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Die Gartenlaube (1893)/Heft 2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[21]

Nr. 2.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!

Roman von E. Werner.

 (1. Fortsetzung.)

Der Freiherr von Wildenrod hatte die Thüre sorgfältig hinter sich geschlossen, trotzdem senkte er jetzt die Stimme und sagte halblaut zu seiner Schwester:

„Cäcilie, Erich Dernburg bietet Dir noch etwas anderes als Rosen – seine Hand. Er hat soeben mit mir gesprochen und wird sich jetzt auch Dir erklären.“

Die junge Dame nahm die Nachricht ohne jede Ueberraschung auf. Sie wendete den Kopf seitwärts, um zu sehen, wie sich die Blume im Haar ausnehme, und fragte gleichgültig:

„Schon jetzt?“

„Schon? Ich habe das längst erwartet, und er hatte wohl auch längst die Absicht, zu sprechen, aber Du scheinst ihn wenig ermuthigt zu haben.“

Zwischen den Brauen Cäciliens erschien eine Falte, genau an derselben Stelle, wo sich die tiefe düstere Furche auch in die Stirn ihres Bruders grub.

„Wenn er nur nicht so langweilig wäre!“ sagte sie.

„Cäcilie, Du weißt, daß ich diese Verbindung wünsche, dringend wünsche, und ich hoffe, Du richtest Dich danach.“

Der Ton klang sehr entschieden, er schien jeden Widerspruch der Schwester auszuschließen, die jetzt mit einer ungeduldigen Bewegung die übrigen Rosen beiseite schob.

„Warum muß es denn gerade Dernburg sein? Vicomte von Marville ist viel hübscher, viel liebenswürdiger –“

„Denkt aber nicht daran, Dir seine Hand anzubieten,“ unterbrach sie Wildenrod. „Er so wenig wie die anderen, die Dir den Hof machen. Nicht diese beleidigte Miene, Cäcilie, Du kannst Dich darin auf mein Urtheil verlassen, ich kenne die Herren sehr genau. Die Vermählung mit Dernburg dagegen sichert Dir ein glänzendes Los, er ist sehr reich.“

„Nun, das sind wir ja auch.“

„Nein,“ sagte der Freiherr kurz und scharf.

Die junge Dame sah ihn betroffen an, er trat zu ihr und legte die Hand auf ihren Arm.

„Wir sind nicht reich! Ich bin genöthigt, Dir das jetzt zu sagen, damit Du nicht durch Launen oder Kindereien Deine Zukunft verscherzest und ich erwarte mit aller Bestimmtheit, daß Du den Antrag annimmst.“

Cäcilie blickte noch immer halb erschrocken, halb ungläubig zu dem Bruder auf, aber sie war es offenbar gewohnt, sich seinem Willen zu fügen, und versuchte gar keinen ferneren Widerstand.

„Als ob ich es überhaupt wagen dürfte, ‚Nein‘ zu sagen, wenn mein gestrenger Herr Bruder ein ‚Ja‘ befiehlt!“ schmollte sie. „Aber Dernburg soll sich nur nicht einbilden, daß ich mit ihm nach seinem langweiligen Odensberg gehe. Unter Arbeiterhorden zu leben, bei den Eisenhütten voll Staub und Ruß – mir graust schon, wenn ich nur daran denke.“

„Das wird sich alles finden,“ sagte Wildenrod. „Uebrigens hast Du doch wohl keinen Begriff davon, was es heißt, einstiger Herr der Odensberger Werke zu sein, und welche Stellung Du an seiner Seite in der Welt einnimmst. Wenn Dir das erst klar wird, so wirst Du mir danken für die Wahl, die ich getroffen. Doch nun komm’, wir dürfen Deinen künftigen Gemahl nicht länger warten lassen.“

Friedrich von Esmarch,
der Gründer der deutschen Samaritervereine.
Nach einer Photographie von Schmidt und Wegener in Kiel.

[22] Er nahm ihren Arm und führte sie in den Salon, wo Erich Dernburg in unruhiger Spannung ihrer harrte. Der Freiherr gab sich den Anschein, das nicht zu bemerken, er plauderte unbefangen mit ihm und seiner Schwester von der Korsofahrt und allerlei kleinen Vorfällen des Tages, bis es ihm einfiel, den Sonnenuntergang zu bewundern, der heute besonders schön zu werden versprach. Er trat auf die Veranda, ließ wie absichtslos die Glasthüre hinter sich zufallen und gab auf diese Weise dem jungen Paare Gelegenheit, allein zu sein.

„Das sieht ja hier aus wie ein Blumenmarkt!“ rief Cäcilie lachend, indem sie auf den mit Blumen überladenen Tisch deutete. „François hat natürlich möglichst geschmacklos alles übereinander gehäuft, ich werde es wohl ordnen müssen. Wollen Sie mir dabei behilflich sein, Herr Dernburg?“

Sie begann die einzelnen Sträuße in Vasen und Schalen zu vertheilen und mit den übrigen den Kamin zu schmücken. Dernburg half ihr, aber er benahm sich sehr ungeschickt dabei, denn seine Augen hingen unverwandt an der schlanken Gestalt in dem schillernden Gewand, mit der voll erblühten Rose im dunklen Haare. Er hatte auf den ersten Blick gesehen, daß es seine Blumen waren, die sie trug, und ein glückliches Lächeln spielte um seine Lippen. Ob der Bruder ihr schon eine Andeutung gemacht hatte? Aber sie war so unbefangen, lachte über seine Zerstreutheit und behandelte ihn ganz mit dem gewohnten Uebermuth – sie konnte unmöglich schon von seiner Werbung wissen!

In Cäciliens Wesen lag allerdings nichts von der holden Scheu und Befangenheit eines jungen Mädchens, welches das entscheidende Wort von den Lippen eines Mannes hören soll, es fiel ihr überhaupt nicht ein, die Sache ernst zu nehmen. Sie war bald zwanzig Jahre, in dem Alter vermählte man sich stets in den Kreisen, in denen sie verkehrte, oder vielmehr man wurde vermählt, denn gewöhnlich entschied die Familie darüber. Sie hatte auch gegen eine Heirath selbst durchaus nichts einzuwenden. Es war sehr angenehm, die Freiheiten einer Frau zu genießen, über Toiletten und sonstige Herrlichkeiten unbeschränkt verfügen zu können und sich nicht mehr dem Willen eines bisweilen sehr herrischen Bruders beugen zu müssen, nur – wieviel feuriger und liebenswürdiger war doch der Vicomte von Marville als dieser Dernburg, der nicht einmal von Adel war! Eigentlich war es doch empörend, daß eine Baroneß Wildenrod in Zukunft einen einfach bürgerlichen Namen führen sollte!

Sie hatte eben den letzten Strauß ergriffen, um damit den Kamin zu schmücken, da hörte sie ihren Namen flüstern, leise, aber voll Innigkeit.

„Cäcilie!“

Sie wandte sich um und blickte in die Augen Erichs, der neben ihr stand und in dem gleichen Tone fortfuhr:

„Sie haben nur Augen und Sinn für die Blumen – haben Sie keinen Blick für mich?“

„Brauchen Sie denn diesen Blick so nothwendig?“ fragte Cäcilie neckend.

„O wie sehr ich ihn brauche! Er soll mir Muth geben zu einem Geständniß – wollen Sie es hören?“

Sie lächelte und legte den Strauß nieder, den sie in der Hand hielt.

„Das klingt ja ganz feierlich! Ist es denn etwas so Wichtiges?“

„Es ist das Glück meines Lebens, das ich von Ihnen erbitte! Ich liebe Sie, Cäcilie, habe Sie geliebt vom ersten Tage an, wo ich Sie erblickte. Sie müssen das ja längst wissen, längst errathen haben, aber ich sah Sie immer so umschwärmt von anderen und erhielt so selten ein Zeichen, das mich wirklich hoffen ließ! Doch nun naht meine Abreise, ich kann nicht gehen ohne Gewißheit über mein Schicksal. Wollen Sie mein sein, Cäcilie? Ich will Ihnen alles, alles zu Füßen legen, jeden Wunsch erfüllen, will Sie auf Händen tragen mein Leben lang. Sagen Sie ein Wort, nur ein einziges, das mir Hoffnung giebt, aber sagen Sie nicht ‚Nein‘, denn das ertrüge ich nicht!“

Er hatte ihre beiden Hände ergriffen, sein Gesicht war von einer hellen Röthe überfluthet, seine Stimme bebte in tiefster Erregung. Es war keine stürmische leidenschaftliche Erklärung, aber aus jedem Worte sprach die innigste Liebe, die vollste Zärtlichkeit, und das junge Mädchen, dem man so oft schon mit Schmeicheleien und Huldigungen genaht war und das doch diesen Ton zum ersten Male hörte, lauschte halb betroffen, halb gefesselt. Cäcilie hatte dem stillen schüchternen Freier, mit dem sie so oft ein übermüthiges Spiel getrieben, eine solche Werbung gar nicht zugetraut, und als er nun weiter bat, noch zärtlicher, dringender, da kam endlich das erflehte „Ja“ von ihren Lippen, zwar etwas zögernd, aber ohne Widerstreben.

In überquellendem Glücke wollte Dernburg die Braut in seine Arme schließen, doch sie wich zurück. Es war eine unwillkürliche, fast unbewußte Bewegung der Scheu, beinahe des Widerwillens, die einen anderen vielleicht verletzt und erkältet hätte; Erich sah darin nur die holde Verschämtheit des jungen Mädchens, und während er sanft ihre Hände festhielt, sagte er leise:

„Cäcilie, wenn Du wüßtest, wie ich Dich liebe!“

Das war in der That der volle Herzenston der Liebe und er blieb nicht ohne Eindruck auf Cäcilie, die jetzt erst fühlte, daß sie dem Bräutigam sein Recht nicht versagen durfte.

„Nun, so werde ich Dich wohl auch ein wenig lieb haben müssen, Erich!“ sagte sie mit einem reizenden Lächeln und ließ es geschehen, daß er sie an seine Brust zog und den ersten Kuß auf ihre Lippen drückte.

Wildenrod stand noch draußen auf der Veranda und wandte sich erst um, als das junge Paar zu ihm trat. Strahlend vor Stolz und Glück führte Dernburg ihm seine Braut zu und empfing die Glückwünsche des künftigen Schwagers, der die Schwester und dann ihn umarmte.

Es begann nun ein heiteres lebhaftes Geplauder da draußen, wo noch laue Frühlingsluft wehte. Der blendende Lichtglanz des Tages löste sich bereits in jene glühende Farbenpracht auf, die nur der Süden beim Sonnenuntergang kennt. Die Stadt und die umliegenden Höhen standen wie verklärt in dem leuchtenden Scheine, wie flüssiges Gold gleißte und schimmerte es auf den Meereswogen, und während die fernen Berge sich im rosigen Dufte verschleierten, tauchte der gluthrothe Sonnenball tiefer und tiefer hinab, bis er endlich verschwand.

Erich hatte den Arm um seine Braut gelegt und flüsterte ihr leise zärtliche Worte in das Ohr. So goldig verklärt wie die schöne Welt da draußen erschien ihm auch die Zukunft an der Seite des geliebten Mädchens. Wildenrod stand abgewandt, scheinbar ganz vertieft in das wundervolle Schauspiel, aber dabei hob ein tiefer Athemzug seine Brust, und während es triumphierend aufblitzte in seinen Augen, murmelte er fast unhörbar: „Endlich!“




„Es tut mir leid, meine Herren, aber ich muß Ihre sämmtlichen Pläne und Vorschläge für ungenügend erklären. Es handelt sich darum, die ganze Wasserkraft aus dem Radefelder Grunde heranzuziehen, auf dem kürzesten Wege und mit möglichst geringen Kosten. Ihre Entwürfe aber setzen ohne Ausnahme so umfangreiche und kostspielige Anlagen voraus, daß von einer Ausführung gar nicht die Rede sein kann.“

Es war Eberhard Dernburg, der Herr der Odensberger Werke, welcher die Vorschläge seiner Beamten in dieser entschiedenen Weise ablehnte. Die Herren zuckten die Achseln und blickten auf die Pläne und Zeichnungen, die auf dem Tische ausgebreitet waren, endlich sagte einer von ihnen:

„Wir haben aber hier mit den größten Schwierigkeiten zu rechnen, Herr Dernburg. Die Bodenverhältnisse sind die allerungünstigsten, Berg und Wald auf der ganzen Linie –“

„Und die Leitung muß doch auch gegen alle Möglichkeiten gesichert werden,“ fiel ein Zweiter ein, während der Dritte hinzufügte:

„Die Anlagen werden allerdings große Kosten verursachen, aber wie die Dinge nun einmal liegen, läßt sich das nicht ändern.“

Die drei Herren, der Direktor und oberste Betriebsleiter der Odensberger Werke, der Vorsteher des technischen Bureaus und der Oberingenieur, waren einig in ihren Ansichten. Die Berathung fand im Arbeitszimmer Dernburgs statt, wo dieser gewöhnlich die Vorträge seiner Beamten entgegennahm und wo sich heute auch sein Sohn befand. Es war ein großes, einfach ausgestattetes Gemach, an dessen Wänden hohe Bücherschränke standen. Der Schreibtisch war überladen mit Briefschaften und sonstigen Papieren, auf den Seitentischen lagen Pläne und Karten aller Art, und die großen Mappen, die in einem offenen Schranke sichtbar wurden, schienen Aehnliches zu enthalten. Man sah, daß dies Zimmer der Mittelpunkt war, von dem aus das ganze riesige Unternehmen geleitet wurde, eine Stätte rastloser Arbeit und unermüdlicher Thatkraft.

[23] „Sie halten also keine andere Lösung für möglich?“ nahm Dernburg wieder das Wort, indem er aus einer vor ihm liegenden Mappe ein Papier nahm und es ausbreitete. „Sehen Sie sich einmal dies hier an, meine Herren! Hier geht die Leitung gleichfalls von dem oberen Grunde aus, aber sie durchbricht den Buchberg und wird dann ohne jede weitere Schwierigkeit über Radefeld selbst nach den Werken geführt – da ist die gesuchte Lösung!“

Die Beamten sahen etwas verblüfft aus und beugten sich eifrig über die Zeichnung, an diesen Plan hatte offenbar noch keiner von ihnen gedacht, aber sie schienen ihn nicht mit besonderem Wohlwollen zu betrachten.

„Der Buchberg soll durchbrochen werden?“ fragte der Direktor. „Ein sehr kühner Gedanke, der allerdings große Vortheile bieten würde, allein ich halte ihn nicht für ausführbar.“

„Ich auch nicht,“ stimmte der Oberingenieur bei. Jedenfalls bedarf es einer eingehenden Untersuchung, um zu erfahren, ob das möglich ist. Der Buchberg –“

„Wird zu meistern sein,“ unterbrach ihn Dernburg. „Die Vorarbeiten sind bereits geschehen, Runeck hat, während er da draußen die Vermessungen vornahm, die Möglichkeit festgestellt und mir in der beiliegenden Erläuterung ausführlich darüber berichtet.“

„Der Plan stammt also wohl auch von ihm?“ fragte der Vorsteher des technischen Bureaus.

„Von Egbert Runeck – allerdings.“

„Das dachte ich mir.“

„Was meinen Sie, Herr Winning?“ fragte Dernburg, sich rasch zu ihm wendend.

