Augenblick, da ein stark besetzter Personenzug darauf angelangt war, und begrub, wie sich mancher noch entsinnen wird, den ganzen Zug sammt seinen Insassen in der Tiefe.

Ein so schreckliches Unglück, das die ganze Welt damals so tief bewegte, hatte in England auch das Vertrauen auf die Bauart der Hängebrücken tief erschüttert. Eine Folge davon war, daß auch die Arbeiten an dem Bau der Brücke über den Forth sofort eingestellt und neue Pläne entworfen wurden. Im Jahre 1881 entschieden sich die mit der Prüfung der Angelegenheit beauftragten Sachverständigen einstimmig für die Annahme des Entwurfs, welcher von Sir John Fowler und Mr. Baker vorgelegt worden war und darauf hinausging, auf dem Meeresgrunde, bezw. auf einer im Forth liegenden Insel drei mächtige Pfeiler zu errichten und auf diesen riesenhafte Stahlthürme aufzubauen, die eigentlichen Stützpunkte des Ganzen, von denen aus nach beiden Seiten hin vom Kopf wie vom Fuß je zwei mächtige Kragarme ausgehen, deren untere Gurtungen sich gegen den Fuß der Stahlthürme stützen und deren obere sich an das obere Ende derselben anhängen. Diese beiden Gurten sind noch durch diagonale Verbindungsstücke gegen einander abgesteift, während in der Mitte selbst der Träger für die eigentliche Fahrbahn angebracht ist. In dieser Weise aneinander gefestigt, werden die Gurtungen nach beiden Seiten hin fortgeführt, bis sie den ausgestreckten Armen der nächstgelegenen großen Thürme so nahe kommen, daß nun durch einige besondere Zwischenträger eine Verbindung der beiden Thürme herbeigeführt wird, auf die also die ganze Last zurückfällt.

Das Grundgesetz an sich ist nicht neu. Im Gegentheil, wir finden es sogar schon im Alterthum vielfach angewandt, schon bei den Chinesen, bei den Indiern, wie auch bei den Griechen. In seiner einfachsten, rohesten Form kam dasselbe schon vor Jahrtausenden oft genug zu Geltung, wenn ein Wilder, der über einen Fluß setzen wollte, die überhängenden Aeste zweier an den Ufern sich gegenüber stehender Bäume durch einen darüber gelegten Balken mit einander verknüpfte. Da haben wir in den Stämmen der Bäume, den Aesten und dem Balken die drei Hauptbestandtheile des Systems: die Pfeilerthürme, die Kragarme und den Zwischenträger. Wurde diese ureinfache Ueberbrückung im Laufe der Jahrtausende in unzähligen Einzelheiten vervollkommnet, so wurde sie doch dem Hängebrückensystem lange nicht gleich geachtet, bis es den Erbauern der Forthbrücke gelang, mit Zuhilfenahme der neuesten wissenschaftlichen Fortschritte ihr zu richtiger Würdigung zu verhelfen und etwas bis dahin Unerreichtes zu Wege zu bringen. Die Brücke von New-York nach Brooklyn, eine Hängebrücke, deren Mittelstück eine Spannung von 1600 engl. Fuß (483 m) hat, gilt für ein Meisterwerk in ihrer Art. Doch die Forthbrücke hat ihr den Rang abgelaufen schon dadurch, daß sie sogar zwei Spannungen aufzuweisen hat, die je 1710 Fuß (521 m) lang sind, also beide zusammen schon eine Entfernung von mehr als einem Kilometer überbrücken.

Diese beiden langen Spannungen wurden durch die Natur des Untergrundes nothwendig gemacht. Die Stelle, die für die Brücke ausgewählt wurde, befindet sich an der sogenannten „Queens Ferry“, einer Einengung der Flußmündung, die durch einen Vorsprung der nördlichen Küste gebildet wird und die gerade in der Mitte die erwähnte Insel, ein felsiges Eiland, das „Inch Garvie“, aufweist. Auf beiden Seiten desselben befinden sich Stromrinnen von nahezu 60 m Tiefe, die zum größeren Theil mittels dieser riesenhaften Spannungen überbrückt worden sind, indem der mittlere der Pfeilerkolosse auf die Insel zu stehen kam. Die Ingenieure geben selbst zu, daß, wenn diese nicht vorhanden gewesen wäre, sie das Werk kaum hätten ausführen können. Der nördliche der äußeren Hauptpfeiler steht hart am Gestade von Fife und der südliche an einer seichteren Stelle, aber doch noch in dem Meeresarm selbst, so daß die äußerste Tiefe der Grundmauer an dieser Stelle 91 Fuß (27,7 m) unter dem Meeresspiegel erreicht.

Der Bau dieser drei Pfeilerkolosse, die zur Unterlage der mächtigen Stahlthürme dienen, war ein äußerst langwieriges Unternehmen und wurde mittels „Senkkasten“ ausgeführt, von denen ein jeder stark 21 m Durchmesser besaß und die genau an der Stelle, wo die Pfeiler aufzuführen waren, auf den Grund niedergelassen wurden. Ein solcher Senkkasten ist unten offen bis zu einer Höhe von etwas über 2 m, dann folgt ein eiserner Boden. Wenn nun der Kasten auf dem Grunde aufsitzt, so entsteht eine Art Taucherglocke, unter der, nachdem das Wasser ausgepumpt ist, die Arbeiten bei elektrischer Beleuchtung vor sich gehen.

Zur Sicherstellung der unter der Glocke beschäftigten Leute wird fortwährend Luft von oben durch Luftpumpen zugeführt und ein Druck von ungefähr zwei Atmosphären unterhalten. Aber auch im übrigen waren die Einrichtungen sicher und zweckentsprechend, daß selbst einige Besucher in den „Senkkasten“ zugelassen wurden, und man erzählt sich von einem Herrn, der hier auf dem Meeresgrund den Arbeitern sein Whiskyfläschchen herumgereicht und, nachdem dasselbe geleert worden, den Stöpsel wieder [205] sorgfältig darauf geschraubt und in die Tasche gesteckt habe. Sobald er aber oben in der gewöhnlichen Atmosphäre wieder angelangt, sei das Fläschchen plötzlich mit lautem Krach zersprungen.

Vier in Quadratform unmittelbar nebeneinander in solcher Weise mittels „Senkkasten“ aus dem festesten Gestein aufgebauter Pfeiler bilden die Grundlage für einen Thurm, der aus vier durch starke wagrechte und schräglaufende Verbindungsstücke zusammengehaltenen mächtigen Röhren besteht. Thürme, Verbindungsglieder, überhaupt die ganze Brücke, soweit sie aus dem Wasser emporragt, sind aus bestem Siemens-Martin-Stahl gefertigt. Jede der Hauptröhren hat einen Durchmesser von 12 Fuß (3,6 m) und eine Dicke der Wände von etwa 3 cm. Ihre Höhe beträgt 361 Fuß (110 m) von der Meeresfläche ab. Rechnen wir hierzu einmal die Tiefe der Brückenpfeiler im Meere selbst, die, wie oben angegeben, an einer Stelle 27,7 m beträgt, so ergäbe sich als Gesammthöhe des ganzen Bauwerks annähernd 138 m, also fast diejenige des Kölner Domes (156 m). Es wäre wohl schwer thunlich gewesen, solche Ungeheuer von Röhren am Ufer fertig aufzubauen und dann auf den Pfeilern mit einem Male in die Höhe zu richten. Vielmehr wurden nur die Einzelstücke in den großen Werkstätten, die eigens zu diesem Zwecke am Ufer errichtet waren, hergestellt, die großen Stahlplatten wurden hier entsprechend den Krümmungen der Röhrenwände gebogen, mit Nietlöchern versehen und dann nach den Pfeilern eingeschifft. Hier wurden sie – wie bei Aufführung einer Mauer die Backsteine – eine an und über der andern angesetzt, und so wuchsen die Träger empor – riesengroß, während in derselben Weise gleichzeitig der Aufbau der Verbindungsstücke fortschritt.

Die Forthbrücke in Schottland.

Von den Thürmen aus ging der Ausbau der Kragarme nach beiden Seiten hin in derselben Weise gleichmäßig vorwärts, indem Platte an Platte gefügt wurde. So blieb das Ganze im Gleichgewicht und die ganze Last wurde überall von den Hauptpfeilern getragen. Selbst die bei solchen Bauten sonst unerläßliche Masse von Gerüsten fiel hier fast ganz weg. Was an Gerüsten nöthig war, wurde mit dem Zuwachs der mächtigen Arme zugleich hinausgeschoben, und so wuchs das Ganze gleichsam aus sich selbst heraus in den unendlichen Raum, bis die Arme nach jeder Seite hin eine Länge von 680 Fuß (207,4 m) hatten. Hier an ihren Endpunkten aber mußten sie noch die gewaltige Last der Zwischenlage von 350 Fuß (106,7 m) Länge auf sich nehmen, welche die einander entgegengestreckten Arme schließlich in Verbindung brachte. Der untere Rand dieser Zwischenlage aber liegt in einer Höhe über dem Wasserspiegel, daß die größten Seefahrzeuge leicht unter ihnen hinzusegeln vermögen. Ist es doch vom Hochwasserstand bis zur Berührung mit der Brücke an diesen Stellen eine Höhe von 150 Fuß oder 45 m. Und einige Fuß höher noch liegt das doppelte Schienengeleise. Das muß eine luftige, lustige Fahrt sein und um so genußreicher noch, als die Gegend auf beiden Ufern große Naturschönheiten bietet.

Der zu erzielenden Höhe wegen mußte die Ueberbrückung namentlich auf dem niedrig gelegenen südlichen Ufer schon eine geraume Strecke landeinwärts beginnen, so daß die Länge des ganzen Unternehmens 8296 Fuß, also mehr als dritthalb Kilometer beträgt, während die eigentliche Brücke 5349 Fuß 9 Zoll oder 1633 m lang ist. Durchweg aus dem besten Stahl angefertigt, hat sie nicht weniger als 51 000 Tonnen oder 51 000 000 Kilogramm von diesem Metall verschlungen – der Eiffelthurm enthält nur 7500 Tonnen Eisen – und der Kostenaufwand für die Brücke beträgt im ganzen etwa 40 Millionen Mark.

Dieselbe ist am 4. März dieses Jahres dem Verkehr übergeben worden. Wird sie ihrem eigenen Druck sowie der Macht der Elemente auf die Dauer standzuhalten vermögen? Nach menschlichem Ermessen jedenfalls. Die Taybrücke wurde von einem Sturm niedergerissen, der mit einem Druck von etwa 30 Pfund auf den Quadratfuß dahersauste und zu den stärksten zählt, die England heimgesucht haben. Die Forthbrücke aber ist darauf berechnet, einem Winddruck gar von 56 Pfund standzuhalten. Sie hat zur Zeit, da ihr Bau schon wesentlich vorgerückt war, bereits einen Sturm erlebt, der ganze Häuser an der umliegenden Küste niedergerissen hat, an der Brücke aber spurlos vorübergegangen ist. Möge der stolze Bau imstande sein, so allen Anfechtungen Trotz zu bieten!

Auf architektonische Schönheit kann er allerdings keinen Anspruch machen, aber das dürfte es auch kaum sein, was den Aktionären der verschiedenen Eisenbahngesellschaften, welche die Unkosten der Brücke tragen, in besonderem Grade am Herzen liegt. Wollte man aber auch nur einige Verzierungen hier und da anbringen, so müßten dieselben entsprechend den außerordentlichen Größenverhältnissen der Brücke doch schon gewaltige Ausdehnungen haben und somit nicht nur die Kosten, sondern auch die Last der Brücke, welche lediglich auf den Pfeilern ruht, noch wesentlich vermehren.

Die erfolgreiche Durchführung eines solchen Unternehmens hat vielfach auch wieder die Aufmerksamkeit auf eine andere Ueberbrückung gelenkt, auf diejenige eines allerdings zwanzigmal breiteren [206] Meeresarmes, des Kanals zwischen England und Frankreich. Die Ausführbarkeit eines solchen Planes wird durch die Forthbrücke in der Theorie als erwiesen erachtet, und es sind auch bereits mehrfach Entwürfe dazu ausgearbeitet worden. Warum sollte nicht die Sache – und zwar in gar nicht allzu ferner Zeit – auch thatsächlich ins Werk gesetzt werden? Zwar sind keine Inseln wie die Inch Garvie im Kanal vorhanden, doch giebt es geeignete Erhöhungen auf dem Meeresgrunde, die man sich für den Brückenbau zunutze machen könnte, und die Meerestiefe im allgemeinen ist hier ungefähr dieselbe wie im Forth. Gewiß, es würden sich im Kanal wesentlich größere Schwierigkeiten darbieten; aber ein Zweifel an ihre schließliche Ueberwindbarkeit hieße wenig Vertrauen haben in den steten Fortschritt der Wissenschaft und den menschlichen Unternehmungsgeist. Wilh. F. Brand.     




Ungedruckte Briefe Fritz Reuters.
V.


Man braucht nicht auf ein Wort des alten römischen Philosophen Boethius: „die Freundschaft, dies heiligste Gut, gehört der Tugend und nicht dem Glücke zu“, zurückzugreifen, um zu verstehen, aus welchem Grunde die Freundschaft zwischen Reuter und Fritz Peters aufgebaut war; auch ein gut deutscher Dichter, Tiedge, giebt in anderer Form demselben Gedanken Ausdruck:

„Und einen Freund kann jeder haben,
Der selbst versteht, ein Freund zu sein.“

Als Fritz Reuter noch schwer vom Schicksal verfolgt und seine Stirn von düstern Sorgen umschattet war, da nahm sich der wackere mecklenburgische Landwirth des Niedergedrückten mit seiner ganzen Selbstlosigkeit an, und die Mannhaftigkeit und schlichte Treue, die sich hierin offenbarte, waren Züge in dem Charakter beider Männer, die sie dauernd und innig an einander fesselten. Wohl trennten sie sich später wieder, als Reuter seine geliebte Luise heimführte und sich ein bescheidenes eigenes Heim gründete, aber sie standen nach wie vor in innigem Verkehr. Und gemeinsam blieben ihnen Freud und Leid auch dann, als der Lorbeerkranz das Haupt des Dichters umgrünte und der Ruhm den Namen Reuter auf seinen Fittigen durch die Welt trug. Von jedem kleinen Ereigniß machte der Dichter dem Freunde Mittheilung, an jedem Vorkommniß in Peters’ Familie nahm er theil. Als er 1869 wieder wie in den vierziger Jahren zur Kur in der Wasserheilanstalt Stuer war, schilderte er brieflich sein nasses Leben mit dem alten Humor und suchte die Freunde auf ihrem Gute Bollentin persönlich auf. Und als die ernsten Kriegsjahre 1870/71 hereinbrachen, da bewies er seine herzliche Antheilnahme dem Sohne Peters’, der als Soldat mit vor den Feuerschlünden des Feindes stand, und wir geben unter den nachfolgenden Briefen auch denjenigen wieder, den die Feldpost von Reuter dem jungen Peters überbrachte.

*  *  *
„Stuer, den 3. Januar 69. 

 Mein lieber Fritz!

‚Seht, Ihr Beide dort im fernen Pommern,
Seht, Ihr Wilden seid doch bess’re Menschen!
Und ich schlag mich seitwärts in die Büsche.’

Ja, Ihr seid besser als wenigstens ich, Ihr schreibt doch und schreibt gute und freundliche Briefe, das will ich Euch nächstens einmal gedenken. Ich lebe hier und blühe hier, wie ein einsames, stilles Veilchen, nur daß ich nicht so schön rieche und statt in Gras und Blumen im Sande versteckt bin. Meine Gesundheit ist von der Art, daß sie anfängt steuerlos zu werden, zwei Meilen ins Land zu laufen, durch die Näthe zu platzen und sich ernstlich darauf vorzubereiten, Siedenbollentin banquerutt zu fressen; ich werde indessen wohl schwerlich die Hand- und Spanndienste[1] Deines getreuen Knappen Jochen Nebke, dessen rechten und wohlklingenden Namen ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal erfahre, in Anspruch nehmen, denn wenn ich noch bis die zwanziger Tage des Januar abgeschrubbt bin, werde ich schon so viel Fell verloren haben, daß es auf einzelnen Stellen durchsichtig sein wird. Einen kupfernen Kessel kann man alle Tage mit Strohwiepen und Sand scheuern, das goldene Fließ eines Dichters aber will geschont sein. Doch darüber später!

Was nun sie ist, so scheint sie ein sonderbares Vergnügen daran zu finden, mich ins neue Jahr an der Nase hineinzuführen und dies nützliche Organ bei mir ebenso lang zu ziehen als ihr eigenes. Sie sollte gleich nach Weihnachten kommen, sie kam nicht und scheint die schöne Festzeit mit Hundedressur[2] verbracht zu haben, sie hat sich wenigstens das Verdienst erworben, die irregeleiteten Jugendtriebe meines Steffan in die gebührenden Schranken zu weisen. Nun wollte sie gestern kommen, sie ist nicht kommen und wenn sie nun heute nicht kommt, dann – täuwen wi noch en beten.[3]

Hier ist’s sehr trostlos und einsam und einfältig; trostlos für ein armes, sehr krankes Mädchen, einsam für Deinen ergebensten Diener und Freund, und einfältig für einen jungen Mann, der sich nur, wie Deine kleinen lieben Schweinchen, von ungesalzenen und ungeschmalzenen Erbsen und Linsen nährt und sich einen Vegetarianer nennt. Dies ist nämlich eine neue philosophische Sekte, die Deutschland ausgebrütet hat, die aber ihren Ursprung auf Pythagoras zurückführt und ernstlich damit umgeht, die Menschheit auf den Urzustand Adams und Evas zurückzuführen, ob auch in Bezug auf Kleidung, ist bisher noch zweifelhaft, mit dem Essen versuchen sie es aber durchzusetzen. Die Anhänger dieser vom deutschen politischen Katzenjammer und thierschutzvereinlicher Frömmigkeit ausgebrüteten Sekte, die schon ganz munter sind und Fleischessen für Sünde erklären, gewinnen an Boden, was Dir bei Deiner Rind- und Schweinezucht gefährlich werden kann, sie verlieren aber an Gewicht, denn unser Ober-Vegetarianer, der uns zu Weihnachten verlassen hat, hat so viel an Gewicht verloren, daß sich sogar seine Haut und seine Knochen in Luft zu verflüchtigen drohten. Ich stehe noch auf dem alten, rohen, fleischfressenden Standpunkt.

Der Bruder unseres Herrn Badey, ein Doktor der Mathematik, schützt mich gegen die Langeweile, aus Dankbarkeit habe ich ihm dafür Bismarck und von der Heidt[4] beigebracht; er frißt auch noch Fleisch.

Nun, meine lieben, braven, theilnehmenden Freunde, meine besten Wünsche zum neuen Jahr und die Bitte, Euch um mich nicht zu grämen, ich bin ganz prächtig zuwege.

 Euer

 alter Fritz Reuter.“



„Eisenach, den 2. Dezember 1869. 

 Mein lieber Fritz!

Gestern sind richtig und wohlerhalten die schönen pommerschen Südfrüchte[5] bei uns eingesprungen. Was meine ist, hat um diese Fleischtöpfe Aegyptens getanzt wie der selige König David um die Bundeslade. Schade! Sie hatte keinen leinenen Leibrock an, sonst wäre der Vergleich vollständig gewesen – und schade! ich mußte sie einfangen, sonst wäre sie in ihrer Freude auf den Tisch gehüppt, und der hätte es nicht ausgehalten, denn wenn’s so beibleibt, dann jagt sie Deine Frau in der Vollkommenheit und Völligkeit noch vorbei. – – – Meine Einnahmen werden für die Folge leider eine große Einbuße erleiden, weil ein spitzbübischer Buchhändler in Amerika meine sämmtlichen Werke Wort für Wort plattdeutsch nachdruckt, und wenn derselbe diesen Nachdruck auch nicht in Deutschland gegen die bestehenden Gesetze vertreiben kann, so wird der Schmuggelhandel doch das seine thun; jedenfalls wird aber der Vertrieb in Amerika, der in der letzten Zeit sehr bedeutend war, vollständig abgeschnitten. Das ist sehr schlimm, es läßt sich aber gegen das amerikanische Raubsystem nichts machen. – – –

 Dein

 Fritz Reuter.“




[207]
„Eisenach, den 13. Okt. 70. 

 Mein lieber Fritz!

Es ist schon lange her, daß ich nicht an Euch geschrieben habe, habe auch nicht zu den alljährlich so schön regelmäßig wiederkehrenden Geburtstagen gratulirt, obgleich ich doch auch an anderen minder wichtigen Tagen sehr viel und freundlich an Euch gedacht habe. – Was ist das für eine Zeit! – Man kommt gar nicht zu Athem, zumal wenn man an einer so belebten Militärstraße wohnt wie wir. Hier gehen die meisten Soldatenzüge durch und nur die große Entfernung von uns zum Bahnhof und die Ungewißheit der Ankunft der Züge verhindern uns, bei den meisten Zuschauer zu sein; aber nun diese Zeitungsnachrichten! (ich lese jetzt 4 Zeitungen, die ‚Kölnische‘, die ‚Weimarsche‘, die ‚Rostocker‘ und unser Eisenacher Wurstblättchen), bald sind’s Freuden-, bald Hiobsposten, zu welchen letzteren ich die furchtbaren Verlustlisten der ‚Kölnischen‘ rechne, worin ich denn auch einen A. als leicht verwundet gefunden habe, aber zum Glück keinen M. Peters; ferner die Schilderung der in der Pfalz und im Elsaß herrschenden Noth und schließlich die infame Viehpest.

– – Dein M. hat an mich geschrieben, einen lieben, freundlichen und sehr instruktiven Brief; er bittet darin um Antwort, und diese hätte ich schon längst ihm zukommen lassen, wenn ich nicht die Absicht hätte, ihm irgend einen Abdruck von einem längeren Gedicht von mir zukommen zu lassen. Das Ding muß noch nicht gedruckt sein, ich erwarte es jedoch bald und dann werde ich es an Euch in Bollentin senden, da Ihr doch am Ende seinen Aufenthaltsort genau wissen müßt. Der wird was zu erzählen haben. Gebe Gott nur, daß er erst gesund und heil zu Euch zurückkehre; wenigstens aus diesen nichtswürdigen Bivouaks bei Metz erlöst wird, von denen uns ein mecklenburgischer Unteroffizier eine sehr häßliche Beschreibung gemacht hat.

Wir haben hier ein Lazareth von einigen Leichtverwundeten und ziemlich vielen Kranken (Rheumatismus, Typhus, Ruhr) und heute erwarten wir französische Gefangene; es soll eine Rasselbande von Zuaven, Turkos, Mobilgarden und Franctireurs sein, die zur Sicherheit von einer ganzen Kompagnie geleitet wird. Diese unsere neue Einwanderung wollen wir denn auch heute Nachmittag auf dem Bahnhofe in Empfang nehmen. Es ist nur ein sehr schlechtes Wetter augenblicklich, stürmisch mit vielem Regen, und der Herbst macht dem rasch herbeieilenden Winter nur noch ein flüchtiges Kompliment.

Wie’s uns geht? Nun, bei so allgemeinem Leid und so verbreiteter Sorge und Noth darf man billigerweise mit seinen kleinen Klagen nicht zu Markte ziehen. Fühl’s aber doch schon, daß ich in kürzester Zeit meine 60 Jahre auf dem Rücken habe; Kreuzschmerzen, Reißen in den Beinen und andere Altersgenossen treiben sich in meinem Leichnam umher. – – –

Was mir noch viele Freude macht, ist mein Garten, der in diesem feuchten Sommer prächtig herangewachsen ist; alles gedeiht gut, auch die im oberen Garten neu gepflanzten Obstbäumchen. Die andern haben schon fast alle getragen und treffliches Obst gebracht, vor allem die Weinstöcke, nur sind manche spätere Sorten nicht reif geworden. Meine Kirschen haben die Vögel, meine Nüsse die Eichkatzen aufgefressen. Heute will ich Pfirsiche, Aprikosen und Wein beschneiden. – –

 Dein Fritz Reuter.“




„Eisenach, den 2. Nov. 70. 

 Mein lieber M![6]

Gottlob, daß Ihr mit dem verdammten Metz fertig seid! Es ist dort doch wohl die scheußlichste Lage im ganzen Kriege gewesen. Ich habe hier von verschiedenen Seiten darüber Schilderungen von Leuten, die davor gelegen haben, erhalten, unter andern von dem Obersten des 77. Regiments, der ein paar Häuser weit von uns sehr bedeutend am Typhus erkrankt darniederliegt. Nun lese ich aber zu meiner großen Freude, daß schon vor dem vollständigen Abschluß der Kapitulation die eine Division des 2. Armeecorps[7] in vollem Regen des Abends auf Paris abmarschirt ist.

Ich hätte Dir schon viel früher auf Deinen so freundlichen und hübschen Brief geantwortet, wenn ich nicht die Absicht gehabt hätte, Dir ein Stückchen Poesie mitzusenden, zu dem mich eigentlich Dein Bericht über Gravelotte zunächst veranlaßte; aber bevor so etwas geschrieben und wiederholt durchgesehen und schließlich gedruckt ist, darüber vergeht immer geraume Zeit, und nun wissen wieder die Deinigen, an welche ich diese Zeilen zur Beförderung sende, wahrscheinlich nicht, wohin sie mein Machwerk schicken sollen.

Die Begeisterung für Eure Thaten vor Metz ging wie ein Lauffeuer durch das ganze deutsche Vaterland, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, vom Palast zur Hütte, alles jubelte nicht allein über Euren Erfolg und Euren Heldenmuth, sondern alle die, die sich einen Begriff von den Schwierigkeiten Eurer Lage machen konnten, waren voll Enthusiasmus über die Zähigkeit und Aufopferungsfähigkeit der herrlichen Armee, die unter solchen Umständen solche Erfolge erstreiten konnte. Ja, mein lieber Sohn, wenn wir uns, will’s Gott, gesund einmal wiedersehen, dann kannst Du mit Stolz sagen: da bin auch ich dabei gewesen! Das ist ein großes Gefühl, welches dem Menschen für alle Zeit und Zukunft als Stab und Stütze sicher zur Seite steht.

