Die Gartenlaube (1893)/Heft 27
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Nr. 27. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Schwertlilie.
(13. Fortsetzung.)
Die Schwester Veritas hatte im Sprechzimmer des Klosters den Besuch des hochwürdigen Pater Gollermann. Der Jesuit hatte soeben von ihr den Bericht über ihre letzte Unterredung mit Polyxene von Leyen erhalten. Die Nonne, mit ihrer ausdruckslosen Sprechweise, schien dem gezwungenen Gaste des Hauses weder zu Liebe noch zu Leide reden zu wollen, aber das Ergebniß dessen, was sie mittheilte, war doch: von bußfertiger reumüthiger Verfassung sei bei dem Fräulein noch im geringsten nichts zu merken. Und daher scheine sie auch weit davon entfernt, durch ein Geständniß des Antheiles, den sie an dem Verschwinden ihres Vetters gehabt, den Erwartungen zu entsprechen, welche man um ihres Seelenheiles willen bei ihrem Eintritt in dies geistliche Haus gehegt habe.
Der hochwürdige Herr hatte schweigend zugehört, ohne daß sein langes Gesicht den gewohnheitsmäßigen Ausdruck der Milde verloren hätte. Jetzt seufzte er ein wenig oder vielmehr, er holte einen tiefern Athemzug, wie man etwa thut, wenn man Schwierigkeiten vor sich sieht. „Diese junge Person wird schwer zu beugen sein unter die Zuchtruthe des Herrn,“ murmelte er. „Wir dürfen der Nachsicht nicht müde werde, aber auch nicht ablassen – mit heilsamen Mitteln, bald des Zuspruchs, dann auch wieder gänzlicher Enthaltung von demselben. Die Abgeschiedenheit – ich meine die völlige“ – hier richtete er die Augen, was nur ausnahmsweise geschah, gerade auf die der Nonne – „ohne jede Unterbrechung durch Gottesdienste und dergleichen wirkt oft mehr als die liebevollste oder strengste Vermahnung.“
„Das Fräulein verläßt die Zelle nicht mehr,“ sagte darauf Schwester Veritas, den Blick zurückgebend, so daß nun gewissermaßen ein zweiter Verständigungsweg neben dem, den das gesprochene Wort bildete, hergestellt war. „Sie erhält ihre Kost durch den Schieber, sieht niemand von den Schwestern und hat keinen Verkehr mehr mit irgend einem. Auch ich habe mich enthalten, mich ihr zu zeigen.“
Der Pater Gollermann schob die beweglichen Lippen übereinander und lachte leise. „Und auch diese Absonderung hätte noch keine heilsame erschütternde Wirkung gehabt?“
„Bis jetzt keine,“ sagte die Nonne. „Im Gegentheil, das Mädchen ist wild und rastlos. Davon, daß sie die ihr vorgeschriebenen Uebungen vornähme, habe ich, wenn ich sie belauschte oder belauschen ließ, nichts vernommen. Sieht man sie beten, so ist es nicht in der Weise, die unsere heilige Kirche vorschreibt, sondern nach Art der Schwärmer und Neuerer. Vielleicht aber auch, daß dann wenn sie so wild die Arme emporwirft, die Gewissensangst aus ihr spricht,“ fügte die Nonne hinzu. Dabei sah sie den geistlichen Herrn nicht an, wohl aber streifte sein forschender Blick ihr nichtssagendes Antlitz. Es war bezeichnend, daß diese beiden sich absichtlich nie voll verständigten, darüber zum Beispiel nicht, ob die unglückliche Polyxene denn ohne einen Zweifel für schuldig an dem schnöden Morde zu halten sei. Dieser Punkt wurde nie berührt. Und das war auch nicht nöthig, weil ein anderer feststand:
[450] daß man sich hier durchgängig den Anschein zu geben habe, als sei sie es.
Jetzt begann der Pater Gollermann wieder: „Ja, diese übermüthige Jugend widerstrebt, so lange sie kann, dem Heile, das in der Zerknirschung und Buße liegt, aber wir dürfen nicht nachlassen. Ich habe es von guter Hand: dem milden Herzen unserer gnädigen Frau Pfalzgräfin wäre nichts erwünschter, als wenn ein freiwilliger Eintritt in die Gemeinschaft Eueres Hauses, Schwester Veritas, den Makel auslöschte oder in Vergessenheit brächte, der sonst von jetzt ab an jenem altadligen Namen haften würde. Wie gesagt, wir dürfen nicht müde werden. Was ich fragen wollte: die Zelle ist doch gesund, in der das Fräulein untergebracht ist? Ich meine“ – mit einem raschen Blick – „sie bleibt bewohnbar ohne Nachtheil für die Gesundheit auch in der rauhern Jahreszeit?“
„Der hochwürdige Herr meint, ob es dort nicht zu kalt werde? Im Gegentheil,“ erwiderte die Nonne und sah nun ihrerseits den Pater Gollermann fest an. „Der Schornstein der Bäckerei geht hindurch, nebenan liegen unsere Räucherkammern. Da kann es kommen, daß nicht die Kälte, sondern Hitze und Dunst in dem Raume lästig werden für einen, der allzu zart gewöhnt ist. Aber Hochwürden können ruhig sein: gestorben ist daran noch keines, wenn je einmal das Gelaß, welches deshalb sonst leer steht, besetzt werden mußte.“
„Es ist wohl keine andere Zelle frei?“ warf Pater Gollermann hin.
„Nein, keine,“ sagte die Nonne. „So lange dies Fräulein uns durch ihren Mangel an Bußfertigkeit nöthigt, sie abgesondert zu halten, wird sie, fürcht’ ich, dort verbleiben müssen, auch wenn die Wand heiß wird.“
„Nicht zu heiß aber,“ mahnte Pater Gollermann mit Bedeutung.
„Sorgt nicht,“ beruhigte ihn die Nonne, wieder einmal die Lider von den farblosen Augen hebend. „Und wird dem Fräulein das Verweilen dort allzu beschwerlich, so dürfen wir vielleicht hoffen, sie alsdann fügsamer zu finden, zum Vortheil ihrer Seele.“
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Sowie Herr von Nievern aus dem Gemach der Méninville gekommen war, hatte er, der in einem entfernten Nebenflügel des Schlosses, dem sogenannten Kavalierhaus, wohnte, sein Pferd satteln lassen und war hinaus zur Herrenmühle geritten. Es drängte ihn, mit dem einzigen Menschen zu reden, der Polyxenen von Rechts wegen ein Schutz sein konnte. Wäre dieser eine, dachte er unterwegs, doch nur ein anderer als gerade jener alte Sonderling gewesen!
Der Oberjägermeister war nun in der Gegenwart des Obersten, in dessen Bücherei. Und er fand den Alten, wenn auch trocken genug, so doch traktabler, als er gedacht hatte.
Herr von Gouda hatte den stattlichen Hofherrn zuerst wunderlich angesehen, als er erfuhr, daß der Gegenstand seines Besuches die junge Polyxene war. „Zunächst einmal: was verschafft meiner Mündel diesen besondern Antheil von Euch, Herr Oberjägermeister?“ hatte er gleich zum Beginn mit seiner gleichmüthigen Stimme gefragt.
Der Kavalier hatte eine leichte Verwirrung bei dieser Frage überwunden und dann mannhaft geantwortet: „Nehmt an, Herr Oberst, es sei der Antheil eines Mannes von Ehre am Schicksal einer schutzbedürftigen Unschuld.“
Herr von Gouda neigte ein wenig den Kopf. „Ich will mir daran genügen lassen, Herr von Nievern, und Euch zugleich ein anderes nicht verhehlen: hättet Ihr eine andere Art von Theilnahme für meine junge und, wie ich nicht leugnen mag, dem Auge wohlgefällige Nichte, so würde dies wahrscheinlich nur zur Verwirrung ihrer Angelegenheit dienen. Ihr sollt Euch des Mädchens schon einmal gegen eine üble Laune unserer Pfalzgräfin öffentlich angenommen haben, und Kundige wollten es glaublich finden, daß durch diesen Vorfall dem Kinde Neider und Feinde erweckt worden seien.“
Nievern biß die Zähne aufeinander; die Worte des wunderlichen Mannes trafen ihn. Von einer großmüthigen Laune hatte er sich damals treiben lassen und sich nicht um die Folgen gekümmert. Wenn er damit nun wirklich in das Geschick des armen jungen Geschöpfes zum Unheil eingegriffen hatte! „Haltet mich für einen redlichen Freund Eueres Mündels und sagt mir alles, was Ihr wißt!“ konnte er hierauf nur um so ernstlicher bitten.
Der Oberst hielt auch nicht zurück. „Ich bin etwas von einem Menschenkenner und ich traue Euch,“ sägte er und nickte dem jüngeren Manne zu.
Herr von Nievern erfuhr nunmehr, daß der Vormund Polyxenens etwas wenigstens schon gethan habe: festgestellt nämlich, wie der Ursprung jenes unsinnigen Gerüchtes – so nannte es der Oberst, wofür der Herr von Nievern von Stund’ an lebenslang sein Freund wurde – nirgends anders als im pfalzgräflichen Schlosse selber und zwar in der nächsten Umgebung der Fürstin zu suchen sei.
„Dieses Weib also wirklich,“ murmelte der Oberjägermeister, wobei er despektierlicherweise die fromme Frau von Méninville meinte. „Oder – –“
„Die geistlichen Herren soll einer freilich nicht auf seine Fährte bringen, wenn ich mich so ausdrücken darf, und das hat die Polyxene gethan,“ fuhr der Oberst fort. „Habt Ihr überhaupt etwas über die ihr zur Last gelegten Delikte vernommen, so wißt Ihr auch, daß sie in den Augen der Kirche jetzt ein räudiges Schaf ist, weil sie sich der Ansteckung durch die Pest der Ketzerei ausgesetzt hat.“
Der Oberjägermeister zuckte die Schultern mit einer sprechenden Gebärde der Geringschätzung für diese Beschuldigung. Herr von Gouda hob warnend den dürren spitzen Finger. „Mißachtet diese Anklage nicht: ich glaube, sie ist allerdings der Kern der Sache. Jener andere abenteuerliche Verdacht –“
„Ist vielleicht nur ein schändliches Werkzeug, um das Fräulein zu schrecken und gefügig zu machen!“ fiel, als der Oberst überlegend stockte, der Herr von Nievern hastig ein. Bei aller siedenden Empörung, die er schuf, führte der Gedanke doch auch ein Etwas von Erleichterung mit sich.
Herr von Gouda gab zu, daß ihm Aehnliches auch schon durch den Kopf gefahren sei. Die beiden Männer wechselten noch eine gute Weile ernsthafte Rede und Gegenrede, aber besser zu Muthe war beiden am Ende dadurch nicht geworden. Es war, wie wenn ein Netz des Unheils über die unglückliche Polyxene geworfen worden wäre. Schien dasselbe hier lächerlich lose und leicht zerreißbar, so hingen sich dafür seine Maschen an anderer Stelle schnürend und lähmend fest, und so wußte man kaum, wo angreifen zur Rettung.
Frei mußte das Mädchen ja wieder werden, sie mußte – das schwur sich Nievern innerlich. Und was wäre ihm bisher im Leben mißlungen? Wie kam es aber dann, daß ihn bisweilen eine heiße Angst um sie packte, eine Empfindung, die der stolzen Sorglosigkeit seines Wesens so neu war? War es, weil hier die Jesuiten im Spiele waren, die besten Bundesgenossen und zugleich die zähesten und gefährlichsten Gegner, die ein Mann – oder ein Weib – haben konnte? Nievern nagte düster vor sich hinstarrend an der Unterlippe. Sollte er mit diesen Schwarzröcken jetzt kämpfen und gar am Sieg zweifeln müssen? Wie, wenn man den weltlichen Arm, die Justiz, gegen sie aufrief wegen Freiheitsentziehung? – Ziemlich aussichtslos, wie das auf der einen Seite war – denn die Väter waren vorsichtig und hatten sich meist den Rücken durch Vollmachten und Licenzen gedeckt – erschien es andererseits nicht einmal ohne Gefahr für Polyxene selber. Wer den schnöden Giftstaub jenes Verdachtes gegen sie zuerst in die Luft geblasen hatte, der würde auch den Weg finden zu dem anfangs freilich harthörigen Ohre der Justiz. Und war deren schwerfälliger Apparat erst einmal gegen Polyxene in Bewegung gesetzt, dann würde diese so schlimm dran sein wie jetzt, wenn nicht schlimmer.
Das alles erörterten die beiden Herren in sorgenvollem Wechselgespräch. „Und auf den armen Junker sind wir noch gar nicht gekommen,“ rief endlich der Oberjägermeister, „und was Euch von seinem Verschwinden dünkt, Herr Oberst!“
Dieser zuckte mit den spitzen Schultern. „Ich weiß nicht, wohin der Schlingel gerathen sein mag,“ sagte er trocken. „Es wird zur Zeit noch nach ihm geforscht ... man ist von seiten des Vormundes nicht müßig gewesen, Herr.“
„Das klingt nicht, als glaubtet ihr an ein Unglück!“ sagte Nievern lebhaft. „Käme der Junge wieder zum Vorschein – welcher Schlag ins Gesicht jener niederträchtigen Verdächtigung!“
Dazu meinte Herr von Gouda mit seinem unbewegtesten Gesicht: „Er braucht nicht im Mühlkanal zu liegen und es kann doch lange währen, bis er wieder zum Vorschein kommt ober Kunde von ihm, allzu lange für uns. Wenn er über die Grenze zu den holländischen Werbern gelaufen ist, so schifft er vielleicht jetzt auf einem ihrer Dreidecker nach Indien.“
„Heimlich davongegangen?“ Der Oberjägermeister runzelte die Brauen. „Solches Leid hätte er freiwillig über Fräulein Polyxene gebracht? Und sie war ihm doch wie eine liebe Schwester!“
„Sie glaubt es auch nicht,“ gab der Vormund zu. „Aber [451] die kecke Jugend ist gedankenlos und deshalb schon unbekümmert um das, was sie uns Aelteren anthut. Und wenn er nun hätte Nachricht geben wollen von seinem Verbleiben und Brief oder Botschaft wären nicht aus Ziel, das heißt bis zu uns, gelangt?“
„Der Sache müssen wir nachforschen,“ murmelte Nievern, der sich indessen erhoben hatte, denn es war Zeit zum Heimritt. „Zählt dabei auf mich, Herr Oberst – ich habe Vettern und gute Freunde nicht nur in diesem großmächtigen Lande Birkenfeld. Es müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn wir von diesem Unglücksjungen – dafern er über der Erde ist, was ich mit Euch von ganzem Herzen hoffe – nicht irgend eine Spur auffinden sollten!“
Ehe er sich verabschiedete, hart an der Thür, begann Nievern noch einmal, mit leiser Ueberwindung: „Daß das Fräulein im Kloster so abgeschieden von allen ihren Freunden ist, scheint hart. Meint Ihr wirklich, daß man auch Euch, dem Vormund, den Eintritt zu ihr wehren würde? Sonst würde ich Euch bitten, ihr zu sagen, daß sie mehr Freunde hat, als sie vielleicht denkt, damit sich ihr der Muth wieder stärke.“
„Das sagt ihr nur selber, wenn Ihr hineinzukommen vermögt,“ gab Herr von Gouda zur Antwort. „Ihr kennt die Geistlichkeit schlecht, wenn Ihr meint, das sei so leicht. Hätte ich nicht einen Bundesgenossen noch seltenerer Art mit Verlaub, als Ihr es seid, so wüßte ich über mein Mündel, das Fräulein, jetzt nicht einmal das Wenige, was ich weiß,“ Und dem hochaufhorchenden Kavalier erzählte er nun vom Strieger, und wie dieser alte Fuchs die Fahrt auf der Klosterkutsche mitgemacht habe.