Herr Winning beeilte sich, zu versichern, daß er gar nichts Besonderes meine, die Sache interessiere ihn nur, weil er der unmittelbare Vorgesetzte des jungen Technikers sei; die beiden anderen schwiegen, aber sie sahen ihren Chef mit eigenthümlich fragenden Blicken an, was dieser nicht zu bemerken schien.

„Ich habe mich für Runecks Plan entschieden,“ sagte er ruhig, aber doch mit einer gewissen Schärfe. „Er entspricht allen meinen Anforderungen, und der Kostenanschlag wird nur etwa die Hälfte des Ihrigen erreichen. Ueber die Einzelheiten muß natürlich noch Rücksprache genommen werden, jedenfalls sollen die Arbeiten sobald als möglich beginnen. Wir reden noch darüber, meine Herren.“

Er erhob sich und gab damit das Zeichen zur Entlassung, die Beamten verneigten sich und gingen. Draußen im Vorzimmer aber blieb der Direktor stehen und fragte halblaut:

„Was sagen Sie dazu?“

„Ich begreife Herrn Dernburg nicht,“ antwortete der Oberingenieur gleichfalls mit vorsichtig gedämpfter Stimme. „Weiß er wirklich nichts oder will er es nicht wissen?“

„Natürlich weiß er es, Ich selbst habe ihm Nachricht darüber gegeben, und der Herr Sozialist denkt ja auch gar nicht daran, ein Geheimniß aus seiner Richtung zu machen, er bekennt sich rückhaltlos dazu. Das sollte ein anderer wagen hier in Odensberg, er würde auf der Stelle den Laufpaß erhalten, aber von Runecks Entlassung scheint noch lange keine Rede zu sein. Da wird sein Plan ohne weiteres angenommen, während man uns sehr deutlich zu verstehen giebt, daß die unsrigen nichts taugen – das übersteigt denn doch –“

„Warten Sie erst ab!“ unterbrach Winning ruhig: „In dem Punkte versteht unser Chef keinen Spaß, das wissen wir alle. Er wird schon zur rechten Zeit ein Machtwort sprechen, und fügt sich Runeck dann nicht unbedingt, so ist’s aus, mag er zehnmal der Lebensretter und Jugendfreund des jungen Herrn sein. Verlassen Sie sich darauf!“

„Wir wollen es hoffen“ sagte der Direktor. „Was übrigens Herrn Erich betrifft, so sieht er doch noch recht angegriffen aus und befleißigt sich einer merkwürdigen Schweigsamkeit. Er hat bei unserer ganzen Berathung nicht zehn Worte gesprochen.“

„Weil er nichts davon versteht,“ erklärte der Oberingenieur achselzuckend. „Eingetrichtert hat man ihm ja genug, aber offenbar ist sehr wenig davon haften geblieben. Von seinem Vater hat er nichts geerbt, weder äußerlich noch innerlich. Doch ich muß fort, ich will nach Radefeld hinausfahren – guten Morgen, meine Herren!“ – –

Im Arbeitszimmer waren Vater und Sohn allein zurückgeblieben, und der erstere ging schweigend, in offenbarer Verstimmung auf und nieder.

Eberhard Dernburg stand trotz seiner sechzig Jahre noch in der Vollkraft des Lebens, und nur das völlig ergraute Haar und die Falten auf der Stirn gaben Zeugniß davon, daß er bereits die Schwelle des Alters erreicht hatte. Das Gesicht mit den festen ernsten Zügen verrieth es nicht, der Blick war noch scharf und klar, die hohe Gestalt ungebeugt. Haltung und Sprache waren die eines Mannes, der gewohnt ist, zu befehlen und unbedingten Gehorsam zu finden, und schon in seinem Aeußeren gab sich etwas von jener eisernen Natur kund, die Freund wie Feind an ihm kannten.

Man sah es jetzt recht deutlich, daß sein Sohn auch nicht einen Zug des Vaters hatte, aber ein Blick auf das lebensgroße Brustbild, das über dem Schreibtisch hing, erklärte das einigermaßen. Es stellte die verstorbene Gattin Dernburgs dar, und Erich war ihr zum Sprechen ähnlich. Es war dasselbe Antlitz mit den feinen aber unbedeutenden Zügen, den weichen verschwimmenden Linien, dem träumerischen Blick.

„Da sitzen nun meine Herren Oberbeamten mit ihrer ganzen Weisheit,“ begann Dernburg endlich in spöttischem gereizten Tone. „Monatelang haben sie sich mit der Aufgabe herumgeschlagen, haben alle möglichen Entwürfe ausgeheckt, von denen keiner ’was taugte, und Egbert, der gar keinen Auftrag hat, macht in aller Stille bei seinen Vermessungen die nöthigen Vorstudien und legt mir jetzt einen fertigen Plan auf den Tisch, der geradezu meisterhaft ist! Wie findest Du seinen Entwurf, Erich?“

Der junge Mann blickte verlegen auf die Zeichnung, die er noch in der Hand hielt.

„Du findest ihn ja vortrefflich, Papa, ich – verzeih, aber ich kann noch nicht recht klug daraus werden.“

„Nun ich dächte, er wäre klar genug, und Du hast ihn seit gestern abend in Händen. Wenn Du so viel Zeit brauchst, einen einfachen Plan zu begreifen, dem alle nöthigen Erläuterungen beigegeben sind, wie willst Du dann den schnellen Ueberblick gewinnen, der für den einstigen Herrn der Odensberger Werke unbedingt nothwendig ist?“

„Ich bin volle anderthalb Jahre ferne gewesen,“ wandte Erich ein, „und während der ganzen Zeit haben mir die Aerzte die höchste Schonung zur Pflicht gemacht, jede geistige Anstrengung verboten. Du mußt Nachsicht haben, Papa, und mir Zeit lassen, mich wieder einzugewöhnen.“

„Du hast von jeher geschont und vor der Arbeit förmlich behütet werden müssen,“ sagte Dernburg mit gerunzelter Stirn. „Bei Deiner fortwährenden Kränklichkeit konnte von einem ernsten Studium gar nicht die Rede sein, von einer praktischen Thätigkeit vollends nicht. Ich hatte meine ganze Hoffnung auf Deine Rückkehr aus dem Süden gesetzt, und nun – sieh nicht so trostlos aus, Erich! Ich mache Dir ja keinen Vorwurf, es ist nicht Deine Schuld, aber es ist ein Unglück bei der Stellung, zu der Du berufen bist.“

Erich unterdrückte einen Seufzer, er empfand diese vielbeneidete Stellung wieder einmal als eine recht schwere Last. Sein Vater fuhr ungeduldig fort:

„Was soll denn werden, wenn ich nicht mehr da bin? Ich habe tüchtige Beamte, aber sie sind allesammt von mir und meiner Leitung abhängig. Ich bin es gewohnt, alles selbst zu thun, ich lasse die Zügel nicht aus der Hand, und Deine Hand, fürchte ich, wird sie niemals allein führen können. Ich habe längst die Nothwendigkeit eingesehen, Dir eine Stütze für die Zukunft zu sichern – und gerade jetzt macht mir der Egbert den unsinnigen Streich und läßt sich von den Sozialdemokraten ins Netz ziehen! Es ist zum Tollwerden!“

Er stampfte heftig mit dem Fuße. Erich blickte mit einer gewissen Scheu auf den Vater, dann sagte er leise:

„Vielleicht ist die Sache nicht so schlimm, wie man Dir berichtet hat. Der Direktor mag manches übertrieben haben.“ Nichts ist übertrieben, meine Erkundigungen haben jedes Wort bestätigt. Diese Studienzeit in dem verwünschten Berlin ist dem Jungen verhängnißvoll geworden. Es hätte mich freilich stutzig machen sollen, daß er mir schon nach den ersten Monaten schrieb, er brauche die Mittel nicht, die ich ihm für seine Ausbildung zur Verfügung gestellt, er werde sich mit Zeichenunterricht und sonstigen Arbeiten allein durchbringen. Es mag ihm sauer genug geworden sein, aber mir gefiel sein Stolz und Unabhängigkeitssinn und ich ließ ihm den Willen. Jetzt sehe ich klarer! [24] Damals fingen die tollen Ideen an, in seinem Kopfe zu spuken, da schlangen sich die ersten Maschen des Netzes um ihn, in dem er sich jetzt gefangen hat, und deshalb wollte er nichts mehr von mir annehmen, denn er wußte, daß es zu Ende zwischen uns war, wenn ich davon erfuhr.“

„Ich habe ihn noch nicht gesprochen und kann deshalb nicht urtheilen. Er ist draußen in Radefeld?“

„Er kommt heute herein, ich erwarte ihn noch in dieser Stunde.“

„Und Du willst ihn zur Rede stellen?“

„Natürlich. Es ist hohe Zeit!“

„Papa, ich bitte Dich, tritt Egbert nicht mit Härte entgegen. Hast Du vergessen –“

„Daß er Dich aus dem Wasser gezogen hat? Nein, aber er hat es vergessen, daß er seitdem fast wie ein Sohn des Hauses gehalten worden ist. Rede mir nicht drein, Erich; das verstehst Du nicht!“

Der junge Mann schwieg, er wagte es nicht, dem Vater zu widersprechen, der während der letzten Minuten seinen Gang durch das Zimmer wieder aufgenommen hatte. Jetzt blieb dieser stehen und sagte in grollendem Tone:

„Ich habe den Kopf voll von allen möglichen Unannehmlichkeiten, und nun kommst Du mir auch noch mit Deinen Liebes- und Heirathsgeschichten. Es war eine grenzenlose Uebereilung, daß Du Dich gebunden hast, ohne meine Einwilligung abzuwarten.“

„Ich glaubte sie voraussetzen zu dürfen, und auch Wildenrod hat das getan, als er mir die Hand seiner Schwester zusagte. Was hast Du denn gegen meine Wahl einzuwenden, Papa? Es ist eine so schöne liebenswürdige Tochter, die ich Dir zuführe, wie schön, das zeigt Dir ihr Bild – sie ist überdies reich, aus hochangesehener Familie, gehört einem alten Adelsgeschlechte an –“

„Darauf lege ich nicht den mindesten Werth,“ unterbrach ihn sein Vater schroff. „Auch wenn die Wahl eine passende war, hattest Du zuerst bei mir anzufragen; statt dessen verlobst Du Dich und läßt die Verlobung sogar in Nizza bekannt werden, noch ehe meine Antwort eingetroffen ist. Das sieht ja beinahe aus, als hätte man einem etwaigen Einspruch meinerseits vorbeugen wollen.“

„Aber davon kann gar keine Rede sein! Mein Verhältniß zu Cäcilie war nicht unbemerkt geblieben, man sprach bereits darüber, und Oskar erklärte mir, daß er, um Mißdeutungen zu vermeiden, die Wahrheit zugestehen müsse.“

„Gleichviel, es war eine Eigenmächtigkeit. Meine Erkundigungen sind allerdings befriedigend ausgefallen.“

„Ah, Du hast Dich erkundigt?“

„Selbstverständlich, da es sich um eine Familienverbindung handelt. Ich habe mich allerdings nicht nach Nizza gewandt – so ein Reiseaufenthalt bietet keinen zuverlässigen Anhalt – sondern nach der Heimath der Wildenrods. Ihre ehemaligen Besitzungen sind jetzt königliches Eigenthum, und das Hofmarschallamt hat mir die nöthige Auskunft gegeben.“

„Papa, das war überflüssig!“ sagte der junge Mann vorwurfsvoll.

„Für Dich vielleicht, ich hielt es für nothwendig,“ war die trockene Antwort. „Die Wildenrods gehören allerdings zum ältesten Adel des Landes. Der alte Freiherr scheint etwas verschwenderisch gelebt zu haben, genoß aber die allgemeinste Achtung, nach seinem Tode wurden die Güter verkauft und gingen für einen immerhin bedeutenden Kaufpreis in die Hände des Königs über, unter der Bedingung, daß der Witwe ein Wohnsitz im Schlosse gesichert bliebe – das stimmt mit dem, was Dir Herr von Wildenrod mitgetheilt hat, für den ich übrigens nicht die mindeste Sympathie hege.“

„Aber Du kennst ihn ja noch nicht. Oskar ist ein geistvoller, in vieler Hinsicht bedeutender Mann.“

„Das mag sein, aber ein Mann, der, sobald er die väterliche Erbschaft antritt, nichts Eiligeres zu thun hat, als die Familiengüter für einen möglichst hohen Preis loszuschlagen, den Dienst seines Vaterlandes zu verlassen und ohne Beruf, ohne irgend eine Thätigkeit in der weiten Welt umherzuschweifen, flößt mir keine besondere Achtung ein. Dies Zigeunerleben der vornehmen Drohnen, die heimathlos von Ort zu Ort ziehen und überall nur ihrem Vergnügen nachjagen, ist mir in tiefster Seele zuwider. Ich finde es auch durchaus nicht zartfühlend von dem Freiherrn, daß er seine junge Schwester an einem solchen Leben theilnehmen läßt.“

„Er liebt Cäcilie mit der größten Zärtlichkeit, und sie hatte niemand als ihn auf der Welt. Sollte er seine einzige Schwester fremden Händen überlassen?“

„Vielleicht wäre das besser gewesen. Wenn man einem jungen Mädchen Heimath und Familie nimmt, so entzieht man ihm den Boden unter den Füßen. Doch den würde sie hier bei uns wiederfinden. Du liebst sie nun einmal, und wenn Du wirklich ihrer Gegenliebe sicher bist –“

„Würde ich sonst ihr Jawort erhalten haben?“ rief Erich. „Ich habe es Dir ja geschildert, Papa, wie sie umschwärmt und gefeiert wurde, wie ihr alles zu Füßen lag. Sie hatte unter so vielen zu wählen und sie wählte mich!“

„Das eben wundert mich,“ sagte Dernburg kühl. „Du besitzest keine einzige von jenen glänzenden Eigenschaften, welche Mädchen von dieser Erziehung und diesen Ansprüchen verlangen. Aber wie dem auch sei – zunächst wünsche ich, Fräulein von Wildenrod und ihren Bruder persönlich kennenzulernen. Wir werden sie nach Odensberg einladen, und dann wird sich das weitere finden. Inzwischen bitte ich mir aus, daß der Sache nicht noch eine größere Oeffentlichkeit gegeben wird, als sie leider schon hat.“

Damit verließ er das Zimmer und ging in seine Bibliothek, die unmittelbar daneben lag. – –

Erich hatte sich in einen Sessel geworfen und stützte den Kopf in die Hand.

Die Art, wie seine Verlobung in der Heimath aufgenommen wurde, war enttäuschend und niederdrückend für ihn gewesen. Er hatte gar nicht an die Möglichkeit von Einwendungen gedacht, hatte erwartet, der Vater werde seine Wahl mit freudiger Zustimmung begrüßen. Statt dessen wurden Erkundigungen eingezogen, Zweifel und Bedenken geltend gemacht. Sein Vater schien ein förmliches Mißtrauen zu hegen und wollte sich offenbar das letzte Wort noch vorbehalten. Es wurde dem jungen Manne heiß bei dem Gedanken, daß seine verwöhnte vergötterte Braut und deren stolzer Bruder hier in Odensberg erst eine Art von Probezeit durchmachen sollten, ehe sie endgültig in die Familie eintreten würden.

Da wurde die Thür geöffnet und er fuhr aus seiner Träumerei empor.