Wir alten Knaben hier in Eisenach thun auch freilich das unsere, um der Noth im Felde so viel als möglich abzuhelfen, und haben von hier aus schon einige Male Wagensendungen mit warmen Kleidern und Lebensmitteln an unser 2. Bataillon des 94. Regiments abgesandt; aber was will das heißen? Es ist das Scherflein der armen Wittwe, wohl gut gemeint, aber doch sehr wenig hilfreich.

Meine Luise, die Dich recht von Herzen grüßen läßt, hat unser Haus, oben und unten, für Leichtverwundete und Reconvalescenten eingerichtet, sie hat eine Unmasse von Erquickungen eingekocht; aber vergebens, es werden keine Kranke in Privatlogis einquartiert, und so beschränkt sich denn unsere Pflege auf den Obersten v. C., und das auch nur durch etwaige Zusendungen.

Seit zwei Tagen sind wir denn auch mit französischen Gefangenen gesegnet, es sollen meist Elsasser aus Schlettstadt sein, ich habe sie noch nicht gesehen. Heute pfeift die Lokomotive wieder ununterbrochen, ein Zeichen, daß Frankreich wieder bei uns zum Besuch kommt, wir haben uns diesen Besuch wiederholentlich auf unserem vorzugsweise frequentirten Bahnhofe angesehen; aber ich kann nicht sagen, daß derselbe einen wohlthuenden Eindruck auf uns gemacht hat, es sind verkommene Gesellen, diese Zuaven und Turkos, und wenn Deutschland noch irgend Ehre im Leibe hat, so wird es in heller Werkthätigkeit Gott und Euch auf den Knieen danken, daß Ihr uns vor diesen Menschen bewahrt habt.

Gestern Abend verbreitete sich hier, durch Berliner Zeitungen hervorgerufen, das Gerücht, es sei auf unseren König geschossen und der Kriegsminister sei verwundet; ich glaub’s aber nicht. Wäre es wirklich der Fall, so wär’s für Frankreich das fürchterlichste Unglück. – – –

 Dein Fritz Reuter.“




Das Kriegsgetöse war verrauscht, und wenn auch die im blutigen Ringen geschlagenen Wunden noch nicht vernarbt waren, wenn auch mancher theure Todte von den Seinen noch heiß betrauert wurde und der glücklich Heimgekehrte die unter Kanonendonner und Schmerzenslauten erlebten Schreckensscenen noch treu im Gedächtniß hielt: der Friede war doch wieder eingekehrt und mit seinen Segnungen neues kraftvolles Leben. In seiner schönen Villa bei Eisenach lebte Fritz Reuter an der Seite seiner treuen Luise ruhig und glücklich und der Aufschwung, den nach dem siegreichen Kriege das ganze öffentliche Leben in Deutschland nahm, kam auch ihm zugute. Seine Werke fanden Freunde in Hütte und Palast, im Norden und Süden des geeinten deutschen Vaterlandes und in der ganzen Welt, wo Deutsche an dem kraftvollen Gedeihen der alten unvergessenen Heimath freudigen Antheil nahmen. Stets blieb Reuter mit seinen Freunden in reger Verbindung und unauslöschliche Liebe und Dankbarkeit bewahrte er insbesondere dem treuesten Freunde aus schweren Tagen, Fritz Peters, und dessen Familie. Das spricht lebendig aus dem folgenden – letzten – Briefe des Dichters, den er bei dem Tode der Mutter Peters’ an die in Trauer versetzte Familie richtete:

„Eisenach, den 27. Jan. 1873. 

 Mein lieber Fritz!

Als mir gestern Abend mein Möller einen schwarzgeränderten Brief brachte, ich Deine Handschrift auf der Adresse sah und den [208] Poststempel ‚Malchin‘, da wußte ich freilich gleich, was der Brief enthielte, leider bestätigte sich meine bange Befürchtung. Also, sie ist zur Ruhe gegangen, diese alte, liebe, brave, rastlos thätige Frau! Es ist traurig für die, die ihr näher angehört haben, auch für die, die sie näher gekannt haben; aber es ist ein Trost, überzeugt zu sein, daß sie mit dem Gefühl gestorben sein muß, daß ihr Leben kein unnützes gewesen ist, daß sie auf ihrem zum Theil sehr schweren Lebenswege manchen Schweißtropfen auf der Stirn, manche Thräne in dem Auge ihrer Mitmenschen getrocknet hat. Sie ruhe in Frieden! Und das wird sie; sie ist jetzt wieder mit ihrer kleinen Helene[8] vereint, und wie die Seligen dort oben miteinander in Friede und Freude verkehren, davon haben wir hier unten keinen Begriff, können nur zu Gott wünschen und hoffen, daß uns einmal eine ähnliche Statt bereitet werden möge.

Luise würde gewiß einige Worte den meinigen hinzugefügt haben; aber die gestern Abend erhaltene Trauernachricht hat sie so sehr erregt, daß sie die Nacht schlaflos hingebracht hat und mit ihren alten Kopfschmerzen erwacht ist. So ist denn allenthalben Kummer und Elend in dieser trauervollen Welt, und wenn auch der liebe Herrgott heute seine Sonne wieder hell und warm nach dreitägigem gelinden Frost über unserer Erde scheinen läßt, so läßt mich doch die Erinnerung an die zeitigen Frühjahre von 46 und 48 ein böses Jahr befürchten. Bei uns ist der Winter ungemein milde, in meinem Garten blühen die Blumen, und noch 6 bis 7 solche Tage, dann blüht schon ein Birnbaum bei mir.

Nun lebt wohl, Fritz und Marie! Gott tröste Euch!

 Euer Fritz Reuter.“




Im Garten der Villa Reuter standen die Blumen im köstlichsten Schmucke und sandten ihren Duft empor zu dem von Clematis umrankten Balkon des Hauses. Drinnen aber lag ein Schwerkranker, der im Nahen des Todes die Worte „Friede, Friede, Friede!“ flüsterte, als fühlte er, wie der Friede sich auf ihn herabsenkte, und der dann sich an die treue Gefährtin in Glück und Leid wandte mit den letzten bittenden Worten: „Luising, lulle mich in Schlaf!“ – Es war am 12. Juli 1874, als der Dichter entschlief[9], der „mit jedem Pulsschlage seines braven Herzens fest in seinem Volke wurzelte“, dessen Herz für alles Edle und Gute so warm schlug und der mit Gaben so reich begnadet war wie der Besten Einer. „Die Stille des Todes war eingekehrt in das Haus, welches der Geschiedene sich vor noch nicht zehn Jahren so schön erbaut, in welchem sein Mund so manches heitere Wort gesprochen, in dem er so manchem Freunde die Hand gedrückt.“




Mariettas Ideal.

Ein Geschichtchen aus dem neapolitanischen Volksleben von H. Rosenthal-Bonin.

Marietta Polli stand an der Ecke einer Seitenstraße, die vom Toledo, der belebtesten Verkehrsader der Stadt Neapel, zum Largo Mercatello führt, an ihrem rohgezimmerten hölzernen Tischlein und sang zur Guitarre, denn sie war Straßensängerin von Beruf. Ihre Besitzthümer waren der unangestrichene Tisch, eine irdene blaugeblümte Salatschale darauf, in welche die Vorübergehenden das Geld hineinlegten, und ihre Guitarre.

Jeden Morgen um sieben Uhr kam Marietta mit ihrem Tisch an, stellte ihn an ihrem „Stand“ auf, setzte die leere Schale neben sich, ergriff die Guitarre und sang bis acht Uhr fromme Lieder, von acht bis Mittag ernste Opernarien, von Mittag bis zur Dämmerung nationale Liebescanzonen und dann bis elf Uhr nachts „gemischtes Repertoire“.

Ward es dunkel, so stand ein Oelnachtlämpchcn mit rothem Glase neben ihrer Schale.

Pünktlich um elf Uhr nachts hängte Marietta die Guitarre über die Schulter, löschte das Licht aus, schüttete ihr Geld in die Tasche, barg das Lämpchen auf einer Steinverzierung des Hauses über ihrem „Stand“, erhob den Tisch über den Kopf und wanderte so davon. Ihr Nachtlager hatte sie in einem abends geschlossenen Hausflur, neben einer Flickschusterwerkstatt, die hier in einem kleinen Holzverschlage eingerichtet war.

Marietta hatte auch Familie, ihre Mutter ernährte sich von dem Verkaufe von Taschentüchern, Operngläsern, Cigarrentaschen, Brillen und ähnlichen Dingen, welche ihre beiden Knaben aus den Taschen Fremder und Einheimischer stahlen. Frau Polli verstand ihr Geschäft und die Buben waren fleißig und geschickt.

Es ging ihnen leidlich, wenn auch hier und da Hungertage vorkamen. Jede Woche einmal traf die Familie an der Villa reale, dem berühmten neapolitanischen Promenadengarten am Meere, zusammen, zur Zeit, wenn die Musik spielte. Dann spendete Marietta jedem der Ihrigen eine Orange und einige geröstete Kastanien und gab ihrer Mutter ein paar Soldi – darauf ging man wieder auseinander. Die Buben schliefen in Kisten oder Körben ausladender Schiffe am Hafen. Mittags trafen sie ihre Mutter an einer Maccaroniküche an der Molostraße, lieferten ihre „Waare“ ab und nun wurde geschmaust: Maccaroni in Oel mit Goldäpfelmus, gebratene Fische für – fünfzig Centesimi – und ging es ihnen gut, so durften auch sechzig, siebzig draufgehen für alle, danach ging man wieder ans Geschäft. So lebte die Familie Polli in neapolitanischer Art – recht und schlecht von dem Gebrauch ihrer Talente.

Marietta galt als die vornehmste der Familie, denn sie kleidete sich nett, hatte es zu einer sicheren Schlafstelle gebracht und verdiente viel – die Brüder hatten nachgerechnet, daß sie oft drei Lire den Tag einnahm. Wo sie „den Haufen“ Geld hinbrachte, diese Frage beschäftigte Mutter und Söhne viel; jedoch nur in bitteren Nothlagen wandte man sich an Marietta, und dann gab diese zwar nicht reichlich, aber doch ganz anständig.

Marietta war sehr hübsch, ihr Vater war ein Römer gewesen und von diesem hatte sie die stattliche Figur, die breite [209] Stirn, die großen schönen Augen und von der sicilianischen Mutter die scharfabfallende Nase, den kleinen Mund mit den starken Lippen und einen wahren Urwald von krausen schwarzen Haaren, deren Wellen auf- und niederhüpften, wenn sie mit schmetternder Stimme sang, indeß die Augen melancholisch zu Boden sahen und nur aufblickten, freundlich, heiß, sonnenhaft, wenn eine Gabe in die Schale fiel. Mit Männern schwatzte Marietta nie, ab und zu in Singpausen mit ihrer Nachbarin, welche an der Ecke neben ihr saß und auf einem Brette, das über einem hohen Korb lag, getrocknete Kürbiskerne feil hielt.

Die Straßensängerin hatte einen gewissen Ruf, nicht nur beim niederen Volke; man wollte ihr allgemein wohl, sie galt für tugendhaft und war es auch und manche gute Familie in der Nähe ihres Standes nahm sich ihrer an und half ihr mit abgelegten Kleidern; der alte Principe Dorande, der täglich, wenn er nach seinem Palazzo ging, an Mariettas Ecke vorbeikam und ihr jedesmal zunickte, hatte ihr bei seinem Tode sogar zweihundert Lire vermacht. Marietta stand in Achtung – freigebigen Fremden, die, von ihrer nationalen Schönheit berückt, ihr den Hof machen wollten, setzte sie kaltes, hartnäckiges Schweigen entgegen, sogar einen ernsten Freier, einen Fachino des Hotels de Rome mit goldbordierter Mütze, hatte sie abgewiesen. – Das kam daher, weil Mariettas Träumen und Denken, ihr Ideal der Besitzer einer Carozella war, eines jener kleinen, neapolitanischen Einspänner, welche zu Tausenden das tobende Gewirr der Riesenstadt durcheilen und von Arm und Reich zu Fahrten benutzt werden. Marietta schwärmte nicht nur für den Eigner solch eines Gefährtes, sondern auch für das Fahren überhaupt, und nicht selten wandte sie an Sonntagvormittagen, an welchen sie nicht sang, eine Lira auf, um von einem Ende der Stadt zum andern hin und zurück sich kutschieren zu lassen. Dann saß sie in dem Wägelchen, angethan mit ihrem blauen Sonntagskleide, dem hellgelbseidenen Brusttuch, zwei riesige rothgoldene Ohrringe in den kleinen röthlichen Ohren, stolz und majestätisch zurückgelehnt wie eine Königin, und ihre Augen leuchteten vor Lust und befriedigtem Ehrgeize.

Eine gewaltige Menge hatte sich angesammelt und lärmte und lachte.

Es meldeten sich viel Freier bei der sehr hübschen Marietta, jedoch ein Carozellabesitzer befand sich seltsamerweise nie unter diesen.

Ob diese gleich verheirathet zur Welt kämen, frug sich Marietta oft ganz zornig, denn sie war merkwürdigerweise nie auf einen ledigen gestoßen, und sie besaß doch die wunderbare Gabe, nach den ersten paar Worten beim Einsteigen in das Wägelchen schon herauszubekommen, ob einer verheirathet wäre. Es schien gar keine ledigen jungen Leute derart zu geben.

So verging die Zeit im Fluge. Ein Jahr nach dem andern rollte dahin – es meldete sich bei Marietta kein Carozellakutscher, der sie zur Frau begehrte, und das Mädchen fing an, sich den verhängnißvollen Fünfundzwanzig zu nähern – das ist die unheimliche Altersgrenze, bei welcher die meisten Italienerinnen beginnen, umfangreicher zu werden, als mit den Gesetzen der Schönheit sich verträgt. Marietta fühlte mit Schrecken, daß sie keine Ausnahme von der Regel machte, und sie stellte sich vor, daß in einem Jahre vielleicht sie an ihrer Straßenecke nicht mehr stehen und singen könnte, ohne ausgelacht zu werden.

Dieser ihr Beruf ward hinfällig mit der schwindenden Jugend. Was sollte sie dann thun, um sich einen Lebensunterhalt zu erwerben? Eine Schule hatte sie nie besucht, irgend eine Handfertigkeit nicht gelernt, in eine Fabrik gehen – Neapel hatte zu jener Zeit nur wenig derartige Arbeitsstätten und diese waren überfüllt von schlechtbezahlten Mädchen. Einen Grünkram aufthun – das hieße Wasser ins Meer tragen, denn fast in jedem zweiten Hause saß eine Frucht- und Gemüsehändlerin, und auch der Limonadenbuden gab es schon viel zu viel. Einen Beruf wie ihre Mutter ausüben – davor graute ihr, denn es lebte in Marietta ein Funke der Erkenntniß des Anständigen, Guten und Ehrlichen. – Da kam ihr eine Idee!

Sie hatte von einer gereiften Nachbarin erfahren, daß es in der Schweiz Doktorinnen, Telegraphistinnen, Postexpedientinnen und sogar Bahnhofskassiererinnen gäbe, die ganz so gut wie die Männer ihr Amt verwalteten und wie die Männer selbständig aufträten, und da eine dunkle Vorstellung von Frauenemanzipation schon lange in Mariettas nicht unbegabtem, klugem Kopfe gährte, so verfiel sie auf den Gedanken: wenn kein Kutscher mit der Carozella zu dir kommen will, so gehe du als Kutscher zu einer Carozella. Einen ehrlichen Beruf darf dir niemand wehren – in diesem Falle hast du erstens das Vergnügen, den ganzen Tag zu fahren, und bekommst zweitens die Lust noch bezahlt, und als erster weiblicher Kutscher in Neapel wirst du noch ganz anders berühmt werden wie als Sängerin und in kurzer Zeit das Geschäft [210] aufgeben und von Zinsen leben können. – Das war das Endergebniß einer grüblerischen Stunde der trotz aller Bescheidenheit des Auftretens kecken und kühnen Marietta; die Sache erschien der an Aufsehen erregende Wirkungen gewöhnten Straßensängerin durchaus nicht so sehr absonderlich und ungewöhnlich, und wie der Entschluß in ihr reif und klar geworden war, so handelte sie auch sofort.

Sie suchte ein sorgfältig versteckt gehaltenes Büchelchen hervor, ließ sich von ihrem Schuhflickerwirth die darin verzeichneten Summen zusammenrechnen und bekam von diesem bestätigt, was sie allerdings sehr gut im Gedächtniß hatte, daß sie neunhundertdreißig Lire erspart hätte, die felsensicher auf der Nationalbank lägen.

Marietta hatte unbeschadet ihres „Küstlerthums“ einen echt italienischen Geschäftssinn, sie ging zuerst zu einer Base, die eine gute Stimme und etwas Geld hatte, auch noch leidlich jung war, und bot dieser ihren Stand sammt Tisch und Guitarre zum Kauf an. Die Base ging mit Freuden auf dies vortheilhafte Geschäft ein, und schon am nächsten Tage sah man an der Ecke von San Ferdinando statt Mariettas stattlicher, rundlicher Erscheinung an dem bekannten Tische mit der allbekannten Guitarre am grünen Bande eine magere, sehr viel gelblichere Person, die aus Leibeskräften sang. Marietta aber feilschte bei der Witwe eines kürzlich verstorbenen Carozellakutschers hartnäckig und zäh um ein mageres Pferdchen und eine schön roth angestrichene Carozella mit einem neuen Binsenteppich am Boden und zwei großen hellen Laternen unter dem Kutscherbock. Sie gelangte glücklich in den Besitz dieser kostbaren Güter um den Preis von siebenhundert Lire.

Nachdem dies Geschäft beendet war, begab sie sich nach Melito, einem Oertchen bei Neapel, von wo ein Omnibus nach Neapel ging, setzte sich oben neben den Kutscher und bat diesen, sie doch für das Passagiergeld täglich das Fahren zu lehren. Der faßte die Sache als einen Spaß auf, der noch Geld einbrachte, er willigte ein, und so fuhr Marietta achtundzwanzigmal vier Stunden und fühlte sich nach Verfluß dieser Lehrzeit als vollkommen sicherer und ausgebildeter Kutscher.

Eines Tages hielt sie denn auch in der Nähe des Hafens mit ihrem Wägelchen, nahm darauf den Platz als Kutscher ein und wartete auf Fahrgäste. – –

Es war ihr doch da oben etwas seltsam bang und beklommen zu Muth, als sie, einen lackirten schwarzen Hut auf den krausen Haaren und die Peitsche in der Hand, in das tobende eilende Straßenleben, der Fahrgäste gewärtig, hinabsah.

Sie saß noch keine zehn Minuten, da hatte sie nicht nur die Aufmerksamkeit von einigen hundert Vorübergehenden, die stehen blieben, sondern auch die viel verhängnißvollere der Polizei erregt.

Zwei Stadtsergeanten mit großen Dreimastern auf dem Kopfe, zwei Munizipalpolizisten mit grauen Mänteln und Käppis ohne Nummern und zwei Straßenwächter in schwarzem Waffenrock und Käppis mit Nummern, also sechs Mann der öffentlichen Ordnung standen denn plötzlich vor ihrer Carozella und legten die Hände auf sie selbst, den Wagen und das Thier.

„Wo haben Sie Ihren Erlaubuißschein?“ hieß es.

Marietta hatte keinen; davon hatte sie nichts gewußt. – „Der Wagen hat ja eine Nummer, die Laternen sind geputzt und in Richtigkeit!“ vertheidigte sie sich.

„Sie haben also keinen Schein?“ frugen die Gestrengen.

„Nein!“

„So folgen Sie uns zum Officio centrale, zur Hauptwache!“

„Zur Wache!“ stieß ganz fahlbleich werdend Marietta aus, und vor Schreck und Angst zitterte sie, daß sie die Peitsche fallen ließ und das Pferd unruhig ward und die Ohren spitzte.

„Ja, steigen Sie herunter und geben Sie uns Pferd und Wagen!“ befahl man ihr in sehr amtlichem Tone.

Marietta brach neapolitanisch laut in Schreien und Weinen aus. Eine gewaltige Menge hatte sich jetzt um die Verhandelnden angesammelt und lärmte und lachte: ein Frauenzimmer als Carozellakutscher – das war etwas Neues, viele hatten den weiblichen Kutscher erkannt, Marietta die Sängerin als Kutscherin jetzt – das war etwas für die skandallüsternen und nach Neuigkeiten begierigen Neapolitaner, für die hunderttausend Nichtsthuer sowohl wie für die andern Bürger. Man war in hohem Grade neugierig und gespannt auf die Entwickelung der Dinge. Die Menge wuchs ins Ungeheure.

Marietta jammerte, schrie und weinte lauter und stieg nicht vom Bock; sie war ganz sinnlos vor Angst und Zorn.

Die Menge begann Partei für sie zu nehmen und den eingekeilten Polizisten wurde es schwül.

Da entstand in der Menge ein Schimpfen und Rufen, Arme erhoben sich. Hüte fielen von den Köpfen, es wurde hin- und hergeschoben. Jetzt sah man einen jungen Mann gewaltsam durch die Menge sich Bahn machen, er drang rücksichtslos keck und geschickt vor und nun stand er am Wagen bei den Polizisten – es war ein netter, aber ärmlich gekleideter Mensch, dem man es ansah, daß es ihm nicht besonders gut ging.

„Woran fehlt es?“ frug er athemlos. „Sie hat keine Genehmigung?“

„Ja!“

„Die habe ich – aber keinen Wagen, und ich übernehme den Wagen,“ ließ der junge Mann mit kräftiger Stimme verlauten.

„Darf ich?“ rief er zu Marietta auf den Bock hinauf und übergab hierbei einem der Polizisten ein ziemlich großes, nicht sehr sauberes Papier, das er aus seiner Rocktasche zog.

Marietta verstand vor namenloser Verwirrung gar nichts.

„Der Signore hat einen gültigen Schein und keinen Wagen und will für Sie eintreten,“ erklärte ihr der erste Sergeant, welcher im Hinblick auf die Haltung der Menge froh war, daß die Sache sich so gut zu lösen schien.

Marietta begriff noch immer nicht. „Will mich heirathen?“ frug sie, die Augen immer noch voll Thränen wie geistesabwesend.

Ein furchtbares Gelächter, das über den ganzen Platz lief, erscholl auf diese Frage.

„Das wissen wir nicht,“ erklärte jetzt der Sergeant Marietta lächelnd; „vielleicht ist der Herr auch noch so freundlich,“ fügte der Polizist mit echt neapolitanischem Witze hinzu. „Vorerst will er mit seinem Erlaubnißschein das Gefährt übernehmen, denn auch wenn Sie einen solchen hätten, Signora, dürften Sie als Frauenzimmer hier in der Stadt nicht fahren!“ belehrte der Polizeimann. „Sie nehmen an?“ frug er.

„Ja!“ antwortete mit leuchtenden Augen Marietta, ihren hübschen Retter ansehend.

Ein lustiges überlautes Gemurmel wogte über die Menschenmenge. Unzählige Evviva ertönten zum blauen Himmel, man ließ den jungen Mann, der so ritterlich und klug für die Bedrängte eingetreten war, „leben“ und wünschte ihm und der Signora Glück und freute sich über die nette Lösung des Straßendramas.

Marietta war währenddessen vom Bock gestiegen, hielt dankbar beide Hände ihres Retters, der nicht unfreundlich in das runde Gesicht mit dem krausen Haarwald und den großen schönen schwarzen Augen sah. Die Menge jubelte bei diesem Anblick, der sich ihr jetzt darbot, noch mehr.

„Meine Herrschaften,“ sprach nun der erste Sergeant zu den beiden, „Sie müssen mir doch zur Kontrollstation folgen, weil die Nummer des Wagens in den Schein eingetragen werden muß; erst dadurch wird er für diese Carozella gültig.“

„Sie geben die Carozella und das Pferd zu diesem Schein?“ richtete er seine Worte an Marietta.

Von neuem „Ja!“ und dankbar glückselige Blicke in die funkelnden Augen des schmächtigen Retters, der in seiner sehnigen Kleinheit, Gelbheit und Beweglichkeit Neapolitaner vom reinsten Wasser war.

„So, bitte, steigen Sie ein!“ forderte der Sergeant die unternehmende Exsängerin und jetzt auch Exkutscherin auf.

Und Marietta stieg in den Wagen, der Retter mit seinem Schein auf den Bock; Marietta nahm nicht so stolz wie Sonntags, aber doch ganz vergnügt und zufrieden Platz.

„Geben Sie Raum, meine Herrschaften!“ riefen die Polizisten unermüdlich in die Menschenmauern – die Menge wich endlich, und in langsamem Schritt fuhr die Carozella, kutschirt von dem Retter, begleitet von den sechs Polizisten und gefolgt von einer großen Menge Volkes, dem Munizipalplatz zu.

Die gesetzlichen Förmlichkeiten nahmen dort nicht viel Zeit in Anspruch und verliefen heiter und befriedigend für alle Theile. Marietta übergab ihr Gefährt, für das sie keinen Erlaubnißschein hatte und keinen bekommen konnte, dem netten jungen Mann, der einen Schein, aber keinen Wagen dazu hatte, und die Folge dieses Geniestreiches der muthigeu Marietta war, daß ihr Ideal sich dennoch verwirklichte.

[211] Ihr Carozellaführer heirathete sie nach Verlauf von acht Wochen, hatte bald so viel seiner Berühmtheit in Volkskreisen wegen zu fahren, daß er sich zwei Pferdchen zum Wechseln halten mußte, und war so klug und gutherzig, seine Marietta, die zwar einige Jahre älter war als er, aber ihm ein behagliches Leben wieder ermöglicht hatte, gut zu behandeln und es ihr nie abzuschlagen, wenn sie am Sonntagnachmittag einmal Carozella zu fahren wünschte.