Das gefiel dem Herrn von Nievern so gut, daß ihm dann während des Heimrittes der Gedanke an den schlauen Alten immer wieder kam und die Gestalt desselben, die er doch nie mit Augen gesehen hatte, sich ein paarmal zwischen seine Ueberlegungen drängte. Er ritt im Schritt fürbaß, in der frühen Dämmerung des Herbsttages, die ihm gerade recht war. Als er das Stadtthor hinter sich hatte, wollte der Braune den gewohnten Weg nach links zum Residenzschloß einschlagen, fand sich aber zu seinem unwilligen Befremden durch einen gelinden Zügelruck daran gehindert; sein Herr nöthigte ihn nach rechts. Das verwöhnte Thier schnaubte ein wenig, wie verächtlich, während sein Huf hier einen elenden steinigen und zugleich kothigen Weg betrat, Es war dies die entlegenste und ärmste Gegend des Städtchens, dessen Mauern einen viel größeren Raum einfriedigten, als es, durch den großen Krieg am Lebensmark versehrt, anzufüllen vermochte. So zogen sich hier Gärten und Aecker und dazwischen einzelne elende Behausungen hin. Nur ein stattliches Gebäude ragte seitwärts im Dämmer auf, mit vielen Fenstern, langgestreckten Schieferdächern und einem kleinen Glockenthurm. Es war das Haus der Ursulinerinnen, noch immer dicht an Stadtmauer und Graben gelehnt wie einst. Es war aber keine übersichtliche Fläche, die das Kloster vom Kerne der Stadt trennte, sondern ein Gewirr von buschigen Gärten, Heckenwegen und Zäunen.
Kein Mensch begegnete dem Reiter, der jetzt in einiger Entfernung das Nonnenhaus umritt, soweit dies möglich war, und dabei unverwandt nach den Fenstern desselben schaute, den vielen dunklen und den einzelnen matt erhellten. Wie trübe das Flämmchen sein mußte, das den Bewohnerinnen der Gelasse hinter jenen kleinen Scheiben abends leuchtete, und wie bänglich für ein junges, freies, Licht und Luft gewohntes Geschöpf der Aufenthalt zwischen jenen öden Mauern! Mitleid und Scham und noch etwas anderes packten den einsamen Mann im Sattel, daß er die Zähne aufeinander biß und unter dem unwillkürlichen Drucke der Schenkel sein Pferd sich hob und in Trab fiel. Er zügelte das Thier aber wieder, rauh, wie er sonst nicht mit ihm umging, und klopfte ihm dann den zitternden Hals in halber Reue. Jetzt hielt er an und blickte nach dem Hause drüben, als könnte er durch die Mauern hindurch sehen. Er sah auch, sah die weißen Glieder Polyxenens in ihrem herben Reize vor sich . . . die schönen Weiber dort in Arlon hatten sich ihm in die Arme geworfen beim wilden Tanz, und nicht nur sein innerstes Herz, sein Blut sogar war kalt geblieben . . . was war es, das ihm jetzt im Eingeweide brannte und ihm den Gaumen trocken werden ließ wie einem vor Durst Verschmachtenden, während er derjenigen dachte, welche hinter jene Mauern entrückt war?
Er kam mit einem Male zur Besinnung und zum Bewußtsein seiner nächsten Umgebung. Das Pferd war unruhig geworden, wie wenn es in dem engen Heckenpfade vor irgend einem Gegenstand scheute. Der Oberjägermeister blickte zur Seite, wo ein Weidenstrunk oder etwas Aehnliches ein weniges über das Heckengestrüpp herausragte. War es wirklich ein Baumstumpf? Nein! Mit eineln leisen Fluche hielt Nievern sein Pferd an, bog sich seitwärts aus dem Sattel und hob dann die schwere Reitpeitsche mit dem Knopfe, als wenn er untersuchend irgendwo aufklopfen wollte. „Holla, Freund!“ rief er unwirsch, „was zum Henker drückt Ihr Euch da herum – denn Ihr seid doch ein Mensch und kein Holzklotz . . .“
Der andere schob mit der Hand die Gerte zurück und sagte, auch nicht eben höflich: „Was zum Henker bringt Ihr einen Gaul hierher, wo ein Mensch kaum Platz hat, die Füße voreinander zu setzen. Ihr seid hier mehr im Wege als ich, dächt’ ich.“
Der Sprecher hatte sich allerdings tief in die Hecke hineinschieben müssen, um dem Pferde Raum zu geben. Aber augenscheinlich war doch auch seine Absicht gewesen, den Reiter vorüber zu lassen, ohne überhaupt bemerkt zu werden, Herr von Nievern faßte ihn jetzt um so schärfer ins Auge, soweit es das rasch sinkende Tageslicht zuließ, und ihm war, als müsse er den verwitterten Alten kennen, obwohl er ihn nie zuvor erblickt hatte. Er brachte sein Pferd so vor den Fußgänger, daß dieser keinen Schritt thun konnte, beugte sich aus dem Sattel und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mann – Ihr müßt der alte Strieger sein oder ich bin’s. Sprecht“ – er neigte sich noch tiefer herab und sprach leiser, obwohl sie beide zu dieser Stunde hier so allein waren wie etwa auf dem Meere – „Gut Freund von Fräulein Polyxene!“
Jetzt funkelten ihn die neunzigjährigen Augen des anderen an, und wie von einem leisen hohlen Lachen begleitet kamen die Worte: „Kennt Ihr mich, so kenn’ ich Euch auch, Herr Oberjägermeister, Ihr wundert Euch? Ha ha – der Waldkauz sieht den Jäger fünfzigmal, ehe der ihn einmal gewahr wird.“
Nievern glitt vom Pferde und nun standen die beiden Männer dicht beieinander. „Ihr streicht um ihretwillen hier herum, wißt Ihr etwas Neues?“ fragte der Kavalier den Alten, alle Umschweife verschmähend.
Der Strieger sah nun seinerseits seinen Mann an; er sah die schönen, sonst so heiteren vornehmen Züge verdüstert und konnte merken, wie jenem die Sorge dicht am Herzen saß. Doch antwortete er, nach seiner Art, nicht direkt. „Hier hinaus sieht ihr Fenster nicht,“ begann er zunächst, „wenn man das Fenster nennen kann, ein Loch in der Mauer, Es geht drüben auf den Graben; herauszuholen ist sie da nicht, Herr, von außen nicht. Aber“ – er schaute den anderen prüfend von der Seite an – „vielleicht will sie auch gar nicht. Sie will ja selber geistlich werden, wie?“
„Ich dächte, das wüßten wir beide besser“ erwiderte Nievern. „Laßt Euere Kniffe und Schliche, Alter; bei mir braucht es dergleichen nicht. Und jetzt sollt Ihr wissen, daß ich zu dem Fräulein zu stehen gedenke, offen und heimlich, je nachdem, und daß, wer auch immer ihr einen Dienst thut, an mir einen Freund hat . . .“
„Freunde kann sie brauchen, aber daß Ihr einer seid, rath’ ich Euch, nicht auf den Dächern auszukrähen,“ sagte darauf der alte Waldwart. Nievern kannte diese Jägervorsicht, die sich immer nur verstecken und Ziel und Wegspur verbergen und verwischen will. Nun, sie konnte hier nichts schaden. „Der beste Freund des Fräuleins wäre der, der aussagte, wo wir den Junker zu suchen haben,“ murmelte er jetzt vor sich hin. Der Strieger nickte. „Tot ist der Junker so wenig wie ich,“ setzte er mit Bestimmtheit hinzu.
„Und auch nicht zu den holländischen Werbern gelaufen?“
„Nein, der ist nicht davongegangen! Er war ja hier so vergnügt, wie der Tag lang ist. Ein frischeres und froheres junges Blut wie ihn, wenn er mit dem Fräulein auf dem Pirschgang war, habe ich meiner Tage nicht gesehen. und der hätte freiwillig hinter dem Unglück und einer fremden Trommel herlaufen sollen? Das macht mir keiner weis . . , Aber ich muß fort, Herr, der Waldwart gehört in sein Gehege. Wenn Ihr etwas von mir wollt –“
„Ja, sagt mir, wo ich Euch dann finde!“ erwiderte Nievern hastig. „Ich komme in Eueren Wald ... vielleicht daß Ihr mir einmal einen Botengang thut ... Und Ihr wißt mehr, als Ihr jetzt herauslaßt . . . hole der Henker Euere Vorsicht! Merkt Ihr denn nicht, daß ich für das Fräulein meine Hand ins Feuer legen würde?“
Der Strieger sah den schlanken Mann noch einmal rasch und forschend an, blickte in ein Gesicht, welches wohl jedem Weibe [452] gefallen mußte und nur ernster erschien, als man es zu sehen gewohnt war, und ein Licht mochte ihm aufgehen. „Was soll ich denn wissen?“ sagte er aber doch hartnäckig. „Wenn Ihr den Junker meint, daß der fort ist, als hätte ihn der Boden verschluckt – dabei steht mein Verstand ebensogut still wie der von gescheiteren Leuten. Denn daß er etwa desselben Weges gefahren wäre wie das Fräulein, das ist doch nicht zu glauben ... so einer wehrt sich, wenn sie ihn etwa hätten davonführen wollen, um ihr einen Possen zu spielen. Und nun gar ihn geistlich zu machen, das brächten alle Schwarzröcke der Welt nicht fertig!“
Nievern, stumm vor Betroffenheit, starrte den Alten an, die Gestalt, kräftig zwar, aber doch das hohe Greisenalter nicht verleugnend; und jetzt in der Dämmerung überkam ihn die wilde Seltsamkeit derselben mehr als zuvor. Selbst den aufgeklärten Hofherrn durchzuckte ein wunderlicher Gedanke. Dem gewöhnlichen Laufe der Natur nach hätte dieser Alte längst Staub und Moder sein müssen. Und da stand er, unverwüstlich, wie einer seiner knorrigen Waldbäume, denen er glich, und verrieth in Wort und Werken die Klugheit, die mehr als menschliche, eines Gnomen!
In das uralte Antlitz vor sich starrte Nievern oder vielmehr auf den kleinen, tief beschatteten Fleck unter dem Hute, der jetzt, da der Abend völlig hereingebrochen war, dies Antlitz vorstellte, und aus dem nur dann und wann die Augen aufleuchteten. „Bei Gott, Euch anzutreffen verlohnt sich,“ sagte er endlich. „Aber Ihr habt recht, hier ist nicht der Ort und die Zeit, um weiter zu reden. Bescheidet mich, wo ich im Forste mit Euch zusammenkommen kann . . . von heute ab in zwei Tagen, gegen Sonnenuntergang. Ihr haust am Heidenkopfe . . . habe ich recht sagen hören?“
Der Strieger murmelte ein paar unverständliche, unwirsch klingende Worte „Wo ich hause, kann Euch gleich sein,“ murrte er dann. „Kommt Ihr aber zu der Zeit, von der Ihr sprachet, von der Stadt her den Heidenkopf hinauf, nicht durch die Föhren, sondern hart am Bruchland vorüber, so geht bis zum dritten Markstein links und da wartet; kann sein, daß wir uns dann treffen.“
„Kann sein? Ich denke, es wird sein,“ sagte Nievern, nun auch herrischer, als er bisher gesprochen hatte. Doch fügte er hinzu: „Geschieht es doch um deretwillen, der Ihr, denke ich, ja auch treulich anhängt. Ho, ho, steh’ –“ Die letzten Worte galten dem Pferde, das eine Bewegung der Ungeduld gemacht hatte. Nievern klopfte seinem Thiere beruhigend den Hals. Als er es aber soweit hatte, daß es noch einmal stille stand, da fand sich, daß die Bemühung nicht nöthig gewesen wäre. Nievern, sich wieder zurückwendend, blickte sich betroffen um. Er war allein – die Stelle, wo der Alte gestanden hatte, war leer, als hätte ihn der Erdboden geschluckt. Und dabei hatte man auch nicht ein welkes Laub rascheln hören.
Den Oberjägermeister dünkte das so seltsam, daß er sich die Mühe gab, links und rechts zu spähen, auch jenseit der Hecke, an welcher der Strieger gestanden hatte. Da war ein verwilderter Garten, in dem niedrige, jetzt herbstlich dürre Beerenbüsche wuchsen. Wie einer aber, und noch dazu ein Neunzigjähriger, nur diese zur Deckung benutzend, sich so hatte davonmachen können, erschien ihm unbegreiflich und er schüttelte noch den Kopf darüber, während er nachdenklich aufsaß und von dannen ritt. Ihn beschäftigten die Worte, die der Alte eben über das Verschwinden des jungen Lutz sich noch hatte entlocken lassen; sie waren wie ebensoviel Funken gewesen, durch die ihm das Dunkel jener Angelegenheit, wenn auch flüchtig, so doch auf eigenthümlich versprechende Weise erhellt worden war.
(Fortsetzung folgt.)
In den Gärten Wiens.
Wo heute das Häusermeer der westlichen Vorstädte und Vororte Wiens sich bis hart an die Rebenhügel und Berge des Wienerwaldes ausdehnt, da waren vor nicht gar langer Zeit ebenfalls Felder und Weingärten, die mit dem zunehmenden Wachsthum der Stadt allmählich verschwanden, nur hie und da eine grüne Oase, einen zwischen Mauerwänden eingeschlossenen Hausgarten oder einen öffentlichen, mit Bäumen bepflanzten Erholungsplatz zurücklassend.
Die heutigen Vorstädte und Vororte waren in früheren Zeiten im Besitz von adligen Familien oder von Klöstern, die ihre „Gründe“ theilweise selbst bewirthschafteten oder an Pächter vergaben. Die Herren von Gumpendorf zogen an den Hügeln, die sich längs der Wien bis hinauf zu den Vorstädten Mariahilf und Windmühle ausbreiteten, einen vortrefflichen Wein, der im Mittelalter zu den geschätztesten Tropfen des weingesegneten Wiener Beckens gezählt wurde. Aeltere Leute erinnern sich wohl noch heute daran, die Ueberbleibsel dieser einst so berühmten Weingärten gesehen zu haben, auf deren Boden heute die Häusergruppen zwischen dem sogenannten „Ratzenstadtl“ und der Eßterhazygasse stehen.
Die „Gründe“ wurden von ihren adligen und geistlichen Besitzern allmählich für gutes Geld stückweise verkauft, und als nach den Türkenkriegen Wien sich neuerdings zu dehnen und zu recken begann, entstanden rings um die eigentliche Stadt zahlreiche Dörfer, Meierhöfe, Einkehrgasthäuser, die sich im Laufe der Zeit immer enger aneinander schlossen und zu den heutigen Vorstädten verwuchsen. Das freundliche Grau der Felder und Gärten innerhalb der Linienwälle verschwand, und wenn der Wiener „über Land“ gehen wollte, so mußte er vor die „Linie“ hinausgehen. Auch heute noch hält der Wiener diese beiden Begriffe für gleichbedeutend, obwohl auch außerhalb der Linienwälle in den Vororten die wogenden Aehrenfelder längst den endlosen Straßenzügen haben weichen müssen.
Das ehemalige Gartenland, das jetzt mit volkreichen Stadttheilen verbaut ist, ließ aber in der Stadt manch reizvolle Erinnerung zurück, erquickende Oasen mit schattigen Baumgruppen, saftiggrünen Wiesenflächen und farbenbunten Blumenteppichen. Die Mehrzahl dieser Gärten, die zum größten Theile dem Publikum freigegeben sind, verdankt Wien der Freigebigkeit des Hofes und adliger Familien. Als jedoch nach der Stadterweiterung die sogenannten Glacis, der breite Wiesengürtel, der sich rings um die Festungswälle bis zu den Vorstädten ausdehnte, verbaut
[453][454] wurden, wodurch der Bevölkerung ein mächtiges Reservoir von Luft und Licht, der Jugend ein unersetzlicher Tummelplatz entzogen wurde, da mußte die Gemeindeverwaltung darauf bedacht sein, durch Gartenanlagen, durch Baumpflanzungen und Spielplätze für den Verlust Ersatz zu schaffen. Solchem Bedürfniß verdankt der herrliche Stadtpark seine Entstehung. Dieses grüne Juwel im Diadem Vindobonas wurde bei seinem Entstehen von den Wienern viel bespöttelt. Die jungen Anlagen konnten selbstverständlich in den ersten Jahren den anspruchsvollen Vorstellungen der Wiener von einem Stadtpark nicht genügen. Die zarten Baumpflanzungen, die schattenlosen Bosketts gaben den Witzblättern willkommenen Stoff zu boshaften Ausfällen. Der alte Wiener, der noch mit treuer Liebe an seinem Wasserglacis, seinem Paradeisgartl und seinen Basteien hing, hielt sich für verpflichtet, dem Neuling gegenüber eine kühle Haltung einzunehmen. Als aber ein nenes Geschlecht heranwuchs, dem Wasserglacis und Paradeisgartl nicht mehr als ein verlorenes Eden schöner Kindheitserinnerung erschien, da fing man an, die künstlerisch angelegten Parktheile mit ihren malerischen Baumgruppen, schattigen Bosketts und duftenden Blumenterrassen lieb zu gewinnen. Der vielverlästerte Teich, von dem man bisher nur wissen wollte, daß es nachts darin spuke von Fröschen und Unken und anderem Gethier, fand allmählich Gnade vor den Augen des Wieners. Die lieben Kleinen begannen sich mit den protzenhaft sich gebärdenden Schwänen auf vertrauten Fuß zu stellen, und als sie merkten, daß der stolze Vogel Lohengrins den irdischen Genüssen von Kipfeln, Kaisersemmeln und Baunzerln nicht abhold war, da bildete sich bald ein sehr gemüthliches Verhältniß heraus.