„Egbert!“ rief er, freudig aufspringend und dem Eintretenden entgegeneilend; dieser bot ihm die Hand.

„Willkommen in der Heimath, Erich!“

„Ja, ich bin ihr lange fern geblieben, so lange, daß sie mir beinahe fremd geworden ist,“ sagte Erich, den Händedruck erwidernd, „und gar wir beide haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen.“

„Freilich, ich bin ja auch zwei Jahre in England gewesen und erst seit kurzem zurück. Aber nun vor allen Dingen, wie geht es Dir?“

Egbert Runeck war ungefähr in demselben Alter wie der junge Erbe, aber in der Gereiftheit schien er ihm um Jahre voraus zu sein. Sein Aeußeres machte den Eindruck vollster männlicher Kraft, und seine hohe Gestalt überragte die Erichs so bedeutend, daß dieser zu ihm emporblicken mußte. Das von Sonne und Luft gebräunte Gesicht war nichts weniger als schön, aber es war ausdrucksvoll und energisch in jedem Zuge. Das dichte blonde Haar und der blonde Vollbart hatten einen leichten röthlichen Schimmer, und unter einer breiten mächtigen Stirn lag ein Paar dunkelgrauer Augen, die eigenthümlich kalt und ernst blickten. Der Mann sah aus, als habe er bisher nur die Mühen, nicht die Freuden des Lebens gekannt oder gesucht. Auch aus seiner Haltung sprach etwas Herbes, Trotziges, das in diesem Augenblick zwar gemildert erschien, aber doch den hervorstechenden Zug der ganzen Erscheinung bildete. Diese mochte bedeutend sein – anziehend war sie nicht.

„O, ich bin völlig wiederhergestellt,“ sagte Erich, die Frage nach seinem Befinden beantwortend. „Die Reise hat mich natürlich etwas angegriffen, ich leide auch unter dem Klimawechsel, aber das wird vorübergehen.“

Egberts Augen hafteten auf dem Gesicht des jungen Mannes, das heute recht bleich und abgespannt aussah, und seine Stimme klang weicher, als er erwiderte:

„Gewiß, Du mußt Dich eben erst wieder an den Norden gewöhnen.“

[25]

Unterbrochene Lektüre.
Nach einem Gemälde von V. Corcos.

[26] „Wenn mir das nur nicht so schwer würde!“ seufzte Erich. „Du weißt ja nicht, was mich dort im sonnigen Süden so lange und so unwiderstehlich festhielt.“

„Doch, aus den Andeutungen in Deinem letzten Briefe errieth ich ohne Mühe die Wahrheit – oder soll es noch ein Geheimniß sein?“

Ueber Erichs Züge flog ein helles glückliches Lächeln, während er leise den Kopf schüttelte.

„Für Dich nicht, Egbert. Mein Vater wünscht, daß es vorläufig noch nicht in Odensberg bekannt werde, aber Dir kann ich es sagen, daß ich unter den Palmen der Riviera, am Gestade des blauen Meeres das Glück gefunden habe, ein Glück, so berauschend, so märchenhaft, wie ich es mir nie geträumt. Wenn Du sie sehen würdest, meine Cäcilie, mit ihrer berückenden Schönheit, ihrer hinreißenden Liebenswürdigkeit – ja freilich, das ist nun wieder Dein kaltes spöttisches Lächeln, mit dem Du jede Schwärmerei, jedes heißere Gefühl verurtheilst. Du strenger Cato hast die Liebe ja nie gekannt, nie kennen wollen.“

Runeck zuckte die Achseln.

„Ich habe von frühester Jugend auf angestrengt arbeiten müssen, und in einem solchen Leben hat die Romantik selten Platz. Für das, was Du Liebe nennst, hat unsereins keine Zeit.“

Die rücksichtslose Bemerkung verletzte den jungen Bräutigam, er fuhr erregt auf:

„Also die Liebe ist Dir nur ein Zeitvertreib für Müßiggänger? Du bist der Alte geblieben, Egbert! Du hast freilich nie an jene geheimnißvolle übermächtige Gewalt geglaubt, die zwei Menschen unwiderstehlich zueinander zieht und aneinander kettet.“

„Nein!“ sagte Egbert mit kühler, beinahe spöttischer Ueberlegenheit. „Aber laß uns nicht darüber streiten. Du mit Deinem weichen Herzen mußt Liebe geben und empfangen, für Dich ist das Lebensbedingung. Ich bin nun einmal nicht dafür geschaffen, ich habe von jeher andere Ziele im Auge gehabt – und die vertragen sich nicht mit Liebesträumen. – Deine Braut heißt also Cäcilie?“

„Cäcilie von Wildenrod. – Was hast Du? Kennst Du den Namen?“

Runeck hatte allerdings gestutzt, als der Name ausgesprochen wurde, und es war ein eigenthümlich forschender Blick, den er auf den Jugendfreund richtete.

„Ich glaube, ihn früher einmal gehört zu haben,“ erwiderte er. „Es war dort von einem Freiherrn von Wildenrod die Rede.“

„Vermuthlich mein künftiger Schwager,“ sagte Erich unbefangen. „Es ist eine alte bekannte Adelsfamilie. Doch vor allen Dingen mußt Du meine Cäcilie sehen, ich habe sie dem Vater und der Schwester wenigstens im Bilde vorgestellt.“

Er nahm ein größeres Bild, das auf dem Schreibtische des Vaters lag, und reichte es dem Freunde. Die sehr ähnliche Photographie gab allerdings nicht den ganzen Reiz des Originals wieder, aber sie zeigte doch dessen Schönheit, und die großen dunklen Augen blickten den Beschauer voll an. Egbert sah schweigend darauf nieder, ohne ein einziges Wort zu sprechen; erst als er dem erwartungsvoll fragenden Blick des Bräutigams begegnete, sagte er:

„Ein sehr schönes Mädchen!“

Das klang eisig kalt und es erkältete auch Erich, der wohl wußte, daß sein Jugendfreund für Frauenschönheit unempfänglich war, der aber doch auf einen wärmeren Ausdruck der Bewunderung gerechnet hatte. Sie standen beide am Schreibtisch, Runecks Blick fiel dabei zufällig auf eine zweite Photographie, die gleichfalls dort lag, und wieder flog jener eigenthümliche Ausdruck über seine Züge wie vorhin bei der Nennung des Namens, ein plötzliches Aufzucken, das freilich nur einen Augenblick dauerte.

„Und dies hier ist vermuthlich der Bruder Deiner Braut?“ sagte er. „Man sieht es an der Aehnlichkeit.“

„Es ist Oskar von Wildenrod, allerdings, aber eine Aehnlichkeit ist doch eigentlich nicht vorhanden. Cäcilie gleicht ihrem Bruder nicht im mindesten, es sind ganz andere Züge.“

„Aber dieselben Augen!“ sagte Egbert langsam, während er unverwandt die beiden Bilder betrachtete, dann schob er sie plötzlich von sich und wandte sich ab.

„Und Du hast nicht einmal einen Glückwunsch für mich?“ fragte Erich vorwurfsvoll, durch diese Gleichgültigkeit gekränkt.

„Verzeih’, ich vergaß es. Mögest Du glücklich werden, so glücklich, wie Du es verdienst! – Doch ich muß zu Deinem Vater, er erwartet mich, und Du weißt, er verlangt unbedingte Pünktlichkeit.“

Er wollte offenbar abbrechen. Auch Erich erinnerte sich jetzt an die bevorstehende Unterredung und an das, was dabei zur Sprache kommen sollte.

„Papa ist in seiner Bibliothek,“ erwiderte er, „und da will er nicht gestört sein. Du hast also noch Zeit. Er hat Dich aus Radefeld hergerufen – ist Dir bekannt, weshalb?“

„Ich vermuthe es wenigstens. Hat er mit Dir darüber gesprochen?“

„Ja, und ich erfuhr durch ihn das erste Wort von der Sache. Egbert, um Gotteswillen, Du kennst doch meinen Vater und weißt, daß er eine solche Richtung nun und nimmermehr auf seinen Werken duldet.“

„Er duldet überhaupt keine andere Richtung als die seinige,“ entgegnete Egbert kalt. „Er kann und wird es nie begreifen, daß der Knabe, der ihm Erziehung und Ausbildung dankt, zum Manne geworden ist, der sich herausnimmt, eigene Ansichten zu haben und seine eigenen Wege zu gehen.“

„Diese Wege scheinen allerdings weit ab zu führen von den unserigen,“ sagte Erich leise. „Du hast mir in Deinen Briefen nie die geringste Andeutung darüber gemacht.“

„Wozu? Du solltest ja geschont und vor jeder Aufregung bewahrt werden, und Du würdest mich auch nicht verstanden haben, Erich. Du hast Dich von jeher schon abgewendet von allen Fragen und Kämpfen der Gegenwart, ich habe ihnen ins Auge gesehen, bin in den letzten Jahren mitten drin gestanden. Wenn sich dabei eine Kluft aufgethan hat zwischen uns – ich kann es nicht ändern.“

„Zwischen uns doch nicht, Egbert! Wir sind ja Freunde und werden es bleiben, was auch geschehen mag. Denkst Du, ich habe es vergessen, daß ich Dir mein Leben danke? Freilich, davon willst Du nun wieder nichts hören, aber ich fühle ihn noch immer, den Sturz in die eisige Flut, die Todesangst, als der reißende Wirbel mich ergriff, und dann das wonnige Gefühl der Rettung, als Dein Arm mich umfaßte. Ich habe sie Dir nicht leicht gemacht, ich klammerte mich so krampfhaft an Dich, daß Dir fast kein Raum zur Bewegung blieb, und brachte Dich selbst in die äußerste Gefahr. Jeder andere hätte die gefährliche Last abgeschüttelt, Du ließest mich nicht los, Du hieltest aus mit Deiner Riesenkraft und arbeitetest Dich vorwärts, bis wir beide das rettende Ufer erreichten. Es war eine Heldenthat für einen sechzehnjährigen Knaben.“

„Es war eine gute Schwimmprobe, weiter nichts,“ versetzte Runeck ablehnend. „Ich schüttelte das Wasser aus den Kleidern und wurde wieder trocken, während Dir der Schrecken und die Erkältung eine beinahe tödliche Krankheit zuzogen.“

Er brach ab, denn soeben trat Dernburg mit einem Buche in der Hand ein und erwiderte die Begrüßung des jungen Ingenieurs so gelassen, als ob nicht das Mindeste vorgefallen sei.

„Ihr feiert wohl das Wiedersehen nach der langen Trennung?“ fragte er „Du siehst Erich heute zum ersten Male, Egbert, wie findest Du ihn?“

„Er sieht noch etwas angegriffen aus und wird sich wohl einstweilen noch schonen müssen,“ sagte Runeck mit einem Blicke auf das blasse Gesicht des Jugendfreundes.

„Das meint der Arzt auch. Und heute scheinst Du besonders abgespannt zu sein, Erich! Geh’ auf Dein Zimmer und ruhe Dich aus!“

Der junge Mann sah unentschlossen von einem zum anderen. Er wäre gern geblieben, um bittend und beschwichtigend dazwischenzutreten, wenn die Unterredung gar zu stürmisch werden sollte, aber die Weisung des Vaters klang sehr bestimmt, und jetzt sagte auch Egbert leise:

„Geh’, ich bitte Dich!“

Mit einer Anwandlung von Bitterkeit fügte sich Erich, er fühlte, daß in dieser mitleidigen Schonung etwas Demüthigendes lag und daß sie nicht allein seinem körperlichen Befinden galt. Von dem Vater wurde er ja nie als selbständig und ebenbürtig behandelt und von dem Freunde eigentlich auch nicht. Jetzt wurde er fortgeschickt, um „auszuruhen“, das heißt, man wollte es ihm ersparen, Zeuge eines voraussichtlich peinlichen Auftritts zu werden, und er – er ließ sich in der That fortschicken, in dem niederdrückenden Gefühl, daß seine Gegenwart doch überflüssig und nutzlos sei!

(Fortsetzung folgt.)
[27]
Weltverbesserer.
Von Dr. J. O. Holsch.
I.
„Die Welt wird alt und wird wieder jung, 

Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.“0

Schiller. 

Keine geharnischten Ritter ziehen heutzutage mehr aus, um Riesen, Drachen und anderes schädliche Gewürm zu erschlagen – die modernen Ritter sind Ritter des Geistes; sie gürten sich mit der scharf geschliffenen Waffe des Gedankens, der Wissenschaft, um auszuziehen wider die kräftigen trotzigen Riesen des Zweifels, wider die feuersprühenden Drachen der Phantasie, die am Wege des modernen Lebens lauern. Eben unserem Zeitalter erstehen und erstanden ja merkwürdige, gerade ihm eigenthümliche Titanen, die nach ihrer Art rücksichtslos zeitgenössische Olympe stürmen und in die zeitgenössischen Unterwelten hinableuchten – himmelhoch jauchzende Weltumstürzler und Weltverbesserer hier – und dort zum Tode betrübte, neuzeitübersättigte, durch und durch zerfressene Weltschmerzler und Weltverächter!

Der Weltschmerz ist eine Art von Geisteskrankheit, welche daraus entspringt, daß Wille und Erkenntnißkraft, Handeln und Verstehen bei einem Menschen nicht im Gleichgewicht stehen. Wie wäre es sonst möglich, daß Tausende nicht bloß der Muttererde, die sie ernährt, nein – dem ganzen, unermeßlichen, unerforschten Weltall den Vorwurf der Unzulänglichkeit, ja der Erbärmlichkeit, des Verpfuschtseins entgegenschleudern – Tausende, die nichts sind als Stäubchen, Atome im Getriebe eines ungeheuren, überwältigenden Ganzen, das sie nicht überblicken.

Man wird vielleicht sagen: derartige Aeußerungen und Geistesrichtungen sind immer nur einzelne krankhafte Ausgeburten. Wohl! Wenigstens in ihrer schroffsten Form, in ihren klassischen Typen. Aber doch machen sich verwandte Stimmungsäußerungen mehr und weit verderblicher in unseren nervösen Zeitgehirnen breit, als man gewöhnlich zugeben will und als dem lebenden Geschlecht gut ist.

Jeder dauernde Weltschmerz endet aber – mag er nun die Form des Größenwahnes oder die der Willenszersetzung annehmen – unfehlbar mit geistiger oder körperlicher Selbstvernichtung, denn es ist dem Menschen nicht anheimgegeben, ob er sich dem Weltgeschehen entziehen oder ihm entgegenstemmen will: die Frage ist für ihn lediglich die, auf welche Weise er sich demselben unter- und einzuordnen vermag.

Die mehr als sechstausendjährige, aktenmäßig bezeugte Menschheitsgeschichte, ja auch die Gesammtheit dessen, was jenseit unseres geschichtlichen Wissens an der Wiege der Menschheit geschah, liegt hinter uns keineswegs bloß als Fundgrube für gelegentliche Belehrung, als Erinnerungsmaterial, aus dem man dann und wann schöpft, nein – die Vergangenheit bildet die nothwendige, unveränderliche und unwandelbare Unterlage unseres ganzen Seins, unserer ganzen künftigen Entwicklung: sie ist sogar der Gradmesser für das, was in einem gegebenen Augenblicke überhaupt zu erreichen möglich ist.

An dieser Wahrheit muß der Weltschmerz mit allen seinen Trägern jederzeit unerbittlich zerschellen; diese selbe Wahrheit ist es aber auch, welche der vorwärts stürmenden Avantgarde der „Weltverbesserer“ aller Formen und Schattierungen sich entgegenstellt.