Das ist der Lebenslauf von Marietta Polli, der Straßensängerin, bis zum Hafen der Ehe, in welchem sie durch Muth und Unkenntniß der Gesetze und durch die Huld des Geschickes, obwohl die Sache schon recht zweifelhaft war, ihr Ideal erreichte.




Was ist „Stil“?

Von Friedrich Offermann.


Zu den beliebtesten Schlagworten unserer Zeit, die allerorten, wo von Kunst die Rede ist, herüber und hinüber fliegen, gehört unstreitig das Wörtchen „Stil“.

Wenn man nicht unzutreffend von Personen sagt, daß sie die Eigenschaften, die sie immer im Munde führen, gewöhnlich nicht besitzen, so hieße das, auf die Gegenwart angewendet, daß ihr der Stil im ganzen fehlt – eine Behauptung, die leider kaum bewiesen zu werden braucht. Da darf es denn ganz und gar nicht wunder nehmen, daß man sich im allgemeinen nur höchst unklare Vorstellungen von der Bedeutung dieses Wortes macht, umsomehr, als man es von Eingeweihten auf die anscheinend verschiedenartigsten Dinge und Beziehungen angewendet sieht. Es dürfte also recht nützlich sein, einmal festzustellen, was denn nun eigentlich darunter zu verstehen ist, ja, wenn möglich, einen Zusammenhang zu finden unter den mancherlei Erscheinungsgruppen, die als „Stil“ bezeichnet werden.

Wie es die Zeit der stilvollen, besser stilgemäßen Einrichtungen mit sich bringt, welche äußerlich nachgeahmte Erzeugnisse vergangener Jahrhunderte in eine gänzlich veränderte Umgebung setzt, wird das Wort zumeist nur im niedrigsten Sinne verwendet. Man spricht von romanischem, gothischem und Renaissancestil und glaubt, daß man seine Bedeutung erfaßt habe, wenn man einen vom andern unterscheiden kann. „Stil“ heißt in diesem Sinne kurz der Geschmack und die Formenausdrucksweise eines gewissen Zeitabschnitts oder Volkes, eine Erklärung, die besonders auf Architektur und Kunstgewerbe zu beziehen ist. Sie ist leicht gegeben und leicht zu behalten, weil sie oberflächlich ist und mit dem eigentlichen Stil durchaus nichts zu thun hat. Mehr in das Wesen desselben führt uns schon ein anderer Ausdruck. Die Kunsthandwerker des 16. Jahrhunderts z. B. haben nämlich auch ihren Stil gehabt. Der bestand aber nicht nur in einer besonderen Formenausdrucksweise, das heißt darin, daß sie dies und jenes Blattwerk so und so behandelten oder die Gliederungen ihrer Architekturen anders gestalteten als andere. Das war ihnen selbstverständlich und wird nur von uns, die wir das Ganze übersehen können, schlechthin als Stil bezeichnet. Ihr Kunsthandwerk war vielmehr deswegen groß, weil seine Erzeugnisse den Zweck, dem sie dienen sollten, in schöner, harmonischer Weise zum Ausdruck brachten, und damit kommen wir zur tiefern Bedeutung des Stilbegriffs. Was hier gesagt wurde, gilt natürlich keineswegs allein von der Renaissance, sondern nicht minder von andern Epochen. Sehen wir uns z. B. eine antike Säule an! In pulsirendem Leben erhebt sie sich von der Basis, die breiter ausladend ihr einen festen sichern Stand giebt. Sie schwillt an in der Mitte, strotzend von Gesundheit, verengert sich dann oben wieder, gleichsam ihre ganze Kraft zusammennehmend, und trifft nun mit dem Kapitell, dessen reicher Schmuck straff nach oben schießend noch mit tragen hilft, auf das schwer lastende Architekturglied: eine herrliche Vereinigung von Zweckmäßigkeit und Schönheit. Ein einfacher Wasserkrug, eine schlichte thönerne Vase, die sich auf schlankem Fuß in satter Schwellung rundet und oben knapp wieder zusammenschließt, mit lustig geschwungenen Henkeln daran, was sind sie anders als der lebendigste Ausdruck des echten Stilprinzips: dem Auge eine Freude, dem Verstande Zweckmäßigkeit. So soll uns die Säule sagen: ich trage sicher, was dich zerschmettern könnte, der Krug: ich halte zusammen, was auseinander will, der Stuhl: laß dich nieder, ich stütze dich, und alle sollen es zugleich schön sagen. Die Dinge müssen, mit einem Wort, im Sinne der Natur geschaffen sein, dann sind sie stilgemäß, müssen übereinstimmen in Form und Inhalt, müssen so sein, als wären sie gewachsen: organisch lebendig. Nun wird aber der Baum aus festem Holze eine andere Bauart haben als der aus biegsamem. So tritt denn zu unserer Erklärung: Stil ist künstlerisch verklärte Zweckmäßigkeit, die Bedingung hinzu: und verlangt, daß ein Gegenstand zugleich die besonderen Eigenschaften des Stoffes erkennen lasse, aus dem er geschaffen wurde. Das heißt eine Säule aus Eisen muß nothwendig anders geartet sein als eine solche aus Stein. Für den Wissenden wird das im Vorhergesagten enthalten sein; dem Laien kann es nicht oft und klar genug gesagt werden.

Es ist nicht die Aufgabe einer kurzen Uebersicht, alles zu erschöpfen, was sich hierüber noch aufdrängt. Wer den Sinn des Vorstehenden richtig erfaßt hat, dem wird es ein Leichtes sein, sich selbständig an hundert Beispielen von der Richtigkeit zu überzeugen.

Wie gesagt, werden die genannten beiden Stilbegriffe zumeist in Architektur und Kunstgewerbe angewendet. Ein dritter neuer gilt sonderlich von den bildenden Künsten, Malerei und Plastik. So sagen wir von einem groß aufgefaßten Bildwerk – einer Landschaft beispielsweise vom älteren Preller oder einem Figurenbilde des Cornelius – sie seien „stilisirt“. Was heißt das hier? Worin liegt hier der „Stil“?

Was an allen diesen Werken zunächst und hauptsächlich in die Augen springt, ist, daß sie niemals mit Kunstleistungen verwechselt werden können, die sich unmittelbare Naturnachahmung zur Aufgabe stellen. Wir vermissen an ihnen zahlreiche Einzelheiten, die wir in der uns umgebenden Natur wahrnehmen. Am Bildwerk scheint das vielgestaltige Spiel der Muskeln nach einem großen ruhigen Schema vereinfacht und geklärt. Wir empfinden das Ganze als etwas, das nicht alle Bedingungen der uns bekannten Natur erfüllt und doch keine Lüge ist. In der Landschaft, die wir gern „heroisch“ nennen, sehen wir in Baumschlag, Wolken, Gelände oder Felsen überall eine Summe von Einzelheiten zu charakteristischen Gruppen oder Massen zusammengezogen. Wir erkennen die Bäume als Eichen, Pinien oder Pappeln, haben aber doch den Eindruck, als wären sie einfacher, größer, als sie uns die Wirklichkeit zeigt. Die schäumende Brandung selbst in ihrer immer wechselnden Gestalt wird auf einfachere Formen zurückgeführt. Wir können demnach in diesem Falle kurz sagen: Stil ist Weglassen des Unwesentlichen! Das ist jedoch mehr ein Merkmal als eine Erklärung des Stils.

Weswegen „stilisirt“ denn nun der Künstler eigentlich? Man könnte sagen: er giebt auf diese Weise seine besondere Anschauung von der Welt zu erkennen, und demnach wäre also Stil die persönliche künstlerische Auffassung, die jemand von der Welt hat, oder die Art, wie sich die Schöpfung in seiner Seele spiegelt. Die Ursache, warum es so ist, haben wir damit aber immer noch nicht.

Der Künstler modellirt, malt oder zeichnet keineswegs zufällig, wie er’s thut, sondern er ist sich wohl bewußt, daß er in manchen Dingen von der Natur abweicht.

Thut er das denn aber auch wirklich? Anscheinend ja – und vielleicht doch nicht! Er weicht nämlich wohl sehr oft von der Wirklichkeit ab, nicht aber von der Natur im höhern Sinne. Denken wir einmal, ein Bildhauer wolle eine männliche Figur, einen Adam oder dergleichen, modelliren. Er sieht sich nach Modellen um und findet am Ende auch eine ganze Anzahl. Aber ach, das eine hat schöne Arme und kräftig entwickelten Oberkörper, dabei aber ziemlich verkümmerte Beine; das andere ist durchweg recht gut gewachsen, hat aber einen kurzen Nacken und dicke plumpe Gelenke; bei dem dritten endlich sind die sonst guten Formen von Fettpolstern bedeckt u. s. f. Kurz, er findet nirgends alles beieinander, was er sich wünscht. Nähme er nun gleichwohl das verhältnißmäßig beste und arbeitete danach, hätte er dann Natur vor sich? Nein! Die Natur ist eben im Individuum von tausend [212] Zufälligkeiten in ihrer freien Entwicklung gehemmt worden. Wollen wir ihre Absichten erkennen, so müssen wir sie aus der Summe vieler Einzelerscheinungen herauszulesen suchen, müssen das Wahre vom Zufälligen unterscheiden lernen.

So lebt in unserem Künstler das Bild eines Menschen, wie er sein würde, wenn alle Umstände glücklich zusammenträfen. Nach diesem trägt er die Schönheiten, die er einzeln in der Wirklichkeit vorfindet, zusammen. Er sieht bei dem einen ein Hautfältchen, das bei dem andern fehlt, und sagt sich danach: es ist nicht wesentlich, lassen wir es fort – er „stilisirt“! Wo sich die Natur einmal uneingeschränkt offenbaren kann, da wird sie denn auch beinahe wirken wie ein stilisirtes Kunstwerk. Vollendet schöne Menschen, wie man ihnen vielleicht noch hier und da in Italien begegnen kann, oder antike Figuren, die vielfach nichts anderes sind als fein beobachtete Studien aus der Palästra, der Ringschule, lassen das sofort erkennen. Wir haben also als Wesen des Stils hier das Streben zu betrachten, die Dinge der Zufälligkeiten zu entkleiden und auf ihre Grundideen zurückzuführen. So ist es denn gerade ein Drang nach Wahrheit im höhern Sinne, der den Künstler von der Wirklichkeit abweichen läßt. Gleichwie von der dargestellten Form gilt das auch von der Komposition überhaupt. Da ist im Figurenbilde oder in der Landschaft keine Gestalt – kein Baum, der nicht in vollstem Einklang mit der künstlerischen Idee stände. Die stummen Gewänder selbst fangen mit an zu reden und unterstützen durch Masse oder Bewegung, was die Menschen sagen; ein Accord der Uebereinstimmung von Innerem und Aeußerem – Wahrheit. –

Wir haben es nunmehr noch mit einem Stilbegriff zu thun, der in allen Künsten Anwendung finden kann, dem das liebe Publikum aber schier noch fremder gegenübersteht als den andern, ja dessen Nichtachtung es nicht selten als ganz besondere künstlerische Leistung ansieht. Seine Erklärung heißt kurz: „Stil ist das bewußte Sichfügen in die Forderungen des Darstellungsmaterials“!

Zur Erläuterung ein Beispiel aus der Musik. Wir hören im Konzertsaal einen Cellisten. Er spielt sein Instrument mit ausgezeichneter Geschicklichkeit, Passagen, Triller und Staccati wechseln in ununterbrochener Folge. „Nein, solch ein Spiel!“ heißt es, nachdem er schweißtriefend geendet hat, „der behandelt sein Cello ja wie eine Geige!“ – Ja, das thut er wirklich. – Aber ist das denn auch richtig? Gewiß nicht; denn hätte ein Geiger dasselbe Stück mit gleichem Können auf seinem viel beweglicheren Instrumente gespielt, so würde er bei minderem Aufwand eine noch schönere Wirkung erzielt haben. Der Cellist hat aber seinem Cello zugemuthet, was ihm nicht entspricht: allzugroße Beweglichkeit, und andererseits die Vorzüge, die es vor andern hat, schönen Gesangston u. dergl., geopfert; – das ist „stillos“!

In der Malerei hört man nicht selten die Ansicht: Womit man malt, ist doch ganz einerlei! Kann ich mit Pastell oder Aquarell eine Wirkung hervorbringen, die der Oelmalerei entspricht, wohlan! – Das ist aber gerade so falsch wie die Meinung des Cellisten. Jedes Material hat seinen Stil, der sich wie gesagt ergiebt aus seinen Vorzügen, die ausgebeutet werden müssen, und seinen Unzulänglichkeiten, die Beschränkung auferlegen.

Der Pastellmaler z. B. arbeitet mit dicken weichen Farbestiften; das schließt seine Technik schon von allen den Kunstäußerungen aus, die scharfgezeichnete kleine Einzelzüge mit sich bringen wie beispielsweise die Genremalerei. Seine Farbe ist an sich matt, und ihr fehlt mit dem Glanz auch die Tiefe. Das verweist die Pastellmalerei in das Gebiet lichter farbenzarter Erscheinungen; ein Satz, der übrigens am anschaulichsten durch ihre Herkunft – sie stammt aus der Puderzeit – bestätigt wird. Der Ruhm endlich: mein Bild wirkt aber wie ein Oelbild! wird auch nur solange dauern, als dieses nicht wirklich daneben hängt.

Jede Kunst, sei’s welche es sein möge, hat ihr festumgrenztes Reich, in dem ihr gewisse Erfolge von keiner andern streitig gemacht werden können. Verläßt sie es, so wird sie günstigsten Falles mit Gewaltanstrengungen nur das erreichen, was einer andern natürliche Sprache ist; wir brauchen das kaum noch an vielen Beispielen zu beweisen.

Alles in allem haben wir sonach vier verschiedene Anwendungen des Wortes Stil zu verzeichnen gehabt, und zwar Anwendungen auf recht vielartige Erscheinungen. Es wäre nun seltsam, wenn die Sprache für vier verschiedene Begriffe nur ein und dasselbe Wort haben sollte. Wir müssen deshalb wohl annehmen, daß sie alle untereinander in festem Zusammenhang stehen. Sehen wir sie darauf hin noch einmal an, so hieß unsere erste Erklärung: Stil ist die Formenausdrucksweise eines gewissen Zeitabschnitts. Wir fügten hinzu, daß damit jedoch nur eine Gruppe von Leistungen bezeichnet werde, die einzeln genommen unserer zweiten Forderung entsprächen, die war: Stil ist künstlerisch verklärte Zweckmäßigkeit. Beides ist also eigentlich eins! Das eine gilt für eine Summe, das andere fürs einzelne. Die dritte und vierte Erklärung alsdann hieß: Stil ist Weglassen des Unwesentlichen, und Stil ist das bewußte Sichfügen in die Forderungen des Materials. Wir sagen also in der Architektur und in dem Kunstgewerbe zum geschaffenen Dinge: scheine was Du bist, sei wahr! wir streben in den andern bildenden Künsten danach, die Wirklichkeit ihrer Zufälligkeiten zu entkleiden, nach Wahrheit, und verlangen endlich vom Material: rede wie dir der Schnabel gewachsen ist, sprich wahr! So finden wir denn in der Wahrheit das, was alle diese Verschiedenheiten zusammenhält, und können sagen: „Stil ist Wahrheit“. Damit wäre unsere Sprache vollauf gerechtfertigt und zugleich eine Handhabe gegeben, um etwas, das vielfach fälschlich mit Stil bezeichnet wird, die Manier, schroff davon zu scheiden.




Flammenzeichen.
Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Inzwischen wurden Fürst Adelsberg und sein Gefährte in Gnaden entlassen, sie verbeugten sich soeben vor der Prinzessin, die sich erhob und den Saal verließ; aber die scharfen Züge Ihrer Hoheit hatten einen ungewöhnlich milden Ausdruck und Rojanow besonders wurde mit einem gnädigen Lächeln verabschiedet.

„Hartmut, ich glaube, Du kannst hexen!“ sagte Egon halblaut. „Ich habe zwar schon manche Proben Deiner Unwiderstehlichkeit gesehen, daß aber meine allergnädigste Tante in Deiner Nähe einen förmlichen Anfall von Liebenswürdigkeit bekommt, das ist unerhört, das stellt alle Deine bisherigen Leistungen in Schatten.“

„Nun, der Empfang war doch ungnädig genug,“ spottete Hartmut, „Ihre Hoheit schienen mich anfangs wirklich für eine Art Briganten zu halten.“

„Und nach zehn Minuten standest Du bereits im vollen Sonnenschein der Gnade und wurdest als erklärter Günstling entlassen. Mensch, was hast Du eigentlich an Dir, daß sich alles ohne Ausnahme Deinem Zauber beugt! Man sollte an das alte Märchen vom Rattenfänger glauben.“

Um Hartmuts Lippen zuckte wieder jener herbe, verletzende Spott, der seinem Gesichte auf Augenblicke alle Schönheit nahm und ihm einen gradezu teuflischen Zug gab.

„Ich verstehe eben die Weise zu spielen, die sie am liebsten hören. Sie klingt freilich anders für jede, aber wenn man nur den rechten Ton zu treffen weiß, dann widersteht keine.“

„Keine?“ wiederholte Egon, während sein Blick wie suchend durch den Saal glitt.

„Nicht eine einzige, sage ich Dir!“

„Ja, Du bist ein Pessimist in dieser Beziehung, ich für meine Person lasse wenigstens Ausnahmen gelten. – Wenn ich nur wüßte, wo Frau von Wallmoden geblieben ist, ich sehe sie nirgends.“

„Seine Excellenz wird ihr wohl den Text lesen wegen der undiplomatischen Aeußerung von vorhin.“

„Hast Du diese Aeußerung auch gehört?“ fragte Egon rasch.

„Gewiß, ich stand an der Thür.“

„Nun, ich gönne unserer Allergnädigsten die Lehre von Herzen, sie war selbstverständlich wüthend darüber., aber glaubst Du im Ernste, daß der Gesandte deswegen – still, da ist er selbst!“

Sie sahen in der That den Gesandten vor sich, der soeben aus dem Thurmzimmer zurückkehrte. Eine Begegnung war diesmal [213] nicht zu vermeiden, und der junge Fürst, der keine Ahnung von den hier obwaltenden geheimen Beziehungen hatte, beeilte sich, seinen Freund vorzustellen.

„Erlauben Sie mir, Excellenz, ein Versäumniß nachzuholen, zu dem mich damals auf dem Hochberge das spurlose Verschwinden meines Begleiters zwang; ich bin erst nach Ihrer Abfahrt seiner wieder habhaft geworden. Herr Hartmut Rojanow – Baron von Wallmoden.“

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich, der scharfe, durchbohrende Blick des einen traf auf den Ausdruck eines heraus- fordernden Trotzes bei dem anderen, aber Wallmoden wäre nicht der vollendete Diplomat gewesen, wenn er nicht hier den Umständen Rechnung getragen hätte. Sein Gruß war kühl, aber höflich, nur wendete er sich allerdings in seiner Antwort an den Fürsten allein und bedauerte, nicht mit den Herren plaudern zu können, da er zum Herzoge gerufen sei. Die ganze Begegnung beschränkte sich auf zwei Minuten, aber sie hatte doch stattgefunden.

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Der Besuch.
Nach einem Gemälde von J. Kleinmichel.


„Excellenz sind heute noch zugeknöpfter als sonst,“ bemerkte Egon, als sie weiter gingen. „So oft ich dies kalte, unbewegliche Diplomatengesicht vor mir sehe, spüre ich ein Frösteln und das dringende Verlangen, wärmere Zonen aufzusuchen.“

„Deshalb gehen wir wohl so beharrlich den Spuren des schönen kalten Nordlichtes nach?“ spottete Hartmut. „Wen suchen wir denn eigentlich auf diesem Spaziergang durch die Säle, den Du so unermüdlich fortsetzest?“

„Den Oberforstmeister!“ sagte der junge Fürst, ärgerlich, sich verrathen zu sehen. „Ich wollte Dich ja mit ihm bekannt machen, aber Du bist heut wieder in Deiner Spötterlaune. Vielleicht finde ich Schönau drüben im Pfeilersaale, ich muß mich dort einmal umsehen.“

Er machte sich schleunigst los und lenkte wirklich seine Schritte nach dem Pfeilersaal, wo sich das herzogliche Paar befand und wo er auch Adelheid von Wallmoden vermuthete. Unglücklicherweise aber kreuzte er beim Eintritt wieder den Weg seiner allergnädigsten Tante, die ihn von neuem in Beschlag nahm. Sie wollte Näheres über den jungen, interessanten Rumänen hören, der in der That im Sonnenschein ihrer Gunst stand, und der ungeduldige Neffe mußte wohl oder übel ihren Fragen standhalten.




Das Fest nahm seinen Fortgang, die Gesellschaft fluthete und wogte durcheinander, während Hartmut langsam und scheinbar absichtslos durch die lange Flucht der Gemächer schritt. Auch er suchte etwas und er war darin glücklicher als Egon: ein flüchtiger Blick in das Thurmzimmer, dessen Eingang die schweren Vorhänge halb verhüllten, zeigte ihm den Saum einer weißen Schleppe, die dort über den Boden floß, und in der nächsten Minute stand er auf der Schwelle.

Adelheid von Wallmoden saß noch an demselben Platze wie vorhin und wendete langsam den Kopf nach dem Eintretenden. Plötzlich zuckte sie jäh zusammen, freilich nur einen Augenblick, dann erwiderte sie mit der gewohnten kühlen Ruhe die tiefe

[214] Verneigung des jungen Mannes, der an der Thür stehen geblieben war.

„Ich habe doch nicht gestört, Excellenz?“ fragte er. „Ich fürchte, Sie suchten hier die Einsamkeit, in die ich nun so plötzlich einbreche; aber es geschah ganz absichtslos.“

„Nicht doch, ich suchte nur auf einige Minuten Zuflucht vor der drückenden Hitze, die in den Sälen herrscht.“

„Derselbe Grund führte mich her, und da ich heut noch nicht die Ehre hatte, Sie zu begrüßen, Excellenz, so erlauben Sie mir wohl, dies jetzt zu thun.“

Die Worte klangen sehr förmlich. Rojanow war näher getreten, blieb aber in gemessener Entfernung stehen. Dennoch war ihm jenes Aufzucken bei seinem Eintritt nicht entgangen, es spielte ein seltsames Lächeln um seine Lippen, als er die Augen auf die junge Frau richtete.

Diese hatte eine Bewegung gemacht, als wolle sie sich erheben und gehen, aber sie schien sich noch rechtzeitig zu erinnern, daß ein solcher plötzlicher Aufbruch einer Flucht ähnlich sehen würde. Sie blieb an ihrem Platze und beugte sich über die Blumengruppe. Wie zerstreut pflückte sie eine der großen, purpurfarbenen Kamelien, während sie die Frage nach ihrem Befinden beantwortete, aber dabei trat wieder scharf und deutlich jener Zug starrer Willenskraft hervor wie in jenem Augenblick, wo sie mitten in der schäumenden Fluth des Waldbaches stand. Damals glitt sie ohne Besinnen in das fußtiefe Wasser, um eine Hilfe nicht annehmen zu müssen, die ihr geboten wurde, aber das war mitten in der Einsamkeit des Waldes gewesen. Hier, in dem herzoglichen Schlosse, das ein rauschendes Fest durchwogte, gab es keine solchen Hindernisse zu überwinden, aber der Mann mit dem dunklen, verzehrenden Blick stand ihr auch hier gegenüber und ließ das Auge nicht von ihrem Gesicht.

„Werden Sie noch längere Zeit in Rodeck bleiben, Herr Rojanow?“ fragte Adelheid in jenem gleichgültigen Tone, mit dem man in der Gesellschaft allgemeine Fragen und Bemerkungen austauscht.

„Vermuthlich noch einige Wochen. So lange der Herzog in Fürstenstein ist, wird Fürst Adelsberg kaum sein Jagdschloß verlassen. Später beabsichtige ich, ihn nach der Stadt zu begleiten.“

„Und dort werden wir Sie als Dichter kennen lernen?“

„Mich, Excellenz?“

„Ich hörte es wenigstens von dem Fürsten.“

„Das ist vorläufig nur Egons Idee,“ sagte Hartmut leichthin. „Er hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, meine ‚Arivana‘ auf der Bühne zu sehen.“

„Arivana? Ein seltsamer Titel!“

„Es ist ein orientalischer Name, aus einer indischen Sage, deren poetischer Zauber mich so mächtig gefangen nahm, daß ich der Versuchung nicht widerstand, ein Drama daraus zu schaffen.“

„Und die Heldin dieses Dramas heißt Arivana?“

„Nein, das ist nur der Name einer uralt geheiligten Stätte, an die sich jene Sage knüpft. Die Heldin heißt – Ada!“

Rojanow sprach den Namen halblaut, wie zögernd aus, aber es blitzte triumphiren auf in seinen Augen, denn jetzt sah er es wieder, jenes leise Zusammenbeben wie vorhin bei seinem Eintritt; langsam trat er einige Schritte näher, während er fortfuhr:

„Ich hörte den Namen zum ersten Male auf Indiens Boden und er hatte für mich einen fremdartig süßen Klang, den ich festhielt in meiner Sagengestalt – und nun erfahre ich hier, daß die Abkürzung eines deutschen Namens ganz ebenso lautet.“

„Des Namens Adelheid – ja! Ich wurde in meinem Vaterhause stets so genannt, aber es ist doch nichts besonders Merkwürdiges, daß dieselben Laute in verschiedenen Sprachen wiederkehren.“

Die Worte klangen abwehrend, aber die junge Frau hob das Auge nicht empor dabei, sie blickte unverwandt auf die Blume nieder, mit der ihre Hand spielte.

„Gewiß nicht,“ stimmte Hartmut bei. „Mir fiel es auch nur auf, überrascht hat es mich nicht, wiederholen sich doch auch die Sagen bei fast allen Völkern. Sie tragen ein mehr oder minder verschiedenes Gewand, aber was in ihnen lebt, die Leidenschaft, das Glück und Weh der Menschen, das ist überall das gleiche.“

Adelheid zuckte leicht die Achseln.