Der übelbeleumundete Wienfluß trennt den Stadtpark in zwei ungleiche Theile; man muß jedoch jenem das Zeugniß ausstellen, daß er sich sogar in den heißen Sommermonaten an dieser Stelle ziemlich anständig benimmt. Die Uferböschungen, mit theilweise uralten Linden, Pappeln und Akazien besetzt, gewähren sogar einen malerischen Anblick. Am rechten Ufer, gegen die Vorstadt Landstraße gekehrt, dehnt sich der Kinderpark aus, ein Ersatzmittel für das einst vielbeliebte Wasserglacis. Der Spielplatz ist rasenfrei, mit alten schattigen Kastanienbäumen bepflanzt und mit zahlreichen Ruhebänken versehen; gegen das Ufer hin ist eine Milchwirthschaft errichtet, das gelobte Land der Vegetarianer, die unter dem kühlen Laubdach die ausschweifendsten Gelage in saurer Milch, Butter und Rahm halten. Auf dem Spielplatz tummelt sich vom Morgen bis zum Abend eine frohe Kinderschar und spielt hier die uralten Kinderspiele, die schon unsere Urahnen ergötzt haben, mit leuchtenden Augen und frohem hellen Kinderlachen. Die kleinen Mädchen singen, im Kreise geschart, das „Ringel, Ringel Reihe“, die Buben spielen „Vaterl“ oder „Vater, Vater, leih’ mir d’ Scheer’“, und die dienstbaren Geister, denen das kostbare Völkchen anvertraut ist, bewachen von der nächsten Ruhebank aus das Treiben ihrer Schützlinge, sofern sie nicht durch einen schmucken Vertreter des Wehrstandes darin behindert werden. In solchem Falle muß der vielgeplagte „Schutzengel der Kleinen“ die fernere Ueberwachung übernehmen. Statistische Beobachtungen sollen aber festgestellt haben, daß sich die Kinder um diese Zeit die meisten Löcher in den Kopf zu schlagen pflegen.
Ganz anders verläuft das Tagewerk im eigentlichen Stadtpark. Schon in den frühen Morgenstunden sieht man um den prächtigen, von Garben erbauten Kursalon eine Anzahl von Männern und Frauen lustwandeln, die ihrer Gesundheit zuliebe Mineralwässer trinken und die vorgeschriebene Bewegung in frischer Luft und anmuthigem Grün gewissenhaft abthun. Der sauertöpfische Bureauchef, der sich keine Zeit zu einer regelrechten Kur in Karlsbad gönnt, trinkt hier seine verordneten Becher und trabt, mit Zahlen und Aktennummern im Kopfe, durch die herrlichen Anlagen, guckt beim Wetterhäuschen auf den Barometerstand, umkreist den Teich, brummt über die unnützen Schwäne, die sich in behaglichem Müßiggang auf dem Wasserspiegel wiegen, und verzehrt dann hastig an einem der Tische, die unter den schattigen Bäumen aufgestellt sind, sein Frühstück. Die alte Jungfer trippelt vergnügt in das dämmerige Boskett, in dem das entzückend schöne Marmorbild des Donauweibchens von Hans Gasser als Brunnenfigur aufgestellt ist, und füttert mit gleicher mütterlicher Liebe die kecken schnatternden Spatzen wie die zutrauliche Amsel und deren stimmbegabte Sangesbrüder. Das kühle Plätzchen wird auch gern von fleißigen Studenten aufgesucht, die ihr Pensum in frischer Luft durchnehmen und in den Erholungspausen das heitere Treiben um sich beobachten. Um die Mittagsstunde sieht man wohl auch manch müdegehetzten Stellenlosen hier zu kurzer Rast weilen, der die Speisestunde verträumt und sich die Sonne warm in den Mund scheinen läßt.
In den Nachmittagsstunden entwickelt sich ein buntbewegtes Leben. Geputzte Menschen wandeln plaudernd und lachend durch die schattigen Laubgänge, erfreuen sich an dem schönen Kundmannschen Schubertdenkmal, umkreisen die Bronzebüste des verdienstvollen Bürgermeisters Zelinka oder sitzen in eifrigem Klatsche auf den eisernen Stühlen, die längs der Rasenparzellen aufgestellt sind und gegen ein kleines Entgelt vermiethet werden. Die mit Tischen bestellte Terrasse vor dem Kursalon ist von einer eleganten, Kaffee trinkenden und Eis schlürfenden Menge besetzt. Die Böschung dieser Terrasse bildet ein kleines Rosenboskett, an dessen Rand ein Blumenflor von mehr oder minder reizenden Damen sitzt, welcher die Vorüberwandelnden einer scharfen Musterung unterzieht und ihre Toiletten mit nicht immer wohlwollendem Kennerblick prüft. Die Jugend und Anmuth findet auch hier schmeichelhafte Bewunderung. Manche zärtliche Mutter führt hierher mit staunenswerther Ausdauer ihre Töchter, um sie in vortheilhafter Beleuchtung und idyllischer Umrahmung den Blicken der „heirathspflichtigen“ Männerwelt auszusetzen.
In den späten Nachtstunden hat das Gartenbild ein ganz anderes Gepräge. Einzelne Eilige, welche den kürzeren Weg durch den Park von der Vorstadt Landstraße in die innere Stadt wählen, huschen hastig durch die einsamen Wege. Hie und da sucht ein Passagier der „grünen Bettfrau“ ein Ruhelager auf einer der versteckten Bänke, wird jedoch bald vom „Auge des Gesetzes“ erspäht und aufgescheucht. Zuweilen auch tönt ein Schuß durch die stille Nacht und die Gartenwächter finden dann auf eine Bank hingestreckt, ein blasses Menschenkind, das auf die Bilanz eines stürmischen oder mühseligen Lebens einen bleiernen Schlußpunkt aus dem Laufe eines Revolvers gesetzt hat.
Doch mit dem Morgengewölk verschwindet das unheimliche Bild; das Vogelvolk singt in den Zweigen seine tausendstimmige Symphonie, die Morgensonne streut blitzende Juwelen auf Gras und Blumen, die Arbeiter säubern die Kieswege, die Gärtner bespritzen Blumenbeete und Rasen mit mächtigen Wasserstrahlen, und allmählich finden sich auch die ersten Gäste ein, die mit sichtlichem Behagen die würzige Luft einathmen und den Zauber des jungen Tages genießen.
Das Bild des Gartenlebens, das wir hier entworfen, wiederholt sich mit mehr oder weniger veränderten Zügen auch in den übrigen öffentlichen Gärten Wiens. Die Lage des Stadttheils, der Grad der Beliebtheit und die Art der Gartenanlage haben freilich einen wesentlichen Antheil an der Gestaltung. Und da giebt es wohl keinen größeren Gegensatz zu dem eben geschilderten Bilde als den Augarten in der Leopoldstadt. Einst ein Lieblingsaufenthalt der vornehmen Wiener Gesellschaft, ist dieser stattliche Park mit seinen uralten Alleen und Baumgruppen heute öd und einsam. Vereinzelte Kindergruppen mit ihren Bonnen und Kindermädchen, hie und da ein ruheliebender Besucher, der in den weitläufigen Anlagen ungestört lesen will, ein hypochondrischer Luftkneiper, der durch die ernsten ehrwürdigen Kastanienalleen trabt, sie bilden heute die einzige Staffage dieses großen Gartens, der nur zur Sommerszeit belebter wird, wenn hie und da an Nachmittagen ein Konzert stattfindet. Wie so ganz anders war es im vorigen Jahrhundert um den Garten bestellt, als Josef II., der „Schätzer der Menschheit“, seinen zeitweiligen Sommersitz dort aufgeschlagen hatte. Noch heute sieht man über dem Portal die von Kaiser Josef eigenhändig verfaßten Widmungsworte: „Allen Menschen gewidmeter Belustigungsort von ihrem Schätzer.“ Unter dem Schatten der mächtigen Bäume wandelte der edle Menschenfreund fast täglich und verkehrte leutselig mit dem Volke, das in hellen Scharen herbeiströmte, um seinen geliebten Monarchen zu sehen. Noch heute erzählt man sich zahlreiche Anekdoten über den menschenfreundlichen Sinn dieses Fürsten, den er im Umgang mit dem Volke bethätigte. Zu seiner Freundin, der Fürstin Windischgrätz, welche einstmals ihre Verwunderung ob seines herablassenden Wesens ausdrückte, sagte er die denkwürdigen Worte: „Wollte ich immer nur mit Meinesgleichen verkehren, so müßte ich zu den Kapuzinern in die Kaisergruft hinabsteigen.“
[455] Damals hatte aber auch der Adel und das elegante Wien den Augarten zu seinem Lieblingsaufenthalt erkoren und dem Bedürfniß nach angenehmer Zerstreuung entsprangen die denkwürdigen Morgenkonzerte, die kein Geringerer als Mozart veranstaltete. Der Glanz und Luxus, der bei diesen Zusammenkünften entfaltet wurde, die geputzte Menge in farbenprächtigen Kostümen und Uniformen, dazu die liebliche Musik des unsterblichen Tonmeisters mögen in diesem Rahmen Eindrücke von überwältigender Wirkung geboten haben.
Heute ist der schöne Park vergessen und verlassen, und nur das liebliche Sängervolk in den Zweigen, die Nachtigallen und Amseln, die einst der edle Kaiser hierher verpflanzte, zwitschert das ewige Lied von Lebensdrang und Daseinsfreude, mit dem der große Tonkünstler Mozart die Herzen seiner Zeitgenossen so mächtig zu ergreifen wußte. –
Der Bezirk Wieden, sowie der angrenzende Bezirk Landstraße haben die meiste Auswahl in großen Gartenanlagen. Außer dem Stadtpark befinden sich hier zwischen der Heugasse und dem Rennweg der Botanische Garten und zwei geschichtlich denkwürdige, großartige Anlagen, die dem Besuch des Publikums geöffnet sind: der Schwarzenberggarten und der Belvederegarten. Der Botanische Garten, eine für die Wissenschaft höchst werthvolle Schöpfung voll seltener Pflanzenarten, soll demnächst der Bauwuth theilweise zum Opfer fallen. Er ist trotz seiner Schönheit und seines lehrreichen Zweckes sehr wenig besucht. In der Mitte des Gartens steht ein botanisches Museum mit reichhaltigen und werthvollen Sammlungen, wie man sie sonst in der Welt nur selten in gleichem Umfang antrifft. Das Herbarium zählt über 40 000 Arten; eine Sammlung von getrockneten Früchten 8- bis 9000 Arten. Der Garten, für den Wissensdurstigen ein aufgeschlagenes Buch voll tiefer Weisheit, ist auch für den Laien ein erquickender Aufenthalt. Man findet keine mathematischen Linien, keine Blumenarabesken, keine steifaufmarschierenden Baumgrenadiere, die den Besucher empfangen wie die aufwartenden Kellner im Frack und weißer Krawatte; dafür aber einen Farbenzauber und einen Formenreichthum, der dem Auge herrlich wohlthut.
Nicht weit davon ist der im italienischen Zopfstil gehaltene Belvederegarten mit seinen abgezirkelten Beeten, seinen zugestutzten Buchsbaumhecken und seinen glattrasierten Baumreihen gelegen. Zwei Paläste, das untere und das obere Belvedere, einst der stolze Sommersitz des großen Generalfeldmarschalls Prinz Eugen, begrenzen den terrassenförmig ansteigenden Garten. Vor kurzem noch waren diese Paläste mit zwei reichhaltigen, weltberühmten Sammlungen belegt, der Ambraser Sammlung und der kaiserlichen Gemäldegalerie, die beide jetzt in den prunkvollen Räumen des kunsthistorischen Museums untergebracht sind. Der Belvederegarten, schon vordem zumeist nur von Studenten und Liebespärchen besucht, ist seit der Uebersiedlung der kostbaren Schätze noch mehr vereinsamt und gemahnt mit seiner steifen Pracht und den absonderlichen eckigen Linien, dem Werke des Hofgartenkünstlers Anton Zimmer, an das Vergängliche aller irdischen Herrlichkeit. Wenn der Mond sein magisches Licht über die lebenden, aber stummen Zeugen eines großen Zeitalters ergießt, dann mag die angeregte Phantasie die schneeig blinkenden Kieswege mit den Spukgestalten jener farbenfrohen Zeit bevölkern . . .
Von der zweiten Terrasse, zu welcher von beiden Seiten breite, mit Allegorien der Monate von Hans Gasser geschmückte Steintreppen führen, genießt man die berühmte Fernsicht auf Wien und das sanft ansteigende Hügelgelände. Schon die Römer hatten die beherrschende Lage dieses Ortes erkannt; denn hier stand ihr Castrum, und auch der berühmte Feldherr verrieth seinen taktischen Spürsinn, als er zur Zeit des kunstfreundlichen Karl VI. 1724 an dieser Stelle den herrlichen Bau von Hildebrand aufführen ließ.
Der schattige, im englischen Stil angelegte Schwarzenberggarten erfreut sich eines weit zahlreicheren Besuches. Dazu mag außer seinem erquickenden Schatten wohl hauptsächlich die vortheilhafte Lage zwischen den volkreichen Bezirken Wieden und Landstraße, sowie die Nähe der Stadt beitragen. Der Hochstrahlbrunnen, seit dem Bestand der Hochquellenleitung eine Wiener Sehenswürdigkeit, die aber wegen des chronischen Wassermangels nur selten zeigt, was sie kann, ziert den großen freien Raum vor dem Schwarzenbergpalais, einer Schöpfung des genialen Fischer von Erlach. Das malerische Schloß bildet einen überaus wirksamen Abschluß des Schwarzenbergplatzes, einer der schönsten Veduten Wiens.
An schönen Sommertagen wimmelt es hier von Besuchern. Die Kinderwelt ergötzt sich unter der großen Kastanienallee oder umschwärmt den großen Teich auf der zweiten Terrasse mit seiner malerischen grünen Umrahmung, betrachtet von der bizarren Tuffsteingrotte aus das geschäftige Treiben der Enten und Schwäne und findet in den vielverzweigten schattigen Wegen einen willkommenen Tummelplatz für ihre heiteren Spiele. Der Rasengrund ist durch seinen Blumenflor berühmt, der in großen Glashäusern gezogen wird. Geräumige Wasserbecken mit Springbrunnen, Goldfischen und Wasservögeln bringen an passenden Orten Lust und Leben in die Landschaft. Der Charakter des Parkes zeugt in seiner Würde und seinem maßvollen Prunke von dem erlesenen Geschmack des Geschlechtes, das diese herrliche Oase geschaffen hat. Ehrwürdige Baumriesen blicken gleich stolzen Ahnen auf die zu ihren Füßen wimmelnden Epigonen herab und flüstern sich Geschichten zu von glanzvollen Festen und rauschenden Vergnügungen, die auch in unseren Tagen zeitweilig Nachfolge fanden. Der Schwarzenberggarten ist unstreitig der beliebteste und besuchteste unter den Privatgärten Wiens, und es giebt wohl kaum einen Wiener der östlichen Bezirke, dem die Nennung dieses Namens nicht unvergeßliche, frohe Erinnerungen wachrufen würde.
