Die Gartenlaube (1891)/Heft 48

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[805]

Nr. 48.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(12. Fortsetzung.)

So ganz war Andree mit seinen Gedanken bei seinem Bilde, daß er zusammenschrak, als plötzlich vor ihm vom Boden eine schwarze, in grellbunten Sommerstoff gekleidete Gestalt emporschnellte, die dort auf dem heißen, sonnendurchglühten Kiessand lang ausgestreckt gelegen hatte, augenscheinlich in keiner andern Absicht, als der, sich hier bei lebendigem Leibe von der sengenden Augustsonne braten zu lassen.

„Dudu!“ rief Andree und hielt den schwarzen Jungen, der ihm, glatt wie ein Aal, entschlüpfen wollte, an einem Jackenzipfel fest. Bei Dudus Anblick fiel ihm Gerda ein. Er hatte sie während seiner täglichen Besuche eigentlich nie zu Gesicht bekommen, und wenn es einmal geschah, so war sie stets mit einem kurzen Gruß verschwunden. Daß sie gesund war, wußte er durch Herrn Grimm, mit dem er eines Abends in einem Weinkeller zusammen getroffen war und gemütlich plaudernd ein paar Flaschen Rothwein ausgestochen hatte. Sie hatten wieder beide großes Wohlgefallen aneinander gefunden, und Andree hatte dem Freunde versprechen müssen, im Herbst und Winter, wenn erst das Pflegekind ganz in seinem Hause sei, ihn häufig zu besuchen, wenn er ihm auch nicht jedesmal eine Jagd auf Kaninchen bieten könne. Er freue sich unaussprechlich auf das Zusammenleben und könne mit Genugthuung berichten, daß es Gerda ebenso gehe, denn sie habe erklärt, noch nie sei ihr ein Sommer so endlos erschienen wie dieser, und sie werde bei ihm wie im Himmel sein.

Vor dem Hasen.
Nach dem Gemälde von J. Deiker.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

Dieser etwas überschwengliche Ausspruch fiel Andree ein, als er, Dudus Jackenzipfel in der Hand, an Gerda erinnert wurde – er beschloß, sich einmal nach seiner jungen Freundin umzusehen, und fragte Dudu, ob er nicht wisse, wo sie sei.

Das Mohrchen zeigte seine wie aus leuchtendem Elfenbein geschnitzten Zähne und grinste den Fragenden verständnißlos an. Andree wiederholte seine Frage, nachdrücklich auf Englisch mit demselben Mißerfolg – und erst, als er langsam dreimal hintereinander „Missie Gerda“ sagte und den Knaben mit emporgezogenen Brauen fragend dazu ansah, dann die Achseln zuckte und rathlos rund umherschaute, dämmerte in dem schwarzen Gesicht ein Schatten von Verständniß auf. Der Junge gurgelte ein paar Kehllaute heraus, aus denen wieder Andree seinerseits nichts zu machen wußte, und glitt dann wie ein schillerndes Schlänglein seitwärts durch das Gebüsch, Andree durch einladendes Grinsen aufforderte, ihm zu folgen.

[806] In einer von Birken und Eschen gebildeten Rotunde stand ein gußeiserner Kartentisch, eine kleine Bank dahinter. Auf dieser kauerte Gerda Brühl in sehr ungezwungener Stellung, einen Fuß hoch hinaufgezogen und unter sich geschlagen, beide Ellbogen vor sich auf die Tischplatte gestemmt, die Finger in die Ohren gesteckt und den Kopf tief über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt. Halblaute Worte kamen über ihre Lippen, ab und zu durch einen schweren Seufzer unterbrochen.

„Karl I. 1649 enthauptet ― Karl II. bis 1685 ― Jakob II. bis 1688 ― Kampf bei Sedgemoor ―“

„Brav, Gerda! Immer fleißig?“ sagte Andree lächelnd und sah ihr über die Schulter in das offene Buch hinein.

Sie fuhr in die Höhe, starrte ihn ganz wild aus ihren großen Augen an und wollte augenblicklich aufspringen, verlor aber, vermöge des emporgezogenen Fußes, das Gleichgewicht und wäre von der Bank gefallen, wenn Andree sie nicht rasch erfaßt und gehalten hätte. Sie war während dessen glühend roth geworden. Endlich kam sie auf die Füße zu stehen und sagte nun steif und förmlich: „Guten Tag, Herr Andree! Wünschen Sie etwas von mir?“

Er schüttelte verwundert den Kopf.

„So fremd, kleine Freundin? Ist das hübsch, einem alten Kriegs- und Jagdkameraden gegenüber? Gewiß wünsche ich etwas von Ihnen: zunächst eine Hand und dann ein freundliches Gesicht!“

Die Hand wanderte herüber, aber das freundliche Gesicht blieb Gerda ihrem Freunde vorläufig schuldig. Sie sah zu Boden und kräuselte die Lippen.

„Was ist denn passiert, was hab’ ich Ihnen denn gethan?“ fragte er erstaunt weiter und klopfte mit seiner Linken sanft aufmunternd auf ihre Hand, die noch in der seinen lag.

„Nichts!“ erwiderte sie ausdruckslos und sah an ihm vorüber in die Luft.

„Nun also sehen Sie! Nichts! Und dazu machen Sie ein Gesicht, als sei Ihnen meine Gegenwart über die Maßen zuwider! Und ich war in allem Ernst so unbescheiden, mir einzubilden, Sie wären mir gut!“

Gerdas Lippen zitterten, sie wollte ihre Hand, die Andree noch immer gefaßt hielt, losmachen, aber er gab sie nicht her.

„Was ist denn mit Ihnen, Gerda? Onkel Grimm hat mir erzählt, Sie seien gesund und sehr glücklich, bald bei ihm zu sein ― aber es scheint mir, er hat sich geirrt!“

„O nein – das nicht!“

„Ich habe auch Ihre Schwester verschiedene Male nach Ihnen gefragt und bekam stets zur Antwort, es gehe Ihnen gut. Wo fehlt es denn nun?“

Sein Ton und Gesichtsausdruck waren so theilnehmend und gütig, daß Gerda sich zusammenraffte. Sie wußte ja selbst nicht recht, weshalb es sie so grenzenlos gekränkt hatte, daß er sich gar nicht mehr um sie bekümmerte, nur noch für Stella da war, nie nach ihr fragte … Doch! Er hatte ja nach ihr gefragt ― Onkel Grimm und auch Stella, er hatte es ja eben selbst gesagt. Gerda fand sich selbst ganz unausstehlich, sentimental, launenhaft und kindisch ― es war kein Wunder, daß sich die Menschen, den guten Onkel Grimm ausgenommen, nichts aus ihr machten!

„Ach ― ich bin bloß so dumm!“ sagte sie, über sich selbst ärgerlich, und sah Andree endlich ins Gesicht. „Ich denke, ich kann nicht ganz gesund sein! Schmerzen hab’ ich zwar keine, aber Onkel Grimm meint, ich habe zu wenig Blut, und ich wachse zu rasch.“

„Und das verhindert Sie, freundlich gegen mich zu sein?“ fragte Andree mit humoristischem Kopfschütteln. „Eine seltsame Logik!“

Hierauf blieb ihm Gerda die Antwort schuldig.

„Also englische Geschichte treiben Sie!“ nahm er nach einer kleinen Pause das Gespräch wieder auf. „Das Haus Stuart! Dann müssen Sie ja auch etwas vom Oliver Cromwell wissen, dem Puritaner-General. Soll ich Sie einmal ein wenig examinieren? Was meinen Sie?“

„Ach, um Gotteswillen!“ rief Gerda, halb ärgerlich und halb lachend, „das fehlte mir noch!“ Sie schlug mit Heftigkeit das aufgeschlagene Geschichtsbuch zu. Dabei flog ein loses Blatt heraus, und das junge Mädchen bückte sich hastig, um es an sich zu nehmen. Aber Andree war flinker als sie ― er hatte das Blatt im Fallen erfaßt und, im Begriff, es ihr zurückzugeben, einen flüchtigen Blick darauf geworfen.

Gerda war verlegen und beschämt. „Bitte, Herr Andree, sehen Sie es nicht an, geben Sie mir’s wieder!“

Er schüttelte nur stumm den Kopf und hob seine Hand so hoch, daß sie nicht bis zu ihm hinaufreichen konnte und nun neben ihm stand wie ein Kind, das etwas erlangen will und zu klein ist, um dazu zu kommen. ―

Ueber Andrees Gesicht flog ein belustigtes Lächeln, dann ward er wieder ernst.

„Haben Sie das gemacht?“ fragte er, noch immer die Augen auf das Blatt geheftet.

„Ja!“ antwortete Gerda kleinlaut.

Es war die Scene, die sie neulich beobachtet hatte: Kuno von Tillenbach, auf dem niedrigen Schemel zu Stellas Füßen sitzend, die Strähne Seide über den unbeholfen ausgestreckten Armen ― sein dummes Gesicht mit der Schafsfrisur und einem unglaublich komischen Ausdruck verliebten Schmachtens zu dem schönen Mädchen emporgehoben, den Mund offen, die spitzen Kniee hoch hinaufgezogen, die ganze Haltung eckig bis auf die Rockzipfel herab, die am Boden schleifen ― seitwärts davon, sehr absichtlich abgewendet, nur im verlorenen Halbprofil zu sehen, Prinz Riantzew, in seiner ganzen Stellung deutlich Aerger und Mißbilligung ausdrückend, im übrigen tadellos mit seinem dandyhaften Anzug, dem herabhängenden Monocle, der korrekten Frisur. Stellas Gestalt war eben nur in ein paar Linien angedeutet und in keiner Weise ausgeführt, der Hintergrund von Busch und Baum auch nur leicht skizziert.

Es waren auffallende Fehler in dieser kleinen Zeichnung, das sah ein so geübter Blick wie der Andrees sofort. Die Perspektive war schlecht, die Entfernung zwischen den Personen falsch bemessen, die Formen unsicher … was aber dem Ganzen den Stempel des entschiedensten Talentes aufdrückte, das war der ungemeine Scharfblick, mit dem hier das Charakteristische der betreffenden Persönlichkeiten hervorgehoben war, und der ungewöhnlich entwickelte Sinn für Humor, der aus allem sprach.

Als Unterschrift zeigte das Bildchen in Gerdas knabenhaft ungleicher Handschrift die Worte: „Eine Partie mit dem Strohmann“ ― und in einem Eckchen, kaum sichtbar: „G. B. fecit. Den 10. Mai.“

„Bei wem haben Sie Zeichenstunde?“ fragte der Maler nach einer Weile.

„Bei niemand! Bis vor zwei Jahren bei Fräulein Lührmann – dann kam Herr Hilt, um Wolfgang Zeichenunterricht zu geben, aber den kann ich nicht leiden, und so nahm ich lieber gar keine Stunden, obschon es mir sehr leid thut!“

„Was mißfällt Ihnen denn so an Hilt?“

„Alles! Sein Gesicht ― und seine Sprache ― und sein Wesen ― alles! Er ist doch nicht etwa Ihr Freund?“

„Und wenn er es wäre?“

„Könnte ich auch nichts anderes von ihm sagen! Aber nicht wahr, er ist es nicht?“

„Nein, er ist es nicht! Doch genug von ihm! Warum haben Sie die Figur Ihrer Schwester nicht ausgeführt wie die beiden andern?“

„Weil ich bloß Karikaturen machen kann! Das macht mir Spaß ― aber sonst nichts anderes!“

„Prinz Riantzew ist doch keine Karikatur!“

„Sonst nicht ― nein! Aber wie er so dastand, war er eine. Er war so entsetzlich böse! Selbst die Haare in seinem Schnurrbart sträubten sich vor innerer Empörung.“

Andree sah auf das Blatt: richtig, das Stückchen Schnurrbart, das von dem Prinzen sichtbar war, stand steif und nadelspitz empor. Er mußte lachen.

„Haben Sie oft solche Bilderchen gemacht, Gerda?“

„Natürlich!“ gab sie energisch zurück. „Das heißt, aus dem Gedächtniß gerathen sie mir nicht so gut ― diesmal stand ich hinter einem Busch verborgen und zeichnete nach der Natur.“

„Wen haben Sie denn schon abkonterfeit?“

„Na! Alle meine Lehrer natürlich ― und Frau Willmers ― und Hilt ― und Konsul White ― und Dudu ― und manche von den Herren, die zu Papa kommen ―“

„Mich auch?“

Sie sah ihn entrüstet an.

„Sie? Ich sagte doch schon, ich kann bloß Karikaturen zeichnen. Aus Ihnen läßt sich doch keine machen!“

„Hm! Wer weiß! Wenn ich so dagesessen hätte wie Kuno und Ihrer Schwester die Seide gehalten haben würde ―“

[807] „Ach, das hätten Sie doch nie gethan!“

„Meinen Sie? Nun – aber das beiseite! Wissen Sie auch, Gerda, daß Sie ein hübsches Talent haben? Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu sagen, daß hier –“ er wies leicht auf die Zeichnung – „ziemlich viele Fehler drin stecken, aber es ist noch weit mehr Begabung drin. Was meinen Sie, soll ich Ihnen Zeichenstunde geben? Natürlich nicht so ganz regelmäßig, das erlaubt mir meine Zeit nicht, aber ab und zu, und ich bringe Ihnen dann allerlei bei, was Ihnen jetzt noch fehlt und was Sie ohne Zweifel rasch lernen werden. Was sagen Sie dazu?“

Sie war vor Freude und Ueberraschung roth geworden, schüttelte aber heftig den Kopf.

„Es geht nicht, nein, ich danke Ihnen!“

„Es geht nicht?“ wiederholte er. „Warum denn nicht?“

„Ich – ich – bekäme die Erlaubniß nicht dazu!“

„Nun, das wollen wir doch erst einmal sehen! Ich werde mit Ihren Eltern sprechen –“

„Bitte, bitte, nein! Thun Sie das nicht!“

Gerda sah ängstlich aus und sprach sehr dringend.

„Es hilft nichts, ich weiß es, und ich – ich müßte es dann entgelten –“

„Oder wir lassen es, bis Sie zu Herrn Grimm übersiedeln, und ich bitte ihn um die Erlaubniß.“

Sie kämpfte einen Augenblick mit sich.

„Auch das nicht, nein! Ich möchte es nicht!“

„Nun, wie Sie wollen!“ Er legte das Bildchen vor sie auf den Tisch hin und wandte sich zum Gehen.

„Jetzt sind Sie böse!“ sagte Gerda traurig.

„Böse nicht, aber erstaunt und nicht gerade erfreut. Haben Sie denn einen stichhaltigen Grund, bei mir keine Zeichenstunde nehmen zu wollen?“

„Ja, ich habe einen!“

„Und den darf ich nicht erfahren?“

„Nein!“

„Ja, dann muß ich mich schon bescheiden! Vielleicht mißfällt Ihnen auch an mir alles wie an Hilt: mein Gesicht, meine Sprache, mein Wesen –“

Er lachte, während er das sagte, und sie stimmte etwas gezwungen mit ein.