„Darüber mag ich mit einem Dichter nicht streiten, aber ich glaube denn doch, daß unsere deutschen Sagen ein anderes Antlitz haben, als die indischen Märchenträume.“

„Vielleicht, aber wenn Sie tiefer blicken, werden Sie in diesem Antlitz verwandte Züge entdecken. Auch die Arivana-Sage hat diese Züge, wenigstens in ihrer Hauptgestalt, dem jungen Priester, der sich mit Leib und Seele der Gottheit geschworen hat, dem lodernden, heiligen Feuer, und den nun die irdische Liebe ergreift mit all ihrer Gluth und Leidenschaft, bis sein Priestergelübde stirbt in dieser Flammengluth.“

Er stand ihr ruhig und ehrfurchtsvoll gegenüber, aber seine Stimme hatte einen seltsam verschleierten Klang, als berge sich hinter dieser Erzählung noch eine andere geheime Bedeutung.

Da plötzlich schlug die junge Frau die gesenkten Augen auf und heftete sie voll und ernst auf das Gesicht des Sprechenden.

„Und – das Ende?“

„Das Ende ist der Tod wie in den meisten Sagen! Der Bruch des Gelübdes wird entdeckt und die Schuldigen werden der beleidigten Gottheit geopfert – der Priester stirbt in den Flammen, mit dem Weibe, das er liebt!“

Es folgte eine sekundenlange Pause, dann erhob sich Adelheid mit einer raschen Bewegung; sie wollte offenbar das Gespräch abbrechen.

„Sie haben recht, die Sage hat etwas Verwandtes mit den unsrigen, und wäre es auch nur in der alten Lehre von Schuld und Sühne.“

„Schuld nennen Sie das, gnädige Frau?“ Hartmut ließ urplötzlich die förmliche Anrede „Excellenz“ fallen. „Nun ja, vor den Menschen ist es Schuld und sie strafen es ja auch mit dem Tode, ohne zu ahnen, daß eine solche Strafe zur Seligkeit werden kann. So in Feuersgluthen zu vergehen, wenn man das höchste irdische Glück genossen hat und dies Glück noch im Tode umfängt, das ist ein leuchtendes, göttliches Sterben, mehr werth als ein ganzes Leben voll dumpfer Alltäglichkeit. Da lodert das ewige unsterbliche Recht der Liebe als Flammenzeichen zum Himmel empor, allen Menschensatzungen zum Trotz – finden Sie ein solches Ende denn nicht beneidenswerth?“

Auf dem Gesicht der jungen Frau lag eine leichte Blässe, aber ihre Stimme klang fest, als sie erwiderte: „Nein! Beneidenswerth ist nur der Tod für eine hohe heilige Pflicht, das Opfer eines reinen Lebens. Eine Schuld kann man verzeihen, aber man bewundert sie nicht.“

Hartmut biß sich auf die Lippen und ein drohender Blitz zuckte aus seinen Augen über die weiße Gestalt hin, die so ernst und unnahbar vor ihm stand. Dann aber lächelte er.

„Ein harter Richterspruch, der auch mein Werk trifft, denn ich habe meine ganze Kraft an die Verklärung jenes Liebens und Sterbens gesetzt! Wenn die Welt ebenso urtheilt – ah, Sie erlauben, gnädige Frau!“

Er trat rasch zu dem Divan, wo sie gesessen hatte und wo mit ihrem Fächer auch die Kamelie liegen geblieben war.

„Ich danke,“ sagte Adelheid, die Hand danach ausstreckend, aber er reichte ihr nur den Fächer allein.

„Verzeihung – aber als ich meine ‚Arivana‘ dichtete, auf der Veranda eines kleinen indischen Hauses, da glühten und leuchteten diese Blüthen überall aus dem dunklen Laube und jetzt grüßen Sie mich hier, im kalten Norden. – Darf ich die Blume nicht behalten?“

Adelheid machte eine halb unwillige Bewegung.

„Nein, wozu?“

„Wozu? Als eine Erinnerung an das herbe Urtheil aus dem Munde einer Frau, die doch den holden Namen meiner Sagengestalt trägt. Sehen Sie, gnädige Frau, es blühen ja dort auch weiße Kamelien, zarte schneeige Blüthen, Sie haben unbewußt die rothe, die gluthfarbene gebrochen, und Dichter sind nun einmal abergläubisch. Lassen Sie mir die Blume als ein Zeichen, daß mein Werk trotz alledem noch Gnade finden wird vor Ihren Augen, wenn Sie es erst kennen. Sie ahnen nicht, wie viel mir daran liegt!“

„Herr Rojanow, ich –“ sie wollte augenscheinlich eine Ablehnung aussprechen, aber er fiel ihr ins Wort, in gedämpftem und doch leidenschaftlichem Tone fuhr er fort:

„Was ist Ihnen eine einzelne Blüthe, die Sie achtlos brechen und achtlos verwelken lassen? Mir aber – lassen Sie mir dies Zeichen, gnädige Frau, ich – ich bitte darum!“

Er stand dicht an ihrer Seite. Der Zauber, den einst schon der Knabe unbewußt ausübte, wenn er die Menschen „wehrlos“ machte mit seinem Schmeicheln, der Mann hatte ihn als eine Macht kennengelernt, die nie versagte und die er zu brauchen [215] wußte. Seine Stimme hatte wieder jenen weichen, verhaltenen Ton, der wie Musik das Ohr bestrickte, und seine Augen, diese dunklen, räthselhaften Augen waren mit einem halb düsteren, halb flehenden Ausdruck auf die junge Frau gerichtet. Die Blässe in ihrem Gesichte war noch fahler geworden, aber sie antwortete nicht.

„Ich bitte!“ wiederholte er, noch leiser, noch flehender, und drückte die „gluthfarbene“ Blüthe an die Lippen; aber gerade diese Bewegung brach den Bann. Adelheid richtete sich plötzlich auf.

„Ich muß Sie ersuchen, Herr Rojanow, mir die Blume zurückzugeben. Sie ist für meinen Gatten bestimmt.“

„Ah so – ich bitte um Verzeihung, Excellenz!“

Er reichte ihr mit einer tiefen Verneigung die Kamelie, die sie mit einer kaum merklichen Bewegung des Kopfes in Empfang nahm, dann rauschte die schwere Schleppe des weißen Gewandes an ihm vorüber – er war allein.

Umsonst! An dieser Eisnatur glitt alles ab! Hartmut stampfte wüthend mit dem Fuße. Noch vor zehn Minuten hatte er dem Fürsten gegenüber ein so herbes Urtheil über alle Frauen ohne Ausnahme gefällt, jetzt hatte er es wieder gesungen, das zauberische Lied, das er so oft erprobt, und jetzt fand er eine, die diesem Liede widerstand. Aber der stolze, verwöhnte Mann wollte nicht daran glauben, daß er das Spiel, das er so oft gewonnen, auch einmal verlieren könne, und gerade hier lag ihm alles daran, es zu gewinnen.

Und sollte es denn wirklich nur ein Spiel bleiben? Er hatte sich noch keine Rechenschaft darüber gegeben, er fühlte nur, daß in die Leidenschaft, die ihn zu der schönen Frau zog, sich bisweilen etwas wie Haß mischte. Es waren widerstreitende Empfindungen, die sich schon damals geregt hatten, als er an ihrer Seite durch den Wald ging, halb Bewunderung, halb Abneigung; aber gerade das machte die Jagd so spannend für den geübten Jäger.

Liebe! Die hohe reine Bedeutung des Wortes war dem Sohne Zalikas fremd geblieben. Als er überhaupt empfinden lernte, da lebte er bereits an der Seite seiner Mutter, die mit der Liebe ihres Gatten ein so schmähliches Spiel getrieben hatte, und die Frauen, mit denen sie in ihrer Heimath verkehrte, waren nicht besser als sie. Das spätere Leben, das sie mit ihrem Sohne führte, unstet, abenteuerlich, ohne festen Boden unter den Füßen, hatte vollends den Rest von Idealismus ertödtet in dem jungen Manne; er lernte verachten, ehe er lieben lernte, und jetzt empfand er die verdiente Demüthigung, die ihm widerfuhr, als eine Beleidigung.

„Sträube Dich nur!“ murmelte er. „Du kämpfst gegen Dich selber. Ich habe es gesehen und gefühlt, und in solchem Kampfe siegt man nicht!“

Ein leichtes Geräusch am Eingange ließ ihn aufblicken. Es war der Gesandte, der dort auf der Schwelle erschien und einen suchenden Blick durch das Zimmer gleiten ließ. Er kam, seine Frau zu holen, die er noch hier vermuthete. Beim Anblick Hartmuts stutzte er und schien einen Augenblick unentschlossen zu sein, dann aber sagte er halblaut:

„Herr Rojanow –“

„Excellenz?“

„Ich möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“

„Ich stehe zu Befehl!“

Wallmoden trat ein, aber er nahm seinen Standpunkt so, daß er den Eingang im Auge behielt. Es war kaum nöthig, denn soeben waren die Thüren zu dem Speisesaal geöffnet worden und die ganze Gesellschaft fluthete dorthin, der Raum, an den sich das Thurmzimmer schloß, hatte sich bereits völlig geleert.

„Ich bin überrascht, Sie hier zu sehen,“ begann der Gesandte in gedämpftem Tone, aber mit derselben verletzenden Kälte, die er schon bei der ersten Begegnung gezeigt hatte und die dem jungen Manne auch jetzt wieder das Blut in die Stirn trieb; er richtete sich drohend auf.

„Weshalb, Excellenz?“

„Die Frage ist wohl überflüssig, jedenfalls ersuche ich Sie, mich nicht wieder in eine solche Zwangslage zu bringen wie vorhin, als Fürst Adelsberg Sie mir vorstellte.“

„Die Zwangslage war auf meiner Seite,“ gab Hartmut ebenso schroff zurück. „Ich will nicht hoffen, daß Sie mich hier als einen Eindringling betrachten, Sie wissen doch am besten, daß ich zu einem solchen Verkehr berechtigt bin.“

„Hartmut von Falkenried war das allerdings einst – das hat sich geändert.“

„Herr von Wallmoden!“

„Bitte, nicht so laut,“ unterbrach ihn der Gesandte. „Man könnte uns hören, und Ihnen wäre es wohl sicher nicht erwünscht, wenn der Name, den ich soeben aussprach, vor fremden Ohren genannt würde.“

„Ich führe allerdings gegenwärtig den Namen meiner Mutter, auf den ich doch wohl ein Recht habe. Wenn ich jenen andern ablegte, so geschah es aus Rücksicht –“

„Auf Ihren Vater!“ ergänzte Wallmoden mit schwerer Betonung.

Hartmut zuckte zusammen, das war eine Mahnung, die er noch immer nicht ertrug. „Ja,“ entgegnete er kurz, „und ich gestehe, daß es mir peinlich wäre, wenn ich gezwungen werden sollte, diese Rücksicht zu verletzen.“

„Nur deshalb? Ihre Rolle hier würde in diesem Falle auch wohl ausgespielt sein.“

Rojanow trat mit einer heftigen Bewegung dicht vor den Gesandten hin.

„Sie sind der Jugendfreund meines Vaters, Herr von Wallmoden, und ich habe Sie in meiner Knabenzeit Onkel genannt, Sie vergessen aber, daß ich nicht mehr der Knabe bin, den Sie damals hofmeistern und ausschelten durften. Der Mann sieht das jetzt als eine Beleidigung an.“

„Ich beabsichtige weder Sie zu beleidigen noch alte Beziehungen geltend zu machen, die wir beiderseitig als nicht mehr bestehend ansehen,“ sagte Wallmoden kalt. „Wenn ich diese Unterredung wünschte, so geschah es, um Ihnen zu erklären, daß es mir in meiner amtlichen Stellung nicht möglich ist, Sie im Verkehr mit dem hiesigen Hofe zu sehen und dazu zu schweigen, während es doch wohl meine Pflicht wäre, den Herzog aufzuklären.“

„Aufzuklären? Worüber?“

„Ueber so manches, was man hier nicht weiß und was auch wohl dem Fürsten Adelsberg unbekannt geblieben ist. – Bitte, fahren Sie nicht auf, Herr Rojanow! Ich würde das nur im äußersten Nothfalle thun, denn ich habe einen Freund zu schonen. Ich weiß, wie ihn vor zehn Jahren ein gewisser Vorfall getroffen hat, der jetzt in unserer Heimath vergessen und begraben ist; wenn das alles wieder auflebte und in die Oeffentlichkeit gebracht würde – Oberst Falkenried würde daran sterben.“

Hartmut erbleichte und die trotzige Erwiderung kam nicht über seine Lippen. „Er würde daran sterben!“ Das furchtbare Wort, dessen Wahrheit er nur zu gut fühlte, drängte für den Augenblick selbst das Beleidigende jener Erklärung in den Hintergrund.

„Ueber jenen Vorfall bin ich nur meinem Vater Rechenschaft schuldig,“ entgegnete er mit mühsam beherrschter Stimme. „Nur ihm allein und keinem anderen!“

„Er wird sie schwerlich fordern – sein Sohn ist todt für ihn! Doch lassen wir das ruhen. Ich spreche hauptsächlich von den späteren Jahren, von Ihrem Aufenthalt in Rom und Paris, wo Sie mit Ihrer Mutter auf ziemlich glänzendem Fuße lebten, trotzdem die rumänischen Güter im Zwangswege verkauft waren.“

„Sie scheinen ja allwissend zu sein, Excellenz,“ stieß Rojanow in äußerster Gereiztheit hervor. „Wir ahnten wirklich nicht, daß wir unter so gewissenhafter Beaufsichtigung standen. Uebrigens lebten wir von dem Rest unseres Vermögens, der aus jenem Zusammenbruch gerettet war.“

„Es wurde nichts gerettet, das ganze Vermögen ging damals verloren bis auf den letzten Heller!“

„Das ist nicht wahr!“ fiel Hartmut stürmisch ein.

„Das ist wahr! Sollte ich darin wirklich besser unterrichtet sein als Sie?“ Die Stimme des Gesandten klang in schneidender Scharfe. „Es ist möglich, daß Frau Rojanow ihrem Sohne nicht die Quellen nennen wollte, aus denen ihre Mittel flossen, und ihn absichtlich im Irrthum darüber ließ. Ich kenne diese Quellen – wenn sie Ihnen unbekannt geblieben sind, um so besser für Sie!“

„Hüten Sie sich. meine Mutter zu beleidigen!“ brauste der junge Mann auf. „Ich könnte sonst vergessen, daß Sie graue Haare tragen, und Genugthuung fordern –“

„Wofür? Etwa für eine Behauptung, die ich mit Beweisen unterstützen kann? Lassen Sie solche Tollheiten beiseite, auf die ich doch nicht eingehen würde. Es war Ihre Mutter und sie ist todt! Also wollen wir diesen Punkt nicht weiter erörtern. Ich [216] möchte an Sie nur die Frage stellen, ob Sie auch nach dieser Unterredung noch beabsichtigen, hier zu bleiben und in den Kreisen zu verkehren, die Ihnen Fürst Adelsberg öffnet.“

Hartmut war leichenblaß geworden bei jener Andeutung von den trüben Quellen, aus denen die Mittel seiner Mutter geflossen sein könnten, und das starre Entsetzen, mit dem er den Sprechenden anblickte, verrieth, daß er in der That nichts wußte; bei der letzten Frage aber gewann er seine Fassung zurück. Seine Augen begegneten flammend denen des Gegners, und eine wilde Entschlossenheit klang aus seiner Stimme, als er antwortete:

„Ja, Herr von Wallmoden – ich bleibe!“

Der Gesandte schien diesen Trotz doch nicht erwartet zu haben, er hatte sich offenbar die Sache leichter gedacht, aber er bewahrte seine Gelassenheit.

„Wirklich? Nun, Sie sind es gewohnt, ein hohes Spiel zu spielen, Sie scheinen das auch hier – still, wir werden gestört! Ueberlegen Sie sich die Sache, vielleicht besinnen Sie sich doch eines Besseren.“

Er trat rasch in den anstoßenden Saal, wo jetzt der Oberforstmeister erschien.

„Wo steckst Du denn eigentlich, Herbert?“ fragte dieser, als er des Gesandten ansichtig wurde. „Ich habe mich überall nach Dir umgesehen.“

„Ich wollte meine Frau holen –“

„Die ist bereits im Speisesaal wie alle Welt, und Du wirst auch schon vermißt. Komm, es ist Zeit, daß wir etwas zu essen bekommen!“ Damit bemächtigte sich Herr von Schönau in seiner immer frohgelaunten Weise seines Schwagers und entfernte sich mit ihm.

Hartmut stand noch an seinem Platze, aber er rang nach Athem, die Aufregung drohte ihn zu ersticken, Scham. Haß und Empörung, das alles fluthete wild durcheinander in seinem Innern. Jene Andeutung Wallmodens hatte ihn furchtbar getroffen, obwohl er sie nur halb verstand. Sie zerriß den Schleier, mit dem er sich unbewußt, halb absichtlich die Wahrheit verhüllte. Er hatte in der That geglaubt, daß ein geretteter Rest des Vermögens ihm und seiner Mutter die Mittel zum Weiterleben lieferte, aber es war nicht das einzige Mal gewesen, wo er nicht hatte sehen wollen, was er doch hätte sehen müssen.

Als die Hand der Mutter ihn so jäh und plötzlich aus dem Zwange der väterlichen Erziehung in die schrankenloseste Freiheit riß, als er den Kreis strenger Pflichten mit einem Dasein voll berauschenden Genusses vertauschte, da hatte er dies Dasein in vollen Zügen genossen, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben. Er war zu jung, um zu urtheilen, und später – da war es eben zu spät für ihn, da hatten Beispiel und Gewohnheit ein unzerreißbares Netz um ihn gewoben. Jetzt zum ersten Male wurde ihm klar und deutlich gezeigt, was das Leben war, das er so lange geführt hatte, das Leben eines Abenteurers, und wie einen Abenteurer wies man ihn fort aus den Kreisen der Gesellschaft.

Aber noch heißer als die Scham darüber brannte der Schimpf, den man ihm angethan hatte, der Haß gegen den Mann, der ihm diese unerbittliche Wahrheit aufzwang. Das unselige Erbtheil der Mutter, das heiße, wilde Blut, das einst schon dem Knaben so verhängnißvoll geworden war, wallte auf wie ein Feuerstrom, und jeder andere Gedanke ging unter in dem Gefühl einer wilden, maßlosen Rachsucht. Die sonst so schönen Züge Hartmuts waren entstellt bis zur Unkenntlichkeit, als er endlich stumm, mit zusammengebissenen Zähnen das Zimmer verließ. Er wußte und fühlte nur eins, daß er sich rächen mußte, rächen um jeden Preis! – –

Es war schon ziemlich spät, als das Fest sein Ende erreichte. Nachdem das herzogliche Paar sich zurückgezogen hatte, erfolgte der allgemeine Aufbruch, ein Wagen nach dem anderen rollte den Schloßberg hinab, das helle Licht der Säle erlosch und Fürstenstein begann, sich in Dunkel und Schweigen zu hüllen.

Die beiden Zimmer, welche der Gesandte und seine Gemahlin in der Wohnung des Oberforstmeisters innehatten, waren noch erleuchtet; Adelheid stand am Fenster, sie trug noch die reiche Festkleidung und blickte wie in Gedanken verloren hinaus, aber es war eine eigenthümlich müde Bewegung, mit der sie das Haupt an die Scheiben lehnte.

Wallmoden saß am Schreibtische und durchflog einige Briefe und Depeschen, die während der letzten Stunden eingegangen waren. Sie schienen Wichtiges zu enthalten, denn er legte sie nicht zu den übrigen Papieren, die morgen früh erledigt werden sollten, sondern ergriff eine Feder und warf rasch einige Zeilen hin; dann erhob er sich und trat zu seiner Frau.

„Das kommt unerwartet,“ sagte er. „Ich werde nach Berlin reisen müssen.“

Adelheid wandte sich überrascht um.

„So plötzlich?“

„Ja, ich dachte die betreffende, allerdings wichtige Sache brieflich zu erledigen, aber der Minister wünscht dringend persönliche Rücksprache. Ich werde mich also morgen früh von dem Herzog beurlauben, vorläufig auf acht Tage, und dann sofort abreisen.“

Man konnte in dem Halbdunkel die Züge der jungen Frau nicht unterscheiden, aber ihre Brust hob sich unter einem tiefen Athemzuge, der eine vielleicht unbewußte Erleichterung verrieth.

„Und um welche Stunde fahren wir?“ fragte sie rasch. „Ich möchte meine Kammerfrau benachrichtigen.“

„Wir? Es ist eine rein geschäftliche Angelegenheit und da reise ich selbstverständlich allein.“

„Aber ich könnte Dich trotzdem begleiten.“

„Wozu denn, Du hörst ja, daß es sich nur um eine Abwesenheit von acht bis vierzehn Tagen handelt.“

„Gleichviel, ich – ich möchte Berlin einmal wiedersehen.“

„Welch ein Einfall!“ sagte Wallmoden achselzuckend. „Ich werde diesmal so in Anspruch genommen sein, daß ich Dich nirgends begleiten kann.“

Die junge Frau war an den Tisch getreten und stand jetzt im vollen Schein der Lampe. Sie war viel bleicher als sonst und ihre Stimme hatte einen gepreßten Klang, als sie antwortete:

„Nun, so bleibe ich zu Haus, aber hier in Fürstenstein möchte ich wirklich nicht allein bleiben, ohne Dich.“

„Allein?“ Der Gefandte sah sie befremdet an. „Du bleibst bei unseren Verwandten, deren Gäste wir sind. Seit wann bist Du denn überhaupt so schutzbedürftig? Das ist eine Eigenschaft, die ich bisher noch nie an Dir bemerkt habe. Ich begreife Dich nicht, Adelheid, was ist das für eine seltsame Laune, daß Du mich durchaus begleiten willst?“

„Nun, so nimm es als eine Laune, aber laß mich mit Dir reisen, Herbert – ich bitte Dich darum!“

Sie legte bittend die Hand auf seinen Arm und ihre Augen waren mit einem beinahe angstvollen Ausdruck auf den Gatten gerichtet, dessen schmale Lippen sich jetzt spöttisch verzogen. Es war jenes überlegene Lächeln, das bisweilen so verletzend sein konnte.

„Ah so, jetzt begreife ich! Die Scene mit der Prinzessin ist Dir unangenehm gewesen, Du fürchtest erneute Plänkeleien, die ja allerdings nicht ausbleiben werden. Diese Empfindlichkeit mußt Du Dir abgewöhnen, mein Kind, Du solltest im Gegentheil einsehen, daß gerade diese Begegnung Dich in die Nothwendigkeit versetzt, hier zu bleiben. Bei Hofe wird jedes Wort, jeder Blick gedeutet, und eine plötzliche Abreise Deinerseits würde zu allen möglichen Deutungen Anlaß geben. Du hast jetzt standzuhalten, wenn Du Dir Deine Beziehungen zum Hofe nicht dauernd erschweren willst.“

Die Hand der jungen Frau glitt langsam von seinem Arme und ihr Blick sank zu Boden bei dieser kühlen Abweisung ihrer fast flehenden Bitte, der ersten, die sie überhaupt aussprach in ihrer kurzen Ehe.

„Standhalten!“ wiederholte sie leise. „Das thue ich, aber ich hoffte, Du würdest mir zur Seite bleiben.“

„Das ist für den Augenblick nicht möglich, wie Du siehst. Uebrigens verstehst Du es ja meisterhaft, Dich zu wehren. Das hast Du heute mir und dem ganzen Hofe gezeigt, aber ich verlasse mich darauf, daß der Wink, den ich Dir vorhin gab, befolgt wird und Du künftig vorsichtiger in Deinen Antworten bist. Jedenfalls bleibst Du in Fürstenstein, bis ich zurückkehre und Dich abhole.“

Adelheid schwieg, sie sah, daß hier nichts zu erreichen war. Wallmoden trat wieder an den Schreibtisch und verschloß die eingegangenen Schriftstücke; dann ergriff er das Blatt, auf dem er die Antwort niedergeschrieben hatte, und faltete es zusammen.

„Noch eins, Adelheid!“ sagte er flüchtig. „Der junge Fürst Adelsberg war heut unausgesetzt in Deiner Nähe, er huldigt Dir in etwas auffallender Weise.“

„Wünschest Du, daß ich diese Huldigungen zurückweise?“ Sie fragte das sehr obenhin.

[217]

Die Chalifengräber zu Kairo.
Nach einem Gemälde von F. Perlberg.

[218] „Nein, ich bitte Dich nur, ihnen die nöthigen Schranken zu ziehen, damit kein unnützes Gerede entsteht. Ich denke nicht daran, Dir Deine Erfolge in der Gesellschaft zu verkümmern. Wir leben nicht in bürgerlichen Verhältnissen, und in meiner Stellung wäre es lächerlich, wollte ich den eifersüchtigen Ehemann spielen, der jede Aufmerksamkeit, die man seiner Frau erweist, mit Argwohn betrachtet. Ich muß Dich darin ganz Deinem eigenen Taktgefühl überlassen, dem ich unbedingt vertraue.“

Das klang alles so gelassen, so vernünftig und so grenzenlos gleichgültig. Von dem Vorwurf der Eifersucht konnte man Herrn von Wallmoden in der That freisprechen, die offen zur Schau getragene Bewunderung des jungen, liebenswürdigen Fürsten flößte ihm gar keine Besorgniß ein, er überließ seine Frau ruhig ihrem „Taktgefühl“.

„Ich werde die Depesche selbst besorgen,“ fuhr er fort, „seit der Herzog hier ist, haben wir ja ein Telegraphenamt im Schlosse. Du solltest Deiner Kammerfrau klingeln, mein Kind, Du siehst etwas angegriffen aus und bist wahrscheinlich ermüdet – gute Nacht.“

Damit ging er, aber Adelheid befolgte den ihr ertheilten Rath nicht. Sie war wieder an das Fenster getreten und ein halb bitterer, halb schmerzlicher Ausdruck zuckte um ihre Lippen. Sie hatte es noch nie so deutlich wie jetzt gefühlt, daß sie ihrem Gatten nichts war als ein glänzendes Schmuckstück, mit dem man Staat macht – eine Frau, die man stets mit vollendeter Höflichkeit und Artigkeit behandelt, weil man mit ihrer Hand ein fürstliches Vermögen empfangen hat, und der man mit derselben Höflichkeit eine Bitte abschlägt, die doch so leicht zu gewähren war.