Von weniger ehrwürdigem Alter ist der erst anfangs dieses Jahrhunderts (1824) von Kaiser Franz I. an Stelle der alten Befestigungswerke angelegte Volksgarten. Er ist stets gut besucht; denn seine günstige Lage am äußeren Burgplatz, die täglichen Konzerte im Pavillon des Restaurationsgartens, die prachtvolle monumentale Umrahmung machen ihn zu einem beliebten Aufenthalt von alt und jung. Die Gartenanlage bietet nichts Bemerkenswerthes; auch hier findet man schöne Alleen, farbige Blumenbeete und saftiggrüne Rasenplätze, in deren Mitte sich kleine Wasserbecken mit kunstvollendeten Marmorgruppen Tilgners u. a. befinden. Fast im Mittelpunkt des Gartens erhebt sich der prächtige Theseustempel, eine getreue Nachahmung des athenischen Vorbildes; noch vor kurzem beherbergte er das herrliche Meisterwerk Canovas „Sieg des Theseus über den Minotaurus“, aber dieses wurde vor einiger Zeit in das kunsthistorische Museum [456] übergeführt, wo es die Stirnseite des Stiegenhauses ziert. In der Nähe des Restaurationsraumes befindet sich das schöne Grillparzerdenkmal von K. Kundmann mit Reliefs von Rud. Weyr.
An Dienstagen und Freitagen finden im Restaurationsgarten, der an diesen Tagen durch ein Gitternetz von dem übrigen getrennt ist, die beliebten Gartenfeste mit der Kapelle Strauß und einer Militärkapelle statt, mit prächtiger Beleuchtung, starkem Besuch und erhöhtem Eintrittspreis. Draußen vor dem Netze sammelt sich dann eine dichte Schar, welche sich den Genuß ihrer Lieblingsmusik auf billigere Weise verschafft und sich dabei noch das Vergnügen machen kann, die elegante Welt der drinnen Lustwandelnden neugierig anzustaunen.
Manche Sitze der alten Adelsgeschlechter liegen heute noch inmitten von ausgedehnten Parkanlagen, die zum größten Theile, dank dem schönen Gemeinsinn lhrer Besitzer, dem Besuch des Publikums zugänglich sind. In erster Linie muß hier der Liechtensteinsche Hofgarten im neunten Bezirk genannt werden, in dessen vorderem Theile sich das einstmalige Sommerpalais mit der berühmten Liechtensteinschen Bildergalerie befindet. Viele von den adeligen Gartenpalästen sind aber im Laufe der Zeit in fremden Besitz übergegangen. So das Eßterhazypalais mit dem von ungezählten Kinderscharen wimmelnden Garten in den Besitz der Gemeinde. Beide bildeten im vorigen Jahrhundert den stolzen Sommersitz des allmächtigen Ministers Fürsten Kaunitz. Der einstmalige Fürst Rasumofskysche Garten auf der Landstraße ist vollständig in Bauplätze verwandelt, der Graf Schönbornsche Garten im achten Bezirk eine öffentliche städtische Anlage geworden.
Die grünen Oasen alle aufzuzählen, welche sich noch hier und da zwischen den neu erstehenden Häusergevierten erhalten haben und die oft mit rührender Liebe gepflegt werden, würde zu weit führen. Von bemerkenswerthen Anlagen seien nur noch erwähnt die Rothschildschen Gärten auf der hohen Warte und in der Theresianumgasse, der Springersche Garten in der Alleegasse, der Clam Gallas’sche, ehemals Dietrichsteinsche Garten in der Währingerstraße, der Garten des Allgemeinen Krankenhauses, der ausgedehnte prachtvolle Park der Landesirrenanstalt; ferner die öffentlichen Anlagen vor den k. k. Hofmuseen, dem neuen Rathhaus, auf dem Börsen-, Schiller-, Beethoven-, Maximilianplatz und endlich die Parkanlage auf der Türkenschanze, eine Schöpfung der jüngsten Zeit. Die Eröffnung dieses Parkes wurde zu einem denkwürdigen Merktag in der Geschichte der Stadt Wien, da der Kaiser bei dieser Gelegenheit die baldige Beseitigung der Linienwälle und die Schaffung Groß-Wiens verkündete.
Die Gärten und Anlagen, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, genügen dem örtlichen Erholungsbedürfnisse der einzelnen Bezirke und Vorstädte und sind ein sehr werthvoller Ersatz für die Sommerfrische, welche die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer Großstadt entbehren muß. Aber außer dem Wienerwald, der füglich als ein Naturpark im großartigsten Stile gelten kann, besitzt Wien noch zwei große, herrliche Lustquellen, die zu gleicher Zeit Hunderttausenden Erquickung und mannigfache Zerstreuung bieten: den k. k. Lustpark zu Schönbrunn und den Prater.
Unmittelbar angrenzend an die südwestlichen Vororte Meidling, Gaudenzdorf, Sechshaus breitet sich der herrliche, in großartiger Vereinigung von Kunst und Natur prangende Park von Schönbrunn über ein sanft ansteigendes Hügelgelände aus. Das weithinschimmernde Schloß, nach den Plänen Fischers von Erlach unter Maria Theresia und Kaiser Josef II. erbaut, nimmt den untersten Theil des weitläufigen Geländes ein, an den sich ein großartiges Gartenparterre, mit Blumenbeeten, Bassins, Marmorgruppen geschmückt, anschließt.
Mächtige Baumwände, aus deren Nischen kostbare Marmorstatuen hervorblinken, begrenzen das Parterre zu beiden Seiten. Den Abschluß nach rückwärts bildet eine Anhöhe, an deren Fuß sich ein großes Bassin mit einer gewaltigen Marmorgruppe befindet: „Thetis, den Schutz Neptuns für die Fahrt des Achilles erbittend.“ Dahinter führt eine sanfte Anhöhe bis zur „Gloriette“, einem herrlichen, hellschimmernden Bau, von luftigen Säulenhallen flankiert und gekrönt mit einer barocken, aus Kriegstrophäen gebildeten Giebelgruppe. Von hier aus genießt man eine entzückende Fernsicht über Wien, das Wienthal und die südlichen Höhen des Wienerwaldes.
Rechts und links von dem genannten Parterre sind die eigentlichen Gartenanlagen mit großen schnurgeraden Alleen und anmuthiger Abwechslung von Baumgruppen, Hecken und freien springbrunnengeschmückten Plätzen. Die Nachahmung einer römischen Ruine in einem romantischen Walddickicht, ein auf vier großen, vergoldeten Schildkröten ruhender Obelisk, Springbrunnen mit Marmorgruppen bilden wirksame Abschlüsse der im Zopfstil gehaltenen, wie grüne Mauern stehenden Alleen. Ein sogenannter Irrgarten mit mäandrisch verlaufenden Wegen ist ein beliebtes Ziel der Sonntagsbesucher. An schönen Sommertagen fluthet [457] eine nach vielen Tausenden zählende Volksmenge durch die stattlichen Laubgänge, hinan zur Gloriette oder in die schattigen waldähnlichen Theile des Gartens. Das größte Gewoge jedoch herrscht in dem großen zoologischen und botanischen Garten, und insbesondere bilden in der sogenannten „Menagerie“ der Bärenzwinger, die Käfige der Löwen und Tiger, sowie das Affenhaus das Entzücken der Kinderwelt.
Die prunkvollen Räume des Schönbrunner Schlosses haben große geschichtliche Ereignisse gesehen. Als der korsische Eroberer Wien im Jahre 1809 eingenommen hatte, schlug er in Schönbrunn sein Hauptquartier auf. Der idyllische Ort mochte ihm sicherer erscheinen als die feindliche Hauptstadt; dennoch wäre er beinahe das Opfer eines Attentates geworden, das der thüringische Pastorssohn Friedrich Raps an der Freitreppe des Schlosses auf ihn unternommen hatte. Raps wurde, da er sich standhaft weigerte, eine feierliche Erklärung abzugeben, daß er in Zukunft jede Feindseligkeit gegen die Person des Kaisers unterlassen wolle, in dem nahen Gatterhölzel erschossen. Als dann die Zeit des Wiener Kongresses im Jahre 1815 kam, da war Schönbrunn der Schauplatz rauschender Feste von märchenhafter Pracht. –
Der Prater! Wo immer man Wien und seine Bewohner zeichnen will, da darf das Bild des Praters mit seinem bunten Leben und seiner tausendfältigen Bethätigung voll Frohsinn und Daseinsfreude nicht fehlen.
Wenn der müde Leib der Riesenstadt an schwülen Sommertagen wie in einem quälenden Traume befangen ruht, wenn eine mißfarbige, aus dem Qualm und
Brodeln der tausend Essen gebildete Wolke gleich einem schweren Alp über ihr liegt, da scheint es zuweilen, als ob die Seele sich geflüchtet hätte in die heiteren Gefilde eines seligen
Traumlandes, in welchem die Menschen gut und frohgestimmt wandeln, Hand in Hand, wie Brüder einer besseren Welt, die von des Lebens Qual und Sorge, von Kampf und Zwietracht nichts wissen.
Zu Tausenden geht dann der Zug nach den thaufrischen Auen, wo Milch und Honig fließt, wo es singt und klingt wie im verzauberten Walde, wo allen Sinnen muntere Quellen springen –
in Miethwagen und Karossen, zu Fuß in ungezählten Scharen wandeln sie hinab in den kühlen Schatten der hundertjährigen Bäume, an den erquickenden Born einer beliebten Bierquelle.
Von der Ringstraße bis zum Lusthaus – fast zwei Wegstunden – eine ununterbrochene vierfache Wagenkolonne, die in der „Nobel-Allee“ ab und zu rollt, voll schöngeputzter, fröhlich plaudernder
Insassen, zwischen lebendigen Mauern von schwatzenden und lachenden, spottenden und bewundernden Zuschauern. Wenn der Korso vorüber ist, verliert sich die tausendköpfige Menge in die
zahlreichen Bierwirthschaften des „Volkspraters“ („Wurstelpraters“) oder staut sich vor den Buden mit ihren Jahrmarktswundern, den Riesen und Zwergen, den Panoramen und Panoptiken,
den Kraftmessern und Schießstätten, Ringelspielen, Schaukeln und Haspeln. Die Ausrufer locken die Gaffer mit betäubendem Wortschwall in ihre Buden, deren schönste Stücke, Affen, Papageien
und gemalte Reklamen, außen als Lockspeise ausgestellt sind. Aus der Ferne, von den Kaffeehäufern der „Nobel-Allee“ klingen die Walzer der Militärkapellen
herüber, dazwischen die ohrenzerreißenden Töne einer verstimmten Drehorgel und der kühne temperamentvolle Rhythmus einer Zigeunerkapelle – dazu das Tosen der frohbewegten Menge –
Der Kleinbürger und der Handwerksmann, der Arbeiter und die Magd, die arme Handarbeiterin und der gemeine Soldat – sie finden hier – ihren bescheidenen Theil an des Lebens Freuden und genießen ihn mit vollen Zügen. Was die Woche auch dem kleinen Manne an Mühsal und Beschwerden bringt: ein Sonntagnachmittag, mit Kind und Kegel im Prater verjubelt, söhnt ihn mit seinem harten Schicksal aus. Man freut sich der Stunde und hat auch für die Freude des anderen ein wohlwollendes Gemüth, das sich äußert in einem fröhlichen patriarchalischen Verkehr, in dem Bemühen, durch eigene Beiträge von Witz und Laune die allgemeine Stimmung zu erhöhen.
Zunächst spiegelt sich diese Stimmung in der Theilnahme an den Freuden der Kinderwelt. Das ist ein wahres Labsal für die Großen, in den leuchtenden Augen ihrer Kinder zu lesen, wie schön und glücklich ihnen der Augenblick erscheint. Da reitet der kleine Pepi nun auf dem Holzschimmel, von dem er solange phantasiert hat. Wie der kühnste Reiter sitzt er im Sattel und die Bewegung des Karussells ist für seinen Wagemuth viel zu behaglich – er peitscht und spornt das Thier und jauchzt und seine Wangen glühen – und dann wieder sitzt er mit andächtiger Miene vor dem Wursteltheater und verfolgt die bösen Thaten [458] und den Uebermuth des Kasperl mit athemloser Spannung und jubelt und lacht und klatscht in die Hände, wenn diesem ein toller Streich gelungen ist.
Aber auch die großen Kinder finden hier Befriedigung ihrer Schau- und Lachlust. Dort oben auf der „Bawlatschen“ (Podium) steht ein buntbemalter Hanswurst und ein breitmauliger Pierrot, welche allerlei Schabernack treiben; der Haupteffekt ist eine Prügelei, die niemals ihre Wirkung auf die anspruchslosen Zuschauer verfehlt. Auf dem Tanzboden nebenan stehen sie dicht gedrängt, daß keine Stecknadel zur Erde fallen könnte, und dennoch tanzen sie, die Marianka und der István, die Resi und der Ferdl, mit wunderbarer Ausdauer, obwohl sie nicht vom Platze rücken und der Schweiß in Strömen über ihr Antlitz rieselt.
Wenn die Vergnügungen des Wurstelpraters durchgekostet sind, dann mahnt das Familienhaupt an die leiblichen Bedürfnisse. Ein jeder sucht nun mit den Seinen das Lokal auf, wo es ihm am behaglichsten dünkt. Unter den schattigen Kastanien und Linden des Schweizerhauses, des Hirschen, bei Kaubek oder Hauswirth, beim Eisvogel oder beim Prochaska mit seiner Damenkapelle wird dem Gambrinus fleißig zugesprochen; der frugale Imbiß, bestehend aus Wurst, schwarzem Rettich oder kaltem Aufschnitt, wird ungeniert aus den Taschen geholt oder von dem „Salamucci“ (italienischen Käsehändler) gekauft, der geschäftig zwischen den Tischen herumläuft und seine Ware mit lauter Stimme: „Duri, duri, Salamucci Käso!“ ausruft.
Der frische Trunk, die kühle Abendluft, die heiteren Gespräche verbreiten die behaglichste Stimmung.
„Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
Beim Kaiserfest am 18. August und bei anderen außergewöhnlichen Anlässen gestaltet sich der Rückzug in die Stadt besonders großartig. In den Alleen und zwischen den Baumgruppen zucken farbige Lichter auf, die wie die Irrwische im Märchen kommen und verschwinden. Sie stammen von Tausenden von Lampions, die den nach Hause ziehenden Gruppen als Leuchte dienen. Bis in die späte Nacht sieht man die gaukelnden Lichtfunken durch die Gebüsche schimmern. Unter Gesang und frohen Scherzen ziehen die angeheiterten Scharen ab, und fast nie vernimmt man einen störenden Mißton.
Um das Praterbild erschöpfend abzuschildern, bedürfte es noch mancher ergänzender Züge. Der großartige Naturpark mit seinen weitläufigen Auen, saftigen Wiesengründen und uralten Baumgruppen, die den Landschaftern unerschöpfliches Material für ihre Studien liefern, war ehedem von Hirschen und Rehen bevölkert, die sich so sehr an die Menschen gewöhnt hatten, daß sie den Wagen in der Hauptallee nachliefen und aus der Hand der Insassen Brot nahmen.
Auch an Vormittagen hat der Prater sein treues Stammpublicum. Genesende und Bewegungsbedürftige machen in den schöngepflegten Alleen ihren Morgenspaziergang, Marienbader Kandidaten ihren Dauerlauf.
Für die liebe, schulfreie Jugend aber ist der Prater in den Vormittagsstunden Prairie und Urwald. Hier können die Jungen den Eingebungen ihrer kindlichen Phantasie folgen und in ungebundener, von keinem Gartenwächter und keiner Warnungstafel eingeschränkter Freiheit die romantischen Träume von Lederstrumpf und Indianerkämpfen auf ihre Art verwirklichen. Und so bildet der Prater den einzigen Ersatz für die Prairiegründe, welche unseren jugendlichen Naturmenschen durch die fortschreitende Stadterweiterung entrissen worden sind.
Alle Rechte vorbehalten.
Rosenduft.
Wie der Berliner seinen Thiergarten, so lobt der Leipziger sein Rosenthal, das schon in alten Beschreibungen der Lindenstadt als ein „angenehmer Ort zwischen den Flüssen Pleiße und Elster“ erwähnt wird. Nur sind gerade die Rosen in diesen Wald- und Parkanlagen äußerst selten, herrliche Eichen und Buchen bilden des Spaziergängers Freude. Aber man hört und liest jetzt öfters von Leipziger Rosenfeldern, und es verlautet sogar, daß die altberühmte Metropole des deutschen Buchhandels und vielbesuchte Meßstadt sich anschicke, dem oft besungenen Schiras, das sich der schönsten Frauen und der herrlichsten Rosen Persiens rühmt, den Jahrhunderte alten Ruf streitig zu machen. Das ist nicht unwahr, denn schon seit lange besteht in Leipzig ein Haus, das mit den „Wohlgerüchen Arabiens“ nicht nur Handel treibt, sondern sie auch zu veredeln oder gar durch feinere Düfte zu ersetzen sucht; seine erfinderischen Chemiker haben nun seit zehn Jahren auch die Herstellung eines der kostbarsten Riechstoffe, des Rosenöls, in die Hand genommen und zu diesem Zwecke die Rosenfelder Leipzigs geschaffen.