„Das können Sie ja denken, wenn Sie wollen!“

„Adieu denn, Sie junge Sphinx! Kehren Sie zu Ihren Stuarts zurück! Ich muß eilen, daß ich an meine Arbeit komme.“

„Hat Ihnen Stella schon gesagt –“ Gerda hielt inne.

„Was gesagt?“

„Ach –0– nichts! Oder doch etwas! Aber sie wird’s Ihnen ja selbst sagen!“

„Auf Wiedersehen, meine spröde Freundin! Ich werde es jetzt einzurichten wissen, daß wir einander öfter treffen.“

Wie sie zu ihm aufschaute, machte ihn der Ausdruck in ihren Augen betroffen, es durchzuckte ihn etwas, er konnte nicht sagen, was es war. Die Empfindung ging blitzschnell vorüber und ließ nur ein Stutzen, ein Staunen zurück, das auch bald verschwand.

Als Andree sich im Weiterschreiten zurückwandte, sah er Gerda wieder mit aufgestemmten Ellbogen, die Finger in den Ohren, am Tisch sitzen und englische Geschichte lernen. Das Bildchen „Eine Partie mit dem Strohmann“ lag neben dem offenen Buch.

„Kurioses Kind!“ murmelte der Maler und bog in eine kleine Lindenallee ein.




19.

Oben in dem Atelier, das so rasch und mit so großen Kosten hergerichtet worden war, saß unterdessen die schöne Stella und war sehr ungnädig. Andree kam nicht, er ließ sie warten! Was fiel ihm denn ein? Mit wem glaubte er es zu thun zu haben? Schon seit einer halben Stunde saß sie bereit in dem weißen Kleide, das sie für das Porträt brauchte, ja sie hatte unwillkürlich schon die Stellung für das Bild eingenommen. Sie war heute besonders pünktlich zur Stelle gewesen und hatte sich statt Frau Willmers Mama zur Hilfe und Verstärkung mit heraufgenommen. Frau Brühl war schon mehrfach bei den Sitzungen zugegen gewesen, heute aber war ihre Anwesenheit besonders nothwendig, denn Stella wollte Andree ganz kühl und ruhig, wie etwas Selbstverständliches, den Reiseplan mittheilen und ihm sagen, daß heute für lange Zeit ihre letzte Sitzung sei. Es war ihr indessen innerlich durchaus nicht so kühl und ruhig zu Muthe, denn sie sagte sich, daß Andree diese Reise keineswegs als etwas so Selbstverständliches auffassen werde, und daß sie selbst durch ihr Benehmen ihm ein Recht zum Staunen, sogar zur Entrüstung über diesen Reiseplan gegeben habe. Das war ihr unbehaglich, daher sollte ihr die gute Frau Mama Andree gegenüber als Blitzableiter dienen. –00– Nun erleichterte sein unverantwortliches Benehmen ihr die Lage bedeutend. Sie zog wohl zum zehnten Mal während dieser halben Stunde ihre Uhr zu Rath, runzelte finster die Stirn, stampfte zornig mit dem Füßchen und gab Mama Brühl auf eine sehr bescheidene Frage eine sehr unbescheidene Antwort.

Draußen schien recht wie zum Hohn die Sonne, der Himmel war leuchtend blau, es war das schönste Wetter von der Welt – und er kam nicht! Wäre er krank geworden oder sonst ein Hinderniß eingetreten, dann hätte er doch Botschaft senden müssen. Empörend! Sollte sie fortgehen und es der Mama überlassen, ihm das Projekt der Reise und die Unterbrechung der Sitzungen mitzutheilen?

Da kam ein leichter eiliger Schritt die teppichbedeckte Stiege herauf, ein wohlbekanntes Klopfen ertönte, und auf ein gemessenes „Herein“ von Mama Brühl – Stella that den Mund nicht auf – trat Andree eilig und lächelnd über die Schwelle. Sein Blick flog zu Stella hinüber, während er sich tief vor der Dame des Hauses verneigte und ein paar höfliche Worte sagte – das schöne Mädchen saß abgewendet da und that, als wäre niemand ins Zimmer getreten. Ah! Schlechtes Wetter! Das verwöhnte Prinzeßchen war beleidigt! –

„Ich bitte Sie, meine verehrte gnädige Frau, helfen Sie mir gütigst, Ihr Fräulein Tochter zu versöhnen!“ wandte sich der Maler an die ältere Dame. „Ich rufe Ihr mütterliches Gerechtigkeitsgefühl in dieser Angelegenheit an, das sicher bei der einen Tochter das vertreten wird, was die andere zum Theil mit verschuldet hat. Ich traf Fräulein Gerda unten im Garten, und da ich meine junge Freundin lange Zeit hindurch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, so benutzte ich die gute Gelegenheit, um eine Weile mit ihr zu plandern!“

So! Also Gerdas wegen! Auch das noch! – Auf dem sonst so strahlenden Antlitz Stellas war völlige Sonnenfinsterniß.

„Bitte, sehen Sie nicht so böse drein, mein gnädiges Fräulein! Habe ich denn wirklich ein solch großes Verbrechen in Ihren Augen begangen?“ Andree bog sich beunruhigt zu Stella nieder.

„Das gerade nicht!“ kam endlich Mama Brühl zu Hilfe, da die „Prinzessin“ mit eiserner Beharrlichkeit schwieg. „Sie können sich aus dem Aerger meiner Tochter, bester Herr Andree, nur ein Kompliment herauslesen, sie zeigt Ihnen dadurch, wie sehr ihr an diesen Sitzungen gelegen ist – und nun gerade heute! Es ist nämlich – nun komm’, meine süße Stella, sei mein kluges verständiges Kind wie immer, sprich mit Herrn Andree, der ja unser aller vertrauter Freund im Verlauf der Zeit geworden ist! Sag’ ihm, was Du zu sagen hast!“

„Ja,“ begann die junge Dame in durchaus geschäftsmäßigem Ton, immer noch, ohne Andree anzusehen, – sie spielte mit einem goldenen Bleistift und ließ keinen Blick von demselben – „das kann geschehen, Mama hat ganz recht! Ich wollte Ihnen sagen, Herr Andree, daß heute unsere letzte Sitzung stattfinden muß, da wir übermorgen verreisen!“

„Was?“ fragte der Maler schroff und trat ganz nahe an Stella heran, wie wenn er nicht richtig gehört hätte.

Sie hob trotzig den Blick zu ihm auf, allein sie fand einen Ausdruck auf seinem Gesicht, der sie zwang, die Augen niederzuschlagen. Stella Brühl hatte sehr wenig Herz, – aber das wenige, was sie von diesem Artikel besaß, gehörte augenblicklich ohne Zweifel Andree – und das Gemisch von Schreck, Staunen und Schmerz, das sie auf seinem Antlitz las, rührte ihr das Herz.

„Wir reisen – ja – Papa wünscht es,“ sagte sie stockend, „und unser Hausarzt befiehlt es geradezu, die langen Sitzungen sind zu angreifend für mich gewesen – ich – ich bin nicht gesund –“

Und in der That: ihr sonst so rosiges Gesichtchen erschien blaß, wie sie jetzt zu dem Maler in die Höhe sah, ihre Stimme klang matt, und in den wunderschönen Augen glänzte es feucht.

Es zuckte in seinen Zügen. Er glaubte ihr ohne weiteres – glaubte ihr jedes Wort, das sie sprach. Keine Sekunde kam ihm der Gedanke, ihre Worte anzuzweifeln. In seinem langen und [808] engen Verkehr mit ihr hatte er nie einen Widerspruch in ihrem Wesen, nie ein Abweichen von der Wahrheit entdeckt, … er hätte es vielleicht vermocht, wenn er sie scharf beobachtet haben würde. Aber er liebte sie – und ein leidenschaftlich Liebender ist ein schlechter Beobachter. –

Also fort! Die Kette herrlich schöner Tage unterbrochen! Seine Freude, die er von Tag zu Tag mit heimlicher Flamme in sich genährt, dahin! Nicht mehr würde er einschlafen mit einem glücklichen Lächeln und einem geflüsterten oder gedachten: auf morgen! Er würde nicht mehr mit einem gesteigerten Wonnegefühl erwachen und in brennender Ungednld, die einzig und allein durch Malen, durch Malen an ihrem Bilde, zu beschwichtigen war, die Stunde herbeisehnen, die ihn endlich wieder zu ihr brachte! Seine Sonne, sein Glück, sein künstlerisches Ideal fort!

00– Er stand wie im Traum und sah auf ihr wundervolles Haar, dem die Sonne rothe Lichter entlockte, und er kostete in dieser Minute zum voraus all’ die Bitterkeit und qualvolle Sehnsucht durch, die diese Trennung ihm bereiten würde. –

Frau Brühl stand neben dem breiten Fenster und betrachtete die beiden mit wachsendem Erstaunen. Sie fand dies schwüle Schweigen und gegenseitige unverwandte Anblicken etwas sonderbar. Es war ziemlich lange her, seit sie zum letzten Mal als Ehrendame hier oben im Atelier gewesen war. In der letzten Zeit hatte die Prinzessin immer ihre getreue Willmers zu diesem Posten bestimmt. Sollte sich unterdessen hier etwas angesponnen haben? Zwar, daß Andree in Stella verliebt war, fand sie selbstverständlich, sie hätte sich sehr gewundert, wenn ein Mann, der so andauernd das Glück genoß, ihren Engel zu sehen und mit demselben zu verkehren, nicht sein Herz an ihn verloren haben würde! Aber Stella! Was war mit ihr? Wie benahm sich das Kind? Sie sah jetzt aus, als koste sie die Trennung selbst einen schweren Entschluß, … mein Gott, und sie hatte doch zu Papas Vorschlag Ja und Amen gesagt und hinzugefügt, es sei sogar in mancher Hinsicht nothwendig, daß die Reise vor sich gehe. – Die betroffene Mama schüttelte bedenklich den Kopf, sie wagte nichts zu sagen, da sie genau wußte, daß Stella solche Einmischungen weder liebte, noch überhaupt duldete, aber sie fühlte sich äußerst ungemüthlich.

„Also fort!“ sagte endlich Andree mit heiserer Stimme. „Wohin? Und wie lange?“

„Nach Trouville – zunächst, nur für ein paar Wochen!“

„Nur für ein paar Wochen!“ wiederholte die entrüstete Mama in Gedanken. „Und ich, die ich mir Herbstkostüme bestellt und mich ganz darauf eingerichtet habe, bis in den Oktober hinein fortzubleiben, wenn auch nicht gerade in Trouville! Was das Kind sich denkt?“

Wieder eine schwüle Pause! Endlich trat er näher und faßte ihre Hand, die Mama schien er ganz vergessen zu haben.

„Sie sind doch nicht ernstlich leidend?“ fragte er sanft und leise. „Sie fühlen sich nicht krank?“

So schwer bekümmert klang seine Stimme, so traurig und besorgt blickten seine guten Augen sie an, daß etwas wie Beschämung über die Komödie, die sie vor ihm aufführte, über sie kam.

„Das nicht gerade!“ murmelte sie. „Nein – nicht krank – nur ermüdet! Die langen Sitzungen –“

Er sah sie reuevoll an, faßte behutsam ihr Händchen, als fürchtete er, ihr wehe zu thun, und küßte es zärtlich wieder und wieder.

„Ich Egoist! Ich Tyrann! Ich habe nur an mich und meine Kunst gedacht und nie danach gefragt, ob Ihr zarter Körper solch ungewohnter Anstrengung gewachsen ist! Können Sie mir denn verzeihen?“

Sie nickte und lächelte ihn an. Leise wie ein Hauch, so daß ihre Mutter am Fenster es unmöglich hören konnte, kamen die Worte über ihre Lippen: „Ich komme bald wieder!“

Nun lächelte auch er, obgleich es ihm nicht recht von Herzen gehen wollte.

„Wir hatten gehofft, lieber Herr Andree,“ nahm hier Mama Brühl das Wort – ein Augenwink Stellas hatte ihr die Erlaubniß dazu ertheilt – „daß Sie Ihr Werk auch ohne die Anwesenheit meines Kindes zu fördern in der Lage sein würden. Stella hat mir gesagt, daß Sie für die ‚Eos‘ eine große Anzahl von Skizzen verschiedenster Art angefertigt haben, die Ihnen einen sichern Anhalt bieten dürften. Und das Porträt meines Kindes“ – Frau Brühl sprach oft so von Stella, als habe sie nur dieses einzige Kind und als sei es ihr alleiniges Eigenthum, auf das ihr Gemahl keinerlei Anspruch erheben dürfe – „ist ja fast vollendet.“

„Ja, ja!“ sagte er nach einer Weile, wie aus einem Traum auffahrend, „ich kann auf dem Bilde der Eos das Viergespann malen indessen – das giebt reichlich zu thun … und hier – mir fehlt noch etwas an der Hand und am Haar … dürfte ich bitten?“

Stella kam seinem Wunsch nach. Mit der glücklichen Leichtigkeit, die, abgesehen von ihrer Schönheit, dem Künstler die Aufgabe so dankbar machte, fand sie sofort die richtige Stellung, die Haltung des Kopfes, die Lage der Hände … und wenn Andree jetzt dennoch hinzutrat, um scheinbar einiges zu ändern, so that er es nur, um ihre Hand, ihr Kleid, ihr Haar berühren zu dürfen, es war ja für lange Zeit heute zum letzten Mal, daß er sie so für sich hatte!

Frau Brühl sah auch diese „künstlerische That“ mit an und dachte sich das Ihrige dabei. Sie wagte es, im stillen Stella zu kritisieren, sie nannte sie unvorsichtig. Wer konnte es dem Mann verargen, wenn er sich Illusionen hingab?

Daß er dies wirklich that, bewies sein Benehmen, als es nach einer guten Stunde emsigen und ununterbrochenen Malens, thatsächlich zum Abschied kam. Sein Gesicht wurde weiß bis in die Lippen hinein, und diese Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut darüber. Er hielt des schönen Mädchens beide Hände gefaßt, wie in Seelenangst, und sein Blick ruhte mit einem Ausdruck so selbstvergessener Zärtlichkeit auf ihr, daß es der Frau Senator, die zu Zeiten nicht ohne sentimentale Empfindsamkeit war, ordentlich leid um ihn that. Endlich flüsterte er etwas, das sie leider nicht verstand, wandte sich mit ein paar Abschiedsworten, die ihr keinen Zusammenhang zu haben schienen, zu ihr, der Mutter, und führte ihre Hand leicht an seine Lippen. Darauf kehrte er noch einmal zu Stella zurück, und die beiden tauschten Blicke und leise Worte wie zuvor. Und nun war er gegangen!