Ueber dem Walde lagerte die Nacht, der Himmel war dunkel und verschleiert, nur hin und wieder schimmerte ein einzelner Stern durch die ziehenden Wolken, und zu diesem düsteren Nachthimmel blickte jetzt ein Antlitz empor, nicht in der kühlen stolzen Ruhe, in der die Welt es zu sehen gewohnt war, sondern mit dem Ausdruck flehender Angst.

Die junge Frau hatte beide Hände gegen die Brust gepreßt, als schmerze sie dort etwas. Sie hatte ja fliehen wollen vor der dunklen Macht, deren Nahen sie längst schon gefühlt hatte, und die jetzt immer näher, immer dichter ihre Kreise zog, sie hatte sich in den Schutz des Gatten flüchten wollen – vergebens! Er ging und ließ sie allein, und ein anderer blieb, ein anderer, der mit seinen dunklen, heißen Augen, mit dem Klange seiner Stimme eine so geheimnißvolle unwiderstehliche Gewalt ausübte. „Ada!“ Der Name mit seinem fremdartig süßen Klange wehte wie Geisterhauch an ihrem Ohr vorüber. Es war ja ihr Name, den die Sagengestalt der Arivana trug.




Es war Oktober geworden und der Herbst begann seine Herrschaft schon nachdrücklich zu zeigen. Das Laub der Bäume färbte sich bunt, die Landschaft lag morgens und abends im Nebelduft und die Nächte brachten bisweilen Reif, während die Tage meist schön und sonnig waren.

Mit Ausnahme jenes großen Abendfestes, das die ganze Umgegend in Fürstenstein versammelt hatte, und der Jagden, die um diese Jahreszeit selbstverständlich im Vordergrunde standen, fanden keine besonderen Festlichkeiten statt. Der Herzog wie seine Gemahlin liebten es, im kleineren Kreise zu verkehren, und wollten sich die Ruhe und Zwanglosigkeit ihres Herbstaufenthaltes nicht durch rauschende Vergnügungen stören lassen. Um so häufiger wurden Ausflüge unternommen, die Waldberge zu Pferd und zu Wagen durchstreift, und die fürstliche Tafel sah täglich eine größere Anzahl von Gästen.

Auch Adelheid von Wallmoden gehörte zu diesem engeren Kreise. Die Herzogin, die es erfuhr, in welcher Art ihre Schwägerin der jungen Frau die Stellung zu erschweren suchte, glich das durch um so größere Liebenswürdigkeit aus und zog sie bei jeder Gelegenheit in ihre Nähe, der Herzog aber, der den Gesandten in seiner Gemahlin auszuzeichnen wünschte, war durchaus einverstanden damit. Wallmoden selbst befand sich noch in Berlin, die zwei Wochen, die er für seine Reise in Aussicht genommen hatte, waren bereits verstrichen, und noch verlautete nichts über seine Rückkehr.

Einer der häufigsten Gäste in Fürstenstein war Egon von Adelsberg, der erklärte Liebling seiner fürstlichen Verwandten, und mit ihm wurde auch seinem Freunde Rojanow stets die Ehre einer Einladung zutheil. Der junge Fürst hatte recht prophezeit, Hartmut stieg wie ein leuchtender Meteor auf, dem alle Blicke bewundernd folgten und von dem man gar nicht erwartete, daß es die altgewohnten Bahnen des Hoflebens ziehen werde. Er hatte auf Wunsch der Herzogin bereits seine „Arivana“ vorgelesen und damit einen förmlichen Triumph gefeiert. Der Herzog hatte ihm sofort die Aufführung des Dramas am Hoftheater zugesichert, und Prinzessin Sophie wandte dem jungen Dichter ihre besondere Gnade zu. Die Umgebung folgte selbstverständlich dem Beispiele der Fürstlichkeiten und folgte in diesem Falle nur zu gern, denn der Zauber, den dieser Mann nun einmal auf alle ausübte, that auch hier seine Wirkung. –

Vor dem Schlosse zu Rodeck hielt der Jagdwagen des Fürsten Adelsberg. Es war noch früh am Tage und der nebelduftige Oktobermorgen schien einen klaren, schönen Tag zu verheißen. Soeben trat Egon in voller Jagdausrüstung auf die Terrasse und sprach mit dem Schloßverwalter, der ihm folgte.

„Also Du willst Dir die Jagd auch anschauen?“ fragte er. „Natürlich, wo es etwas zu sehen giebt, muß Peter Stadinger dabei sein! Mein Kammerdiener hat gleichfalls um Urlaub gebeten, und ich glaube, die ganze Bevölkerung des ‚Waldes‘ wandert heute aus, um mit Kind und Kegel nach dem Jagdrevier zu ziehen.“

„Ja, Durchlaucht, so etwas giebt es auch nicht oft zu schauen,“ meinte Stadinger. „Die großen Hof- und Staatsjagden sind selten geworden in unserem Walde. Gejagt wird ja überall, aber dann sind die Herren meist unter sich wie hier in Rodeck, und wenn die Damen nicht dabei sind –“

„Dann ist es sträflich langweilig!“ ergänzte der Fürst. „Ganz meine Meinung, aber Du bist ja sonst so eingenommen gegen die Weiblichkeit und schreist Ach und Wehe, wenn irgend etwas, was noch nicht das kanonische Alter erreicht hat, die Grenze von Rodeck uberschreitet. Hast Du Dich auf Deine alten Tage noch bekehrt?“

„Ich meinte die hochfürstlichen Damen, Durchlaucht,“ erklärte der Alte mit nachdrücklicher Betonung.

„Die fürstlichen Damen können mich höchstens auf einer Spazierfahrt mit ihrem Besuche beehren, zur Jagd einladen kann ich sie nicht, da ich Junggeselle bin.“

„Und warum sind Durchlaucht denn noch immer Junggesell?“ fragte Stadinger in vorwurfsvollem Tone.

„Mensch, ich glaube, Du hast auch schon Heirathspläne für mich, wie meine aller – wie alle Welt, meine ich!“ rief Egon lachend. „Gieb Dir keine Mühe, ich heirathe nicht!“

„Das ist unrecht, Durchlaucht,“ belehrte Stadinger, der den Titel seines Herrn mindestens einmal in jedem Satze vorbrachte, weil das zum Respekt gehörte, während er zugleich seiner jungen Durchlaucht nach allen Regeln den Text las – „und unchristlich ist es auch, denn der Ehestand ist ein heiliger Stand, in dem man sich wohl befindet; Dero hochseliger Herr Vater haben auch geheirathet – und ich auch!“

„Natürlich, Du auch! Du bist sogar Großvater einer allerliebsten Enkelin, die Du schändlicherweise fortgeschickt hast. Wann kommt denn eigentlich die Zenz zurück?“

Der Schloßverwalter fand für gut, die letzte Frage zu überhören, aber er blieb hartnäckig bei seinem Thema.

„Ihre Hoheiten die Frau Herzogin und die Prinzessin Sophie sind auch dieser Meinung, Durchlaucht sollten sich die Sache doch überlegen.“

„Nun, da Du mich so väterlich ermahnst, werde ich sie mir überlegen. Was aber die Prinzessin Sophie betrifft – sie beabsichtigt nach Bucheneck zu fahren, wo das Stelldichein der heutigen Jagd ist, und da ist es möglich, daß sie Dich dort bemerkt und anredet.“

„Sehr möglich, Durchlaucht!“ bestätigte der Alte mit großem Selbstbewußtsein. „Hoheit beehren mich stets mit einer Anrede, da sie mich als ältesten Diener des fürstlichen Hauses kennen.“

„Gut, wenn die Prinzessin sich also zufällig nach den Schlangen und Raubthieren erkundigen sollte, die ich von der Reise mitgebracht habe, so sagst Du, sie wären bereits nach einem der anderen Schlösser geschickt worden.“

„Ist gar nicht nöthig, Durchlaucht!“ versicherte Stadinger wohlwollend. „Dero allergnädigste Tante weiß bereits genau Bescheid.“

„Bescheid? Worüber? Hast Du ihn vielleicht gegeben?“

„Zu Befehl; vorgestern, als ich in Fürstenstein war. Hoheit kamen gerade von einer Spazierfahrt zurück und geruhten, mich heranzuwinken und auszufragen, Hoheit thun das sehr gern.“

[219] „Ja, das weiß der Himmel!“ murmelte der junge Fürst, der bereits Unheil ahnte. „Und was hast Du denn da geantwortet?“

„‚Hoheit können ganz ruhig sein‘, habe ich gesagt. ‚Von lebendigem Gethier haben wir nur Affen und Papageien im Schlosse, Schlangen sind überhaupt nie dagewesen, es sollte zwar eine große Seeschlange ankommen, aber sie ist auf der Ueberfahrt gestorben, und die Elefanten haben sich bei der Einschiffung losgerissen und sind wieder in die Palmenwälder zurückgelaufen – so sagt Durchlaucht wenigstens! Zwei Tiger haben wir allerdings, aber sie sind ausgestopft, und von dem Löwen ist nur das Fell da, das liegt im Jagdsaal, also sehen Hoheit doch selbst, daß die Bestien nicht ausbrechen und Schaden anrichten können.‘“

„Nein, aber Du hast ihn angerichtet mit Deinem Geschwätz!“ rief Egon ärgerlich. „Und die Prinzessin? Was sagte sie darauf?“

„Hoheit lächelten nur und erkundigten sich dann noch, wie es mit dem weiblichen Dienstpersonal in Rodeck bestellt sei und ob Mädchen aus hiesiger Gegend darunter wären, aber da sagte ich“ – Stadinger warf sich gewaltig in die Brust – „‚Was von Frauenzimmern im Schlosse ist, das habe ich in Dienst genommen. Arbeitsam und tüchtig sind sie alle, dafür habe ich gesorgt; aber Durchlaucht läuft, wenn er sie zu Gesicht bekommt, und Herr Rojanow läuft noch ärger, und in der Küche sind die Herren nie wieder gewesen, seit sie einmal darin waren.‘ – Darauf waren Hoheit sehr gnädig und geruhten, mich zu loben, und entließen mich in allerhöchster Zufriedenheit.“

„Und ich möchte Dich in allerhöchster Unzufriedenheit zum Kuckuck jagen!“ fuhr der junge Fürst wüthend auf. „Du verwünschter alter Waldgeist, was hast Du da wieder angestiftet!“

Der Alte, der offenbar glaubte, seine Sache sehr gut gemacht zu haben, sah seinen Herrn mit verblüffter Miene an.

„Ich habe ja doch nur die Wahrheit gesagt, Durchlaucht!“

„Es giebt aber Fälle, wo man die Wahrheit nicht sagen darf.“

„So? Das wußte ich bisher noch nicht.“

„Stadinger, Du hast eine ganz verwünschte Art, zu antworten! Hast Du vielleicht auch der Prinzessin erzählt, daß die Zenz schon seit vier Wochen in der Stadt ist?“

„Zu Befehl, Durchlaucht!“

(Fortsetzung folgt.)




Jugendspiel.


Unser Zeitalter leidet an Nervenschwäche; sie ist die Krankheit des neunzehnten Jahrhunderts, sie ist die Folge der mit dem Fortschreiten unserer Kultur veränderten Lebensweise, welche den Geist anspannt und den Körper vernachlässigt. Forschen wir nach den Ursachen dieses Leidens, so sehen wir, daß es von den meisten nicht allein im reiferen Alter, im Kampfe ums Dasein erworben wird; wir sehen vielmehr, daß durch eine verkehrte Erziehung der Grund dazu schon in der Jugend gelegt wird. Das ist eine Thatsache, die sich nicht wegstreiten läßt; unserer Jugend fehlt der frohe Sinn, der frühere Geschlechter auszeichnete; für ihre Bildung wird sehr viel gethan; in der Schule lernt sie außerordentlich viel und außerhalb der Schule wird für ihren Geist noch durch eine Unzahl von Jugendbüchern und Zeitungen für die Jugend gesorgt.

Schon unsere Knaben sind ganz gebildete Leutchen, aber die meisten zeigen dabei eine gewisse Altklugheit, die der Jugend nicht ziemt, und je höher sie in der Schule vorrücken, desto schlimmer wird dieser Geisteszustand, bis er in das, was wir Blasirtheit nennen, übergeht. Die Jugend selbst ist nicht schuld daran, denn sie entwickelt sich so, wie man sie erzieht; und wir erziehen ihren Geist und sorgen zu wenig für ihren Körper. Das ist ein Fehler; denn ein gesunder Geist kann nur in einem gesunden Körper wohnen, und recht hat der englische Schriftsteller, der den Satz aussprach: „Wer nur Athlet ist, ist halb Mensch, halb Thier. Wer nur Gelehrter ist, ist halb Mensch, halb Geist. Jeder von ihnen ist nur ein halber Mensch.“ Und wer dürfte leugnen, daß unsere Erziehung zu einer solchen Halbheit führt?

Das Kind spielt noch im Freien, obwohl es in den Städten noch viel zu artig erzogen und ihm das freie Austummeln vielfach verwehrt wird; auch der Knabe spielt noch, läuft mit seinem Reifen die Landstraße auf und ab, zieht mit Genossen ins Freie hinaus, um Räuber und Gendarm zu spielen, aber bald tritt für ihn die Zeit ein, wo er sich der jugendlichen Spiele schämt, wo er die Erwachsenen nachahmt und gemessenen Schrittes, mit dem Spazierstock in der Hand, die Cigarre im Mund, durch die Straßen und den Wald dahin bummelt. Und wird er älter, so schließt er sich mit seinen Altersgenossen zu Vereinen zusammen, in denen Biertrinken, Rauchen und Skatspielen die Hauptsache bilden. Das sind ja Schäden, die man schon oft aufgedeckt, schon genugsam besprochen hat.

Unter den Mitteln, die man zur Bekämpfung derselben empfohlen hat, verdienen in erster Linie die Jugendspiele beachtet zu werden. In England sind sie zur Volkssitte geworden, in Deutschland sind sie eine große Seltenheit, namentlich was wohl durchdachte Jugendspiele anbelangt, die neben der körperlichen Ausbildung auch als erzieherisches Mittel angesehen werden müssen. Planmäßig und zielbewußt sind sie bis jetzt unseres Wissens nur in Görlitz durchgeführt worden. Der preußische Kultusminister von Goßler hat diese Görlitzer Bestrebungen warm befürwortet und zur Nachahmung empfohlen, und neuerdings fanden auch zahlreiche Schulmänner Gelegenheit, sich durch den Augenschein von dem Werth der Jugendspiele zu überzeugen. Vom 1. bis 5. Oktober v. J. tagte der 40. Philologen-Kongreß in Görlitz, und den gelehrten Gästen wurden auch die Jugendspiele vorgeführt. „Die Vorführung,“ so lautet ein Bericht darüber, „begann unter Leitung des Turnlehrers Jordan mit einem in verschiedenen munteren Wendungen sich ergehenden Gruppenmarsch der unteren Klassen, zu welchem eine Kapelle in heiteren Weisen den Takt gab. Nächstdem wurde von den oberen Klassen ein wohlgelungener kunstvoller Reigen vorgeführt, zu welchem von den Mitwirkenden selbst ein patriotisches Lied in frischer und anregender Weise gesungen wurde. Die sicher und frei sich bewegenden jugendlichen Gestalten machten einen überaus günstigen Eindruck. Nach dieser Einleitung begann nunmehr die Vertheilung der Schüler in einzelne Spielgruppen, die sich bald über den ganzen Platz verbreiteten und auch die anwesenden Zuschauer anzogen. Hier wurde Fußball, Speerwerfen – das Pilum der alten Römer – Bogenschießen, Tambourinball, dort Lawn-Tennis, Schleuderball, Treibball, Barlauf [220] und anderes ausgeführt. Das Ganze bot ein sehr lebensvolles Bild dar und zog die Gäste mehr und mehr an. Hier und da versuchten einige derselben ihre eigene Kunst beim Speerwerfen, Bogenschießen etc., doch ließen sie sehr bald von dieser ungewohnten Thätigkeit ab, da ihnen die Jugend doch zu weit überlegen war. So ging das heitere Treiben etwa 1 1/2 Stunden weiter. In mehreren Kreisen der gelehrten Herren hörte man die Frage erörtern, wie diese Spiele wohl am besten auch auf andere Anstalten übertragen werden könnten, und hielt man es für erwünscht, daß in Görlitz im nächsten Frühjahr vielleicht achttägige Kurse für auswärtige Lehrer eingerichtet werden möchten.“

So haben die Görlitzer Spiele ihre Prüfung vor einem maßgebenden Kreise glänzend bestanden. Doch lernen wir sie näher kennen, verfolgen wir die kurze, aber lehrreiche Entwickelungsgeschichte derselben: Im Jahre 1882 erfolgte der bekannte preußische Ministerial-Erlaß, in welchem der Grundsatz aufgestellt wurde, daß die Schule auch der leiblichen Entwicklung ihrer Zöglinge mehr Fürsorge zuwenden sollte, und dieser Erlaß veranlaßte den Landtagsabgeordneten von Schenckendorff, mit dem Gymnasialdirektor Dr. Eitner in Görlitz in Verbindung zu treten, um zu erwägen, ob es nicht möglich sein würde, die Jugendspiele mit Hilfe des in Görlitz bereits bestehenden Vereins für Knabenhandarbeit ins Leben zu rufen. Der Vorschlag fand Beifall, und es wurde beschlossen, zunächst mit den Schülern des Gymnasiums den Anfang zu machen. Dieselben sollten an zwei schulfreien Nachmittagen unter Leitung des Turnlehrers Jordan sowie einiger jüngerer Lehrer der Anstalt in zwei getrennten Abtheilungen die Spiele lernen und üben. Den unteren Klassen bis Untertertia einschließlich wurde seitens der städtischen Behörden ein geeigneter Platz vor der Musikhalle an der Promenade zugewiesen, den oberen der große, geräumige Turnplatz. Mehr zu thun gestatteten für den Anfang die durch freiwillige Beiträge gesammelten Mittel nicht, denn es mußte nicht nur das nothwendige Spielgeräth beschafft, sondern auch das beaufsichtigende Lehrerpersonal angemessen besoldet werden.

Wie nahm nun die Gymnasialsjugend diese Neuerung auf? Ein Zwang bestand nicht; es durfte kommen, wer eben wollte. Die Sexta und Quinta erschienen von Anfang an in großer Zahl auf dem Spielplatze; bei den anderen Klassen zeigte sich aber bereits die Macht der grundfalschen Ansichten, welche unsere Jugend beherrschen. Die Quartaner schämten sich bereits, so öffentlich zu spielen, und erst nach und nach legten sie die falsche Scham ab, die bei den Untertertianern noch in höherem Maße zur Geltung kam. Die Schüler der oberen Klassen waren vollends von dieser Scheu noch mehr eingenommen und lernten diese erst aus dem verborgenen, den Augen neugieriger Zuschauer entzogenen Platze ablegen. So ist unsere Jugend beschaffen, sie schämt sich, zu spielen!

Die Leiter wählten unter der großen Zahl der Spiele die zweckmäßigsten aus, die Bewegungsspiele, in welchen die Jugend sich nicht nur fröhlich austummeln, sondern auch ihren Körper stärken, Anmuth und Gewandtheit lernen kann, in denen endlich auch der erfrischende Einfluß aus Geist und Gemüth nicht fehlt. Der Mützendieb, Geier und Henne, Drittenabschlagen, Stehball, schwarzer Mann, Jäger und Wild, Schlagball, Urbär und Barlauf - das waren die Lieblingsspiele der jüngeren Abtheilung, während die oberen Klassen sich für Fuß-, Schleuder-, Sau- und Treibball, vor allem aber ebenfalls für Barlauf erklärten.

Für wie viele, welche in allen Regeln des Biercomments aufs beste bewandert sind, bilden diese Namen zum großen Theil weiter nichts als einen leeren Wortklang hinter dem sich für sie kein anschauliches Bild verbirgt. Die Förderer des Jugendspiels in Deutschland können das an der Menge der an sie gelangenden Anfragen beurtheilen. Freilich, wir besitzen eine stattliche Litteratur über Jugendspiele. Dr. Eitner empfiehlt allein sieben Bücher, die bis auf eines in den Jahren 1880 bis 1883 erschienen sind[10] und die jedem reichliche Belehrung bieten; aber es genügt nicht, Jugendspiele zu drucken, man muß sie vor allem auf dem Spielplan ausführen.

Der Sommer 1883 ging vorüber und der Görlitzer Verein konnte mit Freuden wahrnehmen, daß das Neue sich eingebürgert hatte und in der Stimmung der Jugend ein Umschlag zum bessern erfolgt war. Die begeistertsten Anhänger, die auch die geübtesten waren, wurden daher auch im Winter zum Bogenschießen und Speerwerfen nach schwedischem Muster in dem großen Turnsaale eingeladen. Die ernste Mühe der Leiter der Spiele fand auch anderweitig Anerkennung. Der Kommunallandtag der preußischen Oberlausitz gewährte dem Verein eine Unterstützung von 500 und die Behörde der Stadt eine solche von 180 Mark.

Der Sommer 1884 vereinigte bereits eine größere Anzahl von Schülern auf den Spielplätzen, und nach englischem Vorbilde wurden auch neue Spiele eingeführt: der Fuß- oder Thorball für die kräftigeren und das Tambourinspiel für die Schwächeren. In diesem Jahre konnte auch der Verein am 13. September bereits ein öffentliches Spielfest veranstalten, das den Charakter eines wahren Volksfestes annahm. Das Eis war gebrochen; die Theilnahme an der Sache wuchs, und nun gewährte die Stadt eine Beihilfe von 1000 Mark und die Stände wieder eine von 500 Mark, und am Sedantag 1885 spielte die Gymnasialjugend zur Feier des Festes angesichts einer Zuschauermenge von etwa 6000 Personen.

Das Gymnasium war für die Bewegungsspiele gewonnen; nun machte der Verein im Jahre 1886 einen weiteren Schritt vorwärts, indem er auch die Volksschüler an den Spielen theilnehmen ließ, wobei zunächst nur die beiden ersten Knabenklassen herangezogen wurden, die aber 1000 bis 1100 Schüler enthielten; auch hier war die Betheiligung zwanglos, und es erschienen etwa 250 Knaben auf dem Spielplatz. Nichts kennzeichnet den Einfluß dieser Neuerung auf das Gemüth der Schüler besser als folgende Bemerkung Dr.Eitners: „Die Lust und Liebe zum Spiel wuchs bald auch bei diesen Knaben, und oft konnte man aus Straßen und Plätzen spielende Kinder beobachten, die sich nach Herzenslust desselben freuten, während sie früher, nicht wissend, was sie unternehmen sollten, oft genug auf Unfug verfielen und den Vorübergehenden lästig wurden. Konnte doch schon am Ende des ersten Halbjahres als erfreuliche Thatsache verzeichnet werden, daß nach Mittheilung des Stadtschulinspektors, Herrn Heumann, während der letzten großen Ferien der Polizei keine einzige Ungehörigkeit der Volksschüler - seit vielen Jahren das erste Mal - bekannt geworden war. Wir durften hierbei überzeugt sein, daß das Jugendspiel, wenn auch nicht alles, so doch vieles zu dieser Hebung der guten Sitte beigetragen hatte.“ - Gegenwärtig nehmen an diesen Spielen gegen 240 Gymnasiasten und etwa 450 Volksschüler theil; die Höhere Bürgerschule in Görlitz konnte zur Betheiliguug noch nicht herangezogen werden.

Es ist dringend zu wünschen, daß der Vorgang des Görlitzer Vereins Nachahmung findet, und wer sich näher darüber unterrichten will, der kann eine ausführliche Beschreibung der Görlitzer Jugendspiele aus der Feder Dr. Eitners durch die Ottomar Bierlingsche Buchhandlung in Görlitz kostenfrei gegen die Einsendung von 10 Pfennig Porto beziehen.

Es dürfte noch einige andere Städte in Deutschland geben, in denen Jugendspiele geübt werden, sie sind z. B. schon seit dem Jahre 1876 am Gymnasium in Braunschweig vorgeschrieben, aber diese wenigen Einrichtungen sind eben nur seltene Ausnahmen. [221] Im vorigen Jahre ist auch ein für unsere Frage sehr beachtenswertes Werk erschienen: „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Englische Schulbilder in deutschem Rahmen“ von G. Raydt. Der Verfasser hat, unterstützt aus der „Bismarck-Schönhausen-Stiftung“, eine Studienreise nach England unternommen und stellt in seinem Werke Vergleiche zwischen den deutschen und englischen Schulverhältnissen an. Es dürfte nicht alles, was der Verfasser lobend hervorhebt, ein unbeschränktes Lob verdienen; aber lernen können wir auf dem Gebiete der gesunden Jugenderziehung, der Körperpflege und der Jugendspiele von England ungemein viel. Was die Gemeinden für diese Zwecke thun können und thun müssen, das ist in dem Raydtschen Werke klar niedergelegt, und darum möchten wir dasselbe nicht nur in Händen der Lehrer, sondern auch in Händen derer wissen, welche die Städte verwalten. Sie könnten daraus lernen, was unserer Jugend in den Städten fehlt, welche natürlichen Rechte derselben völlig unbeachtet bleiben, und sie würden sich wohl entschließen, anstatt der paar elenden Sandhaufen, die bei uns den Inbegriff eines Spielplatzes bilden, andere Einrichtungen zu treffen. Alle, denen das Wohl der Jugeud am Herzen liegt, denen die Zukunft der Nation nicht gleichgültig ist, sollten die Worte beherzigen, die der Superintendent Schulze im Görlitzer Verein seiner Zeit ausgesprochen hat: „Es ist ein übles Zeichen, wenn jetzt zuweilen unsere Jugend die Nase rümpft über die sogenannten kindlichen Spiele und nur frisch wird im Tanzsaal. Wir möchten unserer Jugend auf der einen Seite die ernste Liebe zur Arbeit, auf der andern die fröhliche Liebe zum Spiele einprägen und erhalten. Das wäre eine elende Jugend, die nicht mehr spielen kann oder zu spielen sich schämt, oder die während ihrer Stunden der Erholung nur in die Rohheit der Gassenhauer oder in die Altbärtigkeit der Bierstuben sich verirrt.