*      *      *

Weltverbesserung in dem Sinne, daß der Mensch in das große Getriebe der Weltenbewegung eingreifen könnte, ist also ebenso unmöglich wie das Aufhalten der Erdumdrehung durch Wesen, die auf der Erdoberfläche kriechen; auch im Sinne eines Eingreifens in die Menschheitsgeschichte wird es noch lange bei dem Rathe bleiben, den Schiller einem „Weltverbesserer“ gab:

„– Auch dem Menschen, der dir im Leben begegnet,
Reich ihm, wenn er sie mag, freundlich die helfende Hand.
Nur für Regen und Thau und fürs Wohl der Menschengeschlechter
Laß du den Himmel, Freund, sorgen wie gestern, so heut’.“

Doch soll niemand es wehren, wenn edle Geister und kühne Vorkämpfer der Menschheit sich vorahnend in die Zukunft der Welt und der Menschheit versenken, wenn sie diesen Zustand schauen und darstellen als höhere Entfaltung, als harmonische Vollendung dessen, was heute ist. Erhalten nicht alle knospenden Keime der Gegenwart dadurch neues Licht und neuen Wachsthumsreiz? Die Sehnsucht nach höherem edleren Leben und Wirken erwacht und erstarkt, die Geister werden zu gemeinsamem Handeln angespornt.

Bei all dem darf jedoch Eines nie verschwinden noch getrübt werden: die volle Klarheit über den Wirklichkeitsboden, auf dem wir unwiderruflich stehen; in demselben Maße, wie dieser aufgegeben oder mißachtet wird, erweckt auch der „Weltverbesserer“ in uns das Gefühl des Unwahrscheinlichen, des Aussichtslos-Phantastischen, ja des Närrischen, in demselben Maße wird er unsere Theilnahme verlieren und uns als bloßes Opfer der Selbsttäuschung und Selbstüberhebung erscheinen.

Der Menschheitsbeglücker sind schon unzählige auf- und wieder niedergetaucht, ehrliche und edle Märtyrer, wie un ehrliche und verworfene Charlatane. Wenn wir den Versuch machen, aus ihrer Legion außerordentliche Vertreter einer ganz bestimmten Gattung herauszuheben, so richtet sich unser Blick vorzugsweise auf solche Denker, welche die äußere, wirthschaftliche Lebensordnung einer bestimmten Menschengruppe, eines bestimmten Volkes oder Staates zum Gegenstande ihrer Verbesserungsvorschläge gemacht haben, Männer, welche man kurzweg „Staatsromantiker“, vielleicht auch „Staatsidealisten“ nennen könnte.

Einen Zeitraum von zweieinhalb Jahrtausenden im Fluge durcheilend, werden wir untersuchen, welches Ideal vom Aufbau der menschlichen Gesellschaft hervorragende Menschen in den einzelnen Zeitaltern sich gemacht haben, welche Entwicklung dieser Aufbau thatsächlich genommen hat und welcher Fortschritte sich das zu Ende gehende zweite Jahrtausend nach Christus zu rühmen vermag, und warum gerade unsere Zeit so reich ist an – „Weltverbesserern“.


1. Das antike Staatsideal Platos.

Bis auf den heutigen Tag werden die Bildhauer, Dichter, Redner, Helden und Staatsmänner der Griechen unserer Jugend zur Nacheiferung vorgeführt, und als die beiden größten Weltweisen vor der Geburt Christi gelten Plato und Aristoteles. Als im Jahre 399 vor unserer Zeitrechnung Sokrates auf Befehl des höchsten Volksgerichtes seiner Vaterstadt Athen den Schierlingsbecher trank, da stand Plato, der Mann mit der „breiten Stirn“, sein größter Schüler, im kräftigsten Mannesalter. Wir würden uns mit Fug und Recht sehr wundern, wenn für diesen tiefen Denker der Tod eines Sokrates durch den Schierlingsbecher nicht zum Ausgangspunkt eines eingehenden Nachdenkens darüber geworden wäre: welcher Natur ist ein Staat, der solch einen Mann zum Tode zwingt? Welcher Natur müßte ein Staat sein, in welchem ein solcher Mann, statt Gift trinken zu müssen, den höchsten Einfluß auf die Geschicke und die Lebensführung seiner Mitbürger besäße?! Der Staat, welcher Sokrates, den Reinen, den Weisen, vernichtete, er war wirklich, aber – war er vernünftig? Und weiter – hier kommen wir sofort mitten hinein in Platos Ausführungen – der Staat, ein Staat, in welchem Philosophen sokratischer Natur herrschen würden, er wäre zwar sehr vernünftig gewesen, aber warum war er eigentlich nicht wirklich, und wie wäre er wirklich zu machen?

Aus der Gährung solcher Gedanken und Erlebnisse heraus sind die uns erhaltenen politischen Schriften Platos wie der „Staat“, der „Kritias“ und schließlich die „Gesetze“ entsprungen, welche in der Form von Zwiegesprächen über das Wesen des gerechten Menschen „im kleinen“ wie über das Wesen des gerechten Menschen „im großen“, d. h. über den Staat, handeln. Der Grundgedanke Platos für alle seine auf das Wesen des Staates sich erstreckenden Sätze ist der: wie der Mensch. ein Staat im kleinen ist, so muß der Staat als Mensch im großen betrachtet werden. Da nun aber der letztere das höhere Wesen ist, so müssem alle Eigenschaften und Funktionen des Einzelnen von ihm aus nicht [28] bloß beurtheilt, sondern auch bestimmt und ins Leben gerufen werden; nicht das Glück, nicht das Wohl des Einzelnen ist es, um das es sich zunächst handelt, auch nicht das der Mehrheit - lediglich das Bestehen, die Sicherheit und das Wohlsein des Ganzen; ihm muß alles, also auch das Leben des Einzelnen dienstbar gemacht werden.

Ziehen wir hieraus mit Plato streng die Folgerungen - Folgerungen, die um so unerschrockener sein mußten, je mehr unser Weltweiser den wirklichen Staat um sich her sinken sah und verachten lernte – wohin kommen wir da? Wir kommen auf einen Staat, in welchem die Philosophen regieren, und zwar mit unbedingter Machtvollkommenheit, ohne Verfassung oder sonstige Gesetzesschranken, gleichsam als die besonderen Organe und Handwerkszeuge der Staatskunst; wir kommen zu einem Staate, in welchem, als zweiter Stand neben den Philosophen, die Krieger, und zwar Männer wie Weiber, sich planmäßig während der ganzen Dauer ihres Lebens als „Wächter“ dem Schutze des Ganzen widmen; zu einem Staate, in welchem die große Masse der Gewerbe- und Landwirthschafttreibenden von jeder politischen Thätigkeit ausgeschlossen ist und lediglich der Nahrungs-, Kleidungs- und sonstigen Bedürfnißbeschaffung sich widmet, ohne jegliche sogenannte politische Rechte. Aber noch weiter. Da die Selbstsucht des Einzelnen der Grundlage des Staates, dem Prinzip des allgemeinen Wohlseins widerspricht, so darf auch der Besitz des Einzelnen nicht als störender Faktor, als Reizmittel der Selbstsucht wirken; er darf nicht über viermal größer sein als der irgend eines anderen, und ebenso darf der Besitz der Weiber und Kinder keineswegs vom Einzelnen aus, sondern nur vom Standpunkt der Gesammtheit aus beurtheilt und geregelt werden. Alle Verbindungen von Mann und Weib sind von der Obrigkeit unter dem beherrschenden Grundsatz anzuordnen, daß möglichst tüchtige Glieder des künftigen Staates daraus erwachsen; es ist also ebenso wenig eine eigentliche monogame Ehe nach der uns geläufigen Auffassung möglich wie die sogenannte „freie Liebe“. Die Kinder werden, ohne ihre Eltern zu kennen und kennenzulernen, von ihrer Geburt an in öffentlichen Anstalten erzogen, körperlich und geistig gleich zweckgemäß ausgebildet, die Mädchen nicht minder wie die Knaben in Musik und Gymnastik, in Mathematik und in Philosophie unterrichtet. Die aktiven Vollbürger, auch die Verheiratheten, speisen gemeinschaftlich auf Staatskosten, damit auch hierin deutlich zum Ausdruck komme: jeder Einzelne gehört bei all seinen persönlichen sonstigen Beziehungen nicht sich an, sondern dem Staate; „jedem gehört ausschließlich nur sein Körper, alle Vereinzelung könnte auflösend wirken“. Alles unnöthige Reisen ist daher möglichst erschwert, der Handel und mit ihm alle ihrer Natur nach beweglichen, dem bloßen Erwerb dienenden Thätigkeiten werden äußerst mißtrauisch überwacht. Wie die Zahl der Bürgerstellen (Grundbesitze) genau festgesetzt ist, und wie übermäßiges Anwachsen sowohl als Verödung im Inneren planmäßig verhindert werden soll, so werden auch die Einflüsse des Auslandes der genauesten Aufsicht unterworfen. Hier tritt der besondere hellenisch-nationale Untergrund im platonischen Staatsideale sehr stark hervor. Ausdrücklich wird versichert, daß der Staat, welchen Plato schildert und verlangt, ein hellenischer sein soll, und in einer besonderen Auseinandersetzung wird Anweisung gegeben, wie bei Kriegsfällen die „Wächter“ gegen Hellenen weit glimpflicher zu verfahren haben als gegen Nichthellenen. Den „Fremden“ werden die verächtlichen Erwerbsarten in Form von einzelnen Bewilligungen, aber nur für ganz bestimmte Fristen, überlassen; sobald sie jedoch die dritte Vermögensstufe erreicht haben, werden sie ausgewiesen, damit nicht der fremde Einfluß das Bestehen und die Geschlossenheit des Staates gefährde. Der Grundsatz der innerlichen Geschlossenheit des Staates geht sogar soweit, daß die Dichter um ihrer von dem reellen, sachlichen Denken und Handeln abführenden, schwächeren Geistern gefährlichen Phantasie willen der schärfsten Censur unterworfen werden, welcher sogar ein Homer nicht entgeht. Diese letztere Maßregel erklärt sich vielleicht dadurch, daß unter den Hauptanklägern des Sokrates ein gewisser Meletos, seines Zeichens ein junger „tragischer Dichter“, sich hervorgethan hat.

Platos Schriften enthalten bezüglich der praktischen Durchführung dieses Staatsideals viele Einzelheiten, die wir hier übergehen können. Doch tritt gerade das eigentlich „Volkswirthschaftliche“, die Durchführung der Ordnung des Besitzerwerbs, als eine Frage mehr untergeordneten Ranges zurück. Für den großen Griechen handelt es sich gar nicht etwa um die Frage der politischen, religiösen oder gar ökonomischen Gleichberechtigung der einzelnen Staatsbürger, sondern lediglich um den Begriff eines einheitlichen staatlichen Organismus und seine vollendete Darstellung. Die psychologischen Voraussetzungen sind ihm viel wichtiger als alles andere, und ganz besonders klar ist er sich über die Vorbedingungen, welche für jede praktische Durchführung seiner Gedanken unerläßlich sind. „Wofern nicht,“ so sagt er ausdrücklich im „Staat“, „entweder die Weisheitsliebenden in den Staaten als Könige herrschen, oder die jetzt sogenannten Könige und Herrscher in echter und genügender Weise wirklich die Weisheit lieben, und wofern nicht so beides, nämlich staatliche Macht und Weisheitsliebe, in Eins zusammenfallen, und wofern nicht jene große Menge von Begabungen, welche gegenwärtig voneinander getrennt je bloß den einen dieser Wege wandeln, nothwendig ausgeschlossen wird, giebt es kein Aufhören der Uebel für die Staaten und, glaube ich, auch nicht für das Menschengeschlecht; es wird auch wohl nicht eher diese Staatsverfassung, welche wir eingehend durchgesprochen haben, das Licht der Welt erblicken. Keine andere Staatsverfassung wird aber beglückend wirken, sei es im einzelnen oder im öffentlichen Leben.“

Die dreimalige Reise des großen Weltverbesserers nach Syrakus beweist, daß er den festen Willen hatte, die Tyrannis des Dionysius dort in die philosophische Herrschaft umzubilden, und wenn dies nicht gelang, ja wenn der Berather selbst beinahe als Sklave verkauft worden wäre, so konnte er wenigstens das Mißlingen eher auf das Nichtwollen eines „nicht weisheitsliebenden“ Tyrannen, als auf das „Nichtmöglich“ zurückführen.

Bei Plato begegnet uns zum ersten Male der planmäßig unternommene Versuch, das Wesen des staatlichen Zusammenlebens unter Benutzung der geschichtlichen Vorgänge zu schildern.

Die vier schlechten Staatssormen, die „Timokratie“, d. h. die Herrschaft der Ehrliebenden, der bloß Muthigen, die „Oligarchie“, d. h. die Herrschaft der Besitzenden, die „Demokratie“, d. h. die Herrschaft der Unweisen, und endlich die Herrschaft der Gewalt, die „Tyrannis“ – werden eingehend unter deutlicher Bezugnahme auf geschichtliche Vorbilder geschildert, und schließlich wird der sanfte Staat, der, in welchem die Geistesaristokratie herrscht, als der Staat der Gerechtigkeit bezeichnet. Dieselben Abwege, welche hier gezeichnet sind, werden auch dem Einzelmenschen bei seinem Ringen nach Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit und Gerechtigkeit gefährlich, aber es ist höchst bezeichnend für die Art des Denkens bei Plato, daß er nicht von dem Einzelnen auf den Staat, sondern umgekehrt von dem Staate auf den Einzelnen schließt, daß er rücksichtslos aus der Idee des Staates selbst heraus sein Bild aufbaut.

Es wäre gänzlich verkehrt, den Hellenen Plato dem Sozialismus oder Kommunismus zuzuweisen, so sehr oberflächliche Notizen aus dem Inhalt seiner Werke dazu aufzufordern scheinen. Nicht einmal ein Staatssozialist ist er gewesen, denn das Wirthschaftliche ist ihm, wie gesagt, vollkommen nebensächlich; die Kritik des Privateigenthums, die er angesichts der ausschreitenden athenischen Demokratie wie der spartanischen Oligarchie ausübt, hat für ihn durchaus keine grundlegende Bedeutung. Vielmehr tritt ein völliges Hintansetzen, ein offenes Verachten sämmtlicher Interessen des Einzelnen hervor, woran schon Aristoteles noch bei Lebzeiten Platos seinen Widerspruch geknüpft hat und was den Idealisten Plato auf eine ganz andere Seite stellt als den modernen Sozialismus und Kommunismus. Ein Staat, dessen Wesen, dessen ganzes Wohl und Wehe in den lebendigen Gedanken der Herrscher begründet, dessen Zukunft von der Selbstverleugnung und dem rücksichtslosen Aufgehen im Ganzen seitens aller Mitbürger abhängig gemacht war, ein Staat, welcher die Ungleichheit der Stände und der Personen in Rücksicht auf die Verwirklichung eines höheren Zweckes geradezu festlegte, ein solcher Staat hatte an sich schon sehr viel innere Verwandtschaft zu einem anderen, welcher bald ins Leben eintreten sollte. Die Herrschaft der Weisesten, sie ist nicht weit verschieden von einem Reiche des Weisesten, das platonische Staatsideal ist eine vorzügliche Vorbereitung für den christlichen „Reich Gottes“–Gedanken.