Sie hörten unten, am Fuß der Treppe, die Hausthür gehen und sahen dann seine hohe und kraftvolle Gestalt durch den Garten schreiten, der, lichtüberfluthet, im vollen Mittagssonnenschein dalag. Mama Brühl hatte tausend brennende Fragen auf der Zunge, scheute sich aber, auch nur eine einzige auszusprechen, denn Stella kehrte ihr den Rücken und stand in die Betrachtung ihres Porträts vertieft. Kein Laut unterbrach die Stille, nur eine verirrte Biene stieß dann und wann summend gegen die Fensterscheiben.

„Wird er das Porträt zu sich in seine Wohnung holen lassen?“ fragte Frau Brühl endlich mit halber Stimme.

Stella nickte nur, ohne sich umzuwenden.

„Was sagte er denn noch ganz zuletzt zu Dir?“ hieß es nach einer Weile weiter.

„Es war nur für mich allein bestimmt – es braucht es sonst niemand zu wissen!“

„Aber um Gotteswillen, mein süßes Kind – nein, nein, sei nicht böse, ich will ja nur fragen! – was bedeutet das alles, und was soll daraus werden?“

Stella zuckte leicht die Achseln, ein spöttisches Lächln lag auf ihrem Gesicht.

„Du kannst ganz ruhig sein, Mama! Es dedeutet nichts besonderes, und es wird auch nichts daraus werden!“ –00

0000000000000000

Arbeit, Arbeit – Erlöserin! Du tötest die Sehnsucht nicht, aber Du schläferst sie auf Stunden ein! Du täuschest uns über die Zeit hinweg, und es kann uns geschehen, daß wir nach einem arbeitsvollen Tage genau ebenso sprechen, wie nach einem glückseligen, der uns das Liebste gebracht hat: Wie? Schon zu Ende? Wo blieb die Zeit?

So stand denn Waldemar Andree in seinem Atelier und malte – malte, bis Auge und Kopf ihn schmerzten, oder er stand in dem prachtvollen Marstall Mynheer van Kuythens, eines reichen Holländers, welcher ihm seine Rosse als Modelle für das Viergespann der „Eos“ zur Verfügung gestellt hatte. So oft er es wünschte, erschienen ein paar Bereiter, die auf dem ausgedehnten Terrain, das sich an die Stallungen schloß, die Pferde tummelten, sie nebeneinander, voreinander, zu zweien, zu dreien und vieren an einen Wagen spannten und in jeder Gangart, vom

[809]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Mädchen aus dem Wippthale in Tirol.
Nach dem Gemälde von Th. v. d. Beek.

[810] ebenmäßigsten Schritt bis zum waghalsigsten Galopp, vorführten. Hier galt es ein sicheres Auge und eine rasche Hand – gottlob, Andree hatte beides! In äußerster Spannung folgte sein Blick diesen geschmeidigen Bewegungen, pfeilgeschwind flog seine Hand über das Papier – aber angesichts dieser Modelle bedauerte er doch, nicht eifriger seine Thierstudien fortgesetzt zu haben; es ging ihm jetzt auf diesem Gebiet ein ganz neues Verständniß auf. Unermüdlich war er in neuen Aufnahmen; die beiden Bereiter hatte er sich durch freundliches Wesen und ausgiebige Trinkgelder völlig gewonnen, sie folgten willig seinen Wünschen ohne Rücksicht auf ihre eigenen Anschauungen über das, was an den Pferden „schön“ war. Oft gesellte sich auch der holländische Herr zu der Gruppe, sah wohlgefällig auf sein kostbares Eigenthum und staunend auf den Künstler, dessen flinker Stift ihm, dem Laien, wie ein Zauberstab erschien.

Ein paar Mal war jetzt auch Herr Bernhard Grimm in Andrees Atelier erschienen. Das erste Mal, als er die halbfertige „Eos“ sah, war ein Ausdruck selbstvergessenen Staunens in sein Gesicht gekommen – er hatte sich nicht losreißen können, schien des Malers Anwesenheit ganz vergessen zu haben und lobte endlich das Gemälde mit keinem einzigen Wort. Aber Andree war nicht beleidigt darüber, im Gegentheil! Die Art, wie Herr Grimm, während sie miteinander sprachen, unverwandt die „Eos“ anstarrte, wie er in halben Sätzen sprach, sich jeden Augenblick unterbrach oder verbesserte, bis er endlich mit einer gewissen krampfhaften Energie aufsprang und sich so hinsetzte, daß er dem Bilde den Rücken zukehrte – die Art, wie er dreimal in der Thür umkehrte und dann zuletzt Andree mit seiner kleinen zierlichen Hand so kräftig die Rechte schüttelte, daß dieser zusammenzuckte – die sagte genug!

Herr Grimm war sehr aufgeräumt in dieser Zeit. „Kein Wunder!“ entgegnete er auf eine fragende Bemerkung Andrees. „Kein Wunder, mein Freund. Ich bin verjüngt – ich bin verwandelt – ich bin besser geworden. Ich habe ja jetzt ein Kind! Welche Kraft liegt doch in der Jugend! Welche Macht wohnt in solch einem kindlichen Geschöpf – wohlverstanden, wenn es uns liebt und von uns wieder geliebt wird! Und das ist hier der Fall – und wie! Sie werden sagen, das hätte ich ja schon längst haben können, wenn ich gewollt hätte, und ich könnte diesem geistreichen Ausspruch nur beistimmen. Gewiß hätte ich es gekonnt, denn meinen guten Brühl würde ich vor sechs oder acht Jahren genau so willfährig gefunden haben wie jetzt … will sagen, er hätte es damals ebenso ungern gethan wie heute, aber er hätte es eben doch gethan! Allein ich wollte nicht! Ein kleines Kind – sehen Sie, ich alter Hagestolz traute mir’s nicht zu, ein solch gebrechliches Wesen richtig zu behandeln, ich wäre immer mit Zittern und Zagen um das Geschöpf herumgegangen und hätte gar nicht recht gewagt, es anzufassen. Ich hab’ mich auch um Gerda, wie sie noch klein war, wenig gekümmert, obgleich ich sie immer im Auge behielt und stets die Idee hatte: die nimmst du dir mal! Die wird einmal später dein Kind! – Aber jetzt! Was eine richtige, gut entwickelte Knospe ist – ja, das trau’ ich mir zu, auch zum Blühen zu bringen, und hoffentlich wird’s eine hübsche Blüthe werden – Götter und Menschen zu erfreuen! Na – nicht zuviel versprechen! Wollen doch sehen! Ueber ein paar Jahre reden wir mehr davon, denn bis heute ist meine Tochter noch ein richtiger Kindskopf. Es liegt da noch alles kunterbunt bei einander, dumme Spielereien und überraschend feine und scharfe Beobachtung, alberne Nichtigkeiten und auffallender Schönheitssinn, kindische Ungezogenheit und echtes weibliches Gefühl. Seltsames Gemisch – solch ein halberwachsenes Frauenzimmerchen! Mir aber gerade interessant und anziehend!“

„Wie kam es denn, daß man Ihnen Gerda jetzt schon überließ?“ fragte Andree dazwischen, der mit großer Theilnahme zugehört hatte.

„Ja, was sollten sie machen? Die Eltern verreisen sammt dem Götzen – bitte um Entschuldigung, ich wollte sagen, sammt der Prinzessin! Mitnehmen wollen sie Gerda natürlich nicht, und sie ganz allein zu Hause lassen, wie sie es allerdings bisher immer zu meinem Entsetzen gethan haben … das wollte ihnen doch jetzt nicht mehr recht passend erscheinen bei einem so großen Mädchen, das auf dem Sommerfest neulich schon wie eine erwachsene Dame aussah und demgemäß auch wie eine solche behandelt wurde. Also hieß es nothgedrungen: Lieber Grimm, da Du doch ohnehin Gerda zu Dir nehmen wolltest – sie kann ja mit Wolfgang zusammen einstweilen weiter lernen – möchtest Du sie nicht jetzt schon haben? Natürlich wollte ich sie haben, aber ohne den Ballast von Gelehrsamkeit! Mag der Junge zusehen, wie er ohne sie fertig wird! Gar kein übles Gewächs, der Wolfgang, bloß durch diese – wie sage ich gleich? – exceptionelle Erziehung verdorben! Ich hab’ ihm gehörig den Kopf gewaschen und ihm zu Gemüth geführt, daß es eine Schande für einen rechten Jungen sei, wenn sein Lernen und sein Vorwärtskommen von seiner Schwester abhängig sei. Es schien ihm einigen Eindruck zu machen, und ich selbst habe mich auf die Suche nach einem Gefährten für ihn begeben, auch glücklich einen jungen Schlingel in seinem Alter aufgegabelt, der gleichfalls bei den Wissenschaften nicht gut thun, dagegen mit derselben zähen Leidenschaft wie Wolfgang Seemann werden will. Sie wissen beide gleich wenig, werden gemeinsam gedrillt, sind geschworene Freunde geworden, die jede freie Stunde bei den Schiffen sitzen, segeln oder sich in den Häfen herumtreiben, und scheinen jetzt vorwärts zu kommen … auch da heißt es natürlich abwarten! Mein Kind Gerda aber hat all das für ein Mädel unverdauliche Zeug, den Homer und die Verba auf mi und so weiter, fröhlichen Herzens über Bord geworfen und treibt dafür fleißig die übrigen Wissenschaften, denn was Tüchtiges lernen soll sie, das steht fest!“

„Bitte,“ sagte Andree ruhig, „lassen Sie ihr auch jetzt oder später Zeichen- und Malstunde geben – ich sah zufällig ein Pröbchen ihrer Kunst, und ich sage Ihnen, es ist Talent da, wenn auch zunächst nur zur Karikatur, wie sie behauptet. Ich bot ihr damals an, ihr Unterricht im Zeichnen zu geben, aber sie wollte nicht!“

„Wollte nicht?“ wiederholte Grimm nachdenklich. „Ja, ja, das kann ich mir denken!“

„Wirklich?“ fragte der Maler lebhaft. „Auch den Grund dafür?“

„So ungefähr!“

„Und Sie können ihn mir nicht sagen?“

„Können – schon! Aber ich möchte es lieber nicht! Sie nehmen es mir nicht übel?“

„Wie sollte ich? Wenn es, nach Ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, ein ernster Grund ist –“

„Das ist es!“

„Dann verzichte ich selbstverständlich! Nun, bitte, sagen Sie mir: wie haben denn Frau Müller und Hafis die neue Hausgenossin aufgenommen?“

Herr Grimm lachte.

„Ganz ohne Kampf ging das nicht ab. Bei der Müller trat von dem Kampf allerdings nichts an die Oberfläche, aber ich kenne die alte Person zu gut, hab’ sie nicht umsonst all die langen Jahre hindurch um mich gehabt – in der Tiefe hat’s bös gegährt, sage ich Ihnen! Sie war in großer Furcht, ich könnte auf Gerda das übertragen, was sie ‚ihre Rechte‘ nennt, oder das Kind könnte diese sogenannten Rechte an sich reißen wollen. In diesem Fall hätte sie mir gekündigt, so schwer es ihr geworden wäre, das weiß ich genau, und, obgleich sie voller Eigenheiten steckt und eine verdrehte alte Schraube ist … ohne die Müller könnt’ ich mich doch schwer behelfen! Allein mein Töchterchen benahm sich prachtvoll. Gerda ist ja eigentlich kein liebenswürdiges Naturell, zum Beispiel gar kein Schmeichelkätzchen wie die meisten jungen Dämchen in ihrem Alter – sie geht höchstens mir ’mal um den Bart – nun, das ist aber für meinen alten Premierminister gerade das Rechte! Wäre das Mädel wie ein Ohrwurm um die Müller herum gewesen, dann wär’ diese heillos argwöhnisch geworden, hätte allerlei Falschheit dahinter gewittert und meiner Tochter nicht gerade das Dasein versüßt. Nichts davon! Gerda ging ganz unbekümmert ihren Weg und ließ die Müller den ihrigen gehen, überließ ihr sämmtliche Pflichten und Rechte, war nicht zu freundlich, nicht zu rauh, verletzte in keinem Punkte die Hausordnung und brachte zuerst in meiner Alten ein stilles Erstaunen, dann schweigende Billigung, endlich ein offenbares Wohlgefallen hervor. Jetzt weist sie dem Kinde freiwillig dies und das zu, was sie früher selbst besorgt hat – Gerda fragt sie bei jeder Gelegenheit um Rath, kurz, es herrscht vollkommene Uebereinstimmung unter meinen Damen.“

[811] Herr Grimm rieb sich die Hände und schmunzelte behaglich vor sich hin.

„Und Hafis?“ fragte Andree.

„Der rebellierte zuerst ganz offen. Es ist überhaupt keine versteckte Katzenart in ihm, nichts Hinterlistiges, Feiges – er ist offen und loyal, er hat einen aristokratischen Sinn! Als Gast hat er Gerda immer gern gehabt, sie stets freundlich mit Spinnen und Zutraulichkeiten begrüßt, ihr gewissermaßen die Honneurs meines Hauses gemacht – aber als er sie nun beständig um meine Person sah, wurde er stutzig, seine Eifersucht erwachte. Er sträubte sein schönes Fell wie eine Bürste, seine Augen funkelten, er ließ sich nicht mehr auf den Schoß nehmen und streicheln, ging oft im Kreise um Gerda herum, als wolle er sie beobachten, er fraß wenig und magerte ab. Was thun? Gerda abschaffen Hafis zuliebe? Nicht daran zu denken! Hafis abschaffen Gerda zuliebe? Gleichfalls unmöglich! Man mußte den Dingen einfach ihren Lauf lassen. Dies that ich, und ich hatte es nicht zu bereuen. Als mein kluger Hafis sah, daß alles blieb, wie es war, daß die neue Bewohnerin ihn nicht von seiner Sofalehne und nicht von seinem Platz in meinem Herzen verdrängte, ihn unbeanstandet seinen Gewohnheiten überließ, ja selbst zu seinem Behagen noch mehr beitrug – da streckte er allmählich die Waffen. In diesem Kater steckt ein Philosoph, müssen Sie wissen! Wer an die Seelenwanderung glaubt, der könnte merkwürdige Dinge an diesem außerordentlichen Thier beobachten. Jetzt ist also die Hausordnung bei mir eine musterhafte, und ich hoffe, Sie kommen in Bälde zu mir, um sich davon zu überzeugen!“

Andree versprach das, führte es auch aus, traf aber Herrn Grimm allein an, da sein Adoptivkind mit Wolfgang und dessen neuem Freund eine kleine Segelpartie unternommen hatte. Der Maler unterhielt sich angeregt und lebhaft mit dem Hausherrn, vertrug sich ausgezeichnet mit Frau Müller und Hafis, dem Philosophen, bedauerte aber sehr, Gerda nicht angetroffen zu haben. Er hätte gar zu gern gesehen, wie sie sich als Herrn Grimms Pflegetochter ausnehme.