Auch wir Alten, verachten wir nicht die Theilnahme am erheiternden Familienspiel, in welchem es Geist und Witz, Schnelligkeit der Auffasung und der Wendung, Frische des körperlichen Lebens zu zeigen gilt. Das sind die liebenswerthesten Greise, die jung bleiben im unbefangenen Sichfreuen an den heiteren Künsten und im Theilnehmen an dem, was den Sinn und das Auge fröhlich macht.“

Wir können nicht warten, bis einmal die Schule das Jugendspiel zur Pflicht machen wird; jeder Jugendfreund muß schon jetzt eingreifen, und wie er das am besten erreichen kann, das beweist uns der Vorgang von Görlitz. Vereine, von einsichtsvollen Erziehern unterstützt, können zum Ziel führen. Was haben nicht die Turnvereine in früherer Zeit erreicht; was ist nicht in jüngster Zeit auf Vereinswegen für die Ferienkolonien, die Handfertigkeit und andere gemeinnützige Zwecke erreicht worden! Darum, ehe noch für so viele zu früh der Jugend Grabgeläut erschallt, sollten wir uns aufraffen; darum möchten nur allen Jugendfreunden zurufen: „Gründet Vereine zur Förderung des Jugendspiels!“

C. Falkenhorst.





Samuel Smiles.
Ein Herold der Selbsthilfe und Pflichterfüllung.

Berurtheilt man einen Schriftsteller nicht bloß nach dem künstlerischen Werthe, sondern auch nach dem thatsächlichen Erfolg seiner Werke, zieht man in Betracht, welche unmittelbare Wirkung er auf seinen Leserkreis hervorgebracht hat, dann muß Samuel Smiles, der englische Moralphilosoph, dessen Bücher über die ganze Welt verbreitet sind, als eine der hervorragendsten Erscheinungen des zeitgenössischen Schriftthums bezeichnet werden. Seine Werke haben weit über England hinaus den Samen tief sittlicher Grundsätze verstreut, sie sind Hausbücher geworden in unzähligen Familien, und in größerem Umfange als den spannendsten Romanen hat sich ihnen die lebhafte Theilnahme von Millionen Lesern zugewendet. Es sind dies aber Werke, die man nicht bloß liest, um sie dann wegzulegen und für immer zu vergessen; wer sich überhaupt auf die Dauer mit ihnen befaßt, der trägt einen sittlichen Nutzen davon - es bewährt sich in diesem Falle die Sokratische Lehre, daß das Gute erkennen auch schon es üben heißt. Gerade uns Deutschen muß Smiles eine überaus vertraute Erscheinung sein, denn was unser Kant in den „kategorischen Imperativ“ zusammengefaßt hat, das drückt Smiles in einfacher, nicht durch wissenschaftliche Kunstausdrücke verdunkelter Sprache aus: er predigt die Heiligkeit der Pflicht, welche erfüllt zu haben den stolzen Inhalt auch des äußerlich unscheinbarsten Lebenslaufes ausmacht. Diesen Stoff behandelt er in tausend wechselnden Arten; er gewinnt ihm immer neue Seiten ab, und wenn man meint, nun müsse er sich endgültig erschöpft haben, dann setzt er die Feder an und bringt zu Gunsten seiner Sache abermals eine reiche Fülle von Vernunftgründen und Mittheilungen vor. Er sagt eigentlich nichts, was nicht vor ihm schon andere gesagt hätten. Trotzdem liegt die Erklärung seines ungewöhnlichen Erfolges auf der Hand: er trifft wie kaum ein zweiter einen volksthümlichen, jedermann einleuchtenden Ton, er kleidet alles so ein, daß man immer die Stimme des einfachen gesunden Menschenverstandes vernimmt, er läßt es nicht bei allgemeinen Lehrsätzen bewenden, sondern holt aus der Erfahrung von Gegenwart und Vergangenheit Beispiele heran, welche jene Lehrsätze vor dem Vorwurfe der Unausführbarkeit bewahren. Zweitens - und der eine Umstand ist so wichtig wie der andere - trägt jedes seiner Worte den Stempel der Ueberzeugung, das Gepräge der Wahrheit. Nie bedient Smiles sich einer hochtrabenden Phrase, nie gefällt er sich in Schwulst, man hat den Eindruck, daß hier ein ehrlicher Mann zu Tage fördert, was ihm tief in der Brust lebt. Smiles wendet sich an den Leser nur, wenn er ihm wirklich etwas zu sagen hat; die bloße Buchmacherei ohne höheren Zweck, ohne sittliche Absicht ist etwas ihm völlig Fremdes.

Nach einer Photographie von G. Mc. Kenzie in Paisley.

In Deutschland sind seine wichtigsten Schriften in Uebersetzungen bekannt geworden: „Selbsthilfe“, „Sparsamkeit“, „Charakter“ und „Pflicht“. Damit ist aber die Liste seiner litterarischen Arbeiten nicht erschöpft. Es giebt von ihm noch eine Biographie von Stephenson, fünf Bände Biographien berühmter Ingenieure, einen Band Biographien hervorragender Industrieller, eine Abhandlung über die Hugenotten, die Charakterzeichnungen des Naturforschers Thomas Edward und des Geologen und Botanikers Robert Dick und verschiedenes andere. In allen seinen Schriften handelt es sich ihm darum, darzuthun, was des Menschen Wille und Thatkraft vermögen, wie vor der Ausdauer auf die Länge kein Hinderniß, keine Schranke bestehen kann, aber auch, wie die Reinheit des Charakters, die Makellosigkeit der Tugend, die strenge Auffassung des Berufes Vorbedingungen sind für ein Leben der Selbstzufriedenheit. Kein ungetrübtes Glück ohne das Bewußtsein der voll erfüllten Pflicht, keine echte Freude für diejenigen, die ihre Schuldigkeit nicht mit allen Kräften zu thun suchen - das ist der Wahlspruch von Samuel Smiles, und er leuchtet auch hervor, wo der Schreiber ihn nicht ausdrücklich vorbringt, so z. B. in seinem der Sparsamkeit gewidmeten Buche. Nach seiner Anschauung ist die Sparsamkeit eine Pflicht, die wir üben sollen gegen uns selbst, gegen unsere Familie, gegen die Gesellschaft, gegen den Staat, und so bedeutet auch Sparsamkeit Pflichterfüllung. Seine strenge, dabei aber keineswegs finstere, sondern durch und durch freudige und freundliche Lebensanschauung zieht sich als ein rother Faden durch seine sämmtlichen Schriften, und darum tragen diese ein einheitliches Gepräge und hängen innerlich zusammen. In den rein biographischen Werken

[222] verfolgt er die gleichen Zwecke wie in den übrigen: er schildert durchweg solche Lebensläufe, aus denen ein großer Wille, eine ungewöhnliche Festigkeit des Wesens hervorleuchtet, und mit Vorliebe behandelt er die Schicksale von Männern, welche sich aus geringen Anfängen mühsam emporgerungen, lange mit jeder Art von Beschwer und Hemmniß zu kämpfen gehabt haben, und deren endlicher Sieg den Triumph des mächtigen Menschengeistes über die Zufälle der Geburt, über Umstände und Verhältnisse, über jegliche Art voll Ungunst und Unbill bedeutet.

Wenn er glaubt, mit Betrachtungen und Auseinandersetzungen innehalten zu sollen, dann geht er gern zu Beispielen über, und auf diesem Gebiete ist er geradezu unerschöpflich. Er ermuthigt, er spornt an, er tröstet durch Beispiele. Er weist auf die Personen hin, die gestrebt, gelitten, gekämpft haben – er weiß aus der Daseinsgeschichte unzähliger Personen Begebnisse anzuführen, welche uns erheben, beruhigen, ermuthigen sollen. Droht der Mißerfolg uns niederzubeugen, so erzählt Smiles uns eine Menge Proben davon, wie der Lorbeer erst nach vielen Enttäuschungen und Entbehrungen dem oder jenem zutheil geworden sei. Betrachten wir die uns zugefallene Aufgabe als zu gering, so belehrt Smiles uns, daß niemand klein sei, der seine Pflicht erfülle, daß es ein Heldenthum in der Lebensführung gebe wie ein Heldenthum auf dem Schlachtfelde. Und wie er scharf zu sondern weiß, die Sparsamkeit empfiehlt, aber den Geiz verdammt, das Streberthum geißelt, den Ehrgeiz aber preist, so macht er uns klar, daß nur derjenige ein unnützes Geschöpf ist, der nicht mit allen Kräften trachtet, zu leisten, was innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten liegt. Smiles führt mit Vorliebe das Wort Lord Broughams an: wenn er Stiefelputzer wäre, so würde er sich bemühen, der erste Stiefelputzer von England zu werden. Wie er die Aufgabe des Menschen versteht, mag eine Stelle aus dem Buche „Der Charakter” darthun: „Geleitet von dem Lichte großer Beispiele, die von den edelsten Vertretern der Menschheit gegeben wurden, soll jeder von uns dahin streben, die höchste Charakterstufe zu erreichen, nicht in den Mitteln, wohl aber im Geiste der Reichste, nicht in weltlicher Stellung, wohl aber in Ehrenhaftigkeit der Höchste, nicht der Klügste, wohl aber der Tugendhafteste, nicht der Mächtigste und Einflußreichste, sondern der Wahrhafteste, Aufrichtigste und Ehrlichste zu werden.”

Mancherlei läßt sich gegen Einzelheiten in Smiles Schriften einwenden. So z. B. wird jeder Nationalökonom erklären, daß Smiles der Sparsamkeit des einzelnen eine zu große wirthschaftliche Bedeutung für die Gesammtheit beilegt, und daß er sich irrt, wenn er mittels des Sparens die sociale Frage ein für allemal lösen will. Er geht auch darin zu weit, daß er der natürlichen Begabung, der Eigenart, dem Temperament des Menschen nur einen sehr geringen Platz einräumt neben Fleiß, Standhaftigkeit, Tüchtigkeit und Selbstbeherrschung. Aber im großen und ganzen wird man kaum den Gegenbeweis gegen Smiles’ Ausführungen antreten können. Man hat die Empfindung, daß er immer den Nagel auf den Kopf trifft.

Eine der gewinnendsten Seiten an Smiles ist sein scharfer Blick für das Aus- und Durchführbare. Er schwebt nie in den Wolken, er geht mit festen Schritten über die Erde. Er vertröstet diejenigen, die seine Rathschläge befolgen, auf keinen außerirdischen Lohn, sondern beweist ihnen, sie würden greifbaren Nutzen finden, wenn sie den richtigen Weg einschlügen – und auch da ist er mit lebendigen Belegen wieder flink zur Hand.

Mit dem Buche „Selbsthilfe” hatte er die Art gefunden, die ihm so reiche Früchte bringen sollte. Eine Reihe junger Leute in Leeds hatten einen Selbstbildungsverein gegründet. Smiles leitete damals in Leeds eine Zeitung – es war dies vor seiner Thäthigkeit als Eisenbahnsekretär –, er hielt in jenem Verein Vorträge und erzielte mit letzteren so nachhaltige Wirkung, daß er sie gesammelt erscheinen ließ. Er stand für die Erfahrung ein, daß der Mensch nicht auf Zufall und Glück vertrauen dürfe, sondern auf die eigene Kraft bauen müsse, ja, daß er nicht verzagen dürfe, wenn Zufall und Glück sich ihm auch noch so lange abhold zeigen.

„Die großen Erfolge im Leben,” heißt es bei ihm, „werden gewöhnlich durch einfache Mittel und die Uebung gewöhnlicher Eigenschaften erzielt. Das Alltagsleben mit seinen Sorgen, Bedürfnissen und Pflichten gewährt reichliche Gelegenheit, Erfahrung bester Art zu sammeln; gerade seine am meisten breitgetretenen Pfade bieten demjenigen, der wirklich arbeiten will, den weitesten Spielraum, zu streben, und Platz, sich zu entwickeln. Der Weg, der den Menschen zur Wohlfahrt führt, ist die alte Heerstraße unerschütterlichen Wohlverhaltens und guter Handlungen, und wer am beharrlichsten ist und am treuesten arbeitet, wird gewöhnlich auch am glücklichsten sein. Man hat das Glück oft wegen seiner Blindheit getadelt; aber das Glück ist nicht so blind wie die Menschen. Wer ins praktische Leben blickt, wird finden, daß das Glück meist auf Seite der Strebsamen ist, wie der Wind und die Wogen den besten Schiffen zur Seite stehen.”

In diesen Zeilen liegt der ganze Sinn von Smiles’ Schriften klar zu Tage. Er eifert dagegen, daß man das Leben als ein Lottospiel auffasse; der Mensch ist seines Schicksals Schmied, und wer glücklich sein will, der braucht es nur richtig anzugreifen. Selbst ist der Mann! Das muß man sich stets vor Augen halten und dann wird man siegreich durch alle Prüfungen gehen und sogar aus dem Unglück Nutzen ziehen, indem man von ihm zu lernen sucht. Dem festen Wollen ist nichts unerreichbar. Zu den obersten Regeln gehört es dabei, den Werth der Zeit und des Geldes richtig zu schätzen; erstere wie letzteres muß man richtig zu verwenden wissen, sonst reichen beide nicht aus. Smiles beruft sich auf einen namhaften Naturforscher – immer wieder greift er auf die lebendigen Beispiele zurück – und äußert sich: „Sein Leben bewies aufs klarste die Wahrheit, daß, wer am meisten zu thun hat und arbeiten will, immer Zeit dazu findet.”

Von der Sparsamkeit sprechend, die er aber nicht mit Knauserei verwechselt sehen will, erinnert er an Dr. Johnsons Ausspruch: „Man fasse den Entschluß, nicht arm zu sein; man gebe stets weniger aus, als man hat.”

Aus Eigenem giebt Smiles derselben Lehre folgende Fassung: „Die Klugheit gebietet, lieber seine Lebensweise auf etwas niedrigerem Fuße einzurichten, als genau auf dem, welchen die Einnahmen gestatten.”

Die Sparsamkeit, betont er, fördert die Unabhängigkeit, der Schuldner ist ein Sklave, das Schuldenmachen eine Abart von Unehrlichkeit . . . Wer nicht verschwenderisch und nicht knauserig ist, sondern vernünftig zu sparen weiß, der hat den Weg der Selbsthilfe beschritten, der erfüllt seine Pflicht und befindet sich aus dem Wege, seinen Charakter zu vervollkommnen – das ist der Gedankenring, der seine vier Hauptbücher „Sparsamkeit”, „Sefbsthilfe”, „Pflicht” und „Charakter” umschließt.

Als Beitrag zur Kennzeichnung unseres Moralphilosophen und auch als Antwort auf Fragen nach seinem bisherigen Lebenslaufe mag zum Schlusse dieser flüchtigen Skizze das Wichtigste aus einem Briefe angeführt sein, den Samuel Smiles – er lebt in Kensington bei London – vor etwa 4 Jahren an mich gerichtet hat:

„Während desjenigen Theiles meines Lebens, da ich am beschäftigtsten war, arbeitete ich als Sekretär zweier Eisenbahngesellschaften, und nur während meiner abendlichen Mußestunden schrieb ich die Bücher, die mich auch in Deutschland bekannt gemacht haben. Ich wurde fünfundvierzig Jahre alt, ehe das Publikum mir die Ehre erwies, eines meiner Bücher zu lesen. Es war dies die Geschichte George Stephensons, des Erfinders der Eisenbahnlokomotive. Dieses Werk hatte Erfolg und erlebte fünf Auflagen innerhalb dreier Jahre. Mittlerweile hatte ich ‚Selbsthilfe‘ geschrieben, konnte aber keinen Verleger dafür finden. Ich veröffentlichte es auf meine eigenen Kosten, und seither sind in England 160 000 Exemplare verkauft worden, wie viele in Amerika, das weiß ich nicht, weil es dort auf dem Wege unbefugten Nachdruckes verbreitet wurde. Uebersetzt wurde es ins Deutsche, Holländische, Dänische, Norwegische, Schwedische, Französische, Spanische, Russische, Böhmische, Kroatische. Türkische, Japanische und in einige indische Dialekte, wie Tamil und Marathi. Während ich meine Thätigkeit als Beamter fortsetzte, schrieb ich das ‚Leben der Ingenieure‘, die ‚Biographie von Industriellen‘, die ‚Hugenotten‘ und den ‚Charakter‘. Da wurde ich durch die Natur daran erinnert, daß ich mich überarbeitet hatte. Eine Lähmung warf mich nieder, und fünf Jahre ließ ich die Feder ruhen. Dann zog ich mich vom Amte zurück und erholte mich so weit, daß ich wieder einige Bücher schrieb die mit ungewöhnlichem Wohlwollen aufgenommen wurden . . . Mein Leben geht nun dem Ende entgegen. Nächstens trete ich in mein vierundsiebzigstes Jahr. Seit zweiundvierzig Jahren bin ich verheirathet und habe Kinder und eine Menge Enkel. Im ganzen habe ich ein glückliches Dasein geführt. Ich war immer arbeitsam und ausdauernd, und darin, glaube ich, liegt eines der Geheimnisse des menschlichen Glückes.”

Ferdinand Groß.




Nachgelassene Gedichte von Gottfried Kinkel.

An seinem Schreibtische sitzt ein Mann, groß und kräftig; sein Haupt umrahmen weiße Locken und ein weißer Bart, klare Gedanken wohnen auf seiner Stirn, ein starker Charakter prägt sich aus in den festen Linien seiner Züge und sinnende Weltbetrachtung leuchtet aus den hellen Augen – Weisheit, Kraft und Phantasie in einem Bilde.

Aber noch einen Zug trägt das Bild – Glück, vollkommenes, gesättigtes Glück leuchtet auf dem ernsten Antlitz.

Der Mann schreibt eifrig mit der rechten Hand. Den linken Arm aber hat er um ein liebliches Mädchen geschlungen, das still auf seinem Schoße sitzt, das Köpfchen an seine Wange gelehnt – still, um die Arbeit des Geistes nicht zu stören, mit sinnendem Blick, als wüßte es, daß es so dem Gedankenfluge des Schreibenden Schwingen verleiht.

Es ist Gottfried Kinkel, und das Kind auf seinem Schoße ist sein jüngstes Töchterchen Gerda.

So war es einst, vor mehr als zehn Jahren. Tochter und Vater sind seitdem lange in das Grab gesunken.

Nach dem Tode seiner ersten Frau Johanna, die bekanntlich zu London durch einen Sturz aus dem Fenster ein vielbetrauertes Ende fand, hatte sich Gottfried Kinkel 1862 wieder verheirathet. Seit Jahresfrist etwa lebte er als Professor der Kunstgeschichte am Züricher Polytechnikum an der Seite seiner zweiten Gattin in freundlichen und glücklichen Verhältnissen, als ihm, das letzte von mehreren Kindern, 1867 sein Töchterchen Gerda geboren wurde.

Es war ein zartes Kind. Ganz klein noch, rang es um sein junges Leben, und einmal hatte schon der Arzt die Eltern auf den Tod des Lieblings vorbereitet. Es wurde gesund. „Als Gerda,” so erzählt uns die heute noch in Zürich lebende Witwe Gottfried Kinkels der mir diese Mittheilungen und die Ueberlassung der unten folgenden Gedichte verdanken, „als Gerda zum ersten

[223] Male in ihrem rothen Röckchen durch die blühende Wiese lief, da stürzte der Vater sich in das Gras, umschlang das Kind mit seinen Armen und heiße Freudenthränen rannen ihm über die Wangen.”

In Märchen liest man es wohl, daß ein Kind durch den Wald geht und die Thiere fürchten sich nicht vor ihm. Gerda war ein solches Märchenkind. „Die Vögelchen ließen sie ganz nahe kommen und blieben sitzen, wenn sie mit ihrem leichten Schritt vorüberging.” Alles liebte sie. „Bohnenblüthe” nannte sie eine Freundin des Hauses und andere Freunde hatten andere liebliche Namen für sie.

Den beglückendsten Zauber aber übte sie auf ihre beiden Eltern aus. Auf Spaziergängen ließ sie des Vaters Hand nicht los; und oft hat er sie auf seinen Schultern halbe Stunden weit getragen, wenn die Gänge sich weiter ausdehnten. Im Studierzimmer war sie wie zu Hause; der Vater hatte ihr eine eigene Spielschublade dort eingerichtet und das eine und das andere Mal sah man dort jenes glückselige Bild, wie wir es eingangs gezeichnet haben.

Sie hatte die volle Anmuth des Gemüths. Schnell fand sie heraus, was den andern Freude machen konnte, und sie scheute kein Opfer, es zu vollführen. Ihrer Mutter gehörte sie jede Minute, die diese den anderen Pflichten abgewinnen konnte.

Und dieses Kind sollte den Eltern entrissen werden! Gerda war noch nicht zwölf Jahre alt, als sie, im Herbst des Jahres 1879, erkrankte. Drei Monate lag sie danieder an einer Brustfellentzündung und später an einem Herzleiden. Rührend entfaltete sich ihre Selbstlosigkeit und ihre Sorge um die Mutter, die ihre einzige Pflegerin war. An den Vater, der auf einer Vortragsreise sich befand, schrieb sie, fast schon sterbend: „Komm nach Haus, die Mama ist so traurig, wir müssen Dich haben!“

Er kam, um sie sterben zu sehen. Am 13. November, genau drei Jahre vor ihrem Vater, verschied sie.

Und nun lassen wir den Dichter, den Vater reden! Er hat die nachfolgenden Gedichte geschaffen im Ringen mit seinem ungeheuren Schmerze und sie der tiefgebeugten Mutter zugeeignet. Gedruckt sind sie noch nicht, bis auf das zweite, welches seinerzeit in einen Nachruf auf Gottfried Kinkel in der „Schweizerischen Lehrerzeitung” (1882) verwoben wurde. Oft wird man sich der Wahrnehmung nicht entziehen können, daß die Verse noch nicht die letzte feilende Hand erfahren haben, die der Dichter jedenfalls an sie gelegt hätte, wenn es ihm selbst noch vergönnt gewesen wäre, seine Lieder der Oeffentlichkeit zu übergeben. Wir haben uns bei der überlieferten Gestalt beschieden und wollten uns nicht vermessen, den Dichter zu verbessern.


Gerda.

               „und soll ich sagen: Wärst du nie geboren! dann wühlte heute nicht so tief das Leid –
               Nein, süßes Kind! Du bleibst mir unverloren auf alle Zeit!”

Durch des Fensterladens Spalte
Bricht des Morgens grauer Schein,
Wo am Bettchen Wacht ich halte
Bei dem kranken Töchterlein.

5
Und die Angst fragt, ob am Ende

Dieses Tags ihr Herzchen bricht?
Oder ob sich aufwärts wende
Neu der Pfad zum holden Licht?

Aus der Feigheit, die zum bösen

10
Götzendienst des Nichts dich dringt,

Kann, wie bald, ein Kind dich lösen,
Wenn es bang ums Leben ringt.

Wieder glänzt in wachem Traume
Jede Frucht dir süß und voll –

15
Ach, daß sie vom Lebensbaume

Nie ihr Händchen brechen soll!

Wenn die Bahn von dünnem Eise
Unterm Stahlschuh klagend singt,
Ob wohl noch ihr Blut die Kreise

20
Heiß durchs Herz des Mädchens schwingt?


Wenn der Lenzwind küßt die Rose,
Die noch schüchtern vor ihm flieht,
Ob der Traum vom eig’nen Lose
Durch die zarte Seele zieht?

25
Wenn beim Fall der Blüthenflocken

Wogt das Saatfeld grün und dicht,
Ob sie dann durch blonde Locken
Den Cyanenkranz sich flicht?

Herbst im Schmuck von goldnem Laube!

30
Ob, ein weißes Tuch im Haar,

Sie noch schneiden wird die Traube,
Jauchzend in der Winzer Schar?

Auch die höchste Liebesstunde
Wird vielleicht ihr noch beschert:

35
Erster Kuß vom trauten Munde,

Der allein des Lebens werth!

Was dir selbst am Reiz des Lebens
In der müden Hand zerrinnt,
Wie so werth als Ziel des Strebens

40
Scheint es heut dir für dem Kind!


Aus dem schwülen Krankenzimmer,
Aus dem Dunkel, halb erhellt
Von des Nachtlichts mattem Flimmer,
O wie farbig strahlt die Welt!

 ________

45
Der Erde bunte Schöne

Hüllt sanft sich dir in Flor,
Der Straßen rauhe Töne
Vernimmt nur leis dein Ohr.

Will dich ein Lüftchen fächeln,

50
Dir ist’s nicht mehr Genuß,

Es schwand dein süßes Lächeln
Selbst bei der Mutter Kuß.

Du nimmst mit dürren Lippen
Vom Arzt den bittern Trank –

55
Vom süßen Wein zu nippen

Wardst du schon lang zu krank.

Die heiße Lust am Leben
Ward in den Adern still,
Und du fügst dich ergeben,

60
Wie dein Geschick es will.


Du bist von uns geschieden,
Eh noch der Tod dich nahm –
Du lösest dich in Frieden,
Und uns zerreißt der Gram.

 ________

65
Den Myrthenkranz ums Haupt, im Blumenfülle

Ruhst Lilie du im weißen Mädchenkleid,
Und leis entfärbt sich schon die zarte Hülle,
Dem unerbittlichen Zerfall geweiht!

O könnt’ ich nur dich vor dem Moder retten,

70
Der langsam und entstellend dich verzehrt,

Und dürft ich dich, solang du schön noch, betten
Mit Vaterarmen auf den Flammenherd!