[29]
Eine Zauberwurzel.
Kulturgeschichtliche Skizze von Martin Beck.
Mit Abbildungen nach Originalaufnahmen der k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien.[1]

In Südeuropa, in den Ländern am Mittelländischen Meere, da wächst eine sehr giftige, zu der Familie der „Nachtschatten“ gehörende Pflanze, eine Verwandte unserer Kartoffel. Sie hat zarte, glatte Blätter von bleichgrüner Farbe und mit starken Adern durchzogen. Ungefähr eine Hand breit, sind diese Blätter ziemlich groß und mit kurzer stumpfer Spitze versehen. Sie wachsen sehr dicht und breiten sich ohne merklichen Stengel am Boden aus. Aus den langstengligen blaßgelben Blüthen entwickeln sich starkriechende safranfarbige Kugelfrüchte, welche kleinen Aepfeln ähneln und mit weißen platten Samenkörnchen gefüllt sind.

Zwei Alraunwurzeln mit ihren Gewändern aus dem Besitze Kaiser Rudolphs II.

Die Pflanze heißt Mandragora und ist dieselbe, die im Mittelalter einen so geheimnißvollen Zauberkreis um sich geschaffen hat.

Das graue Alterthum wußte noch nichts von übernatürlichen Kräften der Mandragora. Die Römer kannten wohl die Pflanze, sie benutzten ihre Wurzel als schlafbringendes und schmerzstillendes Mittel. –

„Gieb Mandragora mir zu trinken,
Daß ich die große Kluft der Zeit durchschlafe,
Wo mein Antonius fern ist!“

läßt Shakespeare die ägyptische Kleopatra der Sklavin zurufen, und ein Schlaftrunkener mußte sich wohl die Bemerkung gefallen lassen: „Du schaust ja aus, als hättest du Mandragora getrunken!“ Auch in Liebestränke mischte man gern den Saft. Aber nichts hören wir von den Fabelgespinsten, die in späteren Zeiten die Mandragora umwoben! Natürlich machten die Kräutersucher und Wurzelgräber auch damals schon ihren Hokuspokus mit der begehrten Pflanze, um ihren Preis zu erhöhen, Uneingeweihte abzuschrecken und nöthigenfalls eine Ausrede zu haben, wenn ihr Mittel einmal nicht die versprochene Wirkung that. Es war eben dann irgend ein Versehen untergelaufen. Das geht heute so, das war so in Rom und war so in Griechenland, wo der aufgeklärte Philosoph Theophrast, ein Schüler des Aristoteles, sich einmal darüber lustig machte. Noch der ältere Plinius, der dreihundert Jahre später seine Naturgeschichte schrieb, weiß nichts von den übernatürlichen Kräften, die in dem unscheinbaren, sonderbar verschlungenen Wurzelgebild schlummern sollten.

Aber doch schon zu seiner Zeit tauchen ersten Andeutungen auf.

„Glücksmännchen“ von Mariazell.

Ein etwas jüngerer Zeitgenosse des älteren Plinius war der Geschichtschreiber Flavius Josephus, der im ersten Jahrhundert n. Chr. zu Rom in griechischer Sprache und in römischem Sinne die Geschichte des jüdischen Volkes bis zur Zerstörung Jerusalems schrieb. Der weiß zu berichten von einer Zauberwurzel, die bei der Bergfestung Machaerus, östlich vom Toten Meere, heimisch war.

An der mitternächtlichen Seite, wo ein tiefer Schutzgraben um die Stadt lief, war ein Platz mit Namen „Baraas“. Dort wuchs die merkwürdige Pflanze, die denselben Namen führte. Feuerfarben war ihre Blüthe, und wenn man in der Dunkelheit auf sie zuging, so schimmerte sie wie der Blitz. Sie ließ sich aber nicht leicht ausgraben, sondern wich vor dem Ankömmling fortwährend zurück, bis dieser sie durch ein bestimmt vorgeschriebenes Mittel festbannte. Niemals aber durfte er sie berühren – es wäre sein Tod gewesen! Nur dann konnte er sie wegtragen, wenn er sie nicht unmittelbar mit der Hand anfaßte. Daneben aber gab es noch einen Weg, die lebensgefährliche Wurzel zu erlangen. Man mußte sie ganz und gar umgraben und nur ein kleines Ende von ihr im Erdreich stecken lassen. Daran band man einen Hund, der es, im Bestreben, seinem Herrn zu folgen, herauszog, aber augenblicklich daran sterben mußte. Er ist dem Tode verfallen an Stelle dessen, der die Wurzel ausgegraben hat, denn die Wurzel will ihr Opfer haben. Nunmehr kann man sie frei und gefahrlos berühren und mitnehmen. Giebt man sie einem Besessenen auch nur in die Hand, so müssen die bösen Geister alsbald von ihm weichen.

Das, was Josephus hier von der Wurzel „Baraas“ erzählt, deckt sich mit den Ceremonien, die man dann auch bei der Ausgrabung der Mandragora beobachtete. Aber erst aus dem Anfang des sechsten Jahrhunderts besitzen wir eine sichere Kunde, daß man die Mandragora als eine Zauberwurzel ansah, die unter so seltsamen Förmlichkeiten gegraben werden mußte. Damals wurde für die Kaisertochter Anicia eine schöne Abschrift der Werke des berühmten, ebenfalls im ersten Jahrhundert n. Chr. lebenden Botanikers Dioscorides hergestellt und, wie dies üblich war, mit [30] kunstvollen Miniaturen verziert. Auf einer Seite dieser Handschrift nun befand sich ein Bild, das den alten Gelehrten unter einer Säulenhalle auf goldener Kathedra im weißen Talare sitzend darstellte. Die „Heuresis“, die wissenschaftliche Forschung, überreichte ihm mit der einen Hand eine Mandragorapflanze, während sie mit der anderen Hand an einem Stricke den toten Hund hielt, der beim Ausziehen der Wurzel sein Leben verloren. Leider ist gerade dieses Blatt des sogenannten Codex Byzantinus eines der werthvollsten Schätze der Wiener Hofbibliothek, schon vor Jahren von einem verwegenen Liebhaber ausgerissen und durch eine flüchtige Kopie ersetzt worden; an Stelle der alten Miniatur sehen wir heute nur die roh gezeichnete Nachbildung jener Mandragorawurzel.

Zeichnung einer Mandragorapflanze in dem Codex Byzantinus der Wiener Hofbibliothek.

Im übrigen konnte sich der alte Dioscorides auch für jene ältere bildliche Darstellung schönstens bedanken. Er wußte nichts von dem Wunderkram, mit dem man die Mandragora umgab.

Worin aber lag nun das Geheimnißvolle, Uebernatürliche, das den sonderbaren Wurzelschößling zum Mittelpunkt einer abergläubischen Verehrung machte?

Mit einem Worte: man gab dem oft seltsam menschenähnlich gestalteten Wurzelstock auch menschliche Natur! Das ging so weit, daß man zwischen männlichen und weiblichen Mandragoren unterschied. Nicht etwa im botanischen Sinne, denn die Mandragora ist, wie die Mehrzahl der Blüthenpflanzen, eine Zwitterblüthe – sondern man faßte die stärkeren Exemplare der Gattung als männliche, die schwächeren als weibliche auf. So geschah es schon in einer noch etwas älteren Dioscorides-Handschrift, dem sogenannten Codex Neapolitanus, der sich ebenfalls auf der Wiener Hofbibliothek befindet. Hier sind zwei dieser Pflanzen mit Wurzeln, Blättern und Früchten abgebildet, von denen durch die griechische Unterschrift ausdrücklich die größere als männliche, die kleinere als weibliche Mandragora bezeichnet wird, während gleichzeitig die Umrisse der Wurzeln eine entsprechend unterschiedene Gestalt zeigen.

Abbildungen von Mandragorapflanzen in dem Codex Neapolitanus der Wiener Hofbibliothek.

Wohl zur Zeit der Völkerwanderung dringt nun die Sage von der Zauberwurzel und mit ihr sie selbst aus ihrer Mittelmeerheimat in die germanischen Länder ein. Man wandte sie hier zu denselben Arzneizwecken an wie jenseit der Alpen, man erzählte sich aber auch mit gläubigem Staunen von ihrer Wunderkraft.

„Alraun“ nannte sie der Deutsche, und wenn wir den Namen zu erklären versuchen, so gerathen wir auf die Bedeutung der „Alles raunenden“, der „Allwissenden“. Von einer sagenhaften germanischen Prophetin „Alruna“ wußte schon Tacitus zu berichten. Möglich aber auch, daß die Alraune sprachlich wie sachlich in Verwandtschaft stehen mit den „Alben“ oder „Elfen“, den Zwergen, Wichtelmännchen, Heinzelmännchen oder Heckemännchen des Volksglaubens. Wie diese, so entstammten auch die zauberkräftigen Wurzeln dem geheimnißvollen Reiche der Tiefe; mit ihren grobhaarigen Fasern, ihren Runzeln und ihrer oft recht seltsam gespaltenen Form glichen sie auch äußerlich jenen langbärtigen, greisenhaften Männchen, mit denen die geschäftige Phantasie des Volkes den Schoß der Erde bevölkerte.

Wie dem auch sei – der Besitz der Zauberwurzel galt als ein unschätzbares Gut. Sie brachte Glück und Reichthum dem, der sie im Hause hatte oder bei sich trug, wehrte Krankheit und alles Ueble von seiner Schwelle. Dafür war sie aber auch sehr selten! Angeblich wuchs sie nur unter dem Galgen – daher auch ihr Name „Galgenmännlein“ – und wenn man sie auszog, so schrie sie wie ein Kind. Wer sie gewinnen wollte, der mußte sich deshalb die Ohren verstopfen. Man trieb einen reinen Fetischdienst mit ihr, pflegte, kleidete und hütete sie wie ein geliebtes menschliches Wesen. Denn ihre Vernachlässigung brachte Unglück!

Kaiser Rudolph II. (1576 bis 1612), der bekanntlich eine lebhafte Neigung für alchimistische und astrologische Studien hatte, besaß zwei Alraune, die noch heute auf der kaiserlichen Hofbibliothek in Wien zu sehen sind. Sie haben rothseidene Hemdchen an und sollen ehemals in Särgen gelegen haben. Ihre Namen sind Marion und Thrudacias. Kopf, Rumpf und zerfaserte Glieder sind plump unterschieden ebenso Augen, ein häßlicher breiter Mund und eine plattgedrückte Nase im fratzenhaften Gesicht. Allmonatlich, im zunehmenden Monde, wurden die rauhhaarigen, zusammengeschrumpften Dinger gebadet. War dieses Bad einmal vergessen worden, so sollten sie wimmern und schreien wie kleine Kinder, bis das Versäumte nachgeholt war.

Aus Frankreich und Italien bezog man die meisten Alraune; für die besten galten die von Montpellier in Südfrankreich und die vom Apennin. Eine echte Mandragorawurzel war natürlich schon dort ein recht theures Vergnügen. Vollends aber nördlich der Alpen, wo sie im Freien nicht mehr fortkam. Indessen, die Industrieritter des Aberglaubens in Deutschland wußten sich zu helfen! Kräutermänner, Landstreicher, fahrende Schüler und dergleichen Leute schnitten aus Zaunrüben und Kalmuswurzeln menschenähnliche Figuren, steckten keimende Gerstenkörner hinein, damit rauhe Borsten zum Vorschein kamen, und brachten diese Schwindeleien für gutes Geld an den Mann.

Es gab aber auch stets vernünftige Leute, welche die Abergläubischen auslachten oder wenigstens ihren Unsinn nicht mitmachten. Der wackere Petrus de Crescentiis, der 1518 in Straßburg ein Werk drucken ließ „Von dem nutz der ding, die in äckeren gebuwt werden“, hat zwar vor den medizinischen Wirkungen der Alraunwurzel allen Respekt und weiß in dieser Beziehung allerlei Rath für ihre Verwendung zu ertheilen. Diejenigen aber, welche die Wurzel zu menschlichen Figuren zuschneiden und damit, besonders bei den Frauen, gute Geschäfte machen, erklärt er kurzweg für Betrüger.

Während des Dreißigjährigen Krieges und in den trostlosen Jahren, die ihm folgten, blühte der Weizen für die Alraunhändler am üppigsten. Das verarmte Volk suchte sich eben durch jedes Mittel wieder aus dem Elend emporzubringen, und da es während der langen Zeit der Noth und Verwilderung in seiner geistigen Bildung tief gesunken war, so griff es urtheilslos nach allem, was ihm Hilfe versprach. Noch im Jahre 1675 erhandelte ein Leipziger Bürger vom Scharfrichter ein Alraunmännchen für 64 Thaler! Wenn der gute Mann heute noch lebte, so würde [31] er sich wahrscheinlich für dieses Geld ein Lotterielos kaufen, und er hätte dabei vielleicht etwas bessere Aussicht auf Gewinn als mit seinem runzligen Wurzelmännchen.

Der mystische Ruf des Alrauns verlor sich früher als der medizinische, und auch der letztere blieb nicht unangefochten. Denn schon um 1700 erging ein Verbot, die Mandragora als schmerzstillendes Mittel bei Operationen zu gebrauchen; sie war zu lebensgefährlich, und viele mögen aus der Betäubung durch dieses Mittel niemals wieder erwacht sein! In anderen Verwendungen, als Schlafmittel z. B., fristete sie noch einige Zeit ihr Dasein; Alraunöl sollte immer noch gut sein zur Erweichung von Geschwülsten, ja, man empfahl den Apothekern, die Alraunsalbe alljährlich frisch von Montpellier kommen zu lassen, da sie sonst ihre Kraft verliere.

Indessen, der Aberglaube ist zäh. Noch im Jahre 1704 wußte der Gießener Arzt und Universitätsprofessor Valentini in seiner „Natur- und Materialienkammer“ von Aberglauben und Hexereien zu erzählen, die mit der Alraunwurzel getrieben wurden. „Scheinet noch von den Heyden her gekommen zu seyn,“ meint er, „bei welchen die Circe sich dieses Gewächses auch soll bedient haben, weswegen es auch ‚Circaea‘ genennet wird. Vor einigen Jahren hab dergleichen Männlein bey Herrn Peikenkamp, einem sehr kuriosen Physico zu Marburg, gesehen, so auff der Cantzley einem verdächtigen Mann war abgenommen worden, welchem es Geldt soll gebracht haben. Allein dem ehrlichen Herrn Peikenkamp wollte es nichts bringen, indem er mit dem armen Teuffel nichts zu thun hatte.“

Ja, selbst in unseren Tagen ist im Volke noch ein Nachhall von dem Glauben an die Alraunmännchen lebendig. Die untere Abbildung auf S. 29 stellt ein paar Alraunwurzeln dar, wie solche gegenwärtig unter dem Namen „Glücksmännchen“ im Wallfahrtsort Mariazell in Steiermark verkauft werden. Die Wallfahrer pflegen dieselben weihen zu lassen und betrachten sie als glückbringend. Und am Johannistag suchen abergläubische Landleute auf feuchten Waldwiesen heimlich nach dem dort wachsenden „Gefleckten Knabenkraut“, auch „Ragwurz“ genannt (Orchis maculata L.). Seine fingergliedgroße Wurzelknolle ist handförmig gespalten. Die graben sie zur Mittagsstunde schweigend mit einem Messer aus und legen sie in ein leinenes Tuch, das zugenäht wird. Mit der Hand darf die Wurzel ja nicht berührt werden! Sie wird sodann im Hause aufbewahrt oder am Leibe getragen, mit Vorliebe im Geldbeutel – denn diesem soll sie, wie die Alraunwurzel, in erster Linie Vortheil bringen. Und es ist ja auch gar kein Zweifel, daß sich beide in Beziehung auf ihre Wirkung vollkommen gleichwerthig sind!