Inzwischen kam der Herbst heran, der Oktober stand vor der Thür, und immer noch hörte man nichts von der Familie Brühl. In Andree wohnte eine täglich wachsende Unruhe, selbst seine Kunst wollte ihm nicht mehr recht helfen. Die Sonnenpferde der „Eos“ waren nahezu vollendet, ebenso Himmel und Luft; die Göttin aber fertig zu malen, vermochte er nicht über sich. Trotz der vielen Skizzen von dem schönen Mädchen, die sich in seinem Besitz befanden, Skizzen, von denen ihm sein eigenes Urtheil sagte, sie seien gut, zum Theil sogar vorzüglich gelungen, schreckte er davor zurück, die letzte Hand an diese Figur, dies Gesicht zu legen, machte er sich immer wieder an andern Dingen zu schaffen. „Ich kann es nicht vollenden ohne sie,“ sagte er sich. „Sie selbst muß kommen.“

Aber sie kam nicht.

Und nun machte der Herbst, der lange schon gedroht und verschiedene unangenehme Vorboten als Warnung ins Land geschickt hatte, wirklich Ernst und trat sein rauhes Regiment an.

Und wie that er das!

Es schneite, es hagelte, es regnete, es tobte und stürmte. Es riß die Blätter von den Bäumen und entführte sie in einem tollen Wirbelsturm weithin in die Lüfte. Es sauste gegen die Häuser, klatschte gegen die Fensterscheiben, schoß in schmutzigen Bächlein die Straßen entlang. Die schöne Alster – wie sah sie aus! Die hübschen Ufer – was war aus ihnen geworden! Nasse Nebelfetzen hingen an den halbkahlen, geplünderten Bäumen, das Laub an den Büschen war erfroren und hing schlaff und kläglich nieder, unabsehbare Dohlenschwärme segelten mit heiserem Mißlaut über die Gärten weg und verloren sich im farblosen Grau des Himmels. Endlos troff der Regen nieder – von den Dachrinnen, von den Schirmen, Kleidern, Tüchern – hoffnungslos und entsetzlich! –

Andree ging nur selten auf die Straße, er hatte sich einen ganzen Haufen theils wissenschaftlicher, theils unterhaltender Bücher aus Buchhandlungen und Bibliotheken zusammengetragen und lag nun stundenlang auf dem breiten niedrigen, mit weichen Stoffen behangenen Divan in seinem Atelier und las. Ihm zur Rechten prasselte ein schönes rothes Feuer im Kamin, ihm zur Linken stand ein kleiner Tisch mit Wein und Cigaretten – hob er den Blick, so sah er gerade auf die „Eos“, die, mit packender Leuchtkraft gemalt, des unholden trüben Wetters zu spotten und das ganze große Atelier mit Licht und Glanz zu erfüllen schien. Es war alles da, um den Raum und die Existenz darin für den Bewohner „riesig gemüthlich“ zu machen – so fand es Herr Grimm, der Andree wieder einmal besuchte: die „Eos“ hatte es ihm angethan! – und so fand es auch Andree selbst, der so sehr die Behaglichkeit liebte! Wenn nur sein Inneres mit dieser harmonischen Umgebung mehr im Einklang gestanden hätte! Das war’s! Ihm war nicht harmonisch zu Muth – ganz und gar nicht! Gegen seinen Willen gab ihm dies lange Fortbleiben Stellas zu denken. „Ein paar Wochen!“ hatte sie gesagt – und: „Ich komme bald wieder!“ und dies mit einem Ausdruck, der ihm alles Blut zum Herzen gejagt, ihn schwindlig vor Glück gemacht hatte. Um die Mitte des August war sie abgereist – jetzt ging der Oktober auf die Neige, und sie war noch immer nicht da! Konnte sie krank sein? Diese blühende, rosige Jugend? War sonst irgend etwas geschehen, was diese Reise so ins unendliche ausdehnte? Aber was konnte dies sein? Herr Grimm wußte es nicht, oder wenn er es wußte, sagte er es nicht; er schüttelte auf Andrees erregte Fragen und Muthmaßungen nur stumm den Kopf und hatte ein Lächeln auf seinem Gesicht, das den meisten andern Menschen als sehr seltsam aufgefallen wäre, aber dem Maler fiel es nicht auf!

Liebte sie ihn nicht? Werner Troosts Warnung fiel ihm ein, seine Bitte, sie zu stützen, zu veredeln, ihr Wesen zu vertiefen – sie sei ja so jung und schön und namenlos verwöhnt, es sei alle Gefahr für sie da, daß sie der Weihrauch der Anbetung verderbe!

Dieser Gefahr war sie jetzt mehr denn je ausgesetzt. Und er konnte sie nicht davor behüten. Ihre Eltern schützten sie auch nicht davor – im Gegentheil, sie riefen die Gelegenheit herbei.

Wenn diese Gedanken über den einsamen Mann kamen – und das geschah immer häufiger von Tag zu Tag – dann sprang er wohl ungeduldig von seinem weichen Ruhebett auf und ging mit großen Schritten hin und her. Zwischendurch griff er zum Stift, zum Pinsel und versuchte immer aufs neue, eine Mignon wiederzugeben – seine Lieblingsidee, die ihn schon in Rom verfolgt hatte. Umsonst! Sein Stift irrte ziellos über das Papier, es wollte sich ihm nichts gestalten. Dabei quälte es ihn, daß ihm nebelhaft, im Hintergrund seiner Gedanken, ein Etwas vorschwebte, das zu diesem Bilde paßte – sowie er aber versuchte, ihm greifbare Gestalt zu geben, zerflatterte dies nebelhafte Etwas in ein wesenloses Nichts. Zuweilen, wenn er sich fürs Lesen wie fürs Malen zu ruhelos fühlte, wenn es ihn um keinen Preis zwischen seinen vier Wänden litt, wickelte er sich in einen warmen Mantel, drückte eine englische Schirmmütze tief in die Stirn und ging in den Regen und Nebel hinaus, seinen Lieblingsweg – zum Hafen. Er sah da viel Fesselndes und Charakteristisches, und wenn er es auch nicht skizzieren konnte, so behielt er doch manches packende Motiv im Gedächtniß und „schrieb sich’s zu Hause auf,“ wie er es nannte, wenn er auf lose Blätter, die in einer großen Mappe lagen, kleine beobachtete Scenen aus dem Leben hinwarf.

An einem der ersten Novembertage begab sich das Wunderbare, daß die Sonne zum Vorschein kam. Man hatte sie solange nicht gesehen, daß alle Welt sie mit Entzücken begrüßte. Es ist merkwürdig, wie der langentbehrte Sonnenschein die Erwartung belebt, die Hoffnung erweckt! Hundertmal sagt man sich: der Sonnenschein thut’s nicht! Eine leise Stimme antwortet immer wieder: vielleicht geschieht heute dennoch das, was Du Dir wünschest!

Und als Andree an diesem sonnigen vierten November seinen gewohnten Spaziergang antrat – siehe, da hatte das stattliche Haus des Herrn Brühl seine Augen wieder aufgeschlagen. Die Vorhänge waren emporgezogen, die Fensterscheiben blinkten im Sonnenschein, das Gitterthor stand weit offen. Wie ein Träumender schritt Andree hindurch. Es hatte ihn wie ein Schlag getroffen, als er das zum Leben erwachte Haus sah, und das Herz schien ihm still zu stehen in Erwartung.

Er war ja jetzt ein naher Freund des Hauses geworden, mußte nicht warten, bis man ihn rief – er konnte sich auf sein gutes Recht berufen!

(Fortsetzung folgt.)
[812]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.

Von Paul Lindenberg. Mit Abbildungen von L. Manzel
IV.
Einbrecher und Diebe. – Der „Corpsgeist“. – Gaunerrothwelsch und Verbrechernamen.

Es giebt in Berlin keine gewerbsmäßigen Räuber und Mörder“ – so erklärte vor einigen Jahren anläßlich des Dickhoffschen Mordprozesses ein ebenso gewiegter wie mit den Nachtseiten der Residenz vertrauter Kriminalist, und seine Worte kennzeichnen das Berliner Verbrecherthum vollkommen zutreffend. Den eigentlichen „Kern“ des letzteren bilden die Diebe, welche sich in die verschiedensten Klassen und Gruppen theilen, vom verwegenen Einbrecher an, der planmäßig, nach wochenlangen Vorarbeiten, mit mehreren Gefährten den nächtlichen Angriff auf die eisengepanzerten Geldschränke eines Bankhauses unternimmt, bis zu dem gewohnheitsmäßigen Gelegenheitsdieb, der von früh bis spät durch die Straßen streift und aufmerksam seine Augen umherwandern läßt, wo er durch einen geschickten schnellen Griff irgend einen Gegenstand in seine Taschen oder Mantelfalten verschwinden lassen kann. Ein zu Raubzwecken vorher ausgeklügelter und entschlossen durchgeführter Mord kommt äußerst selten in Berlin vor; die Mordthaten werden zumeist von Einbrechern begangen, die bei ihrem dunklen Werke überrascht werden und keinen anderen Ausweg mehr finden können, als über die Körper der Entdecker hinweg. Aber auch dies geschieht nur im alleräußersten Falle und nur von seiten der tollkühnsten Verbrecher, die bei Ertappung wegen ihrer Vorstrafen eine langjährige Zuchthausstrafe zu gewärtigen haben und aus diesem Grunde vor dem Furchtbarsten nicht scheuen. Die Mehrzahl der Berliner Verbrecher schreckt vor Blut zurück. Ein großer Theil der jährlich in Berlin vorkommenden Mordthaten hat mit der gewohnheitsmäßigen Verbrecherwelt nichts zu thun; Haß, Neid, Eifersucht, Rache, Jähzorn, Verzweiflung sind in den weitaus meisten Fällen die Beweggründe.

Daß die Zahl der Verbrecher in Berlin eine so beträchtliche ist, liegt in dem Wesen der Millionenstadt, in der Masse fremder, unruhiger, verkommener oder unglücklicher Existenzen, welche hier zusammenströmen.

Aus diesen sich in die ansässige Bevölkerung mischenden Bestandtheilen erhält die Berliner Verbrecherwelt ihren wesentlichen Zuzug, und wer erst in ihren Bannkreis gezogen ist, der entrinnt ihm in den seltensten Fällen. Da kommt ein junger Mensch nach Berlin, er versucht alles, um eine Unterkunft zu finden, täglich sieht er die Zeitungen nach ausgeschriebenen Stellen durch, und täglich wandert er in athemloser Hast und Aufregung durch Berlin, um abends erfolglos zu seiner Schlafstätte zurückzukehren: der Mitbewerber waren zu viele! Die mitgebrachte geringe Barschaft geht auf die Neige, hatte er vorher vielleicht ein kleines Zimmerchen gemiethet, so muß er jetzt mit einer Schlafstelle vorlieb nehmen und dementsprechend auch geringere Lokale besuchen, um seinen Durst und Hunger zu stillen; an beiden Orten schließt er leicht Bekanntschaften mit Leuten, die schon einen Schritt abseits vom Wege gethan, und ihre bald aufreizenden, bald verlockenden Reden finden ein willfähriges Echo in dem durch Unzufriedenheit und Entmuthigung verdüsterten Gemüth. Aber noch widerstrebt er der Versuchung, noch einmal und immer wieder bemüht er sich, eine Beschäftigung zu finden – vergebens! Verbittert und verzweifelt sucht er häufiger die Destillationen und Kellerlokale auf, um dann die Nacht, weil er die Schlafstelle nicht mehr bezahlen kann, in einer der Pennen zu verbringen; immer schlimmer ist sein Umgang geworden, immer eindringlicher ertönt die Stimme des Versuchers, bis irgend eine Gelegenheit den letzten Widerstand beseitigt: in einem Warenmagazin soll ein Diebstahl verübt werden, und er soll die gestohlenen Waren bei Seite schaffen helfen, ein ganz ungefährliches Unternehmen, welches jedoch guten Lohn verheißt, und – er schlägt ein! Damit ist er fast immer verloren für die menschliche Gesellschaft; denn wird er bei diesem ersten Versuche nicht ertappt, so findet er Gefallen an dem abenteuerlichen, verhältnißmäßig leichten Verdienst, er geräth mehr und mehr in die verbrecherischen Kreise hinein und steigt schnell vom Mithelfer zum Mitthäter „empor“ – denn auch in dieser „Laufbahn“ giebt es eine Ranggliederung – um doch über kurz oder lang mit der Polizei Bekanntschaft zu machen. Wird er aber gleich beim ersten Mal ergriffen, so ist das Ergebniß meist dasselbe, denn selbst wenn er umkehren will, ist für ihn die verbüßte Strafe ein schweres Hemmniß, außerdem aber kommt er im Gefängniß, – nach einem oft angewandten Wort – der „Hochschule der Verbrecher“, mit anderen älteren Verbrechern zusammen, wird in ihre Schliche eingeweiht, schließt mit diesem und jenem von ihnen nähere Freundschaft und wird häufig, noch hinter Schloß und Riegel, für eine neue That verpflichtet, die er dann nach der Entlassung ausführen hilft.

Wir haben nur dieses eine Beispiel, wie jemand zum Verbrecher werden kann, eingehender skizziert, wir könnten noch eine große Zahl anderer folgen lassen; nicht immer sind Noth und Elend die Beweggründe zum ersten, verhängnißvollen Schritt, oft ist es Leichtsinn und der Hang zum Wohlleben, oft eine Liebschaft oder die Sucht, es den besser gestellten Bekannten im Ausgeben von Geld gleichzuthun, oft auch nur eine günstige Gelegenheit oder endlich der angeborene Drang zum Bösen, genährt durch schlechte Lektüre und Versuchungen aller Art, denen zumal die Berliner Jugend ganz besonders ausgesetzt ist. Hieraus erklärt sich auch die große, in erschreckendem Wachsthum begriffene Menge der jugendlichen Verbrecher in Berlin, die zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß giebt und ihre Ursache zum wesentlichen Theile in der schlimmen Beschaffenheit der Wohnungen unserer ärmeren Klassen, in dem überhandnehmenden Schlafstellenwesen hat.