Zur Zeit der Rosenblüthe sind die mehrere hundert Morgen umfassenden Anlagen eine wirkliche Sehenswürdigkeit, die man am allerwenigsten in der ziemlich eintönigen Ebene des Schlachtfeldes vom 18. Oktober 1813 erwartet; denn die Rosenfelder liegen etwas weit, etwa acht Kilometer von der Stadt ab, in der Nähe der Dörfer Groß- und Klein-Miltitz an der thüringischen Eisenbahn. Wenn ich jetzt auf den Flügeln des Dampfes über diese geschichtlich berühmte Ebene dahinbrause, wo einst des Korsen Uebermuth gebrochen wurde, wo weiter westwärts bei Lützen Gustav Adolf den Heldentod starb, dann kommt mir der Gedanke in den Sinn, daß die Felder um Miltitz auch eine Wahlstatt bilden, auf welcher der deutsche Geist einen Sieg über Perser, Türken und Franzosen davongetragen hat, mit dem Unterschied, daß hier nur mit friedlichen Waffen gekämpft wurde und nur deutsche Rosen auf der Wahlstatt ihren herrlichen Duft aushauchen mußten.
Aus den Sagen aller Kulturvölker leuchtet uns als Lieblingsblume der Götter und der Menschen die Rose entgegen. Kein Wunder, daß man frühzeitig versuchte, den Duft, welcher der Blume entströmte, zu fangen, ihn für Zeiten aufzubewahren, da es keine Rosenpracht in Haag und Garten gab! Das älteste und einfachste Mittel bestand wohl darin, daß man die Blüthen trocknete oder die frisch zerquetschten zu Rosenperlen formte und diese zu Rosenkränzen aufschnürte, wie sie noch heute hier und dort als wohlriechender Schmuck von deutschen Mädchen und Frauen getragen werden. Freilich bieten diese getrockneten Rosen nur eine schwache Erinnerung an den frischen vollen Duft des Sommers.
Bald aber lernte man, den flüchtigen Duft wirklich zu fangen, ihn in Wasser oder in Fetten und Oelen aufzuspeichern. Die Kosmetik stand im kaiserlichen Rom in hoher Blüthe, die Römer waren bereits Meister in Bereitung wohlriechender Salben und Oele, und diese ihre Künste gingen auch auf die Völker des Mittelalters über, ja, noch in unseren Tagen arbeiten die Parfümeure vielfach nach römischen Grundsätzen; denn Fette und Oele sind ausgezeichnete Duftfänger, und es giebt sogar Blumen, wie die Maiblumen, Jasminblüthen und Tuberosen, die ihren Duft nur Fetten und Oelen anvertrauen.
In früheren Jahrhunderten wurde Rosenöl in großen Mengen dargestellt und das „Oleum rosatum“ durfte in keiner Apotheke fehlen. Es galt aber bei den Völkern des Nordens weniger als Pomade oder Haaröl, denn vielmehr als Heilmittel. Man bereitete zahlreiche „Rosenspezialitäten“, wie Rosenbalsam, Zuckerrosat, heilkräftige Rosenwässer u. dgl., unterschied in der Wirkung die „leibfarbene“ Centifolie von der weißen Rose, legte der Moschusrose andere Eigenschaften bei; kein Wnnber, daß in einem Arzneibuche aus dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts dem Apotheker noch 39 Rosenspezialitäten zur Anfertigung empfohlen werden! Die Rose sollte gar vieles, ja beinahe alles heilen, und die aus ihr bereiteten Medikamente wurden ausdrücklich als „Herzstärkung“ gerühmt; der „gemeine Mann“ jener Zeit pflegte während der Rosenblüthe eine Handvoll Blüthenblätter in einem Topf voll Wasser abzukochen und die Brühe zur Herzstärkung und Blutreinigung zu trinken.
[459] Aus anderen Gründen wurde der Rosenduft im Orient hochgeschätzt. Das südliche Klima wirkt erschlaffend auf die Nerven ein, weshalb der Südländer von jeher ein größeres Bedürfniß nach erregenden Mitteln hatte; er fand ein solches auch in den verschiedenen Wohlgerüchen, die ja immerhin rasch und vorübergehend den Körper etwas erfrischen, erregen und beleben können, und unter diesen Wohlgerüchen nahm der Rosenduft stets eine hervorragende Stelle ein. Die Orientalen bedienten sich aber, um ihn zu fangen, weniger der Fette und Oele als vielmehr des Wassers. Rosenwasser ist eine alte orientalische Errungenschaft. Im neunten Jahrhundert war Persien der Hauptlieferant, dort stand die Rosenkultur in hoher Blüthe. War doch die Provinz Farsistan mit der Hauptstadt Schiras unter der Herrschaft des Kalifen Mamun verpflichtet, 30000 Flaschen Rosenwasser als Tribut nach Bagdad abzuliefern! Wohin die Araber auf ihren Siegeszügen kamen, dorthin brachten sie auch ihre Damascenerrosen und das Rosenwasser mit und die Türken thaten es ihnen gleich. Mit Rosenwasser wurden Tempel und Kirchen zu Moscheen „eingeweiht“. So wollte Sultan Saladin 1188 in das von ihm eroberte Jerusalem erst einziehen, nachdem alle Wände des in eine Moschee verwandelten Tempels mit Rosenwasser gereinigt wären, und es wird erzählt, fünfhundert Kamele seien kaum imstande gewesen, die hierzu nöthige Menge herbeizuschleppen. Auch Mahomet II. ließ nach der Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 die Kirche der Heiligen Sophia durch Rosenwasser zur Moschee umwandeln. Vasco da Gama fand auf seiner Entdeckungsfahrt nach Indien die Araber an der Ostküste von Afrika mit Rosenwasser versorgt, und noch heute begegnet man diesem Parfüm bei den reichen Sklavenbesitzern an den Ufern des Kongo im „dunkelsten“ Afrika.
Die ursprungliche Herstellungsweise des Rosenwassers bestand darin, daß man Rosenblüthen mit Wasser übergoß, das Gemisch an der Sonne stehen ließ und nach einiger Zeit das mit dem Dufte gesättigte Wasser abgoß, Dieses Verfahren ist unsicher, da dem Duftsammler die eintretende Fäulniß oft einen Strich durch die Rechnung macht. Es war darum ein großer Fortschritt, als man die Destillation zu diesem Zwecke einführte, d. h. Rosenblüthen in einer Destillierblase mit Wasser übergoß und das Wasser abträufeln ließ, Das in der Kühlvorlage gesammelte Wasser erwies sich als besonders wohlriechend, die Dauer der Herstellung wurde abgekürzt; naturgemäß blieb aber das Rosenwasser bis auf die jüngste Zeit ein Erzeugniß von zweifelhafter Haltbarkeit.
Auf diese Weise hatten die Menschen den Rosenduft zu fangen und aufzubewahren gelernt; es gelang ihnen aber nicht, den Riechstoff rein darzustellen; niemand vermochte zu sagen, wie der duftende Stoff aussehe. Das echte Rosenöl, der eigentliche Träger des Rosenduftes, scheint erst in neuerer Zeit bekannt geworden zu sein.
Die älteste uns bekannte Nachricht über das ätherische Oel der Rose stammt aus dem Anfang des siebzehnten Jahrhunderts. Eine romantische Geschichte knüpft sich an seine Entdeckung, Der Großmogul Jehan Ghih liebte ein junges Weib Namens Nurmahal, das schon verheirathet war. Nach orientalischem Gewaltherrscherbrauch ließ Jehan Ghih den Mann der schönen Frau töten, und die junge Witwe wurde seine Gemahlin. Im Jahre 1612 lebte das neue Paar in Szinagar in Kaschmir, wo sich ein Lustgarten befand, in welchem Teiche und Gräben mit Rosenwasser gefüllt waren. Eines schönen Tages erblickte die Fürstin auf dem Spiegel dieses Wassers eine ölige, schaumartige Masse von köstlichstem Rosengeruch, die sie für ihren Gemahl sammelte. Das war das echte Rosenöl. In Europa wurde es zuerst von Kämpfer beschrieben, der im Jahre 1684 Persien bereiste und die Pracht der Rosengärten von Schiras nicht genug rühmen konnte; er nannte es butterartig, äußerst wohlriechend und theurer als Gold.
Wir glauben jedoch mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen, daß das echte Rosenöl schon früher bekannt war; denn die Herstellung des Rosenwassers mußte unbedingt zu der Entdeckung führen. Schon mit sehr rohen Mitteln lassen sich kleine Mengen Rosenöls gewinnen. Wenn man mit einem und demselben Wasser frische Rosenblüthen wiederholt übergießt und das Gemisch dem Sonnenlichte aussetzt, so kann unter günstigen Umständen das Rosenöl in Form eines öligen Schaumes sich an der Wasseroberfläche sammeln und von dieser mit Wattebäuschchen abgeschöpft werden. Diese Bereitungsart wird in einer älteren französischen Enzyklopädie empfohlen. Beim Destillieren des Rosenwassers tritt diese Erscheinung um so leichter ein, wenn man bestrebt ist, möglichst starkes Rosenwasser zu bereiten. Nun waren aber Destillierapparate schon im Alterthum bekannt und wurden nachgewiesenermaßen von den Arabern in Spanien zur Bereitung von Parfümen benutzt.
Auch in Deutschland war echtes Rosenöl seit langer Zeit bekannt, und zwar nicht als ein „arabischer Wohlgeruch“, sondern als ein einheimisches Erzeugniß aus deutschen Rosen. In verschiedenen Schriften aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts finden wir Angaben über die beste Herstellungsart des Rosenöls, und da sind auch genaue Anweisungen gegeben, wie man dieses wohlriechende Oel durch Destillation von Rosenblättern in Wasser erhalten kann. Die Mehrzahl der Apotheker bereitete ihr „Oleum rosatum“ durch Uebergießen der Rosenblüthen mit Baumöl, aber die Verfechter des echten Rosenöles verhöhnten geradezu diese rohe Ware. Ihr Erzeugniß sollte die „Quintessenz“ der Rose darstellen. Es könnte sonderbar erscheinen, daß eine so schöne Entdeckung in Deutschland vergessen werden konnte; aber diese Wendung der Dinge war durchaus natürlich.
Wir haben schon mitgetheilt, daß die Rosenspezialitäten nicht um ihres Wohlgeruchs willen, sondern zu Heilzwecken bereitet wurden. Mit den Fortschritten der Medizin im 18. Jahrhundert begann der Glaube an die Heilkraft der Rosen stark zu schwinden und die Herstellnug der Spezialitäten wurde demgemäß eingeschränkt. Das echte Rosenöl war außerdem ungemein theuer und vermochte sich als Heilmittel neben dem billigen Oleum rosatum der Apotheken nicht zu halten. Es konnte zu Ansehen nur bei Völkern gelangen, welche die Wohlgerüche an sich zu schätzen verstanden und entsprechend ihrem Werthe bezahlten. In dieser Lage befanden sich die Deutschen damals nicht, wohl aber die Völker des Morgenlandes, und so kam es, daß bei diesen die ersten und wichtigsten Stätten der Rosenölbereitung entstanden. In dieser Beziehung sind vor allem Persien und Indien hervorzuheben; doch kommt das persische und indische Rosenöl gar nicht nach Europa, da es kaum den Bedarf des Morgenlandes zu decken vermag. Dagegen erwuchsen an den Grenzen der türkischen Macht, an den Abhängen des Balkan vermuthlich zu Anfang des vorigen Jahrhunderts neue Betriebe, welche nunmehr Europa mit dem kostbaren Rosenöl versorgen.
In der Umgebung von Kasanlik liegen die berühmten Rosengärten, in welchen zumeist christliche Bulgaren das sogenannte türkische Rosenöl bereiten. Die frischen Blüthen werden mit Wasser in Destillierblasen gebracht und destilliert; in den Kühlvorlagen sammelt sich das Oel auf dem kondensierten Wasser. Die Ausbeute ist gering und hängt von dem Duftgehalt der Blumen ab, der seinerseits wieder nicht nur durch die Rosenart sondern auch durch die Witterungsverhältnisse bestimmt wird; zur Gewinnung von 1 g Rosenöl sind 2 bis 4,6 kg Rosenblätter erforderlich. Trotzdem ist das Erzeugniß von Kasanlik, an dem sich etwa 120 Dörfer betheiligen, verhältnißmäßig groß und beträgt jährlich je nach dem Ausfall der Ernte 800 bis 3000 kg Rosenöl. Schwankend wie der Ertrag ist auch der Preis, der 600 bis 1000 Mark für das Kilogramm betragen kann. In neuerer Zeit wird auch von den Blumenduftfabrikanten Südfrankreichs in der Nähe von Cannes und Nizza echtes Rosenöl hergestellt; es wird aber zumeist im Lande verbraucht, so das in diesem Artikel die Bulgaren den europäischen Markt beherrschen.
Diese herrschende Stellung des türkischen Rosenöls schien bis vor kurzem unantastbar. Es hatte sich der falsche Glaube eingenistet, das die Rose zur Entwicklung ihres schönsten Duftes der glühenden Wärme südlicher Klimate bedürfe und daß die um Kasanlik gezogene Sorte der Damascenerrose besonders wohlriechend sei. Nun ist aber das Gegentheil wahr; die Rosen besitzen verschiedene Gerüche, die bald an Moschus, bald an Veilchen, bald an Früchte wie Ananas, bald an Hyacinthen erinnern[1], den schönsten echten Rosengeruch entwickelt aber die Centifolie, die mit Recht als die Rose der Deutschen bezeichnet wird. Und was die Hitze anbelangt, die zur Entwicklung eines feinen Duftes unumgänglich sein soll, so ist heute zur Genüge bekannt, das die Balkanprovinzen im Winter fast regelmäßig Temperaturen bis –25° C. aufweisen und daß während der Blüthezeit und Destillation kühle Witterung dem Rosenöl-Verfertiger geradezu erwünscht ist. Außerdem konnte es Fachleuten nicht verborgen bleiben, daß die bulgarischen Destillationseinrichtungen mangelhaft sind und das türkische Rosenöl aus diesem Grunde einen etwas unangenehm brenzligen Beigeruch besitzt.
[460] In Anbetracht dieser Thatsachen stellte die wohlbekannte Fabrik ätherischer Oele von Schimmel und Komp. in Leipzig im Jahre 1884 Versuche an, ob es nicht gelingen würde, in Deutschland aus deutschen Rosen ein gleich gutes Rosenöl wie das bulgarische zu gewinnen. Die mit Sachkenntniß und mit vorzüglichen Apparaten unternommenen Arbeiten wurden von den besten Erfolgen gekrönt; das deutsche Rosenöl übertraf sogar das türkische, es ist ihm nicht nur an Feinheit, sondern auch an Stärke und Nachhaltigkeit des Wohlgeruchs überlegen unb es erzielte auf dem Markte höhere Preise als das türkische. Infolgedessen ward der Beschluß gefaßt, die im Eingang zu diesem Artikel erwähnten Rosenpflanzungen bei Klein-Miltitz anzulegen, und soeben ist inmitten der Rosenfelder eine besondere Fabrik zur Herstellung der Rosenspezialitäten – Rosenöl, Rosenwasser und Rosenpomade – errichtet worden. Wir haben hier eine Musteranstalt in vollem Sinne des Wortes vor uns. Bei der Einrichtung war das Hauptaugenmerk darauf gerichtet, daß jede Aufstapelung von gepflückten Rosen vollständig vermieden werde. Die Rosen wandern sofort, nachdem sie gepflückt sind, in die Apparate und geben infolgedessen ihren Duft in vollster Frische und Feinheit ab. Diesem wichtigen Umstand ist sonst nirgends gebührend Rechnung getragen. In der Türkei z. B. kommen die früh gepflückten Blüthen theilweise erst am Abend zur Destillation, und auch in Südfrankreich lagern die Blüthen, haufenweise aufgeschüttet, oft viele Stunden, bis die Verarbeitung beginnt. Da die neue Miltitzer Fabrik mitten in den Rosenfeldern liegt, so werden hier stets nur so viel Rosen gepflückt, als im Augenblick gebraucht werden, und es vergehen thatsächlich nur wenige Minuten, bis die Rose vom Stock in den Apparat gelangt. Die augenblicklich vorhandene Anlage zur Destillation von Rosenöl ist so umfangreich, daß in ihr täglich bis zu 50000 Kilo Rosen verarbeitet werden können, und doch sind Vorkehrungen getroffen, um dieselbe jeder Zeit mit Leichtigkeit verdoppeln zu können.