Eine Zauberhand giebt es freilich, die dem, der sie besitzt, mit Sicherheit Glück, Zufriedenheit und damit wahren Reichthum bringt: das ist die geschickte und arbeitsame Menschenhand! Und wer sie hat, der braucht damit nicht heimlich zu thun, sondern kann stolz darauf sein. Schon das ist ein Vorzug vor jener anderen – der Wurzelhand.




Auf Geben und Nehmen.

Novelle von Johannes Wilda.
(1. Fortsetzung.)


Herr Jaspersen trat unter die Hausthür. „Mutter!“ rief er hinein, „bring doch ’mal ein bißchen Honig und etwas dazu, wir haben einen Gast!“

Gleich darauf erschien eine schlicht gekleidete Dame; als sie den Fremden erblickte, machte sie schleunigst kehrt, kam aber gleich darauf zurück; sich im Gehen glättend über das Haar streichend. Herbert bemerkte, daß sie die Schürze gewechselt hatte.

„Meine Frau,“ stellte der Lehrer vor.

Die bewegliche Dame, die nicht minder freundlich dreinschaute als ihr Gatte, reichte dem Lieutenant mit unbefangener Natürlichkeit die Hand, und dieser erwiderte den herzlichen Druck nicht ohne Verlegenheit.

„Und hier, das ist Herr -“ der Lehrer sah Herbert fragend an, worauf dieser mit einer Verbeugung ergänzte: „Ich heiße Gebhardt.“

„Marinelieutenant, nicht wahr?“ fuhr Jaspersen gemüthlich fort, denn er hatte den Beruf des Fremden trotz des Civils bald herausgefunden.

„Ja, Lieutenant zur See.“

„Also der Herr Lieutenant will unseren Honig ’mal versuchen, Mama. Aus der langen Kruke auf dem linken Bord, weißt Du!“

Frau Jaspersen holte den Honig und setzte dann nicht ohne gesellschaftliche Gewandtheit das Gespräch mit dem Gaste fort. Sie besaß entschieden mehr Form als der Gatte, ohne doch der Behaglichkeit zu entbehren; dabei lag etwas in ihren feinen Zügen und schönen Augen, was auf die Tochter vererbt sein mochte.

Ja, die Tochter, wo blieb die nur? Aus der unbefangenen Art, mit der er hier aufgenommen wurde, glaubte Herbert mit Sicherheit schließen zu können, daß Hilde nichts verrathen hatte, und dieweil er geruhig seinen Honig verzehrte, schwellte wieder ungetrübte Kühnheit seine Brust. Jetzt wollte er unbedingt bleiben, bis sie käme! Wenn sie doch bald käme! – –

Während Herbert nun im Laufe der Unterhaltung durch seine ungezwungene frische Art das Herz seiner Gastfreunde im Sturme gewann, that eine andere wichtige Persönlichkeit ebenfalls das Ihrige, um das Netz der Verwicklungen fester zu knüpfen.

Hilde hatte eine jener unruhigen Nächte hinter sich, wie sie junge Mädchen zuweilen verbracht zu haben glauben. Sie seufzen anfänglich viel und behaupten dann, infolgedessen kein Auge geschlossen zu haben, obgleich Mond und Sterne ihre herzliche Freude an den gesunden lieblichen Schläferinnen hatten.

Mit dem Bewußtsein, ein schweres Geheimniß vor den Eltern zu verbergen, war Hilde gestern abend zur Ruhe gegangen. Aber konnte sie ihre Schmach irgend jemand mittheilen? Ein wildfremder Mann, ein Offizier, hatte sie geküßt – großer Gott, wenn das ruchbar wurde, so durften alle Leute mit Fingern auf sie zeigen!

Und als sie sich dann in erregtester Stimmung auskleiden wollte, hatte sie sich an einem spitzen Gegenstand heftig geritzt. Bei vorsichtigem Schütteln war dieser Gegenstand, der sich zu ihrem Schrecken als eine kostbare reizende Herrennadel erwies, auf den Fußboden ihres Giebelkämmerchens gefallen. Aengstlich hatte sie das Schmuckstück aufgehoben. Wie kam sie zu der Nadel? War diese bei dem frechen Ueberfall zufällig an ihr haften geblieben oder hatte der Unbekannte die Unverschämtheit soweit getrieben, sie ihr als Geschenk zuzustecken? Mit einer heftigen Bewegung hatte sie das gefährliche Ding in die Ecke geworfen.

Nachdem Hilde dann Schlummer gefunden, träumte ihr, daß unabsehbare Scharen von Marineoffizieren auf sie eindrängen, die alle sie küssen wollten, wobei jeder eine Ankernadel wie einen Dolch gegen sie zückte. Sie wies die Zudringlichen kräftig zurück, nur ein Einziger schaute sie, als er vor ihr stand, so demüthig bittend an, daß sie nicht wagte, ihn abzuwehren. Dieser Traum spann sich bis zum Morgen fort. Da erwachte sie, weil ihr die Sonne hell ins Gesicht schien, und mit zorniger Scham ward sie sich bewußt, daß der Einzige, dem sie in ihrem Traume die Annäherung verstattet, gerade die Züge des schrecklichen Mannes getragen hatte, der sie so unglücklich gemacht, den sie haßte, verachtete.

Und kaum hatte sie sich erhoben und zum Frühstück in den Garten begeben, da wartete ihrer eine neue Ueberraschung. Ein Dorfjunge überbrachte ihr das Buch, das sie gestern bei ihrer hastigen Flucht zurückgelassen hatte, und als sie es aufschlug, hätte sie es vor Schrecken beinahe fallen lassen. Der Unverschämte! Dieser Fremde wagte es, auf einem Blatte, das hier in jedermanns Hände kommen konnte, sie um Verzeihung zu bitten und gar noch eine Blume dazuzulegen. Schon war sie entschlossen, das Blättchen zu zerreißen und die Blume fortzuwerfen, da besann sie sich eines anderen – sie legte beides in das Buch zurück und trug es in ihr Zimmerchen.

Dort ging sie mit sich selbst zu Rathe. Was sollte sie thun, was sollte sie vor allem mit dieser unglückseligen Nadel beginnen? Behalten konnte sie dieselbe ja doch unmöglich! Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Wenn sie den Anker zu der Bank droben zurückbrachte, dann war sie aller Verantwortung enthoben; mochte dann damit geschehen, was da wollte!

[32] Zu ihrer Beunruhigung wurde Hilde aber den ganzen Vormittag von der Mutter in Anspruch genommen und erst in den späteren Stunden des Nachmittags, als die häuslichen Arbeiten erledigt waren, fand sie Zeit, zu der Unglücköstätte zurückzukehren. Vorsichtig um sich spähend wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, schlich sie auf einem weiten Umweg zu der Strandhöhe hinauf.

Ihr gestriger Ruheplatz lag einsam und friedlich da, nichts Verdächtiges regte sich. So wagte sie denn, näherzutreten, und war schon im Begriff, die Nadel mit den verschlungenen Buchstaben H. G. ihrem Vorsatz gemäß auf die Bank zu legen, als von der Bucht herauf leise aber deutlich ein Pfeifen an ihr Ohr drang, das die berühmte Weise „Ach, du lieber Augustin“ zum besten gab. Spähend trat Hilde vorwärts bis an einen Punkt, der einen Ausblick gestattete. Sie erblickte unten ein reizendes Lustfahrzeug und darin einen weißgekleideten Marinematrosen, der auf dem Dache der Kajüte saß, eine Arbeit in den Händen und dabei unverdrossen seine schöne Melodie pfeifend.

Er war allein. Keine Seele sonst weit und breit! Das Köpfchen des Mädchens wurde von den verschiedensten Gedanken durchkreuzt. War das Boot heute da, so hatte es auch gestern da sein können, und dann gehörte es sicherlich ihm. Und wie gestern, so war wohl auch heute der Besitzer des Fahrzeugs fortgegangen um – ja, was mochte er heute im Schilde führen? Wollte er am Ende gar sie selber suchen?

Ein Lächeln, ein drollig triumphierendes, kindliches Lächeln flog über ihr rosiges Gesicht. Mochte er suchen! Sie steckte einstweilen im sicheren Busch! Aber wie wär’s denn, wenn sie da drunten die Nadel anbrächte? Diese war doch eigentlich zu kostbar, um sie einem Zufall preiszugeben. Und dann – wenn sie je ein dreistes Geschenk hatte sein sollen, so mußte die Rückgabe dem ungebetenen Spender ein höchst niederdrückendes Gefühl bereiten ! –

Der gute Frettwurst pfiff ahnungslos immer noch weiter, als plötzlich ein zierliches Mädchen auf den Steg getrippelt kam, Ueberrascht blickte er auf und musterte eingehend die unerwartete Erscheinung. „Ein mobiles Frauenzimmerchen!“ dachte er. „Und eine Dame – oder wenigstens bald eine,“ fuhr er mit stiller Hochachtung in seinen Gedanken fort.

Hilde hatte eine hoheitsvolle Miene aufgesetzt. Zunächst schlenderte sie bis zum Ende des Stegs, als ob Frettwurst nebst seiner „Bachstelze“ sie nicht das Geringste anginge. Nachdem sie dann eine Weile mit erhobenem Näschen über das Hafenbecken geschaut hatte, drehte sie sich um und zurückwandernd, dem Matrosen fast unmerklich zunickend, blieb sie vor dem Fahrzeug stehen.

„Hübsches Boot, die ‚Bachstelze‘!“ sagte sie nachlässig.

Dieser Gnadenbeweis veranlaßte den höflichen Frettwurst, an seine Mütze zu greifen. „Das will ich meinen!“ erwiderte er. „Wir sind auch bannig stolz auf ihr!“

„Wir? Was heißt ‚wir‘?“

„Mein Herr Lieutenant und ich,“ erwiderte Frettwurst selbstbewußt.

„Wer ist Ihr Herr Lieutenant?“

„Herr Lieutenant zur See Gebhardt.“

Hilde durchzuckte es bei dem Anfangsbuchstaben des Namens. „Was machen Sie da?“ fragte sie ablenkend, auf die räthselhafte Arbeit in Frettwursts Händen deutend.

„Ich sticke eine Decke für die Kajüte. Sie wird fein, nich?“ Damit breitete er das Kunstwerk vor ihr aus; es stellte eine über blaues Meer segelnde Brigg dar und war ganz aus zusammengestoppelten Wollresten gearbeitet.

Hilde legte kritisch die Hände hinter dem Rücken übereinander. „Allerliebst! Ihr Herr wird sich freuen.“

Frettwurst neigte überzeugt das Haupt.

Einen ängstlichen Blick nach dem Ufer werfend und dann unter halbgeschlossenen Wimpern kühl auf den Matrosen schauend, fuhr die junge Dame fort: „Also Gebhardt heißt Ihr Herr Lieutenant. Ich glaube, ich habe ihn schon gesehen. Wie lautet denn nur gleich sein Vorname? Fängt er nicht mit einem ‚H‘ an?“

„Gewiß, mit ’n ‚H‘; Herbert heißt er. Einen besseren Herrn giebt’s in die ganze Marine nich. Sie mögen ihn alle leiden!“

Hilde zuckte die Achseln. „Waren Sie gestern abend auch hier?“ fragte sie nach einer kleinen Pause weiter.

„Natürlich waren wir hier.“

„So? Dann ist Ihrem Herrn vielleicht hier herum eine goldene Nadel abhanden gekommen?“

Seine Arbeit fortwerfend, sprang der Bursche auf die Füße. „Jawoll! Oben bei die große Buche! Haben Sie ihr da gefunden?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie ist also wirklich verloren gegangen?“

„Na, sonst hätten wir doch nich so lang nach ihr rum gesucht! – O ja, Sie haben ihr! War sie doch bei die Buche? Geben Sie ihr man gleich her! Da wird sich mein Lieutenant aber höllisch über freuen!“

„Nur langsam! Ich habe noch gar nichts gesagt!“ wehrte Hilde ab. „Ehe die Nadel überhaupt gezeigt wird, müssen Sie mir fest versprechen, Ihrem Herrn Lieutenant zu verschweigen, wie und durch wen sie zurückgelangt ist. Wollen Sie das?“

Frettwurst machte ein bedenkliches Gesicht. „Wenn er mir nu aber fragt?“ meinte er.

„Was Sie dann erwidern wollen, ist Ihre Sache! Wenn Sie mir aber das Versprechen nicht geben, so bekommt Ihr Herr die Nadel nicht zurück, darauf können Sie sich verlassen!“

Der große Bursche schaute hilflos in die Richtung des Dorfes. Anfassen und festhalten? Aber das durfte er doch wohl nicht mit ’ner Dame!

„Na,“ entschied er sich nach schwerem Besinnen, „dann will ich es man lieber versprechen.“

„Also auf Ihr Wort?“

„Auf Wort, Fräulein!“

„Schön!“ entgegnete das junge Mädchen erleichtert, „hier ist die Nadel!“

Frettwursts ehrliche Augen leuchteten, als er das Kleinod in Empfang nahm. Hilde sah ihn durchbohrend an und legte den Finger auf den Mund. „Wer sein Wort bricht, hat seine Ehre verloren!“ Damit wendete sie sich um und schritt mit demselben feierlichen Ernst, mit dem sie vor Frettwurst aufgetaucht war, die Anhöhe hinauf. Sobald sie jedoch durch die Büsche den Augen des Matrosen verborgen war, begann sie zu rennen, als ob der Feind ihr auf den Fersen wäre.

Frettwurst aber widmete sich mit getheilten Gefühlen wieder seiner Wollstickerei; ihm war zu Muth, als habe er dem Teufel für irdisches Glück sein unsterbliches verkauft. –

Freudig bewegt über den gelungenen Anschlag, stürmte Hilde ins Dorf und in den elterlichen Garten hinein; wie ein Wirbelwind fuhr sie um die Hausecke herum und – starr wurzelte ihr Fuß am Boden!

Dort vor ihr – sie traute ihren Augen nicht – dort saß der Frevler selbst! Und Vater und Mutter saßen friedlich neben dem gräßlichen Menschen, den sie trotz seiner Civilkleidung auf der Stelle erkannt hatte. Keines Wortes mächtig, stand sie mit gesenkten Augen da.

Herbert, der sich erkannt sah, fühlte, wie ihm das Herz zum Zerspringen klopfte. Aber nachdem der erste Schreck verflogen war, hing sein Auge wie gebannt an der liebreizenden Erscheinung. Und auf diesen Lippen hatten gestern die seinen geruht!

Die ahnungslosen Eltern hielten die Befangenheit ihres Lieblings für die Wirkung der Verlegenheit, sich so als tollenden Unband vor einem wildfremden jungen Mann eingeführt zu haben.