So vielfache „Spezialitäten“ die Diebe auch unter sich aufweisen, so brauchen wir hier nur zwei Sorten zu unterscheiden, die der Gelegenheits- und die der Gewohnheitsdiebe. Unter den letzteren wieder stehen die auf gewaltsamen Diebstahl ausgehenden oben an, sie gehören zu den gefährlichsten Elementen Berlins und bilden den Schrecken der begüterten Einwohner. Für sie, diese Einbrecher, in der Diebssprache „Schwere Jungen“ genannt, giebt es eigentlich kein Hinderniß – im Umsehen öffnen sie die kunstvollsten Schlösser, schneiden sie Thürfüllungen aus, drücken sie mittels Terpentin- oder Pechpflasters die Fenster ein, heben sie an diesen die Eisenstäbe aus, schieben sie Jalousien empor, ja, wenn es sich um reiche Beute handelt, durchbrechen sie Mauern und bahnen sich einen Weg durch den Fußboden. Sind sie erst in den zu beraubenden Räumlichkeiten angelangt, so macht das Oeffnen der verschlossenen Schränke und Schubläden wenig Mühe mehr; entweder passen die Nachschlüssel oder es genügt ein Druck mit dem Stemmeisen, um das Ziel zu erreichen. Mehr Umstände verursachen schon die eisernen Geldspinden, aber auch ihre Panzerplatten halten, mit wenigen Ausnahmen, den kunstvollen Instrumenten der Einbrecher nicht Stand, zumal die meisten von diesen sich aufs genaueste mit den neuen Konstruktionen vertraut gemacht und – oft nur zu diesem Zweck – als Lehrlinge oder Gesellen in Schlosserwerkstätten oder Kassenfabriken gearbeitet haben. Daher rührt denn auch die Leichtigkeit und Schnelligkeit her, mit der die erfahrenen Verbrecher die Korridorthüren öffnen; hat doch ein oft bestrafter Mensch im Verlaufe des Dickhoffschen Prozesses offen eingestanden, daß er ein Schloß nur einmal genau zu betrachten brauche, um den passenden Nachschlüssel anzufertigen.

Es liegt auf der Hand, daß die Einbrecher, um alle Hindernisse schnell aus dem Wege räumen zu können, mit einem umfangreichen „Hilfsmaterial“ ausgerüstet sein müssen; zu demselben gehören neben einer größeren Zahl von Nachschlüsseln und Dietrichen sowie starken Drähten eine etwa einundeinhalb Fuß lange und höchstens zwei Zoll starke Brechstange mit breiter und scharfer Spitze, am unteren Ende etwas gebogen, dann ein Zentrumbohrer, mehrere größere und kleinere Bohrer, eine Stichsäge, ein Stemmeisen, Hammer, Zange und Nägel, Terpentinpflaster, einige Stückchen Licht nebst Streichhölzern, in einer Tasche loser Schnupftabak, um ihn den Verfolgern in die Augen zu werfen, und schließlich, als besondere Waffe, wenn als solche nicht Brechstange [813] oder Stemmeisen genommen werden, ein Messer, meistens ein sogenannter Genickfänger, in den seltensten Fällen ein Revolver.

Schmierestehen.

Zur Ausführung eines gewaltsamen Einbruchs vereinigen sich fast immer mehrere Verbrecher, die sich willig der Führung des gewandtesten unter ihnen anvertrauen und diesem blindlings gehorchen. Stets wird ein solcher Einbruch vorher genau ausgekundschaftet, und die Thäter verschaffen sich die eingehendste Kenntniß der Oertlichkeiten, der besten Gelegenheiten zum Einbruch, der Lebensgewohnheiten der Eigenthümer, des Dienstbotenpersonals, der Vortheile bei einer Flucht etc. Unter den verschiedensten Verkleidungen suchen die Kundschafter – in der Gaunersprache „Ausbaldowerer“ genannt – ihre Zwecke zu erreichen: bald meldet sich ein elegant gekleideter Herr, um die Wohnung (falls sie zu vermiethen ist) zu besichtigen, bald kommt ein Arbeiter, um die Gasröhren auf ihre Dichtigkeit zu prüfen, eine Frau klingelt und wünscht die Dame des Hauses zu sprechen, um dann irgend eine nichtige Frage oder Bettelei an sie zu richten, ein Paket wird für den Hausherrn abgegeben und – angeblich wegen Verwechselung der Adresse – bald wieder abgeholt, an der Küchenthür meldet sich ein Kolporteur und knüpft mit dem Dienstmädchen ein Gespräch an, oder ein Kohlenträger fragt, ob hier Kohlen bestellt seien, und auf das erfolgende „Nein“ bittet er, sich einen Augenblick ausruhen zu dürfen u. s. f. Häufig geschieht es auch, daß vorher mit den Dienstmädchen Liebschaften oder mit den Dienern Freundschaften angeknüpft werden; ja, es ist schon vorgekommen, daß der eine oder andere Verbrecher in den Dienst einer Herrschaft trat, auf deren Beraubung es abgesehen war.

Ist alles zur That vorbereitet, so geht es an die Ausführung, meistentheils unter dem Schutze der Nacht, wobei hervorgehoben werden muß, daß der Eintritt in die Häuser äußerst selten auf gewaltthätige Weise versucht wird, sondern der oder die Thäter sich vorher einschleichen und sich irgendwo verbergen, um zur geeigneten Stunde ihr Versteck zu verlassen. Zur selben Zeit oder bereits vorher haben auch auf der Straße die Aufpasser – „Schmieresteher“ – ihr „Amt“ angetreten und warnen erforderlichen Falls ihre Gefährten, von denen oft wieder einer auf dem Flur oder auf der Treppe Wache hält, durch ein verabredetes Zeichen, einen leisen Pfiff, ein Wort, einen Ruf.

Ist der Dieb in die Wohnung eingedrungen, so hält er zunächst Umschau, ob eine Entdeckung droht, dann macht er sich hastig und doch planmäßig auf die Suche nach Werthsachen, wobei er stets zwischen echten und unechten Stücken unterscheidet und nur die ersteren mitgehen heißt; sind einzelne Dinge zum Fortschaffen zu groß oder zu beschwerlich, so zerstückelt er sie und bemächtigt sich der werthvollsten Theile; am willkommensten ist ihm natürlich Geld in bar oder in Scheinen, auch Werthpapiere läßt er nicht liegen, wenn sie nicht, wie ausländische, schwer zu verkaufen sind. Welche Frechheit oft die Diebe bei diesen Einbrüchen entwickeln, geht daraus hervor, daß sie selbst in die Schlafstuben der Bewohner dringen und dort nach Geldtaschen, Uhren, Ringen etc. forschen; an anderen Stellen wieder verschmähen sie eine Stärkung mit Wein oder Bier nicht und rauchen behaglich beim Ausräumen der Kisten und Kasten die Cigarren des Besitzers. Im Gegensatz zu dieser Frechheit steht wiederum ihre Angst und Fassungslosigkeit bei unerwarteter Ueberraschung. So unternahm vor einer Reihe von Jahren ein Dieb einen Einbruch in die Wohnung eines Arztes; als er behutsam in das Arbeitszimmer desselben trat, befand er sich plötzlich einem menschlichen Skelett gegenüber und erschrak dermaßen, daß er in epileptische Krämpfe verfiel; spät nachts wurde er von dem nach Hause kehrenden Mediziner in diesem Zustande aufgefunden und natürlich der Polizei übergeben.

Einbrecher bei der Arbeit.

Hat der Dieb die Räumlichkeiten durchsucht, findet er nichts Mitnehmenswerthes mehr oder kann er nichts weiter fortbringen, so lauscht er geraume Zeit, ob alles ruhig ist; dann giebt er den Schmierestehern ein leises Signal, welches diese in entsprechender Weise erwidern, damit er weiß, ob er noch bleiben soll oder kommen kann. In letzterem Falle wird der Einbrecher möglichst bald das gestohlene Gut loszuwerden suchen, indem er es einem der Aufpasser oder einem besonders dazu bestellten Helfer übergiebt, welcher es seinerseits sofort zu dem meist schon vorher unterrichteten Hehler bringt. Dieser in mittelbarer oder unmittelbarer Verbindung mit den Dieben stehenden Hehler giebt es in Berlin eine große Zahl, und sie machen der Polizei mehr zu schaffen als die Diebe selbst, denn abgesehen davon, daß sie von ihren „Kunden“ fast nie angegeben werden, verfügen sie über die verborgensten Absatzquellen und handeln mit einer List und Schnelligkeit, daß sich wenige Stunden nach einem Einbruch die gestohlenen Sachen schon in vierter oder fünfter Hand, vielleicht sogar bereits außerhalb Berlins, befinden. Daher erklärt es sich auch, daß es viel häufiger gelingt, die Diebe zu fassen, als das gestohlene Gut wieder herbeizuschaffen. Hundertfach sind die Kanäle, in welche diese Hehler den Raub ableiten, für die seltsamsten Gegenstände haben sie ihre besonderen Abnehmer, die wiederum für den Weitervertrieb sorgen oder die gestohlenen Sachen unkenntlich zu machen wissen durch Einschmelzen, durch Umändern, durch Vertilgung der Fabrikmarken und dergleichen mehr. Daß die Hehler und ihre Unterhändler den größten Nutzen bei diesem Ab- und Umsatze für sich herausschlagen und der Dieb nur einen verschwindenden Bruchtheil des eigentlichen Werthes der gestohlenen Waren erhält, braucht kaum erst hervorgehoben zu werden. So ist denn auch die Lage des Verbrechers bald nach der That so übel wie zuvor: das aus dem Raub erübrigte Geld ist rasch in Saus und Braus durchgebracht, und die Noth treibt zu neuen Verbrechen. Oft sind es gerade die Hehler, welche die Rolle des Anstifters spielen oder gar neue Gelegenheiten zu erfolgversprechenden Einbrüchen nachweisen.

Im Gegensatz zu den aufs eingehendste „baldowerten“ Einbrüchen stehen die Gelegenheits-Einbrüche, [814] vor allem die sogenannten „Klingelfahrten“, bei denen der Dieb irgend ein beliebiges, nicht sehr belebtes Haus betritt und an einer Korridorthür mehrmals klingelt; wird nicht geöffnet und läßt sich auch kein verdächtiges Geräusch in der Wohnung vernehmen, so ist im Umsehen durch einen Dietrich das Schloß geöffnet; um nicht durch die Heimkehrenden überrascht zu werden, schiebt der Dieb von innen einen Riegel vor oder bohrt einen kleinen Bohrer durch die Thür, da ihm fast immer noch ein Ausweg durch die Küche, die Hintertreppen hinunter, offen steht. In größter Eile rafft er alles zusammen, was er mitnehmen kann, und macht sich aus dem Staube. Diese „Klingelfahrten“ werden namentlich gern in der Reisesaison unternommen; wie ungestört sich die Diebe in jenen Sommermonaten fühlen, erhellt daraus, daß sie zuweilen ein und derselben Wohnung mehrere Besuche an verschiedenen Tagen abstatten, ja, daß sie in fremden Quartieren mit ihren Gefährten ganze Gelage feiern, endlich sogar übernachten, bequem ausgestreckt in den Betten derer, die ahnungslos im Gebirge oder an der See ihre Erholung suchen.

Die umfangreichste Klasse der Berliner Diebeswelt ist die der Taschendiebe – der „Torfdrücker“ – von denen Berlin mehrere tausend beherbergen mag. Sie sind überall zu finden, und unter ihnen giebt es wieder die verschiedensten Abstufungen, von dem mit vornehmen Manieren auftretenden, nach der neuesten Mode gekleideten Elegant an bis herab zu dem Herumstreicher, der sein Beutefeld auf Märkten, bei öffentlichen Schaustellungen, im ausgelassenen Volkstrubel sucht, – womit nicht gesagt sein soll, daß sein vornehmerer Kollege dort etwa nicht anzutreffen wäre. Lieber freilich hält sich dieser an solchen Orten auf, wo die Fremden verkehren, auf den Bahnhöfen, in Museen und Galerien, in den Theatern und Konzerten, im Cirkus und auf der Rennbahn, im Zuhörerraume des Reichstages und auf Festtribünen, sogar in Kirchen und natürlich auch im Straßengewühl der reicheren Stadtviertel.

Abholen gestohlener Gegenstände aus einem Hehlerneste.

Zahlreich vertreten unter der Berliner Diebsgesellschaft sind ferner die Laden-, Schaufenster- und Kollidiebe. Die Ladendiebe – „Schottenfeller“ genannt – unternehmen ihre Diebszüge meist zu zweien; gemeinsam oder auch einzeln betreten sie den Laden, und während der eine von ihnen den Kaufmann beschäftigt und sich immer neue Sachen vorlegen läßt, bringt der andere dies oder jenes Stück beiseite, indem er es unter den Rock knöpft oder in eine der im Futter des Mantels befindlichen langen Diebstaschen steckt; Juwelendiebe haben besondere Vorrichtungen an den Aermelaufschlägen der Röcke oder benutzen den mitgebrachten Schirm zum Verschwindenlassen der Gegenstände. Am gefährlichsten sind in diesem Fache die Frauen und Mädchen, die oft unter hochtrabenden Namen und mit Dienerschaft in den großen Luxusgeschäften erscheinen, sich die kostbarsten Spitzen, Shawls und Seidentücher vorlegen lassen, immer wieder prüfen und mustern und handeln, bis sie endlich ein stattliches Packet zusammenlegen lassen mit dem Bedeuten, daß es noch im Laufe des Tages durch einen auch die Rechnung begleichenden Diener abgeholt werden würde. Das geschieht natürlich nie, und zu spät merkt der Geschäftsmann, daß er von einer abgefeimten Gaunerin ganz empfindlich bestohlen worden ist. Auf Schuhgeschäfte haben es manche Diebinnen besonders abgesehen. Hier besteht ihre Praxis darin, daß sie unter dem Kleide eine Schnur tragen, von der andere Schnüre mit eisernen Haken am unteren Ende herabhängen; während sie eine größere Zahl Stiefel anprobieren, befestigen sie in unbewachten Augenblicken rasch einige davon an den Haken. Alle diese Ladendiebe und -diebinnen suchen sich, wie die Taschendiebe, sofort der gestohlenen Sachen zu entledigen, indem sie dieselben den Helfershelfern übergeben; tritt eine Verfolgung ein und werden sie verhaftet, so ist eine nähere Körperuntersuchung meist ergebnißlos.

Mit unbegreiflicher Frechheit gehen zumeist die Schaufensterdiebe an ihr Werk; oft drücken sie einen Theil des Schaufensters mit Terpentinpflaster ein und nehmen die Waren heraus, oft bohren sie an der unteren Kante des Schaufensters mit einem Centrumsbohrer ein Loch durch das Holz und ziehen mit einem gebogenen Stück Draht Ketten, Ringe, Spangen u. s. w. heraus, gedeckt vor den Blicken der Passanten durch ihre Genossen, die, sich lebhaft unterhaltend, scheinbar aufmerksam die Schaufensterauslagen betrachten. Mit gleicher Verwegenheit werden die Schaukästendiebstähle verübt; als Arbeiter verkleidet oder auch ohne Hut, im bloßen Rock, einen Federhalter hinter dem Ohr, sodaß man ihn für einen Gehilfen des Geschäftsinhabers halten kann, tritt der Dieb an den Schaukasten heran, hakt ihn ruhig ab, da er alle Kniffe der Befestigung kennt, und verschwindet mit ihm in einem Hause, um ihn dort an einem verborgenen Fleckchen zu zertrümmern und seinen Inhalt in Taschen und unter der Kleidung zu bergen; nicht selten ist es aber auch schon passiert, daß er ruhig und ungehindert mit dem ganzen Kasten abmarschierte.