Die Menge des erzeugten deutschen Rosenöls war in den ersten Jahren nicht groß; 2 und 4,5 kg waren die ersten Posten. Die Ausbeute wuchs jedoch von Jahr zu Jahr; jetzt sind die Rosenpflanzungen in bester Entwicklung und man rechnet auf größere Erträge. Selbstverständlich hängt alles von der Rosenernte ab, und diese wird durch die Witterungsverhältnisse bedingt; bei nicht zu heißer Witterung während der Blüthezeit wird man hoffentlich von den Leipziger Rosen gegen 40 kg Rosenöl gewinnen können. Das ist noch wenig im Vergleich zu dem, was Kasanlik in die Welt sendet, aber ein Fortschritt ist unverkennbar.
Wir schließen damit unsere Auszüge aus der alten und langen Geschichte des Rosenduftes. Ehe wir von Miltitz scheiden, werfen
wir noch einmal einen Blick auf die blühenden Rosenfelder und das emsige Treiben in den weiten Räumen. Wir verstehen jetzt besser,
was hier erreicht worden ist, und wir nehmen unsern Vergleich nicht zurück: es ist wahr, die Schlachtfelder Leipzigs sind eine neue
Wahlstatt geworden, auf der deutscher Geist und deutsche Arbeit einen glänzenden Sieg errungen haben. C. Falkenhorst.
Alle Rechte vorbehalten.
Der Sänger.
Siegfried Leisewitz ist unbestritten der größte Opernsänger der Gegenwart. Daß Sie auf Ihren Reisen nie von ihm gehört haben, wundert mich. Freilich, so weit da unten – am Kap Horn oder – hm, ja – und dann waren Sie immer mit Seeschnecken, Tintenfischen und so weiter beschäftigt, mit der Flora und Fauna wilder Paradiese. Beiläufig, Sie sprachen gestern von einem Vogel, dessen Eier feiner als unsere Kiebitzeier schmecken – wie heißt er?“
„In den Pampas Teru-tero, nach seinem Rufe; sein lateinischer Name ist vanellus cayanensis.“
„Sie schütteln die lateinischen Namen nur so aus dem Aermel! Ja, ja, Sie waren schon auf dem Gymnasium ein guter Lateiner. Und ist die Milch einer frischen Kokosnuß wirklich so köstlich? Doch da sind wir – sind wir auf Tahiti, wenn ich nicht irre. Und ich wollte Ihnen von unserem Eiland erzählen. Denn der Wohnsitz Ihrer Hoheit ist eine Insel inmitten einer unruhigen, brüllenden See.“
Der dies sprach, war Herr von Aschau, Hofmarschall der Prinzessin Erna; der ihm gelassen zuhörte, war Felix Walter, der neue Arzt Ihrer Hoheit. Sie saßen auf japanischen Porzellansitzen, unter einem japanischen Schirm, auf dem Rasen zwischen Schloß und Park. Wenn die Gebieterin, die leidend war, allein speiste, fand die Tafel für ihren kleinen Hofstaat um sechs Uhr abends statt. So war es auch heute gewesen. Zum Kaffee hatte Herr von Aschau den Hofmedikus ins Freie geladen. Er und Walter hatten zusammen das Gymnasium besucht, dann aber sich aus den Augen verloren und erst seit wenigen Tagen die Bekanntschaft erneuert . . . Der Hofmarschall rauchte eine Cigarette und schlürfte den Kaffee langsam und in großen Pausen. Auf der geschweiften Marmortreppe, die das bräunliche Schlößchen wie ein weißer Kragen umgab, stand ein Lakai und blickte den breiten Baumgang hinab. Denn zu dieser Stunde pflegte der Landesfürst seine tägliche Spazierfahrt mit einem Besuch der Tochter zu schließen. Seine Hoheit verließ dann den Wagen in einer Straße, die längs der Rückmauer des Parkes lief, und kam durch den Baumgang „unverhofft“ ins Schloß. In kleinen Schwachheiten verräth sich oft eine große Zärtlichkeit.
Das „fürstliche Jagd- und Lusthaus Solitude“, das außer einem Prachtsaal nur etwa ein Dutzend Wohnzimmer enthielt, war im üppigsten Rokokostil einst auf freiem Felde erbaut worden, jetzt stand es im Straßennetz einer bevölkerten Vorstadt. Doch wie die Stadt sich erweitert und vergrößert hatte, waren auch die Baumpflanzungen auf Solitude gediehen. Aus dem abgezirkelten Ziergarten war ein englischer Park geworden, dessen Baumgruppen der Nachbarschaft das Schloß und den Schloßbewohnern die Außenwelt verbargen.
Der Tag, ein wolkenloser Junitag, ging zu Ende; ein warmer Goldton lag auf allem. Die Rosen, deren es auf jedem freien Plätzchen eine Menge gab, erfüllten die Luft mit Wohlgeruch. Das Geräusch der großen Stadt war hier nicht aufdringlich.
„Unter uns gesagt,“ fuhr Aschau fort, „der gegenwärtige Leiter der Hofbühne ist nicht schneidig genug. Auf meine Anregung ist Leisewitz für unsere Oper gewonnen worden. Die Prinzessin, die für Musik schwärmt, war über den Erfolg der Verhandlungen entzückt. Da sieht sie kurz vor der Ankunft des Sängers sein Bild – und der Mensch mißfällt ihr. Denn anders weiß ich ihr räthselhaftes Verhalten nicht zu erklären. Der Sänger tritt auf, und sie bleibt dem großen Ereigniß dieses Winters fern. Ihr Papa, unser gnädigster Fürst, der Hof, die Stadt, wir alle sind begeistert; die Prinzessin hört uns über Leisewitz, liest die Zeitungen über Leisewitz, aber besucht keine Oper. Der Sänger wird ihr in einem Wohlthätigkeitsbazar vorgestellt, sie unterhält sich mit ihm aufs huldvollste, spricht von seinem Weltruhm und so weiter, aber vermeidet nach wie vor die Oper. Der Mann fühlt sich gekränkt, klagt über das rauhe Klima und meldet sich unpäßlich. Seine Heiserkeit versetzt die Stadt in tiefere Bestürzung als alle trüben politischen Nachrichten. Hoftheaterintendant von Sporn wendet sich an mich – wir entwerfen für die Sommerferien einen Kriegsplan. Da kommt uns die Prinzessin selbst zuvor. Leisewitz soll vor ihr singen, der Fürst überrascht werden und so weiter. Die Nachricht läßt den Sänger sofort genesen, und so werden Sie heute abend – Sie wie die Prinzessin zum ersten Mal – unsern ,Schwan‘ singen hören!“
„Macht die Laune der Prinzessin öfter solche Sprünge?“
Der Hofmann, der eine zarte weiße Haut hatte, wurde dunkelroth. „Mein lieber Doktor, Sie besaßen schon auf dem Gymnasium eine erstaunliche Aufrichtigkeit, und im Umgang mit Yankees und Indianern scheinen Sie nicht – vorsichtiger geworden zu sein.“
„Wir zwei brauchen doch einander nichts weiszumachen, wir sind keine Auguren. Wenn ich hier nützlich werden soll, muß ich die Wahrheit wissen. Warum zum Beispiel ist unsere Prinzessin schwermüthig?“
„Ist Hoheit nicht lungenleidend?“
„Ah bah, ein Emphysem, mit dem man hundert Jahre alt werden kann! Sie ist schön, geistvoll, gemeine Sorgen sind ihr unbekannt, die Ihrigen tragen sie auf den Händen – wo also liegt der Grund zur Schwermuth? Und mir knüpft sich eine
[461][462] andere Frage daran: warum hat Prinzessin Erna nicht geheirathet? Sie wird kaum zehn Jahre jünger sein als wir.“
„Die Umstände waren für Hoheit in ihrer ersten Jugend nicht günstig; es gab keine passende Partie für sie. Dann verordneten die Aerzte der Zarten einen ländlichen Aufenthalt im Süden, und unsere durchlauchtigste Fürstin zog mit ihrer Tochter an den Gardasee. Und nun kam eine unglückliche Zeit für die Prinzessin. Ihre Mutter fiel in eine schwere Krankheit – starb. Seitdem neigt Hoheit zur Einsamkeit. Sie kann sehr heiter sein, doch im großen und ganzen – hier – aber ist es denn möglich? Der selige Hofrath – er hätte Ihnen nichts mitgetheilt? Keine Rathschläge, keine Winke gegeben?“
„Nichts. Ich habe auf der Hochschule seine Vorlesungen gehört; später war ich ein paar Jahre lang Hilfsarzt in seiner Klinik. Herzlich sind wir uns niemals näher getreten. Dann schloß ich mich der Expedition Mr. Lloyds an. Zum Briefschreiben hatte ich während unserer Reisen keine Zeit. Als ich nach fünfjähriger Abwesenheit vor kurzem hierher zurückkehrte, kam ich mir wie ein Fremdling vor. Indes, dem alten Hofrath wollte ich meinen Besuch machen, wurde aber nicht angenommen; der Aermste lag im Sterben. Mit dem Ordnen meiner Sammlungen Tag und Nacht beschäftigt, erhielt ich die Nachricht von seinem Tode und gleich darauf die überraschende Mittheilung des Hofmarschallamtes, daß der alte Herr zu seinem Nachfolger mich empfohlen habe. Ich stand auf dem Markt und war glücklicherweise im Besitz eines Frackes. So stellte ich mich denn Seiner Hoheit vor und so kam ich zu Amt und Würden wie der Blinde zum Schützenpreis.“
Aschau nickte. „Auch ich war – natürlich angenehm – überrascht. Sind Sie doch dem Seligen in keinem Stück ähnlich. Er war bedächtig, zurückhaltend, fast schüchtern. Schüchtern sind Sie meines Wissens nie gewesen.“
„Niemals!“
„Auch in der Erscheinung sind Sie so vollständig anders als der Hofrath – vom Alter ganz abgesehen. Er war klein, schwächlich, farblos. Sie sind groß und breitschulterig, braun, bärtig, ein Gewaltmensch. Aber lassen wir die Vergleiche! Gleichviel wie Sie hierhergekommen – Sie sind nun hier, und, wie gesagt, ich freue mich dessen ungemein. – Also Mitte Juli brechen wir nach der großen Seestadt Wörde auf? Ist Ihnen Wörde bekannt?“
„Nur vom Hörensagen und aus Fachberichten. Ein unbedeutendes Städtchen, aber in hübscher und gesunder Lage. Uebrigens lebt unser Landsmann und Schulfreund Lenz dort als Kapellmeister.“
„Lenz, Lenz – ich erinnere mich nicht.“
„Was, Sie erinnern sich des ‚armen Robert‘ nicht, des guten sanften, etwas einfältigen Robert?“
„Nein, wirklich nicht. Aber wenn es in Wörde einen Kapellmeister giebt, ist auch eine Kapelle dort. Wir werden also nicht nur Hausmusik, sondern sogar Konzerte haben. Unser herrlicher Leisewitz nämlich verbringt seinen Urlaub ebenfalls in Wörde. Eine Kriegslist von uns –“
„Ich will Seeluft, Seebäder für die Prinzessin – keine Musik!“
„Keine Musik?“ rief Aschau erschrocken. „Das setzen Sie nicht durch! Unsere Gebieterin, wir alle leben und weben in der Kunst! Uebrigens ist mir nicht bange. Wenn Sie ihn erst singen hören, unseren Leisewitz – heute abend, im Palmenhaus sprechen wir uns wieder!“
„In der blauen Grotte –“
„Wissen Sie auch schon davon? Maler und Techniker mußten auf Befehl Ihrer Hoheit ganz im geheimen wirthschaften. Für die blaue Grotte kann ich also in keiner Weise einstehen, aber vom Sänger bin ich überzeugt, daß er Sie bezaubern wird! Achtung – der Lakai verläßt seinen Posten; unser gnädigster Fürst ist angekommen.“ Er stand auf und gab dem Diener die leere Tasse. „Beiläufig, lieber Doktor, wenn Ihnen an der Freundschaft der Contessa Casasola liegt, so müssen Sie für die italienische Oper alten Stiles schwärmen, und wenn Sie es mit Frau von Schönfeld nicht verderben wollen, zu Wagner schwören!“
Der Doktor zuckte zur Antwort nur abwehrend die Schultern. Und doch würden wohl wenige Männer über Gunst und Ungunst der drei Frauen, die jetzt die Stufen herunterkamen, so kühl wie Doktor Walter gedacht haben, obschon keine mehr in der ersten Blüthe stand. Die Gräfin Casasola verrieth ihre italienische Abstammung sofort, schon dadurch, daß sie ihrer Vorliebe für Geschmeide und ungebrochene Farben keinen Zwang anthat. Sie trug ein rothes Kleid, das gut zu ihrem kohlschwarzen Haar und ihren lodernden Augen paßte. Die Greisin war lebhaft, auch wenn sie schwieg, während Frau von Schönfeld, die zweite Hofdame, die blond, groß und hager war, kalt blieb, selbst wenn sie ihren Liebling Wagner vertheidigte. Die dritte, Prinzessin Erna, war um einiges älter als ihre Begleiterinnen. Doch würde sie jedermann – wenigstens auf den ersten Blick – für die jüngste gehalten haben. Sie hatte ein rundes, blasses Gesicht, ein liebes Gesicht, sagten alle, doch über die räthselvollen braunen Augen war das Urtheil derer, die der Prinzessin nahe standen, sehr verschieden. Einigen blickten sie zu starr, andere fanden sogar, daß sie einen lauernden Ausdruck hätten, die meisten waren von dem schwärmerischen Strahl und feuchten Glanz entzückt. Der nüchterne Walter fand als das Besondere dieser Augen, daß sie zuweilen schielten, allerdings kaum merklich schielten.
„Papa!“ rief die Prinzessin jetzt von der letzten Stufe der Treppe aus, „welche Ueberraschung!“
Der Fürst, der eben aus dem Baumgang trat, war ein schöner alter Herr, von guter Haltung und leichtem Gang. Vater und Tochter begrüßten sich mit stürmischer Zärtlichkeit, als ob sie sich monatelang nicht gesehen hätten. Dann wandte sich der Fürst an das Gefolge; er richtete einige freundliche Worte an die Damen, musterte die Herren und fragte dann nach Doktor Walter. Der Arzt stand noch unter dem japanischen Schirm. Rasch trat der Fürst mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, schüttelte ihm die Rechte und sagte mit lauter Stimme: „Lieber Doktor, ich bin mit dem Vermächtniß des Hofraths außerordentlich zufrieden. Meine Tochter sieht seit einigen Tagen vortrefflich aus.“ Leise setzte er hinzu: „Seien Sie beharrlich in Ihren Anordnungen. Wenn wir Männer fest bleiben, so sind die Frauen Engel.“
Die Prinzessin schien eine Unterhaltung ihres Vaters mit Doktor Walter nicht zu wünschen. Wenigstens sahen die Ihrigen den Zug um ihre Mundwinkel, der für sie das Warnzeichen der Unzufriedenheit war. Sie brach ihr Gespräch mit dem Hofmarschall plötzlich ab und näherte sich jenen beiden. „Lieber Papa –“
Es lag etwas in ihrem Ton, das ihren Vater beunruhigte. „Herr Doktor Walter ist mit Deinem Befinden sehr zufrieden,“ sprach er rasch.
„Wirklich?“
Der Arzt verneigte sich schweigend.