Die Gluthen lösten rasch die jungen Glieder,
Du stiegst, ein Wölkchen, auf zu Licht und Luft,

75
Du schwebtest bald auf Wald und Wiesen nieder

Und hauchtest neu in junger Blumen Duft.

In kleiner Urne könnten wir vereinen,
Was dann als Erdenstaub von dir noch blieb –
Auf reine Asche fromme Thränen weinen,

80
Für Vater und für Mutter, o wie lieb!


Umsonst! Du sollt nicht frei zum Aether lodern,
Gereinigt von der heil’gen Flamme Schwall!
Dein Los ist, in dem feuchten Grund zu modern,
Und spät erst kehrst du wieder in das All!

 ________

[224]

Du freie Schweizererde, nimm sie wieder,
Aus deren Schoß ich sie empfing,
Verzehr’ in Staub den Bau der holden Glieder,
An dem mein Blick mit Wonne hing.

Und schön auch ist, geliebtes Kind, die Stätte,
Wo du im jungfräulichen Bette liegst!
Die Alpen grüßen fern in stolzer Kette,
Die du so gern mit mir erstiegst.

Wohl spreitet heut’ ob all den kleinen Hügeln
Der Schnee nur noch das reine Bahrtuch aus,
Doch kehrt der Lenz nun bald auf blauen Flügeln
Und schmückt dir bunt das enge Haus.

Und lieb ist’s dann, dem Fall des Bachs zu lauschen
Im tiefen Grund durch blum’ge Wiesenflur:
Er spricht mit Flüstern bald und bald mit Rauschen
Vom ew’gen Leben der Natur.

Im Fichtenhain, der dir das Grab beschattet,
Weht frischer Duft vom weißen Schlehenhag,
Wo sich des Finken frohem Schmettern gattet
Der süßverliebte Amselschlag.

Dort die Kastanie senkt der Wurzeln Fülle,
Dich liebevoll umarmend, in die Gruft,
Die Wurzel streift an die zerfall’nde Hülle,
Der Wipfel schwankt in sonn’ger Luft.

Sie will dein schwindend Leben noch behüten,
Sie lockt dich – ein Atom von deinem Staub
Ringt sich ans Licht in ihren weißen Blüthen
Und wallt beglückt im Frühlingslaub.

An dieses Baumes Fuß will ich mich setzen,
Wenn fern verlischt der Alpe Rosenglühn,
Und mit dem Abendthau der Thränen letzen
Die Blumen, die dein Grab umblühn.

 ________

Aber nicht aus dem Moder der Grüfte
Zaubr’ ich auf ewig dein Bild mir empor!
Nein, im Glanze der himmlischen Lüfte
Schwebst du mir über die Gipfel empor.

Hoch im Gebirg, wo dein Füßchen so gerne
Sprang durch die Blumen der sonnigen Au,
Strahlt mir vom Aether aus endloser Ferne
Deines Auges entzückendes Blau.

Wenn von summenden Bienen umflogen
Weiß in Blüthen pranget der Strauch,
Küßt mich sanft in des Duftes Wogen
Deines Mündchens belebender Hauch.

Wenn der Föhn mich zärtlich umschmeichelt,
Träum’ ich von dir, mein holdseliges Kind,
Wie so gern mir die Wange gestreichelt,
Ach, dein Händchen, so warm und so lind.

Und wenn sanft der Gipfel sich röthet
Und in den Thälern die Nacht schon blaut,
Hör’ ich, wenn mir die Amsel flötet,
Deines Stimmchens holdtröstenden Laut.

 ________

Ich ruhe still – der Tag ist fast verblichen,
Und seine Müh’ und Sorgen bin ich los;
Da kommst du leichten Füßchens hergeschlichen,
Und setzest dich auf meinen Schoß.

Den Arm wie ernst mir um den Hals geschlagen.
Das Köpfchen an die Wange mir gelehnt,
So flüsterst du: o Vater, laß das Klagen.
Den Gram, der stets nach mir sich sehnt.

In Liebe hab’ ich selig mich gefunden,
Die voll ich gab und voll empfing;
Nun stillt auch ihr die tiefen Herzenswunden,
Da ich in Frieden von euch ging!

Wohl mocht’ ich gern an eurer Brust erwarmen.
Doch flüchtig eilte vorwärts Jahr um Jahr –
Bald riß die Welt mich fort aus euren Armen,
Und anders ward ich als ich war.

Dir und der Mutter darf ich jetzt mich gatten,
So oft es eure Sehnsucht mir gebeut;
Ich hör’ euch auch im tiefen Reich der Schatten –
Ruft mich, so bin ich da wie heut!

Und nun leb’ wohl! Du hauchst es, und ich wähne
Zu fühlen, wie dein Bild dem Arm entweicht –
Die Nacht umfängt mich, still noch fließt die Thräne,
Doch muthig wieder schlägt das Herz und leicht.

 ________

Ich stand an deinem Grab mit bangem Weinen,
Da hab’ ich’s in der Stille dir gelobt:
Nicht Bitterkeit soll mir das Herz versteinen,
So wild der Schmerz auch drinnen tobt!

Zu Deines Herzens Höh’n will ich mich schwingen,
Denn du warst gütig wie das Morgenlicht,
Und wo du andern konntest Freude bringen,
Du scheutest Sorg’ und Arbeit nicht.

Die Liebe, die ich dir nicht durfte spenden,
Du sendest sie als Liebe mir zurück;
Ich will sie treulich auf die Menschheit wenden,
Und leidend bau’n an fremdem Glück.

Das Gold, das ich in manches Jahres Streben
Mit harter Faust für dich erwarb,
Es rolle hin, da mir mit deinem Leben
Nun auch die Sorge für dich starb!

Vielleicht ein ander Kind wird noch gerettet
Vom Gut, das einst dein eigen sollte sein,
Und weil du liegst im dunkeln Grab gebettet,
Tanzt es im frohen Sonnenschein. [11]

Dann lebst auch du ja fort! Auf späten Wegen
Geht lächelnd noch dein Schatten durch die Welt,
Von deinem kurzen Dasein thaut ein Segen,
Der sanft auf Mutterherzen fällt.

  1. Zum Abreiben mit nassen Tüchern als Nachkur nach dem Verlassen der Heilanstalt.
  2. Reuter hatte sich zur Bewachung seines neuen Hauses eine junge Dogge angeschafft.
  3. Warten wir noch ein bißchen.
  4. Scherzhafte Bezeichungen von Touren im bunten Whist.
  5. Reuter bezog in den letzten Jahren regelmäßiq gegen Bezahlung Fleischwaren aus Bollentin, die ihm besonders zusagten.
  6. Dieser Brief ist an Peters’ Sohn, der im Felde stand, gerichtet.
  7. M. Peters stand beim zweiten Armeecorps.
  8. Ihre Enkelin Helene Rust, von der sie lange gepflegt worden und die vor kurzem gestorben war.
  9. Ueber die letzten Stunden Reuters berichtet Friedrich Friedrich im Jahrgang 1874 der „Gartenlaube“ (S. 498) in dem Artikel „Der Heimgang eines Dichters“.
  10. Es sind dies: Jacob, „Deutschlands spielende Jugend“. Leipzig, Kummer, - Spiele von Guths-Muths. Herausgegeben von Schettler. Hof, Grau u. Komp. - Ambros, „Spielbuch“. Wien, Pichlers Wwe. u. Sohn. - Kloß, „Das Turnen im Spiel“. Dresden, Schünfeld. - Krause, „Hinaus zum Spiel!“ Berlin, Plahn. - Kohlrausch und Marten, „Turnspiele nebst Anleitung zu Wettkämpfen und Turnfahrten“. Hannover, R. Meyer. - Kupfermann, „Turnunterricht und Jugendspiel“. Breslau, Hirt.
  11. Gottfried Kinkel hatte zum Gedächtniß seines Lieblings dem Begründer der Ferienkolonien, Pfarrer Bion, eine namhafte Gabe zugewendet.


Volkswitz in der Sprache.

Daß sich der Volkswitz von jeher besonders gern in allerlei theils gelehrten, theils ungelehrten, theils gesuchten, theils ungesuchten Wortverdrehungen ergangen hat, ist bekannt: schon Fischart, Hans Sachs, Martin Luther und besonders der von Schiller in der Wallensteinschen Kapuzinerpredigt nachgeahmte Ulrich Megerle, genannt Abraham a Santa Clara, haben darin Hervorragendes geleistet. Da wurde „Alchimisterei“ zu „Allkühmisterei“ gewandelt, „Philosophus“ zu „Philosaufaus“, die „Xanthippe“ sehr hübsch zur „Zanktippe“, der „Notar“ zum „Notnarr“, das „Fundament“ zu „Untenamend“, die „Provision“ oder „Profession“ zur „Brotfression“, der „Professor“ zum „Brotfresser“ und der „Jesuiter“ endlich zum „Jesuwider“.

Spätere Zeiten haben diese Verdrehungswitzeleien wacker fortgesetzt. Da wurde die „Cigarre“ zur „Zieh-jarre“, der „Potsdamer“ zum „Potsdämlichen“, der „Civilverdienstorden“ zum „Zuvielverdienstorden“, die „Aprikose“ zur „Appelkose“, das „Räucherkerzchen“ zum „Räucherkätzchen“, „radikal“ zu „rattenkahl“, „Tribüne“ sehr anschanlich zur „Treppine“, der „Trainsoldat“ zum „Tränksoldat“, „Janitscharenmusik“ zur „ganzen Scharenumsik“, „Gasbeleuchtung“ zur „Gassenbeleuchtung“, der „Kanarienvogel“ zum „Kanaillenvogel“, der „Apotheker“ zum „Abdecker“, der „Rentier“ zum „Rennthier“, die „Gouvernante“ hübsch zur „Jungfer Nante“, der „Dragoner“ zum „Trojaner“, „Champagner“ zu „Schlampagner“, „Rheumamatismus“ sehr gut zum „Reißmatismus“, „Rothkehlchen“ zum „Rothkäthchen“, das „Bologneserhündchen“ zum „Polonaisenhündchen“, die „mediceische“ Venus zur „medicinischen“, die thüringische Stadt „Apolda“ zu „Apollo“ (in dem bekannten Studentenliede vom Knaster, „den uns Apollo präparirt“), die „Frieden von Nymwegen und Ryswyk“ zu Frieden von „Nimmweg und Reißweg“, der Sieg bei Le Mans zum großen Siege bei „Lehmanns“ und endlich der „Koloradokäfer“ zum „Kohlrabikäfer“. Und von welchen Ungeheuerlichkeiten könnte erst der Apothekenbeflissene erzählen! Was fordert man nicht alles an seinem Verkaufstisch und dabei alles Ernstes und einfältigen Gemüthes, da der im Worte liegende Verdrehungswitz durchaus nicht von jedem verstanden wird! Der eine will „umgewend’ten Napolium“ (unguentum Neapolitanum), ein anderer verlangt nach einem „Ochsenkruzchenpflaster“ (emplastrum oxycroceum), ein dritter erstrebt ein „doppeltes Diakonuspflaster“ (Diachylonpflaster), den vierten zieht das Herz zu einer „ollen Pussade“ (Arkebusade), ein fünfter fordert, ein Sohn seiner Zeit, hartnäckig sein „Sektenpulver“ (Insektenpulver), ein sechster seufzt wehmüthig nach einer „kalten Quinte“ (Koloquinthe) und der umstürzlerisch gesinnte siebente endlich heischt gebieterisch das „Kaputöl“ (Kajaputöl). Wieder einen andern zieht es unwiderstehlich zur „spitzen Lenore“ (species lignorum), zur „feinen Grete“ (foenum graecum) oder endlich zum „Lottenpflaster“ (Melilotenpflaster), während der Unglücklichste zum äußersten Mittel, dem „Rhinocerosöl“ (Ricinusöl) zu greifen entschlossen ist. Jeder Apotheker, jeder Droguenhändler, jeder Kaufmann kann die kleine Auswahl um bedeutende Witzblüthen vermehren, jeder Leser darüber näheres lesen in Andresens „Deutscher Volksetymologie“ (Heilbronn, Henninger). Aber mit der Andresenschen Zusammenstellung ist die Anzahl dieser Verdrehungswitze, die gewiß zum Theil auch Worterklärungs- und ableitungsversuchen ihre Entstehung zu danken haben, bei weitem nicht erschöpft, kann nicht erschöpft sein, denn jeder Tag gebiert neue, und während wir die folgenden, unseres Wissens bisher noch nicht zusammengestellten jüngsten Kinder des Volkswitzes einer kurzen Musterung unterziehen, erzeugen sich bereits andere, noch jüngere, ungeahnte in dem fruchtbaren Boden des Volkshumors, der dann selbstverständlich seinen Muthwillen besonders an der großen Zahl unserer Fremdwörter übt, ohne übrigens daneben das sich bietende heimische Wort völlig zu verschonen.


[225]

Frühlingstraum.
Nach einem Gemälde von Otto Lingner.

[226] Gelehrten Ursprung verräth es, wenn der Studio das Faß „schlucksessive“ ((successive)) leert, wenn man den „Gymnastiker“ zum „Gumminastiker“, den „Oekonom“ zum „Mistiker“ und mit Anklang an den Johanniter zum „Guaniter“, den „Millionär“ zum „Millioneser“[1] macht und in Anlehnung an „Diphtheritis“ die „Dichteritis“ geschaffen hat; wenn man vom Geistlichen sagt, er „marmorirt“ (memorirt), wenn man von einem „Periculum“ oder gar „Pericles in Morea“ (periculum in mora, es ist Gefahr im Verzuge) spricht, wenn man die „Matrikuarbeiträge“ in „Makulaturbeiträge“, die litterarischen Studien des Musensohnes böswillig in „Liter–aturstudien“ verwandelt, und wenn man sich endlich eine „Ferdinanda“ (Veranda) erbaut, auf welche eine „Lawendeltreppe“ hinaufführt. Gelehrten Ursprungs ist auch das unvermeidliche „massive“ Mitglied (für passiv), die „Prasseltation“ auf der Kegelbahn (der hohe Wurf, bei dem alles zusammenprasselt, besonders thüringisch), der allbekannte und sehr ansprechende Jupiter „Mammon“ (statt Jupiter Ammon) und die scherzhafte Auslegung des wissenschaftllchen Namens der Wiesensalvei (Salvia pratensis) zu „Salvia (als Name aufgefaßt), braten Sie’s!“ Nur ein Gelehrter konnte endlich zuerst „Orchideen“ feiern (Orgien), seinen „Kaukasus“ (von kauen) nicht in Ordnung finden und seinen „Lag“ im Spiel, das heißt das, was ihm liegt, seinen „Lago maggiore“ nennen.

Ja das Spiel! Natürlich hat es eine ganze Reihe von Volkswitzen unserer Art geboren: nur „einen Monument“, und wir werden sie der Reihe nach „destilliren“ lassen.

Nur einige andere zuvor, die nicht durchaus gelehrter Abstammung zu sein brauchen: aus „melancholisch“ machte Fischart zuerst „maulhenkolisch“ (so noch heute in der Lausitz) und unsere Zeit „melankatholisch“, aus dem vom Trinker viel gebrauchten „Pröstchen“ (prosit) wurde das scherzhafte „Pröbstchen“, aus unbestimmten, einer ungewissen Zukunft überlassenen Dingen wurden die an das Wort „rathen“ (d. h. errathen) angelehnten „Rathhaussachen“, die doch scheinbar auch die bekannte Thatsache andeuten, daß die Väter der Stadt in allen „zwei- bis dreifelhaften“ Dingen klüger sind, wenn sie vom Rathhause kommen, als vorher, da sie in düsteres Schweigen eingehüllt der Sitzung zuschritten. Auf gewisse Dinge kann man ruhig „Gips“ (Gift) nehmen, beim Abschiede dem Freunde zurufen: „Leben Sie so wohl, – als auch!“ und dann „befriedricht“ von dannen gehen. Natürlich entgegnet der andere darauf: „Wöhler!“, das geht mit dem besten „Wilhelm“ (Willen) nicht anders. Der Leser erkennt in den letzten Beispielen sofort Berliner Kinder, zu denen unter anderen auch der öfter begegnende „Handschuster“ (Handschuhmacher), das bekannte „Nashorn“ (Nase), die beliebte „Behauptung“(Hut), der „Schneiderkarpfen“ (Hering) und endlich der „Schnutenfeger“ (Barbier) gehören.

Doch wir wollten zum Spiel übergehen, und zwar besonders zu dem allmählich epidemisch gewordenen Skat! Da spielt der eine „Kairo“, der andere meint ziemlich sinnlos: „Karo ist ein Hundename, die Einwohner heißen Karotten!!“ Das richtige „Carreau“ wird im allgemeinen ängstlich gemieden. Ein zweiter spielt Pique und sieht sich daher veranlaßt, zu sagen: „Picus der Specht!“ worauf der andere unausbleiblich mit Ruhe und Sicherheit einfällt: „Aurora, die Waldschnepfe!“ „Piccolomini!“ sagt der glühende Schillerverehrer. „Rötchen liegt bei Waltersdorf!“ ruft der die rothe Farbe Ausspielende, und „Treff-lich schön singt unser Küster!“ jubelt der glückliche „Eckernsolobesitzer“. „Solo?“ Meist begegnet es als „Soolei“, indessen ist auch das freundlich fragende „Sölchen?“ nicht ungebräuchlich. „Turnips“ oder „Turko“ ruft man dem andern zu, wenn man tourniren will, „Null aufs Pferd“, oder auch wohl witzloser „aufs Roß“ nennt man das „Null ouvert“-Spiel, und als einen „Perser“ kennzeichnet der Student im fidelen Bierskat das Spiel, welches an sich („per se“) „rumgeht“. „Rum, rümmer, am rümmsten!“ jubelt sodann der Chor, und das italienisch angehauchte Opferlamm lispelt ein entsagungsvolles „futschikato“. Das kommt davon, wenn man nicht Lehre annimmt: „raus mit der Zicke (Zehn) auf den Teichdamm!“ hatte ihm sein „Ede“ (meist als Abkürzung von Eduard gefaßt, eigentlich = französisch „aide“ Mitspieler, Gehilfe) mahnend zugerufen, – vergebens – vorbei, geendet ist das Spiel und kostet 3 „Silbermorgen“ (= -groschen) und 6 „Fähndriche“ (Pfennige). Was Duselmeier aber in letzter Zeit auch überall für haarsträubendes Pech gehabt hat! Am Abend vorher hat er auf der Kegelbahn zum Entsetzen aller, die mit ihm auf derselben „Portion“ (Partie) waren, regelmäßig seinen „Porus“, oder, wie andere meinen, seinen „Borax“ geworfen, unter dem man nun freilich weder den aus der Geschichte Alexanders des Großen bekannten indischen Fürsten Porus, noch das ebenso bekannte borsaure Natron zu verstehen hat, sondern einfach den Mittewurf, bei welchem die Kugel die Mitte der Kegel durch„bohrt“ hat. Und wenn er dabei wenigstens noch „Kuhrand“ (Courant), d. h. nur die meist 6 zählenden mittelsten drei Kegel geworfen hätte! So aber hatte er in seinem Mißgeschick einen mehr getroffen, oder, um mit den Worten seiner Mitspieler zu reden, „Kuhrand mit Agio“ geworfen.

Ja, ja: nicht einmal die Poesie ist sicher vor diesem vor nichts zurückschreckenden Volkswitze. Da deklamirt der übermüthige Knabe mit Würde: „Muth zeiget auch die Muhme Lack“ (der Mameluck), da steht der glückschwelgende Tyrann Polykrates bei ihm zwar auch stil- und würdevoll auf seines Daches Zinnen, aber nur „als Schaute (Scheltwort = Schote) mit vergnügten Sinnen“; da zählt der abgebrannte Glockenvater zwar auch die Häupter seiner Lieben, „doch sieh, es sind statt sechse sieben“, da liegt Uhlands guter Kamerad zu seinen Füßen, „als wär’s ein Stück Papier“, da wird Agathens „schöner grüner Jungfernkranz“ (aus dem „Schreifritz“) angesungen mit den Worten: „Schöner, grüner, – schön schmeckt der Wein am Rhein, juchheh!“

Und hiermit habe Lied – und unsere kleine Sammlung ein Ende! Der freundliche Leser aber, dem beim Lesen gewiß noch manche andere drollige Ausgeburt des fast in jedem Gebiete menschlichen Wissens und menschlicher Thätigkeit üppig wuchernden Volkswitzes eingefallen ist, soll höflichst gebeten sein, dem Verfasser Mittheilung davon zu machen, sei es, daß er sich dabei geradenwegs an ihn oder an die Redaktion wendet. „Ent – oder weder!“ Dr. Söhns.     




Blätter und Blüthen.


Deutsches Erzieherinnenheim in Wien. Eines der lesenswerthesten und ergreifendsten Hauptstücke in K. Emil Franzos’ „Bildern aus Halbasien“ ist dasjenige, welches von dem Elend vieler deutschen Erzieherinnen in den Ländern an der unteren Donau handelt. Es werden hier viele ebenso schreiende als leider glaubhafte Fälle von Noth und Schmach erzählt, welche durch verrätherische Bosheit und barbarische Rohheit über deutsche Mädchen und Frauen gebracht wurden, die sich dem Erzieherinnen- und Lehrerinnenberufe widmen. Natürlich sind noch viel häufiger als die Fälle gewissenloser Ausbeutung solcher Opfer diejenigen, in welchen durch ein unvorhergesehenes widriges Geschick solche Erzieherinnen mit einem Mal ihre Stelle verlieren, in der Fremde allein und hilflos dastehen oder, auf der Rückkehr ins Vaterland begriffen, in Ermangelung weiterer Reisemittel in Wien, dem großen Durchgangsplatz nach dem Osten, bleiben müssen und allen Gefahren des großstädtischen Lebens preisgegeben sind.

Längst haben es die Angehörigen fremder Völker in Wien als eine Ehrensache erkannt, sich ihrer Landsmänninnen in der Bedrängniß anzunehmen. Schweizer, Engländer und Franzosen haben hier Erzieherinnenheime gegründet, die zum Theil Musteranstalten in ihrer Art sind. Und es muß dem deutschen Hilfsverein in Wien nachgerühmt werden, daß er schon vor sieben Jahren die Gründung eines ähnlichen Erzieherinnenheims für deutsche Reichsangehörige in den Bereich seiner ausgedehnten und ersprießlichen Wirksamkeit eingezogen hatte, und auch die „Gartenlaube“ ist seinerzeit (vgl. 1885, S. 130) für seine Bestrebungen eingetreten. Allein durch anderweitige Aufgaben und Pflichten vollauf in Anspruch genommen, konnte der Hilfsverein bisher den schönen Plan nicht zur Ausführung bringen und insbesondere nicht die nöthigen Geldbeträge vereinigen. So ist es denn als eine hochverdienstliche That zu begrüßen, daß jetzt die Gemahlin des deutschen Botschafters in Wien, Frau Prinzessin Reuß VII., Herzogin zu Sachsen, den schon aufgegebenen Plan mit Entschlossenheit wieder aufgenommen und der Ausführung desselben ihre ganze Thatkraft, sowie ihre großen und werthvollen Verbindungen zur Verfügung gestellt hat.

Prinzessin Reuß hat sich zu diesem Zwecke zunächst mit einem Ausschuß, bestehend aus dem Prinzen Reuß, den Herren Dr. Brauneis, Schriftsteller W. Lauser, Bankier Pflaum und Vicekonsul von Vivenot, umgeben, um zunächst die Grundlagen für einen Verein des deutschen Erzieherinnenheims zu schaffen, die Satzungen für denselben, die Hausordnung für das Heim festzustellen und Mittel und Helfer für das edle Unternehmen zu werben. Da es ohne Zweifel Werth hat, in den weitesten Kreisen die Kenntniß von der Einrichtung und den Bestrebungen des Vereins zu verbreiten, so theilen wir hier die Hauptsache aus seinen Satzungen mit.

Der Verein des deutschen Erzieherinnenheims wird unter dem Protektorate der Gemahlin des deutschen Botschafters in Wien oder, in Ermangelung einer solchen, der Gemahlin eines Gesandten der in Wien vertretenen deutschen Staaten stehen. Sein Zweck ist, deutsche reichsangehörige Mädchen und Frauen, welche sich der Erziehung, dem Unterricht oder der Kinderpflege widmen und stellenlos sind, aufzunehmen, ihnen Schutz und Beistand zu gewähren und ihnen nach Möglichkeit die Unterbringung in achtbaren Familien unentgeltlich zu vermitteln. Für die Leitung des Heims gilt als Grundsatz: aufgenommen werden ohne Unterschied der Religion alle, die sich entsprechend ausweisen können; Personen von zweifelhafter Sittlichkeit werden abgewiesen, und die vom Verein aufgestellte Vorsteherin hat das Recht, die Aufnahme ohne Angabe von Gründen zu verweigern; im allgemeinen darf der Aufenthalt im Heim nicht länger als einen Monat dauern; der Preis für die Unterbringung und Verpflegung daselbst ist vorläufig auf einen Gulden täglich festgesetzt. Im Fall sich der Verein auflösen müßte, würde sein Vermögen dem deutschen Hilfsverein in Wien zufallen.

Der Verein selbst besteht aus Stiftern, Förderern und Mitgliedern; Stifter ist derjenige, der einen einmaligen Beitrag von mindestens 1000 Mark stiftet; Förderer derjenige, welcher einen einmaligen Beitrag von 500 Mark beisteuert oder einen durch mindestens fünf Jahre fortlaufenden Jahresbeitrag von wenigstens 100 Mark zahlt; Mitglieder sind diejenigen, welche einen einmaligen Beitrag von 50 Mark zahlen oder einen fortlaufenden Jahresbeitrag von mindestens 10 Mark leisten.