Zu einer wahren Zunft haben sich die Kollidiebe ausgebildet; sie treten an unbeaufsichtigte Fuhrwerke heran und nehmen von diesen, was sie fortschleppen können; dabei tragen sie häufig den Anzug eines Rollkutschers, sodaß keiner der Vorübergehenden ein Arg hat. Der jährliche Schaden, den sie hauptsächlich den Speditionsfirmen zufügen, ist ein sehr bedeutender, und sie ergänzen sich immer von neuem, trotzdem gerade in jüngster Zeit viele von ihnen dingfest gemacht worden sind. Die Polizei bediente sich hierbei einer erfolgreichen List: ein mit Kisten und Ballen beladener Rollwagen, der mit einem Plantuche bedeckt war, fuhr die Straßen entlang, gelenkt von einem scheinbar schon angeheiterten Kutscher, der wiederholt hielt und sich in Destillationen und Restaurationen stärkte, seinen Wagen auf dem Fahrwege unbeaufsichtigt stehen lassend. Dies benutzten die Kollidiebe; allein oder auch zu zweien kamen sie heran, um einen Ballen unter der Leinwand hervorzuziehen – im selben Augenblick aber wurden die diebischen Finger von der kräftigen Faust eines Kriminalschutzmannes ergriffen, der mit einem Gefährten unter der Decke verborgen war und auf diese Weise im Laufe mehrerer Tage die Verhaftung von über zwanzig Kollidieben bewerkstelligte.

Von den weiteren Mitgliedern der Berliner Diebswelt erwähnen wir noch die Schlafstellendiebe, welche sich eine Schlafstelle miethen und, sobald die Wirthe die Wohnung verlassen haben, mit ganzen Droschkenladungen von Sachen spurlos verschwinden; dann die Bodendiebe, die sogenannten „Flatterfahrer“, welche nur den Bodenkammern ihre Besuche abstatten und Wäsche wie Kleidung unter ihre Obhut nehmen; die Küchendiebe, welche, wenn das Dienstmädchen die Küche auf einen Augenblick verlassen und hierbei die Thür nicht zugemacht hat, schnell sich silberne Löffel, Serviettenringe, Suppenkellen etc. aneignen; die Kellerdiebe, die es hauptsächlich auf Weinlager abgesehen haben; die „Kinderdiebe“, welche Kindern das diesen zum Einkaufen gegebene Geld fortnehmen oder ihnen auch die Ohrringe aushaken; die „Leichenfledderer“, die den auf Bänken in Parkanlagen Eingeschlafenen die Taschen ausräumen; die Paletotdiebe, deren Wirkungskreis in Schanklokalen und Cafés liegt; dann [815] jene Diebe, welche eine besondere Neigung für Billardbälle, Gasarme, Thürklinken u. s. w. haben – eine Liste, die wir noch vielfach fortsetzen könnten.

Festnahme eines Taschendiebes.

Was alles in Berlin gestohlen wird, ist wirklich mehr als erstaunlich – Lackstiefel und Oberhemden, Kaviarbüchsen und eiserne Nägel, wollene Unterkleider und Schachteln mit Zahnpasta, Theekannen und Fettpuder, medizinische Bücher und angerauchte Meerschaumpfeifen, vernickelte Stahlkämme und Dosen mit Insektenpulver, Suppenterrinen und eingemachte Früchte, selbst mehrere Dutzend Flaschen mit „Antidiphtheritis“ und Leberthran beschlagnahmte beispielsweise die Polizei bei einem einzigen Hehler. Wurde doch vor wenigen Jahren vom Tegeler Schießplatze das Bronzerohr eines Vierundzwanzigpfünders gestohlen, und die Entdeckung erfolgte nur, weil man wegen eines in derselben Nacht gefallenen leichten Regens noch die tiefen Räderspuren des Fuhrwerks, auf welchem das Rohr fortgeschafft[WS 1] worden war, verfolgen konnte: es war höchste Zeit, denn die „Kanonendiebe“ waren bereits eifrig daran, die Bronze zu zersägen! Mehrfach ist es vorgekommen, daß die Zinkdächer einzelner abseits liegender Gebäude theilweise oder ganz abgedeckt und die Platten zentnerweise auf Handwagen fortgeschafft wurden. Auch einen „fetten Braten“ verschmähen die Spitzbuben nicht; mit langen Stangen haken sie abends die an den Küchenfenstern hängenden Hasen, Gänse, Rehkeulen etc. ab. Einem dieser Diebe stach einst ein feister Martinsvogel in die Augen, aber seine Mühe, ihn abzuheben, war vergeblich, weil der zu fest angebunden war; durch das Geräusch mochte das Dienstmädchen aufmerksam geworden sein und sie öffnete das Fenster, worauf der Dieb ihr warnend zurief: „Sie, Rieke, eben war ein Mann hier, der die Gans mausen wollte, sehen Sie sich vor!“ Natürlich beeilte sich die Küchenfee, den Braten loszubinden, im selben Augenblick aber, als sie den Faden gelöst, erhielt sie mit dem Stocke einen solchen Schlag auf die Hand, daß sie erschrocken die Gans fallen ließ, mit welcher der eigennützige Warner flugs verschwand. –

Auf die unzähligen, täglich in Berlin verübten anderen Gaunereien und Schwindeleien einzugehen, würde uns hier zu weit führen; die einst so gefürchteten „Bauernfänger“ sind infolge der polizeilichen Maßregeln und der steten Zeitungswarnungen fast gänzlich verschwunden, nur sehr Dumme fallen den wenigen Uebriggebliebenen in die Hände. Dagegen ist das Hochstaplerthum bei der enormen Vergrößerung Berlins und dem wachsenden Fremdenzufluß üppig emporgeblüht.

Im Gegensatz zu anderen Weltstädten giebt es in Berlin keine eng verbundenen größeren Verbrecherbanden, die hintereinander eine Reihe planmäßiger Raubzüge unternehmen und zuweilen eine wahre Schreckensherrschaft ausüben. Nur gelegentlich des Dickhoffschen Prozesses (1883), der ja in ganz Deutschland Aufsehen erregte, wurde eine ganze Schar Hand in Hand arbeitender Verbrecher entlarvt oder eigentlich noch mehr nur vermuthet. Im allgemeinen „arbeiten“ die Berliner Verbrecher in kleinen, aus höchstens vier bis sechs Personen bestehenden Gruppen, und auch in solcher Zahl bloß, wenn es sich um etwas ganz Besonderes handelt. Die einzelnen Gruppen und Verbrecher aber haben selbstverständlich untereinander Fühlung und verkehren „kameradschaftlich“ zusammen; sie treffen sich, falls sie sich der Freiheit erfreuen, in bestimmten Lokalen, denen man äußerlich keinen Unterschied von anderen Kneipen anmerkt, helfen sich gegenseitig vor dem Kriminalkommissar und dem Untersuchungsrichter oder wo sonst einer des anderen Unterstützung bedarf. Dieser „Corpsgeist“ ist ein ganz außerordentlich reger und erstreckt sich auch auf materielle Hilfe, wenn dieser oder jener Kumpan in Noth gerathen ist, er läßt ferner fast nie Streitigkeiten aufkommen und regelt auch ohne Zwist die Theilung der Beute, ja, er geht soweit, daß ein Dieb gern die Schuld seines bei einem gemeinsamen Unternehmen betheiligten Genossen auf sich nimmt, weil er weiß, daß jener wegen seiner Vorbestrafungen eine empfindlichere Strafe als er selbst zu erwarten hat.

Dem Zweck eines festen Zusammenschlusses dienen auch die Verbrechersprache und die Verbrechernamen. Hat die Berliner Spitzbubenzunft einen neuen Genossen erhalten, so wird ihm sofort ein Beiname zugelegt, der in irgend einer Beziehung zu ihm steht und den er sein Lebtag nicht wieder verliert, über dem seine Gefährten alsbald seinen eigentlichen Namen vergessen und der oft noch nach seinem Tode lange Zeit in der Erinnerung der übrigen weiterlebt. Derartige Namen sind beispielsweise: „Blechkopf“, „der schöne Robert“, „der Regierungsrath“, „Pulverkopf“, „Schuster-Karl“, „Opernsänger“, „Glatter Adolf“, „Schiefmaul“, „Plattbein“, „Sonntagsreiter“, „Blücher-Max“, „Langer Ede“, „Platzmajor“, „Gärtner-August“, „Strippen-Friedrich“, „Spitzmaus“, „Staatsanwalt“, „Droschken-Karl“, „Mohrenschmidt“, „Goldfasan“ etc. Daß auch die Verbrecherinnen hierbei nicht leer ausgehen, beweist folgende Blumenlese: „Chokoladen-Minna“, „Falsche Gräfin“, „Keller-Jette“, „Lange Klara“, „Schottische Marie“, „Bouillonkopf“, „Blubber-Juste“, „Schiefe Laterne“, „Langnasige Pauline“, „Spitzbuben-Ida“, „Mohren-Hedwig“, „Perl-Agathe“, „Dragoner-Anna“, „Königin der Nacht“ und „Bankierswitwe“. –

Die Sprache der Berliner Verbrecher, das „Gaunerdeutsch“ oder „Gaunerrothwelsch“, hat einen großen Vokabelreichthum dem Hebräischen entnommen; aber im Laufe der Zeit sind die Worte etwas verändert oder auch theilweise berolinisiert worden und weisen daneben häufige Anklänge an die Zigeunersprache auf. Der Neuling auf der Verbrecherbahn wird sich bemühen, dieses Idiom sobald wie möglich zu erlernen, und es bereitet ihm wenig Schwierigkeiten, denn die Unterhaltung wird in „diesen Kreisen“ eben nur in dieser Sprache geführt. Der „berufsmäßige“ Dieb heißt „Gannew“, der Einbrecher „schwerer Junge“, der Taschendieb „Torfdrücker“, der Kollidieb „Johlegänger“, der Bodendieb „Flatterfahrer“, der Schaufensterdieb „Abhänger“, der Ladendieb „Schottenfeller“, der Bauernfänger „Thürmer“, der gewerbsmäßige Spieler „Zocker“, der Bettler „Schmalmacher“. Vereinigen sich mehrere Diebe, so bilden sie eine „Chawrusse“, stehlen sie gelegentlich, so „schießen“ sie, während der Diebstahl selbst mit „Masematten“ bezeichnet wird; fast immer wird dieser, wie oben geschildert, „ausbaldowert“, während die Helfer „Schmiere“ stehen. Alles ist vorher aufs genaueste „bedibbert“ (besprochen) worden, und zwar „betuch geschmust“ (sehr leise); ist der mit den „Kabbern“ (Gefährten) unternommene Diebstahl „koscher“ (gut) gegangen und hat das „Geschäft“ (die That) gelohnt, so wird die „Sore“ (Beute) sofort zum „Schärfer“ (Hehler) gebracht, der sie „verschiebt“ (weiter befördert) und den „Draht“ (das Geld) „abladet“ (hergiebt). Oft geht aber alles nicht so „keß“ (gut), die „Schmieresteher“ „bekommen Lampen“ (wittern Gefahr) und „stechen Zinken“ (geben ein Zeichen), worauf, wenn diese Störung nur eine vorübergehende ist, alles „verduftet“ (kurze [816] Zeit verschwindet) oder, wenn ernste Störung droht, „wandert“ (flüchtet); dabei wird leicht dieser oder jener „verschüttet“ (gefangen genommen), der hoffentlich nichts von den übrigen „pfeift“ (verräth) und sich auch nicht „reinrudert“ (schlecht vertheidigt), sondern dem Richter „einen Putz vormacht“ (sich herauszulügen sucht), damit er nicht mehr wie „Schurf“ (ein Jahr Zuchthaus) bekommt oder auch nur das „Tfieze“ (Gefängniß) bezieht, wo er leichter mit anderen Gefangenen „kaspern“ (verstohlen sprechen) und sich mit ihnen trotz der „Amtsschauter“ (Gefängnißwärter) „Zinken“ geben sowie schriftlich durch „Kassiber“ (kleine Zettel) verständigen und womöglich neue Pläne „bedibbern“ kann.

Verbrecherkneipe.

Auch für die „Technik“ des Einbrechens oder Diebstahls hat diese merkwürdige Sprache ihre besonderen Ausdrücke; „ein Ding schwenken“ heißt einen schweren Einbruch vollziehen, zu welchem die ganze „Tandelei“ (Diebswerkzeug) und namentlich „der Lude“ (Brecheisen) nöthig ist; kann man nicht „tandeln“ (mit falschen Schlüsseln öffnen) und helfen auch die „Haken“ (Dietriche) nicht, so muß man „knacken“ (aufbrechen), wozu nur „kesse Jungen“ (muthige, erfahrene Verbrecher) und nicht „schalfe“ (Anfänger) benutzt werden können, die Furcht vor „Greifern“ (Kriminalbeamten) und „Eulen“ (Nachtwächtern) haben. Ist das Geschäft glatt gegangen, hat man vom „Schärfer“ genug „Männer“ (Thaler) erhalten, so sucht man die „Klappe“ oder „Kaschemme“ (Verbrecherkneipe) auf, um sich dort mit anderen „Geschäftsgängern“ (Dieben) zu erholen und dann in der „Bleibe“ (Schlafstelle) zu „joschen“ (ruhen), falls man sich nicht „plattmacht“ (obdachlos umhertreibt) oder in eine „Penne“ geht.


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der höhere Standpunkt.

Von E. Werner.

 (2. Fortsetzung.)

Dora zog aus der Mappe ein einzelnes Blatt hervor und reichte es dem Professor, der es sehr mißtrauisch in Empfang nahm. Aber kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, so fuhr er in heller Wuth auf.

„O dieser infame Schlingel, das ist also seine Dankbarkeit! Jetzt zeichnet er mich als Vogelscheuche. Nun, der kann sich freuen, wenn er mir unter die Hände geräth!“

Um die Lippen der jungen Dame zuckte es von neuem bei diesem Wuthausbruche, aber sie bemühte sich, diesmal ernst zu bleiben.

„Ah, Sie erkennen also doch das Bild?“

„Natürlich, es ist ja sprechend ähnlich. Aber das hat der Friedel nun und nimmermehr allein gemacht, dabei haben Sie ihm geholfen.“

„Ich habe auch nicht einen Strich daran gezeichnet, er hat es ganz heimlich gethan und wollte mir das Blatt durchaus nicht geben, als ich ihn dabei überraschte. So sehen Sie aus, wenn Sie übler Laune sind, und das sind Sie eigentlich immer.“

Das war dem Professor zu viel, er sprang auf.

„Was, so soll ich aussehen? Bin ich ein Popanz, mit dem man die kleinen Kinder zu Bette jagt? Habe ich eine solche Nase, eine solche Urwaldsmähne?“

„Die Nase ist allerdings etwas zu groß gerathen, aber Stirn und Augen sind vorzüglich getroffen, und Ihr Haarwuchs – Sie sehen wohl nie in den Spiegel, Herr Professor?“

„Nein!“ schnaubte Normann, der immer erregter wurde, je mehr er das Bild anblickte, das allerdings nicht besonders schmeichelhaft war.