Sowie die Prinzessin jetzt am Arm des Vaters hing, war ihre Verstimmung vorüber. Sie blickte sich mit einem vergnügten Lächeln um. „Ich mache einen Spaziergang mit Dir – kommst Du mit mir in das Palmenhaus?“
„Wenn Du wünschest –“
„Und dort, was thun wir dort?“
„Je nun, Du giebst mir eine Tasse Thee und wir plaudern.“
„Hast Du in der That keine Ahnung?“
„Wovon, liebe Erna?“
Sie ließ seinen Arm los, um in die Hände zu klatschen. „Meine Damen und Herren,“ rief sie, es ist mir das Unglaubliche gelungen, mein Geheimniß zu bewahren.“ Sie legte den Finger auf den Mund des Fürsten. „Nicht weiter fragen, lieber Papa! Wir gehen spazieren bis es dunkelt; und dann – st! ich verrathe nichts.“
Der Fürst bot, indem er den Arzt mit einem Augenwink einlud, sich anzuschließen, Erna aufs neue den Arm. Vater und Tochter gingen voran, ein paar Diener bildeten die Nachhut; der lose Schwarm der anderen nahm die Breite des Weges ein.
Während sie noch im Baumgang waren, traten der Hoffourier Stenzel und der Kammerdiener Brausewein auf die Treppe. Stenzel richtete den Blick gen Himmel, „Ich habe Zeit,“ sprach er. „Bevor es Nacht wird, fangen wir nicht an. In der Grotte ist alles fix und fertig, und Herr Leisewitz ist auch schon da.“
Der andere hatte aufmerksam den Lustwandelnden nachgesehen, jetzt lächelte er befriedigt. „Das Kleid der Gräfin ist doch um einen Ton heller als unsere Rothröcke. Allerdings nur für ein geübtes Auge.“ Er hatte das geübte Auge; Herr Brausewein war nämlich in seinen Mußestunden Maler. Die Gesellschaft unter den Bäumen zog ihn nun nicht mehr an, er wandte sich wohlwollend zu seinem Begleiter. „Haben Sie für die Grotte endlich das richtige Blau?“
„Ich bin selbst in der Grotte bei Capri gewesen; Sie können mir also glauben: wunderbar! Wollen Sie sich nicht jetzt schon persönlich davon überzeugen?“
[463] „Nein, nein, ich will warten, bis ich das Werk vom richtigen Stanbpnukt aus betrachten kann. Wird Leisewitz im Kostüm singen?“
„Bewahre! Er steht wie wir in der Nische und singt dort ein Lied. Gestern bei der Hauptprobe hörte ich Leisewitz zu dem Maler sagen, daß das Lied höchsteigene Komposition unserer Prinzessin sei.“
„Ah, deshalb saßen wir Tag und Nacht am Flügel! Das wird ein theures Lied!“ – –
Die Prinzessin hatte inzwischen ihrem Vater erzählt, wie sie den Tag verbracht habe: zum größten Theil mit Briefschreiben.
„Strengt Dich das viele Schreiben nicht an?“
„Weit weniger als reden, lieber Papa. Und schreibend kann ich mich aussprechen, ohne die erstaunten oder lauernden Mienen meiner Zuhörer zu sehen.“ Sie wandte sich um, ob die Ihrigen in gebührender Entfernung seien, und fuhr dann leise fort: „Findest Du die Augen des neuen Doktors nicht unangenehm, Papa? Es sind Augen, von denen man sagt, sie könnten durch ein eichenes Brett sehen. Und er scheint eingebildet darauf zu sein – er verfolgt mich förmlich mit diesen Augen.“
„Rede Dich in kein Vorurtheil gegen den Mann! Ich halte ihn für tüchtig und brav.“
„Er fragt soviel.“
„In seinem Beruf!“
Erna schwieg verstimmt, bis sie am Ende des Baumganges waren, wo sie der Fürst fragte, ob sie nach rechts oder links wolle. Sie blieb zaudernd stehen, sah zum Himmel auf, der jetzt die Farbe eines blassen Smaragdes hatte, und sagte zuletzt: „Ich fühle mich, ich weiß nicht warum, müde. Wenn Du nichts dagegen hast, halten wir auf dem Boccia-Platz eine kurze Rast.“
„Weil Du Dir zu wenig Bewegung machst, ermüdet Dich die kleinste.“
„Du bist heute hart gegen mich.“
„Wahrhaftig nicht. Komm! Es ist noch hell und der Boden dort trocken. Herr Walter soll sich Dir von seiner besten Seite zeigen und etwas von seinen Reisen erzählen.“
„Nicht doch, Papa! Ich habe Dich so selten für mich – verkürze mir dies Vergnügen nicht!“
Felix Walter schlenderte schweigend neben den anderen her. Ihre halblaute Unterhaltung drehte sich um irgend ein Hofereigniß, das ihn nichtig deuchte. Gräfin Casasola lachte einmal hell auf, erinnerte sich dann der Nähe des Landesherrn und summte aus Rossinis „Barbier“: Zitti, zitti! Piano, piano!“ Als man dann stille stand, wandte sie sich in ihrer raschen, fast sprunghaften Weise an Walter. „Wie gefällt Ihnen Solitude? Natürlich außerordentlich! Kennen Sie die Lombarbei?“
„Wenigstens die große Heerstraße.“
„Nun, an der großen Heerstraße zwischen Brescia und Bergamo steht das Schloß meiner Ahnen. Aber die Bekanntschaft unserer Prinzessin habe ich auf unserem Landsitz am Gardasee gemacht. Geben Sie zu, daß dort eine Juninacht noch schöner als hier ist?“
„Ich stelle niemals Vergleiche an; ich feiere die Feste, wie sie fallen.“
„Empfindsam sind Sie also nicht. Musikalisch? Warum lachen Sie?“
„Weil man dieser Frage hier niemals und mit niemand entgeht. Ich bin hier Saul unter den Propheten, Gräfin, denn ich verstehe wenig oder nichts von Musik. Doch ich werde mich bilden.“
„Bravo! Haben Sie Leisewitz gehört?“
„Das ist die zweite unvermeidliche Frage. Nein, Gräfin. Aschau sagt mir, daß ich vielleicht heute noch –“
„St, das dürfen wir ja nicht wissen! Ich war immer der Meinung, daß nur die Italiener singen könnten. Da hörte ich ihn! Zwar wird dies und das über seine Herkunft gemunkelt, aber jedenfalls ist er ein Deutscher. Und seine Kunst ist ebenso wunderbar wie seine Stimme. Die Luft wird Wohllaut, wenn er singt, wir schweben und schwelgen.“
Da der Zug sich wieder in Bewegung setzte, nahm Livia Casasola unbefangen den Arm des Arztes; ihre freie Hand spielte mit dem Fächer. Sie blieben hinter den anderen zurück, denn die Gräfin stand still, wenn sie sprach, und blickte dabei ihren Begleiter an. „Wie ich fürchte,“ fuhr Livia fort, „ist aber dieser Leisewitz, bei all seiner Kunst, im Leben ein großes Kind. Nun lösen Sie mir das Räthsel: wie verträgt sich kindisches Wesen mit starkem, tiefem Gefühl? Oder legen wir in seinen Gesang das hinein, was er nicht giebt? Jedenfalls ist Leisewitz doch ein großer Sänger – nebenbei gesagt, auch ein schöner Mann.“
„Das ist der erste Tenor ja immer. Was ihm dazu fehlt, wird ihm von den Damen zugelegt.“
„Nein, nein, in diesem Punkt urtheile ich kühl. Da! Die Prinzessin biegt nach dem Palmenhaus ab, das heißt, die Ueberraschung beginnt und der Spaziergang hat ein Ende. Schade!“
„Ich habe eine Bitte, Gräfin. Wenn ich wieder Ihr Begleiter sein darf, erzählen Sie mir von Ihrer ersten Bekanntschaft mit der Prinzessin!“
Miene und Haltung des schönen Mädchens waren plötzlich verändert. „Ich würde Ihnen nichts erzählen können, Signor Dottore,“ sagte sie kühl. „Zwar ist es noch nicht sehr lange her, immerhin lange genug. Ich spielte noch mit der Puppe, und Ihre Hoheit war, was die poetischen Deutschen einen ‚Backfisch‘ nennen. Jene Zeit liegt hinter mir wie ein Traum. Aber wir müssen uns eilen, kommen Sie, Dottore!“
Das Palmenhaus, ein hoher Eisenbau, wurde wie Schloß und Park mit einbrechender Dunkelheit elektrisch beleuchtet. Palmengruppen nahmen den halben Flächenraum ein, ein kleiner Teich und ein Rasenhügel die andere Hälfte. Dieser Theil des Innern war heute den Eintretenden durch einen Vorhang verdeckt, durch bemalte Florgewebe, die leichtes lichtes Morgengewölk darstellten. Davor standen Stühle wie vor einer Bühne. Als die Gesellschaft, von der Prinzessin aufgefordert, Platz genommen hatte, versank der Palmenhain in jähe Finsterniß. Dagegen erschimmerte der Vorhang in einer sanften Helle; er theilte sich, und die Zuschauer blickten in eine „blaue Grotte“. Aus dem lichtblanen Wasserspiegel, über den elektrische Funken wie Wellen blitzten, stiegen hüben und drüben feuchtschimmernde Felsen auf, die sich zu einer sanften Wölbung zusammenschlossen; Tropfsteine hingen als Zierat herab und Krystallgebilde ragten wie Pfeiler empor; der Hintergrund verlor sich in tiefblaue Dämmerung. Die Täuschung, die der Kunst möglich ist, war erreicht; es war nicht die Grotte von Capri, aber die anmuthigste Theaterdekoration, die man sich vorstellen konnte.
„Das ist Dir gelungen, liebe Erna,“ sagte der Fürst, „wahrhaftig gelungen! Ich bin erstaunt –“
Die Herren murmelten Beifall. „Sehr hübsch,“ sagte halblaut Frau von Schönfeld. „Nur hübsch? Wundervoll !“ jubelte die Casasola, und ihre Freude war aufrichtig. Da erklang im geheimnißvollen Hintergrund Mandolinenspiel, und dann sang eine Männerstimme:
„O wie sehn’ ich mich nach Süden,
Nach der Sonne Gnadenfülle,
Nach des Herzens Kirchenstille,
In des Lebens Blüthenreich!
O wie sehn’ ich mich nach Frieden!
Eine Tafel, unbeschrieben,
Ist mein Sein bis jetzt geblieben,
Aber endlich scheint das Licht.
Jetzt soll anders sich gestalten
Und sich warm und reich entfalten
Meines Lebens Festgedicht!“
Die Worte aus Ibsens nordischem Drama paßten nun freilich nicht für einen neapolitanischen Schiffer, doch wer nimmt es mit einem Liedertext so genau! Jedenfalls bot die Weise dem Sänger Gelegenheit, seine Stimme wie seine Kunst zur Geltung zu bringen. Und er war Meister seiner Stimme! Und welcher Stimme! Schön, wenn sie stieg und fiel oder wenn sie stark und mächtig dahinquoll; fähig, alle Empfindung auszudrücken, süße Traumseligkeit, schmerzliche Sehnsucht, glühenden Wunsch!
„– Jetzt soll anders sich gestalten
Und sich warm und reich entfalten
Meines Lebens Festgedicht!“
Der Sänger schwieg. Aber noch waren alle in seinem Bann, verzückt, regungslos. Nur Doktor Walter, der abseits saß, hatte dem Gesang kein Ohr geliehen, weil er ganz Auge für seinen Schützling war. Das Lied, das vielleicht ihrer eigenen Sehnsucht Worte gab, rührte Erna tief. Thränen standen in ihren Augen und stahlen sich über die Wangen. Als der Gesang verklungen war, blieb sie wie die anderen in sich versunken, als hörte sie noch die Stimme. Die Beleuchtung bleichte und entstellte alle Gesichter, dennoch entging es dem Arzte nicht, daß Erna jetzt plötzlich die Farbe wechselte. Ihre Lippen zitterten eigenthümlich, ihr Kopf neigte sich schwer – doch da war der Arzt schon bei ihr: er hielt die Ohnmächtige aufrecht.
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Nachdem Erna noch im Palmengarten sich erholt hatte, war sie ins Schloß gebracht worden. Die Herren ihres Hofstaates standen im Vorzimmer des Saales, in dem die Abendtafel hätte stattfinden sollen, und harrten, noch immer bestürzt und in aufrichtiger Sorge, auf Nachrichten aus dem Krankenzimmer. Endlich [464] erschien der Kammerdiener. Schon seine Miene ließ sie aufathmen Er berichtete, was ihm die Kammerfrau vertraulich mitgetheilt und was sie im Namen des Fürsten ihm offiziell aufgetragen hätte. Alle Gefahr sei vorüber, gegenwärtig schlafe die Prinzessin. Der Fürst, den Staatsangelegenheiten in die Residenz riefen, werde den Arzt zu einer letzten Besprechung im Saale empfangen; er verzichte für heute auf etwaige Glückwünsche zu dem Erfolg, den die Komposition seiner Tochter davongetragen habe.
„Ich danke Ihnen, Herr Brausewein,“ sagte Aschau, „Sie haben uns eine Last vom Herzen genommen.“
Der Kammerdiener verneigte sich. „Herr Leibmedikus Walter giebt der Schwüle im Palmenhaus, theilweise auch der ungewöhnlichen Beleuchtung schuld.“
„Er wird recht haben, sie war zu blau.“ „Die Herren Künstler sind noch im Palmenhaus,“ bemerkte Brausewein.
Aschau zuckte die Schultern. „Ja, was ist da zu machen – wenn Seine Hoheit zum Thee geblieben wäre, würden sie ohne Zweifel eingeladen worden sein, aber unter solchen Umständen – der Hofwagen, der sie hergebracht hat, soll sie wieber heimfahren.“
„Herr Kammersänger Leisewitz hat mich ersucht, Ihrer Hoheit sein Bedauern auszudrücken. Dem Herrn Hofmarschall soll ich melden, daß er morgen seinen Urlaub antritt.“
„Morgen! Was glauben Sie – wartet er vielleicht auf sein Honorar?“
„Ich glaube nicht, Herr von Aschau. Meines Wissens lebt er in wohlgeordneten, guten Verhältnissen. Auch reist er erst morgen abend ab.“
„Ah dann! Dann hat es ja bis morgen früh Zeit.“ Er sann vor sich hin. „Indessen – Sie wissen, wie sehr unser gnädigster Herr den Künstler schätzt – und ich kann augenblicklich nicht abkommen – wenn Sie ihm in meinem Namen alles Schöne und so weiter sagten, würde er das besonders hoch aufnehmen!“
„Sehr gern, Herr von Aschau.“
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– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –Der Saal, in dem der Fürst ruhelos auf und ab schritt, war das Kleinod des Hauses. Man hatte am Alten nichts geändert, auch die schönen glitzernden Kronleuchter gelassen. Es war der einzige Raum, der nur durch Kerzenlicht erleuchtet wurde. Dieser Unterschied in der Beleuchtung gab dem Saal abends ein besonderes Gepräge. Von der Decke grüßten die heiteren Farben eines reichen Freskogemäldes: es stellte eine Gesellschaft zierlich gekleideter weißgepuderter Rokokodamen dar. Sie lagerten auf einem Blumenrasen und lauschten einem kleinen Faun, der, derb und braun, mitten unter den Rosigen auf einem Säulenstumpfe saß und auf einer Rohrflöte blies. Dem Haupteingang gegenüber lag die Fensterwand, in geschwungener Linie eine Nische bildend, einen überdachten Austritt oder verglasten Erker. Dort stand der Tisch für die Abendtafel, mit kostbarem Geschirr, Blumen- und Fruchtschalen und vielarmigen Rokokoleuchtern beladen.
Eine fürstliche heitere Pracht überall! Nichtsdestoweniger fühlte sich der Hausherr in dieser Stunde genan so unglücklich wie irgend ein besorgter Vater in einer Dachkammer.
Als der Arzt in der Thür erschien, eilte ihm der Fürst entgegen. „Nun? Was sagen Sie?“
Doktor Walter, der als thatkräftiger Mann ein Feind feierlicher Amtsmiene und wichtigthuender Zurückhaltung war, erwiderte so gelassen wie zuversichtlich. „Der Schlaf ist fest und ruhig. Unsere gnädigste Prinzeß wird sich morgen vollständig erholt haben.“
„Glauben Sie? Sind Sie dessen gewiß?“
„So gewiß ein Arzt seiner Sache sein kann, ja.“
„Mein Sohn, der Erbprinz,“ fuhr der Fürst fort, immer noch beunruhigt, „hat mich gebeten, ihm während seiner Reise genaue Nachrichten über Ernas Befinden zu geben. Darf ich ihm diese Unpäßlichkeit verschweigen?“
„Der Vorfall wird keine Folgen haben, Hoheit.“
„Und jede Gefahr für mein Kind ist vorüber?“
„Es kommt darauf an, welche Gefahr Hoheit meint.“
Die Blicke beider ruhten ineinander, dann seufzte der Fürst aus tiefster Brust. „Kommen Sie,“ sagte er leise.