Inzwischen hat in Wien selbst die Thätigkeit des Vereins unter der Hand schon in vielversprechender Weise begonnen. Durch Spenden des Prinzen Reuß sowie einzelner Mitglieder unseres Finanzadels und unserer Großindustrie ist bereits ein recht ansehnlicher Stock zustande gekommen, den es nunmehr durch Beiträge aus dem Deutschen Reiche derart zu erhöhen gilt, daß in kurzer Frist zur Gründung des deutschen Erzieherinnenheims in Wien geschritten werden kann. Zu diesem Zweck hat sich Frau Prinzessin Reuß soeben in einem Schreiben an die deutschen Fürsten und an die Bürgermeister der größeren Städte Deutschlands gewandt, um sie unter Darlegung des Bedürfnisses sowie der Vereinszwecke zur werkthätigen Betheiligung an dem menschenfreundlichen und vaterländischen Unternehmen einzuladen. Zugleich ergeht an die Zeitungen und Zeitschriften des Vaterlandes der folgende Aufruf, der, wie wir hoffen dürfen, bei keinem Deutschen auf taube Ohren stoßen wird.

[227]

Aufruf
für ein deutsches Erzieherinnenheim in Wien.

Tausende von gebildeten deutschen Mädchen und Frauen kommen nach Wien, um sich hier oder weiter im Osten Europas dem ebenso ehren- als mühevollen Berufe der Erziehung zu widmen. Als Trägerinnen deutscher Bildung und Gesittung unserer liebevollen Theilnahme würdig, die in ihnen das Gefühl der Gemeinschaft mit ihrem Vaterland und damit ihr eigenes berechtigtes Selbstgefühl befestigen soll, verdienen sie doppelt Förderung und Unterstützung durch ihre Landsleute, wenn ihnen, wie ja nur allzu häufig, in der Fremde durch die Ausbeutungslust gewissenloser Menschen Enttäuschungen vielfacher Art bereitet werden, wenn sie allein und von Mitteln entblößt in der Welt stehen, und wenn sie insbesondere von den Gefahren bedroht sind, welche das großstädtische Leben Wiens mit sich bringt.

Andere Völker haben zum Schutz ihrer Landsmänninnen bereits seit langer Zeit und in ausgiebiger Weise Vorsorge getroffen. Und es ist hohe Zeit, daß die deutsche Vaterlandsliebe in diesem Betrachte nicht länger zurückbleibe. Schon vor sieben Jahren hatte unser deutscher Hilfsverein, der mit immer wachsendem Erfolge für die Unterstützung mittelloser deutscher Reichsangehöriger wirkt, dieses hohe Ziel ins Auge gefaßt und die Gründung eines deutschen Erzieherinnenheims geplant, welches solchen alleinstehenden deutschen Erzieherinnen und Lehrerinnen in den schweren Tagen der Stellenlosigkeit eine Zufluchtsstätte in Wien gewähren sollte. Damit dieser Plan nun endlich zu segensreicher That werde, haben auf meine Anregung und unter meinem Vorsitze Freunde dieses Unternehmens die Grundlagen und Vorbedingungen, um dasselbe ins Leben zu rufen, durchberathen und festgestellt. Wir wollen allen deutschen Erzieherinnen ohne Unterschied des Glaubensbekenntnisses, welche sich durch Zeugnisse und Heimathspapiere ausweisen und der im Hause vorgeschriebenen Zucht und Ordnung fügen, in unserem Erzieherinnenheim gegen einen geringen Verpflegungsbeitrag Obdach gewähren und ihnen beim Aufsuchen von Stellen und Unterrichtsstunden an die Hand gehen.

Um diesen unsern Zweck zu erreichen, bedarf es aber namhafter Mittel, zu deren Erlangung wir uns an weitere Kreise wenden müssen. Die festgesetzten Beiträge bestehen in

a) Stifterbeitrag Mark 1000
b) Fördererbeitrag Mark 500 (entweder einmalig oder durch 5 Jahre je Mark 100)
c) Jahresbeitrag von mindestens 10 Mark.

Außerdem wird aber auch die bescheidenste Gabe für die Zwecke des Heims mit Dank und Freude angenommen. Die Gaben, sowie sämmtliche Zuschriften bitte ich an das kaiserlich deutsche Konsulat in Wien I Wipplingerstraße 1 zu richten. Der kaiserliche Vicekonsul Dr. von Vivenot ist gern bereit, auf Wünsche und Anfragen Auskunft zu ertheilen.

Ich hege in Anbetracht des offenkundigen großen Bedürfnisses und des vaterländischen und menschenfreundlichen Zweckes die volle Zuversicht, daß ich mich nicht vergeblich an den Wohlthätigkeitssinn und an das Ehrgefühl meiner deutschen Landsleute im Mutterlande wende, damit sie mir helfen und das Ihrige dazu beisteuern, deutsche Mädchen und Frauen im Auslande vor Noth und Schande zu bewahren.

Wien, im März 1890.
  Marie Alexandrine Prinzessin Heinrich VII. Reuß, geborene
  Prinzessin von Sachsen-Weimar, Herzogin zu Sachsen.

Das Denkmal Johann Peter Müllers in Friedberg.

Johann Peter Müller und sein Denkmal zu Friedberg. Im Laufe des vorigen Jahres haben wir unseren Lesern das Bild Friedrich Silchers vorgeführt, des „Wiedererweckers des deutschen Volksliedes“ (siehe „Gartenlaube“ 1889, Halbheft 16). Neben diesem Führer und Meister des volksthümlichen Gesanges steht aber eine zahlreiche Schar von Männern, die, wenn auch nicht in so tiefgreifender und weitreichender Weise wie Silcher, so doch in ihrem Kreise eine namhafte Wirkung ausgeübt und sich als Komponisten und Gesangsleiter schätzenswerthe Verdienste um die Pflege des Volksliedes erworben haben. Denn „nicht an wenig stolze Namen ist die Liederkunst gebannt“, heißt es in Uhlands „Freier Kunst“, im Gegentheil, es wäre eine betrübende Erscheinung, wenn jene begnadeten Meister in einsamer Größe verharren müßten, wenn der von ihnen ausgestreute Same nicht aufblühte in reicher Pracht und tausendfältige Früchte trüge. Die Mit- und Nachwelt aber schuldet denjenigen nicht minder ein dankbares Gedenken, die sich als treue Hüter und Mehrer des anvertrauten Gutes erwiesen haben.

Ein solcher Mann nun ist Johann Peter Müller, der Vater der den Lesern der „Gartenlaube“ aus ihren Thierschilderungen wohl bekannten Brüder Karl und Adolf Müller, und ihm gilt das obenstehend abgebildete Denkmal, das am 4. November 1889 zu Friedberg im Großherzogthum Hessen enthüllt wurde. Friedberg und das Hessenland ist auch der Kreis, auf den der Gefeierte wirkte, dort werden seine Lieder schon über 60 Jahre von der Schuljugend und vom Volke gesungen, in Friedberg und später auf seinem Pfarrsitz Staden entstanden auch die zahlreichen anderen Kompositionen des musikalisch hochbegabten Mannes.

Johann Peter Müller, den 28. Juli 1791 in Kesselstadt bei Hanau geboren, hat 22 Jahre lang als Lehrer am Schullehrerseminar in Friedberg gewirkt und ist in Langen bei Darmstadt 1877 bei seiner Tochter gestorben. Schon von frühester Jugend auf offenbarte sich seine Hinneigung zur Musik und seine ganz besondere Vorliebe für Mozart, für welchen er so sehr begeistert war, daß er einmal als Knabe sich abends heimlich aus dem Bett stahl, um an den Fenstern des Konzertsaales zu Hanau dem Vortrag Mozartscher Kompositionen zu lauschen. Mozarts Vorbild war auch für Peter Müllers eigene Schöpfungen von bestimmendem Einfluß, unbeschadet der unbestrittenen Eigenart seiner Werke. Wir nennen neben seinen zahlreichen Liedern noch seine Männerchöre, seine Orgelpräludien und seine Instrumentalquintette. Auch zwei Opern hat er komponirt, „Nydia oder die letzten Tage von Pompeji“, welche in Darmstadt 1854 zweimal mit größtem Beifall aufgeführt wurde, und „Claudine von Villabella“ (nach dem Drama von Goethe). Von den Liedern aber sind „Wenn in die Ferne vom Felsen ich seh’“, „Goldne Aehre, du mußt fallen“, „Heute scheid’ ich, heute wander’ ich“ und „Hier auf diesen frohen Höhen“ – ein herrliches Vaterlandslied – wohl am tiefsten ins Volk gedrungen und manches von ihnen hat auch über den Ocean zu den Landsleute in Nord- und Südamerika den Weg gefunden.

Das Denkmal, das die Amtsgenossen, Freunde und Verehrer dem Dahingeschiedenen errichtet haben, ist von einfachen schlichten Formen. Eine wohlgetroffene Porträtbüste aus Bronze von Bildhauer Georg Rheineck in Stuttgart steht auf einem steinernen Sockel und das Antlitz mit der hochgewölbten Stirn und dem freien Blick der Augen ist der Stätte zugewandt, auf der sein Urbild einst ein langes Leben hindurch mit sorgender Liebe geruht. Sein lebendiges Andenken wird nie im Hessenvolke erlöschen. =      

Des Königs jüngster Rekrut. (Zu dem Bilde S. 200 und 201.) „Was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten,“ sagt das Sprichwort, und was ein richtiger Soldat werden will, drückt bei Zeiten die Kniee durch! So steckt dem kleinen siebenjährigen Bürschchen auf unserem Bilde der Soldat bereits in allen Gliedern, mit fast komischer Treue wiederholt sein Körperchen die eigenthümlich gestreckte S-Form der Haltung, welche sein Vater in langwierigem militärischen Drill sich angeeignet hat, und Säbel, Patronentasche und Czako, obwohl reichlich dreimal zu groß und zu weit, machen sich fast natürlich an dem strammen Kerlchen. Und wie wäre es anders möglich?! Der Großvater ein alter Soldat aus König Friedrich Wilhelms I. gestrengen Zeiten – die Mutter eine Soldatentochter, der Vater ein Grenadier Friedrichs II. – und Freunde und Gevattern, alles Soldaten in einer kriegerisch hoch bewegten Zeit! Da ist’s kein Wunder, wenn der kleine Knirps auf die Frage: „Was willst Du werden?“ keine andere Antwort weiß als: „Rekrut!“ Aber auch die Alten kennen kein höheres Ziel des Ehrgeizes für ihren Jungen. Darum auch die grinsende Freude im Gesichte des glücklichen Vaters und das behagliche Vergnügen von Mutter und Großvater, das fröhliche Lachen im Kreise der Nachbarn und Quartiergenossen. Selbst in des kleinen Schwesterchens Zügen spricht sich’s aus, daß der Bruder in ihren Augen jetzt den Gipfel der Vollendung erreicht hat.

Ob freilich die Wirklichkeit nicht oft recht herb in diese Soldatenidylle hineingreift? Ob der herangewachsene junge Mensch sich wohl einmal ebenso fröhlichen Gesichtes den Czako auf den Kopf stülpen wird, wenn er ihm nicht mehr zu weit ist? Ob er es nicht noch mit bitteren Schmerzen an Seele und Körper empfinden wird, daß er nichts ist als eben „des Königs jüngster Rekrut“? =      

Schätze in den Bergen. In der österreichischen Alpenwelt lebt von altersher der Glaube, daß sich in einzelnen bekannten Bergen reiche Schätze befinden, welche jedoch den Bewohnern jener Gegenden und unter diesen auch nur den sogenannten „Glückskindern“ einzig und allein an gewissen hohen Feiertagen zugänglich sind. Zu diesen geheimnißvollen Tagen, an denen der Zauberbann für Stunden wenigstens gelöst ist, zählt in erster Reihe die weihevolle Christnacht, die sagenumwobene Sonnwendnacht, der Palmsonntag und der festliche Ostertag. Das Salzkammergut und die mit Naturschönheiten nicht minder gesegneten Gebiete der Mur und der Mürz in der oberen Steiermark weisen eine Fülle der sinnigsten Mythen auf, welche Einblick gewähren in das Denken und Dichten der dortigen Alpenmenschen. Als Dichtungen des Volkes besitzen die Sagen der Aelpler gewiß hohen Werth.

Die Geschichte von jener Hammerschmiedin, welche in der Christnacht über die Berge durch den nächtigen Wald zur Mitternachtsmesse nach Mürzzuschlag ging, ihr kleines Kind auf dem Arme, und der sich plötzlich auf ihrem Irrpfad ein Felsen aufthat, aus dessen Innerem sich ihr im strahlenden Lichte eines großen Karfunkelsteines zwölf Fässer mit Dukaten zeigten, ist gewiß von einem ethischen Hauche belebt. Statt ihres einzigen Kindes hatte die Frau sich stets Geld gewünscht, und nun sollte sich wirklich ihr beständiger Wunsch erfüllen. Eiligst entnahm sie den gleißenden Schätzen so viel sie nur in ihren Kleidern unterzubringen vermochte, und als sie auch im Schürzentuch reichlich Gold geborgen hatte, stürmte sie hinaus ins Freie. Plötzlich erinnerte sich die nun reiche Hammerschmiedin, daß sie ihr Kind im Zauberfelsen zurückgelassen habe. Jammernd irrte sie im Walde umher und suchte die Höhle, in der ihr Kindchen nach seiner Mutter schrie. Aber vergebens war all ihr Suchen, ihr Flehen; sie konnte den Felsen nicht mehr finden und niemand wollte von dem geheimnißvollen Berge etwas wissen. Am Christtage fanden Kirchengänger den Leichnam der armen Mutter, die sich aus Verzweiflung über den Verlust ihres Kindes ertränkt hatte, am Ufer der Mürz ausgespült.

Im Salzkammergut erzählt man sich vom „Böttingsberg“ eine ähnliche Sage, doch öffnete sich hier der Fels der Mutter und ihrem Kinde am [228] Osterfeste während des dritten „Zusammenläutens“. Auch hier vergaß die mit Schätzen beladene Frau ihr Kind, doch tröstete sie sich auf den Rath des Ortsgeistlichen und ging übers Jahr, als wieder zum Hochamte geläutet wurde, zum Felsen. Sie fand ihn offen und ihr Kind unversehrt.

Daß in mondhellen Sonnwendnächten in der Mitternachtsstunde z. B. auf dem steirischen Hochreichard, wo sich einst ein Silberbergwerk befand, sich Schätze heben ließen, wenn man den richtigen Zauberspruch wüßte, ist ein noch heute im Aelplervolke lebender Glaube. Aber es müßten drei Personen sein, die sich vereinigt haben und die beim Suchen und Heben des Schatzes gewisse Formen zu beobachten hätten. Würden diese aber nicht haarscharf eingehalten, so verfielen die drei dem Tode und ihre Seelen hole sich der Böse. E. K.     

Die Chalifengräber zu Kairo. (Zu dem Bilde S. 217.) Eine merkwürdige Stadt erstreckt sich im Südosten Kairos um den Fuß den Mokattamberges, eine Gräberstadt voll prächtiger Grabmale, Moscheen und Minarets. Es sind die sogenannten „Chalifengräber“, kunstvolle Mausoleen, welche sich die Mamelukensultane hier erbaut haben, jene gewaltthätigen Herrscher, die 550 Jahre bald mehr bald minder unumschränkt über Aegypten geboten und deren Macht erst 1799 in der „Schlacht an den Pyramiden“ der Kriegskunst Napoleons I. erlag.

Heute freilich sind diese stolzen Zeichen einstiger Größe stark im Verfalle begriffen. Das zeigt auch das Bild des Malers Perlberg, das wir heute unsern Lesern vorführen. Prächtig ragen an dem zunächst liegenden Grabdenkmale der erhabene Kuppelbau, das schlanke, reich verzierte Minaret zum Himmel empor; aber an dem Fuße des letzteren hat der nagende Zahn der Zeit schon so viel Mauerwerk abgebröckelt, daß fast ein Drittel des mächtigen, sonst noch ziemlich unversehrten Thurmes ohne Unterlage frei in der Luft schwebt. Wie lange wird es dauern, bis das schlanke Bauwerk umstürzen und die kleinen Hütten der armen Fellahin, die sich in seiner Nähe angesiedelt haben, unter seinen Trümmern begraben wird. Der Künstler hat es verstanden, die Straße dieser zeitweise so öden Gräberstadt reizvoll zu beleben. Rechts im Vordergrund hat vor der armseligen Hütte eines Geflügelhändlers ein kaffeeschenkender Moslem ein buntfarbiges, schon ziemlich zerfetztes Zeltdach aufgeschlagen, unter welchem einige Araber auf dem Boden Platz genommen haben, um sich an dem braunen Lieblingsgetränk zu laben.

Vor ihnen, den arabischen Gästen zugewandt, hat ihr Diener mit den bepackten Kamelen Halt gemacht und wartet geduldig, bis die Gäste sich zur Fortsetzung der unterbrochenen Wanderung wieder von dem sandigen Boden dieser Kaffeeschänke einfachster Art erheben. Ihr gegenüber in der anderen Ecke des Bildes bemerken wir eine nicht minder malerische Gruppe von Obst- und Taubenhändlern, zu welchen sich eine tiefverschleierte ägyptische Frau, den Wasserkrug auf dem Kopfe tragend, gesellt hat, während im Hintergrund der Straße eine heranziehende Karawane durch die aufwirbelnden Staubwolken hindurch sichtbar wird.

Unmittelbar hinter dem Friedhofe der Könige beginnt die syrische Wüste, und oft in der Nacht, wenn tiefe Stille über der Todtenstadt liegt und der Mond und die ewigen Sterne mitleidig auf die verfallenden Riesengräber jener Mamelukenfürsten herabblicken, tönt das heisere Geheul der Schakale aus der dürren Ebene herüber, als ein trauriges Schlummerlied für die vermodernden Beherrscher Aegyptens, welche einst diese großen und herrlichen Mausoleen erbauten. George Morin.     

Hand- und Zungenfertigkeit sind uns ganz geläufige Dinge, die uns im Leben oft Nutzen oder Schaden bringen, über die wir uns freuen oder ärgern – je nachdem! Ueber meinem Arbeitszimmer rast gerade eine schöne zarte Hand unbarmherzig auf den elfenbeinernen Klaviertasten, ich aber erdulde, um mit dem Afrikaforscher Dr. Junker zu reden, einen schwachen Theil der vielen Leiden und Greuel wieder, welche der Elfenbeintransport im dunklen Welttheil verursacht hat, und ich erliege der Fertigkeit einer schwachen Damenhand. Aus der „Melodie“, die zu mir heruntertönt, kann ich herausrechnen, daß die Dame eine „geübte“ Hand hat und dieselbe mindestens 360 mal in einer Minute oder sechsmal in der Sekunde beugen kann. Das ist gewiß eine hübsche Fertigkeit, aber die Finger sind mitunter noch „fertiger“ als die Hand, und unter ihnen steht der Mittelfinger in dieser Hinsicht obenan; denn ein geübter Violinspieler kann den der linken Hand in einer Sekunde zehn Mal bewegen.

Wir bewundern solche Kunstfertigkeiten, aber bewundernswerther ist noch die Zungenfertigkeit. Ein Laut der menschlichen Sprache erscheint sehr einfach, aber um ihn hervorzubringen, muß eine ganze Reihe von Muskeln im Kehlkopf, in der Zunge, in den Lippen etc. in Bewegung gesetzt werden. Ein Physiologe hat sich selbst beobachtet und gefunden, daß er einen Hexameter, der aus 45 Buchstaben bestand, deutlich in zwei Sekunden hersagen konnte, und er rechnete heraus, daß, um jeden Buchstaben auszusprechen, das heißt um die jedesmal nothwendige Gruppe von Muskeln in Bewegung zu setzen und diese Bewegung abzuschließen, nur der winzige Zeitraum von 0,044 Sekunden erforderlich war. Es giebt aber noch geübtere Zungen und gelenkigere Sprachwerkzeuge, die einen noch tolleren Muskeltanz in einer einzigen Sekunde hervorzuzaubern vermögen – und diese würden gewiß unerträglich sein, wenn nicht die weise Natur ihrer Leistungsfähigkeit in der Ermüdung eine Grenze gesetzt hätte. *     

Blitzschläge in Gas- und Wasserleitungen. Für die Verhütung der Blitzgefahr ist es von hoher Bedeutung, das Verhalten des Blitzes Gas- und Wasserleitungen gegenüber genauer, als das bisher der Fall war, kennen zu lernen. Da die weitverzweigten Röhrensysteme als Ableiter dienen, so verlaufen die meisten Blitzschläge in dieselben gefahrlos und gelangen darum selten zur öffentlichen Kenntniß. Der „Elektrotechnische Verein“ in Berlin hat nun seiner Zeit einen Unterausschuß für die Untersuchungen über die Blitzgefahr eingesetzt und dieser hält es für sehr wichtig, Beschreibungen von Fällen der oben erwähnten Art zu sammeln. Es wird darum öffentlich ersucht, Mittheilungen über solche Blitzschläge an Prof. Dr. von Bezold, im Königlichen Meteorologischen Institut, Berlin W., Schinkelplatz Nr. 6, zu senden. *     

Desinfektion der Personenwagen. Unsere Leser sind durch den Artikel „Gesundheitspflege und Eisenbahnverkehr“ im vorigen Jahrgang der „Gartenlaube“ (Seite 494) darauf aufmerksam gemacht worden, wie viel in Bezug auf Verhütung von Ansteckung durch die Eisenbahn noch zu thun ist. Ein gutes Beispiel hat die nordamerikanische Pennsylvaniabahn gegeben, indem sie verschiedene sehr beachtenswerthe Vorsichtsmaßregeln angeordnet hat. Es müssen nämlich die Personenwagen wenigstens einmal wöchentlich von Grund aus gereinigt, desinfiziert und der Kehricht daraus muß, soweit möglich, verbrannt werden. Große Vorsicht wird ferner angewendet bei Erneuerung des – in allen amerikanischen Personenzügen vorhandenen – Trinkwassers; es sind Einrichtungen getroffen, um solches vorher zu kochen. Wird ein Fall einer ansteckenden Krankheit festgestellt, so ist der betreffende Wagen sofort auszusetzen und gründlich zu durchräuchern.


Kleiner Briefkasten.
(Anfragen ohne volle Namensangabe werden nicht berücksichtigt.)

M. M. in Innsbruck. Das Wort „Bauer“ kommt nicht vom „bebauen“ des Bodens her, sondern vom eingefriedigten Hof, der althochdeutsch „bûr“ genannt wurde. Diesem Wortstamm entsprechen noch: Nachbar, Vogelbauer, die Ortsnamen auf „beuren“ und „büren“, sowie die „Buren“ in Südafrika. „Bauer“ heißt also Hofbesitzer und ist deshalb ein viel stolzerer und besserer Name als die Bezeichnungen „Oekonom“ oder „Ackerbürger“, welche heutzutage so vielfach umschreibend für den Stand gebraucht werden, der sich seines uralten Namens wahrlich nicht zu schämen hat.

E. K. in Brünn. Der Ausdruck „ein Schnippchen schlagen“ ist der Jägersprache entnommen. Sieht sich ein Rebhühnervolk verfolgt, so pflegen immer einige der Hühner, die zwischen den Schollen Wache halten, die Schwänze unruhig auf- und abzubewegen, sie „wippen“ oder „schnippen“. Will der Jäger zum Schuß kommen, so muß er warten, bis sich die Thiere beruhigt haben; ist er aber zu voreilig, so „schlagen die Hühner ein Schnippchen“ und entkommen.

Allb. in Durlach. Die Brüche in den Bildnissen des Kaiserpaares und den anderen Kunstbeilagen lassen sich am besten durch sorgfältiges Aufziehen der einzelnen Blätter auf Karton beseitigen. Die Arbeit besorgt jeder geschickte Buchbinder oder Bildereinrahmer.

Prietzel. Nicht zu empfehlen. Nur der Arzt kann helfen.

R. G. in Cincinnati. Sie fragen uns, ob die in Halbheft 18 des Jahrgangs 1888 der „Gartenlaube“ gesuchte Geige des berühmten Geigenmachers Tieffenbrucker oder Duiffobruggar inzwischen gefunden worden sei. Leider ist dies bis jetzt nicht gelungen. Elise Polko hat trotz aller ihr zugegangenen Briefe aus aller Herren Ländern sich noch nicht von der Entdeckung der verloren gegangenen fünften Geige Tieffenbruckers überzeugen können. Keine der angegebenen Spuren hat zu einem Ziele geführt. Die verschwundene Geige bleibt nach wie vor eine offene Frage.

Elisabeth. Die Erzählung von Stefanie Keyser „Deutsche Art, treu gewahrt“ ruht in der That auf geschichtlichem Grunde. Zusammenstöße zwischen den Rittern des Palmenordens und den Anhängern des französischen Schäferspiels, wie ein solcher in der Novelle geschildert wird, haben wirklich stattgefunden; die kulturgeschichtlichen Einzelheiten sind Werken jener Zeit entnommen. Doch wurden die Vertreter beider Richtungen aus den Mitgliedern der sich feindlich gegenüberstehenden Gesellschaften frei gewählt, der Schauplatz verlegt.

M. A. R. in Konstantinopel und Förster bei Moskau, Rußland. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.



Auflösung der Entzifferungsaufgabe auf S. 196: Auflösung des Logogryphs auf S. 196:
Schilderhaus – Schillerhaus.
Auflösung des Hieroglyphenräthsels
auf S. 196:

Die Welt ist lieblich anzuschauen,
Vorzüglich aber schön die Welt der Dichter;
Auf bunten, hellen oder silbergrauen
Gefilden, Tag und Nacht, erglänzen Lichter.
Heut’ ist mir Alles herrlich! Wenn’s nur bliebe!
Ich sehe heut’ durch’s Augenglas der Liebe.


Goethe. (Westöstlicher Divan.)
Auflösung des Kreuzräthsels auf S. 196:
Ueber Vieles kann

Der Mensch zum Herrn sich machen, seinen Sinn
Bezwinget kaum die Noth und lange Zeit.
(Goethe, „Torquato Tasso“ V. 1.)

Auflösung der Domino-Patience auf S. 196:




Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Heine sagte einmal, Rothschild behandle ihn „famillionär“.