„Nun, dann thun Sie es morgen und dann lassen Sie dem Friedel Gerechtigkeit widerfahren! Bei Ihrer Urwaldsmähne – bitte, das Wort stammt von Ihnen – hat er wirklich nicht übertrieben, die ist naturgetreu.“

„Soll ich sie vielleicht abschneiden und mit geschorenem Kopfe umherlaufen wie ein Sträfling?“

„Nein, Sie sollen es vorläufig nur mit etwas Haaröl versuchen, vielleicht würden Sie dann menschlicher aussehen.“

Der Professor fuhr mit beiden Händen durch die Haare.

„Ich sehe also unmenschlich aus? Unmenschlich! Meinten Sie das, Fräulein Dora?“

„Ganz unmenschlich, Herr Professor,“ sagte Dora kaltblütig, „und nun geben Sie mir das Bild zurück!“

„Erst will ich es dem Jungen um die Ohren schlagen,“ erklärte Normann, aber die junge Dame verhinderte ihn an dieser freundlichen Absicht, indem sie ihm das Blatt einfach fortnahm und es in die Mappe legte.

„Bitte, ich nehme es mit nach Heidelberg und zeige es meinem Lehrer, der einer unserer angesehensten Maler ist. Ich weiß freilich im voraus, was er sagen wird! Wenn der Knabe das wirklich ohne jeden Unterricht, ohne die geringste Anleitung gezeichnet hat, dann ist er ein gottbegnadetes Talent, das man fördern muß.“

„Oho, also darauf läuft es hinaus?“ rief der Professor, dem jetzt in der That ein Licht aufging. „Einen Maler wollen Sie aus dem Jungen machen, weil er mit Bleistift irgend etwas hingekritzelt und mich zur Vogelscheuche gemacht hat! Sie denken

[817]

Am Eingang in den Tuileriengarten in Paris.
Nach einer Zeichnung von O. Gerlach.

[818] es sich wohl sehr romantisch, so ein ‚gottbegnadetes Talent‘ in Lumpen zu entdecken und der Welt einen modernen Raphael zu geben, junge Damen denken sich das immer so. Das ist ja so rührend, so menschenfreundlich, so erhaben – der Kuckuck hole all die schönen Gefühle, mit denen so viel Unheil angerichtet wird in der Welt. Ich, das wissen Sie –“

„Ja, Sie stehen natürlich wieder auf dem höheren Standpunkte,“ unterbrach ihn Dora. „Sie halten gar nichts von der sogenannten Menschenliebe, das weiß ich.“

„Und darum leide ich es nicht, daß dem Jungen Mucken in den Kopf gesetzt werden,“ erklärte Normann, den der Spott vollends reizte. „Da soll er wohl gar Zeichenunterricht haben, soll sich einbilden, er könne ein großer Maler werden, sich an ein Herrenleben gewöhnen, und dann wird schließlich nichts daraus, dann bleibt er mit seinem sogenannten Talente elendiglich sitzen oder wird Stubenmaler, und dann ist er erst recht unglücklich, denn die Mucken gehen nicht so leicht wieder aus dem Kopfe, wenn sie erst einmal drin sind. Nein, mein Fräulein, daraus wird nichts! Sie nennen es wahrscheinlich auch Menschenliebe, solch einen Burschen ohne weiteres seinem Lebenskreise zu entreißen und aufs Gerathewohl in einen anderen zu versetzen, ich sage Ihnen, das ist ein Unglück für ihn, und diesmal stehe ich ganz entschieden auf dem höheren Standpunkte, ganz entschieden.“

Die Entschiedenheit half dem Herrn Professor vorläufig sehr wenig, Dora schloß die Mappe und sagte dann so gelassen, als habe sie die freundlichste Zustimmung gefunden:

„Mein Urtheil ist natürlich nicht maßgebend, aber wenn mein Lehrer es bestätigt, so muß irgend etwas für Friedel geschehen. Mein Vater ist leider nicht reich genug, um solche Opfer zu bringen, Sie sind vermögend, also müssen Sie es thun.“

„Ich muß?“ wiederholte Normann, ganz starr über diese Wirkung seiner hitzigen Erklärung. „Also weil Kollege Herwig die Dummheit nicht machen kann, muß ich sie machen? Das ist ganz selbstverständlich? Aber da irren Sie sich denn doch, mein Fräulein. Der Friedel ist ein Tagelöhnerkind und muß sich durch die Welt schlagen, wie alle seinesgleichen es thun, der bleibt beim Stiefelputzen – Punktum!“

Er setzte sich mit einem hörbaren Ruck auf die Bank nieder, um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, und dachte nun mit diesem „Punktum!“ fertig zu sein; aber er unterschätzte seine jugendliche Gegnerin, die plötzlich den Gegenstand fallen ließ und ganz unvermittelt fragte:

„Herr Professor, haben Sie einen Garten bei Ihrer Wohnung?“

„Ich? Nein, ich wohne ja mitten in der Stadt,“ sagte Normann, verwundert über diese Frage.

„Wir haben einen großen schönen Garten in Heidelberg. Er liegt am Bergeshang, und man sieht weit hinaus in das Neckarthal. Der letzte Winter war sehr hart, und bei dem strengen Frost sind so manche von unseren Blumen und Gesträuchen zu Grunde gegangen. Sie lagen ausgerodet auf einem Haufen und sollten gerade fortgeschafft werden, als ich eines Morgens herunterkam. Da gewahrte ich mitten unter all dem dürren Gestrüpp ein paar dürftige grüne Blättchen. Es war ein kleiner Rosenstrauch, der so traurig hervorlugte aus den vertrockneten Reisern, wo er nun auch verkommen sollte. Ich zog ihn hervor und brachte ihn unserem alten Gärtner, der gerade die Rosengebüsche umpflanzte; doch der lachte mich aus und meinte, das Ding sei ganz erfroren und blühe nicht mehr, ich solle es nur in den Kehricht werfen. Aber mir that das arme Ding leid, das sich so gemüht hatte, auch ein paar armselige Blättchen zu treiben im ersten Frühlingssonnenschein und das nun doch vertrocknen und verderben sollte, während all seine Kameraden so lustig grünten. Ich pflanzte es selbst an den sonnigsten Platz und begoß es täglich. Es kränkelte wohl noch wochenlang und wollte nicht gedeihen, doch auf einmal fing es an zu treiben und grünte und wuchs, und zur Blüthezeit stand es über und über voll Rosen.“

Die sonst so helle Stimme des jungen Mädchens klang jetzt weich und verschleiert und die klaren braunen Augen blickten eigenthümlich ernst in die des Professors, der keine Silbe erwiderte, aber sie unverwandt ansah. Nach einem minutenlangen Schweigen fuhr Dora leise fort:

„Wenn ich in die hübschen blauen Augen des Friedel sehe, wie sie aufleuchten, sobald er nur irgend etwas vom Malen sieht oder hört, dann muß ich immer an meinen kleinen Pflegling denken mit seinen ersten dürftigen Trieben und seiner Rosenpracht.“

Es trat wieder eine Pause ein, dann sagte Normann mit merkwürdig verändertem Tone:

„Hm! Ich werde mir die Geschichte überlegen.“

Dora stand auf und nahm ihre Skizzenmappe.

„Thun Sie das, Herr Professor! Ich habe heute ein sehr, sehr grimmiges ‚Punktum‘ in Empfang genommen, ich will durchaus morgen ein ebenso grimmiges ‚Ja‘ mit auf die Reise nehmen – gute Nacht!“

Und nun erklang es wieder, das frische, übermüthige Lachen, das den Professor so oft geärgert hatte und dem er doch lauschte wie einer Musik, und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte das Mädchen davon und verschwand im Hause.

Normann sah ihr einige Minuten lang unbeweglich nach, dann fuhr er sich mit beiden Händen in die Haare, sonst seine Lieblingsbewegung, die ihm aber diesmal ein merkliches Unbehagen verursachte.

„Ob ich denn wirklich so aussehe, wie der verwünschte Junge mich abkonterfeit hat?“ murmelte er. „Und zum Dank dafür soll ich ihm gar noch Unterricht geben lassen? Wie sie das erzählte, die Geschichte von dem Rosenstrauch! Man hätte das Mädchen beim Kopf nehmen mögen und“ – hier hielt er inne, ganz entsetzt von dem ungeheuerlichen Gedanken, der ihm plötzlich aufstieg.

Aber die schlimmen Gedanken haben es leider an sich, daß sie immer wieder kommen; so ging es auch dem armen Professor, er kam nicht los davon, bis er sie endlich mit einem förmlichen Ingrimm abschüttelte.

„Unsinn! Wenn ich im Frühjahr nach Heidelberg komme, ist sie längst verlobt. Soll ich vielleicht die Herrlichkeit mit ansehen und meinen ergebensten Glückwunsch dazu abstatten? Die Studenten machen ihr ja sämmtlich den Hof, und die Herren Dozenten thun das auch, ‚mit ernsteren Absichten‘ – ich möchte der ganzen Gesellschaft den Hals umdrehen!“ schloß er wüthend, mit einer entsprechenden Handbewegung, sodaß Friedel, der eben in die Laube trat, erschrocken zurückprallte.

„Herr Professor –?“

„Nun, Dich meine ich nicht damit, brauchst Dich nicht so zu fürchten,“ brummte dieser.

„Ich fürchte mich auch gar nicht mehr“, versicherte der Knabe treuherzig, allein sein Herr und Meister nahm das gewaltig übel.

„So, also Du hast gar keinen Respekt mehr vor mir, und das sagst Du mir auch noch ins Gesicht? Der Junge fürchtet sich nicht einmal mehr! Das werde ich ihm doch wieder beibringen. Friedel, Du kommst hierher!“

Friedel gehorchte, aber er guckte mit seinen blauen Augen ganz furchtlos den Professor an, der nichts Geringeres beabsichtigte, als ihm eine donnernde Strafpredigt wegen des lieblichen Bildes zu halten; da kam ihm auf einmal wieder die Geschichte mit dem Rosenstrauch in das Gedächtniß, und das Strafgericht verwandelte sich in einen ganz einfachen Auftrag.

„Friedel, morgen reisen der Herr Professor und das Fräulein ab, da gehst Du auf der Stelle und besorgst mir –“

„Einen Blumenstrauß!“ fiel Friedel verständnißvoll ein.

„Naseweis! Was soll ich denn mit einem Blumenstrauß anfangen?“ fuhr ihn Normann an. „Mußt Du denn immer darauf los schwatzen? Eine Flasche Haaröl sollst Du mir kaufen.“

„Haar–öl?“ wiederholte Friedel, starr vor Verwunderung.

„Nun ja – oder giebt es etwa nicht dergleichen in dem Neste hier?“

„Ich glaube wohl, beim ‚Kramer.‘“

„So geh’ zum ‚Kramer‘!“

Friedel konnte sich noch immer nicht in den unglaublichen Auftrag finden.

„Soll es eine kleine oder eine große Flasche sein?“ fragte er endlich.

„Die größte, die zu haben ist, und nun mach’, daß Du fortkommst. – Halt! Was hast Du da in Deiner Joppe?“

Der Knabe wurde dunkelroth und griff hastig nach seiner Joppe, aus der ein gewisses blaues Etwas hervorlugte, das er zu verbergen suchte, aber der Professor merkte diese Absicht und nahm es ihm fort.

„Was soll denn das heißen? Das ist ja der Schleier von Fräulein Doras Reisehut, den Du vorhin erst in das Haus getragen hast! Wie kommst Du dazu?“

Die argwöhnische Frage brachte den Knaben noch mehr in Verwirrung, er senkte schuldbewußt die Augen und stotterte:

[819] „Das Fräulein reist doch morgen ab, und da dachte ich – da wollte ich –“

„Was wolltest Du?“ fragte Normann hartnäckig, und nun gewann Friedel auf einmal Muth und fing ganz vergnüglich an zu schwatzen.

„Fräulein Dora ist so gut zu mir gewesen, so gut und hat gesagt, sie werde mich auch in Heidelberg nicht vergessen; aber Heidelberg ist so weit und sie vergißt’s gewiß, und da dacht’ ich an das, was der Sepp uns erzählt hat, damals auf der Alm, von dem Jäger, der den Schleier stahl. Der Sepp sagt, das geschieht noch heutzutage, man sollt’ es nur probieren, aber gestohlen müßt’ es halt sein – und da – hab’ ich ihn gestohlen.“

„O Du dummer Junge!“ fuhr der Professor in voller Entrüstung auf. „Bist doch ein Stadtkind und glaubst an solch hirnverrücktes Zeug! Aber so seid Ihr alle. Vernunft, die begreift Ihr nicht; doch wenn man Euch mit dem krassesten Aberglauben kommt, darauf schwört Ihr. Es ist ganz vergeblich, Euch auf einen höheren Standpunkt heben zu wollen, Ihr bleibt in Eurer Dummheit. Du gehst jetzt sogleich und bringst Fräulein Dora den Schleier zurück – oder nein, ich werde das thun und ihr dabei erzählen, wie albern Du Dich benommen hast.“

Friedel ließ den Kopf hängen bei dieser Strafpredigt, er warf noch einen schmerzlichen Blick auf das seiner Meinung nach so wunderthätige Gewebe und schlich dann beschämt davon.

Die Sonne war längst gesunken und auch das letzte Abendroth verblaßt. Leise kam die Dämmerung geschlichen und hüllte die Landschaft in ihre kühlen, grauen Schatten; jetzt tauchte langsam hinter den Bergen der Mond auf und tiefe Abendstille und Abendruhe umfing die Erde.

Professor Normann saß noch immer in der Laube und ärgerte sich über den krassen Aberglauben des Volkes im allgemeinen und über den seines Friedel im besonderen, aber dabei hatte er immer noch den blauen Schleier in der Hand.

Ganz recht, der alte Sepp hatte den Unsinn erzählt, damals auf der Alm. Normann erinnerte sich sogar noch deutlich der Worte: „So geht’s noch heutzutag, wenn ein Bub’ ’was Liebes hat, dann muß er ihm den Schleier stehlen – ein Fürtuch thut’s auch, wenn’s ein Madel aus den Bergen ist – dann vergißt’s ihn nimmer. Er liegt ihm im Sinn Tag und Nacht und es kommt nimmer los von ihm – aber gestohlen muß es halt sein.“

Der dumme Junge, der Friedel! Als wenn das für einen vierzehnjährigen Burschen paßte, das hatte doch nur Sinn, wenn „was Liebes“ ins Spiel kam!

Der Professor blickte noch immer unverwandt nieder auf das luftige Gewebe in seiner Hand. Er hatte es so oft gesehen auf den Bergwanderungen, wenn es die braunen Flechten und das rosige Antlitz umflatterte, nun war das zu Ende. Morgen war es verstummt, das helle übermüthige Lachen, und das rosige Gesicht verschwunden. Nun fing in Heidelberg das vergnügte Leben an in dem gastfreien Herwigschen Hause, dann kamen all die Studenten und mit den ernsteren Absichten die Dozenten, die der Tochter des Hauses den Hof machten, und dann kam der Winter mit den Gesellschaften und Bällen – da wurde die Reise, und was sonst mit ihr zusammenhing, natürlich vergessen – natürlich!