„Meine Tochter Hilde“, sagte der Lehrer mit behaglicher Handbewegung, um der Verwirrung seines Kindes zu Hilfe zu kommen. Und die Mutter bemerkte entschuldigend zu dem Gaste, der rasch aufgesprungen war: „Sie ist noch so jung und Fremden gegenüber so leicht verlegen, obgleich sie mehrere Jahre in der Stadt erzogen wurde.“

Fassunglos, noch immer mit niedergeschlagenem Blick, trat Hilde ein paar Schritte näher zum Tische. Da indessen Herbert seinen Platz nicht wieder einnahm, solange sie stand, so war sie genöthigt, sich ebenfalls am Tisch niederzulassen.

„Du siehst bleich aus, Hilde – bist Du nicht wohl?“ fragte nun die besorgte Mutter, welcher jetzt doch das veränderte Benehmen ihrer Tochter auffiel.

„Nichts von Bedeutung, Mama! Kopfweh –“

Herbert spürte einen Stich in der Brust. „O, das thut mir sehr leid!“ fiel er herzlich ein. „Hoffentlich wird es bald vorübergehen!“

Hilde neigte den Kopf noch tiefer. „Es ist schon wieder vorbei,“ erwiderte sie mit verschleierter Stimme.

Jetzt begann der Lehrer das so plötzlich unterbrochene Gespräch über Tiefseemessungen wieder aufzunehmen. Allein die

[33]

Ziethen-Husaren auf dem Patrouillenritt im Winter 1870.
Nach einem Gemälde von E. v. Eschwege.

[34] Theilnahme seines Gastes war sichtlich erlahmt. Unaufhörlich suchten dessen Augen ein Zeichen der Verständigung aus denen des stumm dasitzenden Mädchens zu erhaschen – vergebens!

Frau Jaspersen hatte sich einen Augenblick entfernt. Als sie jetzt vom Hause her ihren Mann zu sich rief, benutzte Herbert den günstigen Augenblick, um seiner Nachbarin zuzuflüstern: „Tausend Dank für Ihr Schweigen! Verzeihen Sie mir! Bitte, bitte!“

Die dunkeln Wimpern hoben sich; ein rührend vorwurfsvoller Blick streifte ihn, ein Blick, so erfüllt von Qual und Scham, daß es ihm ordentlich ins Herz schnitt. Er wollte fortfahren, aber Herr Jaspersen kehrte zurück und rief schon von weitem:

„Hilde, Mama will Dich sprechen!“

Wie ein Pfeil schoß das Mädcheu davon, offenbar froh, einen Anlaß zum Verschwinden gefunden zu haben.

Als sie gar nicht wiederkam und es Herbert endlich doch zu unpassend erschien, den ersten Besuch noch länger auszudehnen, schickte er sich zum Gehen an, die Aufforderung des Lehrers, an dem bescheidenen Abendbrot theilzunehmen, höflich ablehnend. „Aber gern werde ich ein andermal kommen, wenn ich nicht lästig falle,“ erklärte er.

„Es wird uns eine Freude sein, Herr Lieutenant, wenn Sie die Bekanntschaft mit uns einfachen Leuten fortsetzen wollen. Ich verkehre sonst nur mit meinesgleichen oder doch nur mit Leuten von einfach bürgerlichen Sitten, sehne mich auch nicht über diesen Kreis hinaus – man hat so seinen Stolz, Herr Lieutenant! Allein hie und da thut es doch gut, mit einem Manne aus anderer Welt ein Stündchen zu plaudern, besonders wenn dieser fast aller Herren Länder gesehen hat und so frisch davon zu erzählen weiß wie Sie!“

Auch Frau Jaspersen kam noch einmal herbei, um sich zu verabschieden. Da die Eltern der Tochter keine Erwähnung mehr thaten, so bat Herbert nur kurz, ihr seine Empfehlung ausrichten zu wollen, und dann ging er.

Mit welcher Fülle von Empfindungen begab er sich wieder zum Strande! Dieser Erfolg seines Streifzuges übertraf alle Erwartungen, die er an sein Abenteuer geknüpft hatte, und doch mischte sich seiner freudigen Erregung ein bitterer Tropfen bei. Was hatte er dem Mädchen zugefügt und wo sollte die Geschichte hinaus?

Erschien er sich selbst als ein Verwandelter, während er auf der „Bachstelze“ zu seinem Schiffe zurückfuhr, so kam ihm Frettwurst erst recht sonderbar vor. „Frettwurst!“ rief er, „hat Sie denn ein altes Weib behext, daß Sie mich fortwährend wie das leibhaftige Geheimniß anstarren?“

„Ne, Herr Lieutenant, behext bin ich nich. Ich wollte nur melden, daß wir ihr wieder haben.“

„Wen?“

„Das da!“

„Donnerwetter!“ rief Gebhardt vergnügt. „Die Nadel! Wo war sie denn? Also doch im Boot?“

Frettwnrst zog kläglich lächelnd Augenbrauen und Schultern in die Höhe und wand sich, als ob er Magenschmerzen habe.

„Was sollen denn die Possen, Frettwurst? Rasch antworten Sie!“

„Sie lag unter die Fußleiste, Herr Lieutenant.“

„Na, hören Sie mal, dann müssen Sie aber gestern höchst oberflächlich gesucht haben. Das ist mir ja ganz neu bei Ihnen!“

Gleich einem Schulkind erröthend, senkte der Matrose den Kopf. Zum ersten Male hatte er seinen Lieutenant angelogen!

Herbert aber dachte längst nicht mehr an die Nadel und Frettwursts Mangel an Diensteifer, als die „Bachstelze“ unter dem glitzernden Sternenhimmel, eine schimmernde Spur im phosphorescierenden Seewasser hinter sich lassend, auf die „Preußen“ zurauschte. Hatte heute das Glück, von dem er geträumt, seine Stirn berührt, oder war auch dies nur eine flüchtige Täuschung?




2.

Einige Tage waren seit jenem ersten Besuch im Schulhaus vergangen, als Herbert den Garten des Herrn Jaspersen wieder betrat. Zu seiner freudigsten Ueberraschung fand er nur Hilde daheim, die, mit einer Stickerei beschäftigt, unter der Linde saß; ihre Eltern waren weggegangen, um einen längeren Besuch im Dorfe abzustatten.

Der Schreck des jungen Mädchens, den Gegenstand ihrer unaufhörlichen bangen Träume leibhaftig vor sich zu sehen, war kein geringer. Da stand er wieder, dieser Mann, mit dem sie durch ein Geheimniß verbunden war, um das als dritter nur noch der liebe Gott wußte und der vermuthlich, ohne es zu billigen! Aber hätte sie, nachdem sie zuerst aus Scham stumm geblieben war, überhaupt noch reden dürfen, während er doch so flehentlich ihre Verschwiegenheit angerufen hatte? Ach, welch schreckliche Konflikte gab es doch im Leben!

Sie wagte dem gefährlichen Manne, der auf ihre schüchterne Einladung hin mit einer Verbeugung neben ihr Platz genommen hatte, nicht ins Auge zu schauen; dafür streifte ihr scheuer Blick den oberen Theil seiner Brust. Dort auf der Kravatte saß sie wirklich – die goldene Nadel! Hatte der Bursche sein Versprechen gehalten oder am Ende doch geplaudert?

Diese Frage, die sich Hilde immer wieder stellte, war nicht geeignet, ihre Befangenheit zu vermindern, und auch Herbert fand seine gewohnte Sicherheit nicht. So saßen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander, beide in Gedanken bei demselben Augenblick verweilend, der sie einander nahegebracht hatte, um sie klaftertief zu scheiden, und den sie beide durch eine offene Aussprache gern aus der Welt geschafft hätten. Doch keines wagte, davon anzufangen, und als endlich eine Unterhaltung in Gang kam, da waren es Erörterungen, die sich so weit wie möglich von dem entfernten, was man zu sagen wünschte. Dann trat wieder eine Pause ein. Um die Lindenblüthen tummelten sich die Bienen, mit ihrem träumerisch behaglichen Summen die laue Luft erfüllend. Das Laub überschattete den Tisch, nur ab und zu, wenn ein leiser Windhauch die Blätter bewegte, tanzte ein verlorener Sonnenstrahl über den Kies.

Herbert lehnte sich sinnend in den Gartenstuhl zurück und begann mit einem Lindenzweig zu spielen, die Augen unverwandt auf das junge emsige Mädchen gerichtet, das den Kopf anmuthig gesenkt hielt und sich mit einer auffallenden Hingebung ihrer Handarbeit widmete. Wie mädchenhaft sie war, und wie unnahbar, wie fern sie vor ihm saß! Ihm war, als könnte er niemals wagen, ohne ihren Willen auch nur an den Saum ihres Kleides zu rühren. Und doch hatte er diesen ernsten Mund schon geküßt!

Aber gewaltsam riß er sich aus seinen Gedanken empor – es mußte etwas geschehen, um dieses Stündchen ungestörten Zusammenseins, wie es vielleicht nicht mehr wiederkehrte, auszunutzen.

„Fräulein Jaspersen –“ begann er plötzlich. Als Hilde den feierlichen Ton vernahm, versuchte sie schleunigst, einen abweisenden strengen Ausdruck in ihre Haltung zu legen, mit sehr schwachem Erfolg, denn ihr Gegenüber fuhr unbeirrt fort: „Fräulein Jaspersen, ich bin bisher nicht dazu gekommen, Sie in geziemender Weise um Vergebung zu bitten für meine unverzeihliche Frechheit. Das soll hiermit geschehen. Also, es thut mir schrecklich leid, daß ich – nein, lügen kann ich nicht! Es war doch zu schön, als daß ich die That ungeschehen machen möchte! Aber ich fühle trotzdem Reue! Wahrhaftig, glauben Sie mir es nur, so widerspruchsvoll es klingt! Ja, ich empfinde um so mehr Reue, als Sie mich durch Ihr großmüthiges Schweigen tief beschämt haben.“

Hilde wußte nicht, was thun. Sie zupfte an ihrer Stickerei herum und kämpfte mühsam gegen die Thränen, ohne es verhindern zu können, daß endlich zwei große Tropfen über ihre Wangen rannen. Sie warf ihm einen herzzerreißenden Blick zu. „Und nicht einmal schmerzlich ist es Ihnen!“ schluchzte sie.

Herberts Herz wurde weich wie Wachs. Ruckweise schob er sich mit dem Stuhle näher.

„Liebes, liebes Fräulein, weinen Sie nur nicht! Eine Schande ist’s doch nicht; wenigstens nicht für Sie! Ebenso wie Sie geschwiegen haben, schweige ich auch. Niemand außer uns beiden soll je davon erfahren! Und dann – o Fräulein Hilde, wenn Sie sich selbst hätten sehen können, ich schwöre darauf, Sie würden auch nicht widerstanden haben, Sie hätten sich selbst küssen müssen! So hinreißend lieblich sahen Sie aus, ganz wie ein Dornröschen! Sehen Sie, das ist der Fluch dieser Kindermärchen, daß man sogar als erwachsener Mensch ihrem Einfluß sich nicht zu entziehen vermag. Und das ist doch auch nicht meine Schuld, daß ich kein Theewasser, sondern warmes jugendfrisches Blut in meinen Adern habe. Was können Sie für Ihre Lieblichkeit? Nichts! Was kann ich dafür, daß meine moralische [35] Festigkeit vor ihr wie Schnee an der Sonne geschmolzen ist? Nichts, ober wenigstens – nicht viel! Aber unrecht war’s doch! Weil Sie weinen, weil ich sehe, wie bekümmert Sie die That gemacht hat, deshalb war es unrecht! Und ich will alles, alles thun, um es wieder gut zu machen, wenn Sie nur den Kummer vergessen, Ihre Zurückhaltung aufgeben und unbefangen mit mir verkehren wollten!“

Hilde fand keine Antwort, seine treuherzigen Worte hatten sie ganz entwaffnet. Sie duldete, daß er ihre Hand ergriff, und als er dieselbe, durch ihr Schweigen ermuthigt, an die Lippen preßte, da duldete sie es wieder. Aber im gleichen Augenblick zuckte sie auch schon tief erröthend zusammen und entzog ihm hastig die Hand. Dann erwiderte sie bestimmten Tones: „Gut, Herr Lieutenant, ich bin Ihnen nicht mehr böse. Dafür müssen Sie aber von jetzt an ganz ernsthaft gegen mich sein! Wollen Sie das versprechen?“

„Aus tiefstem Herzen, Fräulein Hilde! Allein wieso soll ich denn ernsthaft sein?“

„Sie sollen mit mir nicht anders verkehren wie mit jedem anderen jungen Mädchen. Sie sollen sich vor allen Dingen nicht mehr meiner Hand bemächtigen, mich auch nicht ‚Fräulein Hilde‘ nennen. Dann soll alles vergeben und vergessen sein und,“ schloß sie mit Würde, „dann kann auch ich Sie im Hause meiner Eltern als Gast willkommen heißen!“

Um ein Haar hätte Herbert schnurstracks das gethan, was ihm eben verboten worden war. Er griff nach ihren Fingerchen als diese jedoch eine schleunige Rückzugsbewegung machten, besann er sich und legte seine Hände fest ineinander, damit sie nicht gleich wieder Unfug anrichteten.

„Es ist ja schwer, unendlich schwer, was Sie mir da auferlegen!“ rief er. „Doch Sie haben wohl recht, ich muß mir Ihr Vertrauen erst verdienen, Fräulein Jaspersen! Fortan werden Sie den ehrerbietigsten Kavalier in mir finden, der ohne Ihre Zustimmung die Grenze der Form nicht einen Finger breit überschreiten wird! Aber –“

„Kein ‚Aber‘!“ sagte Hilde ernst. „Eine solche Zustimmung werden Sie niemals erhalten, da Sie Offizier sind und ich –“ Sie erröthete wieder und brach ab

„Ach was, Offizier! Ich bin der Sohn eines Geistlichen; Pastor und Schulmeister aber gehören in dieselbe Klasse! Doch lassen wir das! Mein Wort werde ich jedenfalls halten. Und nun geben Sie mir noch einmal die Hand zum Zeichen, daß unser Vertrag geschlossen ist!“

Hilde that es und erwiderte leise seinen festen Druck; dabei wandte sie den Blick ab, um seinem Auge nicht zu begegnen.

Als er endlich ihre Hand freigegeben hatte, fragte er: „Sind Sie eine Freundin des Segelsports, Fräulein Jaspersen?“

Hilde bejahte eifrig.

„O, dann müssen wir – Ihre Eltern natürlich eingeschlossen – miteinander segeln! Wollen Sie?“

„Wir haben kein Boot!“

„Dafür lassen Sie mich sorgen! Sie sollten einmal meine ‚Bachstelze‘ sehen! Sie kostet mich, ehrlich gestanden, weit über mein Vermögen hinaus – ein Heidengeld. Doch dafür belohnt sie mich überreich und fast meine ganze freie Zeit bringe ich auf ihr zu. Also nicht wahr, Sie kommen?“

Hilde wich einer bindenden Antwort aus. „Fahren Sie stets ohne Begleitung?“ fragte sie listig.