Der Mond warf jetzt seine ersten Strahlen durch das Blätterdach der Laube, er sah es allein, wie Professor Julius Normann, diese Leuchte der Wissenschaft, dieser erhabene Freigeist, stufenweise herabsank von seinem höheren Standpunkte, immer tiefer, bis zu dem vielgeschmähten krassen Aberglauben. Und dann kam ein Augenblick, wo der Mond eigentlich sein Antlitz hätte verhüllen müssen, um nicht zu sehen, was er doch sah. Besagter Professor blickte sich scheu um, faltete dann sorgsam den blauen Schleier zusammen und barg ihn auf seiner Brust. Er schämte sich zwar vor sich selbst und seinem höheren Standpunkte noch viel mehr, als sich der Friedel vor ihm geschämt hatte, aber dabei hielt er die Hand fest auf die Brust gepreßt, um seinen Talisman zu hüten. Er hätte ihn nicht hergegeben, um keinen Preis der Welt.

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüthen.

Vor dem Hasen. (Zu dem Bilde S. 805.) Heute „hält“ der Hase – es liegt die erste „Neue“. Der Schnee ist in der Nacht einen halben Fuß tief gefallen, da sitzt Meister Lampe fest, und wenn uns kein altes Weib begegnet – abergläubisch ist jeder Jäger – so giebt es heute eine gute Jagd. Luska, unsere langhaarige deutsche Hündin, tanzt aus Freude, daß es hinausgeht, wie ein Kreisel mit sich selbst, eilt dann voraus und wieder zurück und bellt vergnüglich in die klare Winterluft, als wollte sie zeigen, daß ein guter Hund gerade so viel Lust am Jagen hat wie der Jäger selbst. Jetzt sind wir auf dem Felde angelangt. „Luska, zurück!“ Auf freier Flur sucht der Jäger den Hasen selbst, da braucht ihm der Hund erst nach dem Schusse zu helfen. Breite auf, Breite ab geht es, das Auge schweift links und rechts und geradeaus, aber kein „Krummer“ wird hoch – nichts läßt sich blicken.

Doch! War da links nicht eben ein schwarzer Strich in der Furche? Wir haben uns wohl geirrt, nichts ist zu sehen. Noch einmal blicken wir zur Seite. Da ist die schwarze Linie wieder – und wieder ist sie verschwunden. „Lampe, alter Freund, bist du neugierig, wer da bei dem tiefen Schnee im Felde herumspaziert? Du wirst es zu deinem Schaden bald erfahren!“ Im Bogen geht es näher heran. Jetzt können wir ihn über den Rücken des nächsten Feldstückes sitzen sehen. Wie drückt sich der Bursch so fest ins Lager, er glaubt immer noch, er könne sich unsichtbar machen. Es ist unweidmännisch, einen Hasen im Lager zu schießen. Der Hut ist vom Kopf und fliegt Meister Lampe dicht vors Gesicht. Wie der Blitz ist er hoch und flüchtig geht’s dem Walde zu. Das Gewehr liegt am Backen – ein Druck – es knallt, aber Lampe stürmt munter weiter und „schnirzelt mit der Blume“ und die nachstürmende Luska giebt die aussichtslose Jagd bald auf. Ja! wenn jeder Schuß träfe, möchte der Teufel Hase sein!

Jetzt kommen wir auf eine Hude (Weidefläche vor dem Walde), wo einzelne Büsche und Binsengewirr dem Hasen Deckung gewähren. Hier ist Luskas Feld. „Voran, mein Hund!“ In flottem Trabe sucht die Hündin in Zickzacklinien gegen den Wind mit hoher Nase vor uns her. Jeder Busch, jedes Gestrüpp wird untersucht, es ist eine Lust, die „ferme“ Hündin arbeiten zu sehen. Da wird sie langsamer – der Kopf fährt herum und der ganze Körper ist zu Erz erstarrt – „sie steht“. Welch herrliche Bilder zaubert die Jagd doch dem Weidmann vor! Karl Brandt.     

Mädchen aus dem Wippthale. (Zu dem Bilde S. 809.) Sonntag Morgen! Die Glocken läuten fern, fern im tief eingesenkten Thale zur Kirche, deren schlanker Thurm aus dem Grunde emporragt. Da ist sie herabgestiegen, die liebliche Tochter der Alm, angethan mit ihrem besten sonntäglichen Staate, um ihrem frommen Bedürfniß Genüge zu thun und wohl auch – um einmal wieder unter Menschen zu kommen! Denn in dem dünn bevölkerten Hochgebirge, wo Hof oft stundenweit von Hof liegt, hat man es nicht so bequem, mit den Nachbarn zu einem Schwatzstündchen sich zu treffen, wie drunten im Thale, in den Dörfern und Städten. Unsre Wandrerin trägt die landesübliche Pelzmütze, welche sich die Mädchen und Frauen dort selbst aus schwarzer böhmischer Schafwolle herstellen, Gebetbuch und Rosenkranz in der Linken, den hand- und wetterfesten Regenschirm in der Rechten. So schreitet sie munter den Fußpfad fürder und ihre hellen scharfen Kinderaugen schauen fröhlich in den schönen Morgen hinein.

Leider ist die charakteristische Volkstracht, welche uns an der hübschen Gestalt auf unserem Bilde so kleidsam anmuthet, immer mehr im Zurückgehen begriffen. Der mächtige Strom des internationalen Völkerverkehrs übt auf die Bewohner des Wippthals seine ernüchternde, gleichmachende Wirkung. Denn seit bald einem Vierteljahrhundert laufen drunten pfeifend, pustend, rauchend und rasselnd die Züge der Brennerbahn vorüber.

Am Eingang in den Tuileriengarten. (Zu dem Bilde S. 817.) Im Sommer dieses Jahres besuchte die Kaiserin Eugenie in ihrer Trauertracht, leicht gestützt auf einen Krückstock, den Tuileriengarten. Als sie an den Platz gelangte, wo einst bis zu den bösen Tagen der Kommune im Jahre des Unheils 1871 die Tuilerien standen, da vermochte sie die Thränen nicht zurückzuhalten. Aber welch ein Gegensatz auch zwischen einst und jetzt! Einst die gefeierte Beherrscherin der Mode, die Gattin des mächtigsten Kaisers der Welt, – heute eine alte gebeugte Frau mit gebleichtem Haar, Witwe und untröstliche Mutter, denselben Garten, in dem ihr Söhnchen gespielt, in dem sie die glänzendsten Feste der Welt gegeben hatte, unbeachtet, unerkannt durchwandernd, eine Fremde inmitten ihres eigenen Volks! Und auch der Garten hat sein Aussehen verändert. Die schnurgeraden Baumreihen, welche das Zeitalter des Sonnenkönigs liebte, die Orangerie, die Statuen, Wasserbecken und Wasserkünste, der herrliche Durchblick auf den Obelisken des Eintrachtsplatzes und den stolzen Triumphbogen am Ende der Elyseeischen Felder sind freilich die nämlichen geblieben, aber die vornehme Welt hat die Stätte völlig verlassen, die ebenfalls ein Opfer der Republik geworden ist: den Tag über das Dorado der Kindermädchen, Ammen und Mütter, des Abends das der Obdachlosen und Landstreicher. Das Tagesbild des Tuileriengartens ist von unserem Maler sehr richtig beobachtet worden. Und wo die Ammen mit ihren langen Mänteln und den seltsam bebänderten, an normännische Volkstracht gemahnenden Hauben, wo die Dienstmädchen nicht fehlen, da stellt auch der „Pioupiou“ zu rechter Zeit sich ein, der kleine Infanterist mit der in Deutschland sprüchwörtlich gewordenen rothen Hose und den weißen Gamaschen, der Kürassier mit seinem vom blinkenden Helm tief herabwallenden Roßschweif. Auch die beiden Herren auf der rechten Seite des Bildes sind ganz an ihrem Platz, denn ihr eigenartiger Gesichtsschnitt verräth sofort, daß sie keine Pariser sind; ein Pariser Stutzer im Tuileriengarten – das ist eben ein undenkbarer Begriff. Wir haben es hier offenbar mit Südamerikanern zu thun, deren Kolonie, neben der [820] englischen, in der Umgegend der Elyseeischen Felder haust. Erst wer die Pariser Verhältnisse genau kennt, versteht die Naturtreue des Bildes voll zu würdigen, und an den bauschigen Aermelfalten der Damen erkennt er sogar, daß die Modelle unserem Maler erst vor kurzer Frist gesessen haben. Daß das junge Dämchen im Vordergrunde einen Reifen in der Hand tragen muß, versteht sich ganz von selbst; Frankreich ist ja das gelobte Land des anmuthigen Reifenspiels, und wenn man mir für jeden Reifen, der an einem einzigen sonnigen Tage über die feinen Kieswege des Tuilerien- und Luxembourggartens, sowie des Parc Monceau dahinrollt oder dort durch die Lüfte schwirrt, nur einen Louisd’or geben wollte, so wäre ich ein steinreicher Mann. E. v. J.     

Meyringen. Die schöne Schweiz wird gegenwärtig viel heimgesucht von öffentlichen Unglücksfällen. Kaum ist der Schrecken von Mönchenstein und Zollikofen verwunden, da durchläuft eine neue Hiobsbotschaft die Welt – Meyringen, das schöne, stattliche Dorf im Berner Oberland, ist ein Raub der Flammen geworden.

Jener 25. Oktober, welch ein fürchterlicher Sonntag für die unglücklichen Bewohner! In wenigen Stunden ist ihre erst seit zwölf Jahren aus rauchenden Trümmern neu erstandene Heimath abermals ein Opfer des verheerenden Elements geworden, trotzdem nach jenem ersten Brande im Jahre l879 viele Gebäude in Stein statt in Holz aufgeführt worden waren! Der rasende Föhn jagt die Flammen durch die Gassen, er trägt die glühenden Funken von Haus zu Haus, hinweg über den Alpbach, er verstreut sie über die weitesten Entfernungen, überall neue Feuerherde entzündend, und „hoffnungslos weicht der Mensch der Götterstärke“.

Meyringen nach dem Brande vom 25. Oktober 1891.
Nach einer Zeichnung von F. Voellmy.

Da ist jeder Versuch zur Rettung, zur Bändigung des entfesselten Elements vergeblich! Bald zeigt nur noch ein großes rauchendes Schuttmeer, von dürftigem Gemäuer durchzogen, wo einst das schmucke Meyringen gestanden, und nur ganz wenige Gebäude, darunter die Kirche, das Pfarrhaus, das Schulhaus und das Krankenhaus, das Haus des Regierungsstatthalters, das Gefängniß, die Gasthöfe zum „Wilden Mann“ und „Zum Hirschen“ sind erhalten geblieben; auch der Bahnhof steht noch.

Und nun vergleiche der Leser mit unseren heutigen Ansichten von der Unglücksstätte das freundliche Bildchen, welches wir in Nr. 32 des vorigen Jahrgangs gebracht haben! Meyringen vor und nach dem Brande! Welch eine jähe Wendung vom freundlichen Lichte zur düstern Nacht – und das alles das Werk eines einzigen Sonntagmorgens!



Inhalt: Ein Götzenbild. Roman von Marie Bernhard (12. Fortsetzung). S. 805. – Vor dem Hasen. Bild. S. 805. – Mädchen aus dem Wippthale in Tirol. Bild. S. 809. – Polizei und Verbrecherthum in der Reichshauptstadt. Von Paul Lindenberg. IV: S. 812. Mit Abbildungen auf S. 812, 813, 814, 815 u. 816. – Der höhere Standpunkt. Von E. Werner (2. Fortsetzung). S. 816. – Am Eingang in den Tuileriengarten. Bild. S. 817. – Blätter und Blüthen: Vor dem Hasen. Von Karl Brandt. S. 819. (Zu dem Bilde S. 805.) – Mädchen aus dem Wippthale. S. 819. (Zu dem Bilde S. 809.) – Am Eingang in den Tuileriengarten. S. 819. (Zu dem Bilde S. 817.) – Meyringen. Mit Abbildung. S. 820.



Weihnachtsnummer der „Gartenlaube“.

Unsere Abonnenten benachrichtigen wir hiemit davon, daß wir uns entschlossen haben, die übernächste Nummer (50) der „Gartenlaube“ in besonders reicher und festlicher Ausstattung als „Weihnachtsnummer“ auszugeben. Mit derselben erhalten unsere Leser zwei Extra-Kunst-Beilagen, nämlich die beiden vorzüglich ausgeführten Kunstblätter:

„Auf der Weihnachtsmesse“.0 Von L. Blume-Siebert, und
„Ein Heidenapostel verkündet den alten Deutschen das Weihnachtsevangelium“. Von A. Zick,
das erstere in glänzendem mehrfarbigem Buntdruck, das letztere in großem, doppelseitigem Format in Tondruck ausgeführt.

An Erzählungen u. a. enthält die Nummer: Weihnachten. Gedicht von J. Claus. Mit Illustration von Hermann Koch. – Wie ich Großmutter wurde. Eine Weihnachtsgeschichte von E. Wuttke-Biller. Mit Abbildungen von Peter Schnorr. – Am Kinderspieltisch unserer Voreltern. Von Hans Boesch. Mit Abbildungen von K. Zinn. – Mummenschanz der deutschen Weihnacht. Von Dr. Alexander Tille. Mit Abbildungen von Werner Zehme. – Weihnachtsgeplauder. Von Emil Peschkau. Mit Streubildern von E. Unger. – An Illustrationen: In der Weihnachts-Kindervorstellung. Von Heinrich Lefler. – Weihnachten im Forsthaus. Von L. Blume-Siebert. – Weihnachtsglocken. Von Erdmann Wagner. (Fortsetzung des Romans „Ein Götzenbild“ folgt in Nr. 51.)

Von dieser reichhaltigen Weihnachtsnummer, welche den Abonnenten der „Gartenlaube“ selbstverständlich kostenfrei zugeht, stellen wir denselben weitere Exemplare zum Verschenken gegen die geringe Nachzahlung von 25 Pfennig für eine Nummer zur Verfügung. Dieselben eignen sich in Anbetracht ihres anziehenden Inhalts und ihrer schönen künstlerischen Ausstattung als gewiß überall willkommene Beigaben zu Festgeschenken. Die Nummer erhält als Festgewand einen besonderen farbigen Umschlag.

Die meisten Buchhandlungen liefern auf Bestellung diese Weihnachtsnummer der „Gartenlaube“. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich unter Beifügung des Betrags in Briefmarken (für eine Nummer 35 Pf., für 2 Nummern 70 Pf., 3 Nummern 95 Pf. incl. Porto) direkt an die Verlagshandlung der „Gartenlaube“
Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.     

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fortgeschafst