„Gewöhnlich, ja. Das heißt, meinen Burschen, den Frettwurst, nehme ich mit. Die ‚Bachstelze‘ stellt für einen Mann schon ein bißchen zuviel Anforderungen an Bedienung, und dann wäre es mir auch nicht möglich, nach Belieben ans Land zu gehen, wenn ich keinen Posten bei dem Boote zurücklassen könnte.“

„Und da wartet der geduldige Mensch die ganze Zeit mutterseelenallein auf Sie?“

Herbert lachte über den mitleidigen Ton dieser Frage. „Warum nicht? Denken Sie, er würde melancholisch? Im Gegentheil, er freut sich unbändig, sobald es von Bord geht, denn der Dienst auf dem Kriegsschiff ist durchaus nicht sein Geschmack.“

„Aber zuverlässig scheint er trotz dieser Abneigung zu sein, wenn Sie ihn immer mitnehmen!“

„Er ist ein Mensch wie Gold und doch ein sonderbarer Kauz – furchtbar empfindlich! Da hab’ ich ihn neulich zum Beispiel leicht getadelt, und seitdem ist er ganz verändert. – Uebrigens sind auch Sie dabei betheiligt.“

Hilde schrak zusammen. „Auch ich?“

„Ja, aber nur sehr entfernt, Sie brauchen sich deshalb nicht zu beunruhigen! Es handelte sich um einen verlorenen und vergeblich gesuchten Werthgegenstand, der sich schließlich doch da fand, wo Frettwurst ihn vorher zehnmal übersehen hatte.“

Er wußte also nichts! Trotz ihrer Befriedigung darüber fühlte Hilde lebhaft ihr Unrecht gegen den ehrlichen Frettwurst, und sie überlegte lebhaft, wie sie ihn für seine Verschwiegenheit belohnen könne, ohne sich seinem Herrn gegenüber zu verrathen.

In diesen Gedanken wurde sie durch die Rückkehr ihrer Eltern unterbrochen, die sich herzlich freuten, den jungen Offizier als Gast vorzufinden. Sie luden Herbert mit derselben liebenswürdigen Gastlichkeit wie neulich zum Abendessen ein, und diesmal nahm Herbert die Aufforderung bereitwillig an.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Friedrich von Esmarch. (Mit Bildniß S. 21.) Die Kieler Universität Christiana Albertina ist seit einem halben Jahrhundert die Wirkungsstätte ausgezeichneter Chirurgen. An ihr lehrte in den Jahren 1842 bis 1848 der berühmte Langenbeck, und ihm folgte Stromeyer, dem die Kriegschirurgie so erhebliche Fortschritte verdankt. Aus der Schule dieser Männer ging der Nachfolger Stromeyers, Friedrich Esmarch, hervor, der die Chirurgie nicht allein durch neue Methoden bereichert, sondern die schwierige Wissenschaft in Deutschland so volksthümlich wie kein anderer vor ihm gemacht hat.

Professor Friedrich von Esmarch, der Begründer der Samaritervereine, feiert am 9. Januar seinen 70. Geburtstag. Viele Glückwünsche empfängt er wohl an diesem Tage, Glückwünsche von Verehrern und Schülern. Aber noch eine große Schar denkt seiner gewiß mit dankbarem Herzen. Es sind die vielen, die in schweren plötzlichen Unglücksfällen von den deutschen Samaritern rasche zweckgemäße Hilfeleistung erfuhren und so der Familie, dem Vaterland gerettet wurden.

Friedrich Esmarch erblickte zu Tönning in der Landschaft Eiderstedt am 9. Januar 1823 das Licht der Welt. Er studierte in Kiel und Göttingen Medizin und wirkte bereits im Jahre 1846 als Assistent Langenbecks im chirurgischen Hospitale zu Kiel. Als damals über Schleswig-Holstein jene schweren Zeiten des Kampfes um die Unabhängigkeit hereinbrachen, da schloß sich auch Esmarch der vaterländischen Bewegung an und tratim Jahre 1848 als Offizier in das Turnercorps ein, wirkte aber später als Militärarzt und machte in der Nähe Stromeyers die Feldzüge bis zum Jahre 1850 mit.

Die Ruhe des Waffenstillstandes von 1849 hatte er benutzt, um sich an der Kieler Universität zu habilitieren, allein die siegreichen Dänen straften den rührigen Privatdocenten, indem sie ihn für ein Semester suspendierten. Trotzdem wurde der Gemaßregelte schon im Jahre 1854 zum Direktor der chirurgischen Klinik und im Jahre 1857 zum ordentlichen Professor der Chirurgie ernannt.

Seit jener Zeit hat Esmarch weit über die Grenzen seiner engeren Heimath hinaus gewirkt und namentlich die Kriegschirurgie in hohem Maße gefördert; seit Jahrzehnten ist er einer der eifrigsten und siegreichsten Führer der Menschheit „in dem Kampfe der Humanität gegen die Schrecken des Kriegs“. In diesem Kampfe steht ihm als seine zweite Gemahlin seit 1872 eine Fürstentochter seines Heimathlandes, die Prinzessin Henriette von Schleswig-Holstein-Sonderburg Augustenburg, treu zur Seite.

Die größte der Neuerungen, mit welchen er die Wissenschaft bereichert hat, ist sicher die sogenannte „künstliche Blutleere“, die er Anfangs der siebziger Jahre für Operationen an den Gliedmaßen empfohlen hat. Das Glied, an welchem operiert werden soll, wird dabei von der Peripherie aus mit einer elastischen Binde umwickelt; dadurch wird es blutleer, da die Binde das Blut nach dem übrigen Körper zurückdrängt. Am oberen Ende der Binde wird darauf das Glied durch einen Gummischlauch zusammengeschnürt. Wird nun die Binde abgenommen so bleibt das gegen den Körper zu fest abgeschnürte Glied blutleer, der Kranke verliert während der Operation so gut wie gar kein Blut, der Arzt kann die durchgeschnittenen Blutgefäße mit Ruhe und Sorgfalt unterbinden.

Friedrich von Esmarch hat indessen, wie schon berührt, seine gemeinnützige Thätigkeit nicht auf die Säle der chirurgischen Klinik beschränkt. Er trat hinaus unter das Volk und bemühte sich, die wahren Grundsätze der Chirurgie in den weitesten Schichten zu verbreiten. Wie oft überraschen uns Unglücksfälle, Verletzungen, und zumeist ist kein Arzt zur Stelle, das Blut entrinnt den verletzten Adern, mit ihm entflieht das Leben! In solchen und ähnlichen Fällen soll auch der Laie die erste [36] Hilfe zu bringen verstehen. Zu diesem Zwecke rief Esmarch im Jahre 1881 nach dem Vorbilde der englischen „Ambulance classes“ die Samaritervereine ins Leben.

Unsere Leser sind mit dem Thema vertraut. Hat doch Esmarch selbst beim Beginn der Bewegung eine Reihe von Artikeln über die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen und über die Bedeutung und die Ziele der Samaritervereine in der „Gartenlaube“ veröffentlicht. Es fehlte anfangs nicht an Männern, welche die Befürchtung aussprachen, daß diese Verbreitung chirurgischen Wissens in Laienkreisen Schaden bringen könnte. Seit der Eröffnung der ersten Samariterschule in Kiel sind nun aber zwölf Jahre verflossen, und von Auswüchsen des Samariterwesens hat man nichts gehört, während dagegen die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen in Fabriken, auf Eisenbahnen, bei den Feuerwehren und in Polizeiwachen an sehr vielen Orten aufs trefflichste organisiert ist. Diese schönen Erfolge sind Esmarchs Werk; durch diese That hat er bewiesen, wie warm sein Herz für die leidende Menschheit schlägt, und darum entspringen die Glückwünsche des 9. Januar nicht bloß der aufrichtigen Bewunderung des großen Gelehrten, sie gelten auch Friedrich Esmarch, dem edlen Menschenfreund!


Die letzten Büffel von Nordamerika. Die weiten Prairien Nordamerikas wurden vor 350 Jahren zum ersten Male von den Europäern betreten. Im Jahre 1540 brach der Spanier Coronado von Mexiko auf, um das Wunder- und Goldland Cibola zu entdecken. Er fand es nicht, aber er brachte der Welt die Kunde von den Prairien und von den unzähligen Büffelherden, die in denselben grasten. Stellenweise sah man dort laut den Berichten des Spaniers Castaneda nichts als Himmel und – Büffel.

Die Spanier waren in den Prairien flüchtige Gäste. Erst im Anfang dieses Jahrhunderts ergoß sich von den Gestaden des Atlantischen Oceans ein neuer Auswandererstrom gegen die Prairien. Jäger folgten den zurückweichenden Indianern auf der Spur und stießen auf Büffelherden, in deren Reihen sie Tod und Verderben brachten. Mit glühenden Farben schildert der amerikanische Dichter Washington Irving seine Prairiefahrten aus dem Jahre 1832, und trotz aller Jagden schien der Büffelreichthum unerschöpflich; noch in den sechziger Jahren zogen die Wagenkarawanen tagelang unaufhörlich zwischen Büffelherden dahin, und den ersten Eisenbahnzügen, welche die Prairie durcheilten, stellten sich noch erstaunte Büffel in den Weg; aber schon damals bleichten tausendmal mehr Schädel erlegter Büffel in den Prairien, als Büffel noch in ihnen lebten.

Und heute! Die mächtigen Herden sind verschwunden, und die Amerikaner sind glücklich so weit gekommen, daß sie ihre Büffel zählen können. In einer amerikanischen Veröffentlichung finden wir eine Büffelstatistik aus den letzten[WS 1] Jahren; hier die deutlich sprechenden Zahlen: es leben laut derselben 254 Büffel gefangen in verschiedenen Parks von Amerika, 200 Stück wild im Yellowstone Park, 85 Stück gleichfalls wild in verschiedenen anderen Gegenden der Vereinigten Staaten, 550 Stück wild in dem fernen Norden Amerikas am Athapascastrome, 7 Stück gefangen im Auslande. Das macht zusammen 1096 Stück.

Eine solche Viehzählung kann keinen Anspruch auf volle Genauigkeit erheben; es mögen sich noch viele ungezählte Häupter in der Wildniß umhertreiben, aber die Schätzung wird von der Wahrheit nicht weit entfernt sein, und wir können heute in der That von den letzten Büffeln Nordamerikas sprechen. Den amerikanischen Büffel oder Bison hat dasselbe Schicksal erreicht, wie seinen europäischen Vetter, den Wisent, der einst über weite Strecken Europas verbreitet war und heute in dem Walde von Bialowicza in Rußland als zoologische Merkwürdigkeit sein Gnadenbrot frißt. Auch die Amerikaner fühlen jetzt Erbarmen mit ihrem „Buffalo“ und man agitiert drüben lebhaft für den Schutz der winzigen Ueberreste der einst so zahlreichen Thiere. Optimisten hoffen, daß sie sich noch leicht vermehren könnten, wenn man ihnen Ruhe gönnen würde. Sei dem, wie ihm wolle, vorderhand müssen wir uns damit begnügen, daß der Bison im Nationalparke von Yellowstone ein Gegenstück zu dem Wisent im Walde von Bialowicza bildet! *     


Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Linde zu Grimmenthal. (Mit Abbildung.) Etwa eine Stunde von Meiningen entfernt liegt das alte Hospital Grimmenthal, das schon vor mehreren hundert Jahren zur Pflege alter Leute gegründet wurde. Aber das Hospital Grimmenthal ist nicht bloß ein Haus für Alte und Kranke, es ist auch ein Haus für Junge und Gesunde, denn es führt zugleich eine besuchte Gastwirthschaft. Für die Pflegebefohlenen beider Arten ist nun an schönen Sommertagen der liebste Aufenthaltsort der Platz unter oder auf der mächtigen Linde, welche unsere Abbildung darstellt.

Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Linde zu Grimmenthal.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph R. Bachner in Meiningen.

Diese Linde gehört sicher mit zu den ältesten auf deutschem Boden. Ist es auch nicht möglich, ihr Alter genau anzugeben, so läßt sich doch urkundlich nachweisen, daß ihre Stützen schon vor 400 Jahren „repariert“ wurden. Danach müssen diese Stützen, muß noch mehr aber der Baum damals schon ein erkleckliches Alter besessen haben. Die Linde mißt 1½ m über dem Boden 14 m im Umfang, und auf der überbrückten Höhlung zwischen den zwei Hauptästen, wohin man auf einer Treppe von außen gelangen kann, mögen wohl 20 Personen Platz haben. Die Belaubung der weit ausladenden Krone ist voll entwickelt. Ein majestätisches Bild von Fülle und Kraft, steht der Baum vor uns, über den schon so viele Jahrhunderte hinweggerauscht sind.

Ziethen-Husaren auf Patrouillenritt. (Zu dem Bilde S. 33.) Es ist ein schwerer Dienst, der Patrouillendienst der Kavallerie im Kriege. Die höchsten Anforderungen aber an die geistige und körperliche Spannkraft des Reiters stellt er im Winter, wenn die Wege mit spiegelglattem Eise oder mit knietiefem Schnee bedeckt sind, wenn die kurzen Tage alle Unternehmungen in enge Schranken bannen, die trüben Nebel alle Fernsicht hindern und den Mann mit den unheimlichsten Gestalten einer überreizten Einbildungskraft umgaukeln. So hatte auch das Ziethen-Husarenregiment (3. brandenburgisches) in den Dezembertagen des Jahres 1870 schwere Arbeit, als es südlich Orleans in der Sologne gegen die Reste der französischen Loirearmee aufzuklären hatte.

Von der letzteren standen noch Theile in Bourges und Nevers, und die Vortruppen derselben schoben sich so nahe an Orleans heran, daß die Patrouillen der Ziethen-Husaren von ihrem Standort Olivet aus wiederholt mit ihnen zusammenstießen. Der Maler unseres Bildes schildert uns eine solche Begegnung zwischen den deutschen Reitern und französischer Infanterie. Eine feindliche Kugel hat das Pferd des führenden Unteroffiziers getroffen, es ist zusammengebrochen, und während der eine der Husaren den andrängenden Gegner durch Karabinerschüsse einzuschüchtern sucht – es sollen wohl zugleich auch Alarmschüsse sein – ist ein anderer bemüht, seinem Unteroffizier unter dem gestürzten Pferde hervorzuhelfen. Das ganze Bild ist äußerst lebenswahr erfaßt und läßt uns vermuthen, daß der Maler persönlich Gelegenheit hatte, solche Auftritte wie den auf unserem Bilde wiedergegebenen zu beobachten.


Inhalt: Freie Bahn! Roman von E. Werner (1. Fortsetzung), S. 21. – Friedrich von Esmarch. Bildniß. S. 21. – Unterbrochene Lektüre. Bild. S. 25. – Weltverbesserer. Von Dr. J. O. Holsch. I. S. 27. – Eine Zauberwurzel. Kulturgeschichtliche Skizze von Martin Beck. S. 29. Mit Abbildungen S. 29 und 30. – Auf geben und Nehmen. Novelle von Johannes Wilda (1. Fortsetzung). S. 31. – Ziethen-Husaren auf dem Patrouillenritt im Winter 1870. Bild. S. 33. – Blätter und Blüthen: Friedrich von Esmarch S. 35. (Mit Bildniß S. 21.) – Die letzten Büffel von Nordamerika. S. 36. – Deutschlands merkwürdige Bäume: Die Linde zu Grimmenthal. Mit Abbildung. S. 36. – Ziethen-Husaren auf Patrouillenritt. S. 36. (Zu dem Bilde S. 33.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Wir verdanken diese Abbildungen dem liebenswürdigen Entgegenkommen des Kustos der kaiserl. Hofbibliothek zu Wien, Herrn Hofrath Professor Dr. v. Hartel, sowie des Direktors der „k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien“, Herrn Dr. F. M. Eder, welcher die Güte hatte, die Aufnahmen selbst zu besorgen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: letzen