Sie traten in den Erker und nahmen etwas abseits von der gedeckten Tafel Platz, einander gegenüber, beinahe Knie an Knie. „Ich hatte die Absicht,“ begann der Vater Ernas, „Sie mit mir in die Residenz zu nehmen, aber mein Gott – dort erwarten mich Sorgen, die mir ebenso wichtig sein müssen wie die Sorge hier.“ Er fuhr mit der Hand über die Stirn. „Die Zeiten sind schwer, lieber Herr! Ein fürchterlicher Krieg droht, sein Ausgang ist unberechenbar. Und dazu dieses Elend daheim! – Was wollte ich sagen? – Ja, hier ist der beste Ort und heute muß es sein. Ich habe Vertrauen zu Ihnen und hätte mich Ihnen schon am ersten Tage entdecken sollen, aber – – verzeihen Sie mein Zaudern!“ Er schöpfte tief Athem. „So hören Sie denn,“ sagte er dann zu dem gespannt aufhorchenden Arzte. „Es hat sich mit jener italienischen Reise Ernas und ihrer Mutter anders verhalteln, als alle Welt glaubt. Allerdings war mein Kind von schwankender Gesundheit, schnell aufgeschossen, blutarm, indes dies allein war nicht der Grund der Trennung, die für die Fürstin und mich eine ewige – nein, keine ewige, aber eine Trennung für dieses Leben geworden ist! Ach, wir haben uns geliebt!“
Nach einer Weile fuhr der Fürst fort: „Die Wahrheit ist, daß nicht die Tochter, sondern die Mutter die Kranke war. Sie war – erlassen Sie mir das schaudervolle Wort über die Unvergeßliche!“ Sein Athem ging schwer, seine Stimme sank fast zum Flüstern herab. „Meine erste Frau war gestorben, nachbem sie dem Erbprinzen das Leben gegeben hatte. Zwei Jahre darauf vermählte ich mich mit meiner Base Helene. Diesmal war es ein Herzensbund. Wir lebten jahrelang glücklich. Aber auf dieses Glück vielen schon die Schatten; es gab Tage, welche mich die schreckliche Wende ahnen ließen. Und dann wurde die Ahnung zur Gewißheit. Dank der Klugheit und Festigkeit einiger Getreuen gelang es mir, der Welt mein häusliches Unglück zu verbergen. Der Arzt hiltt die Umnachtung meiner Gattin für unheilbar; ich hoffte immer noch. Nach schweren Kämpfen willigte ich in ihre Entfernung. Ich hatte an meinem Hofe den Vater unserer Comtesse Livia, den Grafen Casasola, als Gesandten kennengelernt. Er galt mir damals als das Muster eines feinen Weltmannes. Ich wandte mich in meiner traurigen Lage an ihn, und er nahm Mutter und Kind samt dem bescheidenen Gefolge in sein Haus, in seine Familie auf. Er und die Seinen mußten – ich erfuhr es vom Arzt – von der Fürstin oft Schweres ertragen. Sie ertrugen mit himmlischer Geduld, denn sie hatten den höchsten Begriff von Gastfreundschaft. Erna zeigte sich tapfer, klug, brav . . . überdenken Sie, was sie in jener Zeit gelitten! Und ich, ich“ – er sprang auf – „ich war damit einverstanden, daß sie sich opferte – ich opferte mein Kind!“
„Mein theuerster Fürst,“ sagte Walter warm, „wenn Ihr Entschluß, der erste Schritt nothwendig war – und es dünkt mich so – sind Sie für die Folgen nicht verantwortlich. Was konnten Sie thun?“
„Was ich hätte thun müssen: meine Tochter zurückrufen und mich selbst mit dem Arzt in die Pflege thellen.“
„Sie würden weder das Herz der Tochter, noch das Schicksal der Mutter erleichtert haben.“
Der andere wies die Vertheidigung mit einer Handbewegung zurück. „Das Ende kam jählings – schrecklich. Graf Casasola rief mich schonend an ein Sterbebett – bei meiner Ankunft fand ich einen Sarg. – Sie werden mir glauben, daß ich, wieder in der Heimath, alles gethan habe, um mein Kind jene zwei Jahre vergessen zu machen. Umsonst! Sie war liebevoll zu mir, doch nichts, nichts verwischte und verlöschte ihre Erinnerungen. Und dann – dann entdeckte ich, daß nicht nur das Andenken an die Mutter in ihrem Gemüthe, sondern daß die Mutter selbst in ihr fortlebt! Zwischen dem Arzt und mir war Einverständniß ohne Worte. Ernas unüberwindliche Schwermuth, ihre Reizbarkeit heute, ihre Gleichgültigkeit morgen, hundert Erfahrungen beweisen mir, daß die Dämmerung wächst – und unaufhaltsam kommt die Nacht!“
„Nein!“ rief feurig Walter, „ich gebe die Hoffnung nicht verloren!“
„Vererbung!“ versetzte dumpf der Fürst. „Ach, ich habe mich in dieses Wort vertieft; ich kenne es nach seinem ganzen Inhalt!“
„Schlagwörter treffen nicht immer ins Schwarze. Nicht nur aus der geistigen Veranlagung, auch aus den Lebensschicksalen erklärt sich so manches. Jetzt kenne ich das Schicksal Ihres Kindes, und Wissen ist halbe Hilfe. Mein Fürst, ich bin ein schlichter Mann, aber ein redlicher Arzt. Ich wiederhole Ihnen: ich gebe den Kampf nicht auf!“
Da warf sich der Fürst, von seinen Empfindungen überwältigt, dem Arzte schluchzend an die Brust.
O stiller Ort der Einsamkeit,
Kein Hauch der Stadt mit ihrem Rauschen!
Ihr wirres Hasten liegt so weit,
Und ruheschwelgend kann ich lauschen:
Ich lieg’ im Grase, halb im Traum,
Die Sonne blinzelt durch die Blätter,
Und über mir im blauen Raum
Jauchzt rastlos Trillern und Geschmetter.
Ein Wölkchen segelt lässig-leicht,
Im Strauche summt ein goldner Käfer,
Und kleines Erdenvolk umschleicht
Neugierig mich erwachten Schläfer.
Die Wiesen streift ein Zug der Luft,
Als ob er weich sich wiegen wolle,
Und trägt mir zu den zarten Duft
Der üppig überblühten Scholle.
Froh schäkernd auf und nieder fliegt
Ein Liebespaar von Schmetterlingen,
Dicht an den Horizont geschmiegt
Ruft fern ein Dorf mit Glockenklingen;
Von Himmel, Erde, Blatt und Kraut
Ertönt’s in wundersel’gem Liede,
Und alles schmilzt zu einem Laut,
Zum sanften Säuseln: Friede! Friede!
Alle Rechte vorbehalten.
Deutsche Bühnenleiter.
In seinen „Erinnerungen“ hat Heinrich Laube vor seinem Hinscheiden den Ausspruch gethan, daß in neuerer Zeit mehrere Stadttheater in Deutschland in Bezug auf Regsamkeit und künstlerischen Unternehmungsgeist die Hoftheater überflügelt hätten, und dabei als Beispiel das Frankfurter Stadttheater genannt. Dies war zugleich eine Anerkennung für den Intendanten, der seit der Eröffnung des neuen Opernhauses daselbst im Jahre 1880 an der Spitze der Frankfurter Bühne steht.
Während bei den meisten der bekannten Bühnenleiter, welche als ausübende Schauspieler zur Kunst der Theaterführung heranreiften, sich dieser frühere Beruf in Erscheinung und Gesichtsausdruck ausprägt, hat Emil Claar weit mehr das Wesen und die Art eines weltmännischen Diplomaten. Alle inneren Aufregungen, welche der schwere Beruf eines Bühnenleiters täglich mit sich bringt, hinter einem fast nie gestörten Gleichmaß äußerer Ruhe und Höflichkeit zu verbergen, jede Willens- und Meinungsäußerung, sei sie für den Hörer angenehm oder unangenehm, mit demselben verbindlichen Lächeln zu begleiten, diese diplomatische Kunst ist ihm in hohem Grade eigen. Und diese Kunst kommt einem wesentlichen Theil der Aufgaben entgegen, die dem Regenten im Reiche der Bühne gestellt sind. Für ihn gilt es ja, die sich so vielfach bekämpfenden Einzelinteressen der an einer Bühne beschäftigten Künstler, deren reizbares Naturell und oft stürmisches Temperament ausgleichend zu beeinflussen, die künstlerischen Kräfte immer wieder in den nöthigen Einklang zu bringen. Den meisten aber, die aus Schauspielern zu Regisseuren, aus Regisseuren zu Theaterdirektoren wurden oder die man aus der Schriftstellerwelt um ihres dramatischen Könnens willen an die Spitze von Bühnen berief, fällt es, ihrem Temperamente gemäß, schwer, die für jene Aufgabe nöthige Sebstbeherrschung zu wahren: man kann ein recht guter Anführer im Wettstreit der Talente vor den Coulissen und doch ein schlechter Stratege gegenüber dem Kleinkrieg der Leidenschaften hinter denselben sein.
Daß Emil Claar nun schon dreizehn Jahre lang sich in der schwierigen Stellung an der Spitze des Frankfurter Stadttheaters mit wachsendem Erfolg behaupten konnte, hat er jenen Eigenschaften mindestens in gleichem Grade wie seiner künstlerischen Befähigung zu danken. Die Schwierigkeiten, die er in Frankfurt a. M. zu überwinden hatte, waren in der That ganz außerordentlich. Bis zu seiner Berufung hatte sich das dortige Bühnenleben in dem alten mittelgroßen Theater, in dem schon Frau Rath Goethe sich an den Dramen ihres Wolfgang hatte ergötzen können, abgespielt. In die erste Zeit nach seinem Direktionsantritt fiel die Eröffnung des neuen Opernhauses, das in Größe und Ausstattung mit den ersten Opernbühnen der Welt wetteifert. Die Akustik des Neubaues verwies die Weiterführung des Schauspiels auf das alte Haus. Bei dem starken Fremdenverkehr Frankfurts und der Wohlhabenheit vieler Einwohner war es durchführbar, gleichzeitig in beiden Häusern bei gutem Besuche zu spielen. Aber dieses Publikum, das für beide Häuser einen beträchtlichen Stamm regelmäßiger Besucher stellt, reist viel, kommt oft nach Paris, Berlin, Wien und ist daher verwöhnt und anspruchsvoll. Es geht gern und oft ins Theater, will dort aber auch möglichst [466] viel Neues sehen. Die Leistungen sollten so gut sein wie an den subventionierten Hoftheatern, aber eine Subvention fehlte. Gute Kräfte, gute und viele Neuigkeiten waren daher ebenso gefordert wie eine „gute“, d. h. sparsame Geschäftsführung. Wer da mit rücksichtsloser Strenge nur nach idealen Gesichtspunkten hätte vorgehen wollen, hätte den hier gegebenen Bedingungen des Gedeihens kaum entsprechen können. Hier hieß es Eile mit Weile, flotter Betrieb bei klug abwägender Berechnung. Wo Große Oper und Operette, höheres Drama und Posse derselben Leitung unterstehen und das Kasseninteresse gebieterisch heischt, neben der Kunst auch dem Unterhaltungsbedürfniß eines großen Publikums Rechnung zu tragen, da fordert die Bestimmung des Spielplans einen geschulten Meister der diplomatischen Kompromisse.
Claar, von Berlin her an ein freies Verfügen und schnelles Zugreifen im eigenen Hause gewöhnt, fand sich trotzdem schnell in die vorgezeichneten Geleise. Das Berliner Residenztheater, das er als Besitzer die Jahre vorher mit glänzendem Erfolge geleitet hatte, war durch den Wettbewerb der vielen Berliner Bühnen auf die Pflege einer besonderen Spezialität angewiesen gewesen. Gerade dank dieser Beschränkung hatte er es als Pflegstätte des bürgerlichen „Sittenstücks“ deutscher und französischer Abkunft auf jene Höhe gebracht, welche von Berlins ersten Kritikern damals einstimmig seinen Leistungen zuerkannt wurde. In Frankfurt fand nun Claar gerade für diese Gattung von Stücken einen günstigen Boden. Aber wie er seine Thätigkeit gleich mit einem Preisausschreiben für ein gutes deutsches Schauspiel, Trauerspiel und Lustspiel begann – aus welchem Wettstreit Richard Voß mit seiner „Patrizierin“ als Sieger hervorging – so hat er auch sonst immer sowohl unserer anerkannten klassischen Dramenlitteratur wie den neueren Schöpfungen Deutschlands eine lebhafte Aufmerksamkeit zugewendet. Wie Claar durch die erste Aufführung des „Mennoniten“ der feurigen Begabung Wildenbruchs die Pforten der deutschen Bühne geöffnet, wie er die dramatische Muse von Richard Voß in die große Welt eingeführt hat, so hat er, unterstützt von der Kritik, ähnliche Förderung in Berlin einem Wilbrandt, in Frankfurt einem Fitger, Fulda, Siegert zu theil werden lassen und namentlich auch um das dramatische Schaffen Paul Heyses und Wilh. Jordans durch Erstaufführungen neuer Dramen von diesen Dichtern sich große Verdienste erworben. Und auch für Henrik Ibsen ist er bereits zu einer Zeit eingetreten, da es noch nicht Mode war, für ihn zu schwärmen. Auf dem Gebiete des klassischen Dramas hat er namentlich durch Vorstellungscyklen bei herabgesetzten Preisen volksthümlich bildend gewirkt und diese Einrichtung dann auch nachklassischen Dichtern, im besonderen Kleist, Grillparzer, Gutzkow und Hebbel, zugute kommen lassen. In der Oper hat er versucht, möglichst jeder lebensvollen Richtung gerecht zu werden, dem Nibelungenring Richard Wagners wie den Liederspielen Neßlers, den Werken Verdis wie den neufranzösischen Komponisten. Ebenso veranstaltete er, unterstützt von den Kapellmeistern Dessoff und Goltermann, Mozart-, Weber-, Wagnercyklen.
Claar würde sich der Fülle dieser künstlerischen Aufgaben nicht haben gewachsen zeigen können, wenn ihm nicht eine reiche litterarische Bildung und eine ausgezeichnete Schulung in allen Fächern der Regie von früher her zur Seite gestanden hätte. Emil Claar ist ein Schüler von Laube und von Haus aus nicht nur für die Bühne, sondern auch für das litterarische Wirken, die Dichtkunst, begabt. Als Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts in Lemberg am 7. Oktober 1842 geboren, kam er schon früh nach Wien, um nach der Absicht des Vaters sich für den ärztlichen Beruf vorzubereiten. Jedoch von unbezwinglicher Leidenschaft fürs Theater – wie er selbst sagt – ergriffen, wurde er Schauspieler. Sein Geist war damals ganz von poetischem Idealismus beherrscht, wie seine Jugendgedichte und namentlich die Begeisterung für Byron, Shelley und Freiligrath beweisen; in einer seiner schönsten Balladen und in dem Drama „Shelley“ ist dieser Zug seines Wesens später zu künstlerischem Ausdruck gelangt. Heinrich Laube stand damals an der Spitze des Burgtheaters. An ihn wandte sich der junge Kunstnovize, nachdem er bei Ludwig Löwe den ersten Unterricht empfangen hatte. Laube, der so viele noch schlummernde oder knospende Talente rechtzeitig erkannt und zur Entfaltung gebracht hat, nahm sich des jungen Mannes mit besonderem Wohlwollen an und ließ ihn den ersten Schritt auf die weltbedeutenden Bretter im Burgtheater machen. Nach diesem Auftreten und einigen kurzen Anstellungen an österreichischen Provinzbühnen kam er nach Berlin, und zwar an das Hoftheater, wo er sich erfolgreich in das Charakterfach einarbeitete. Dann war es wiederum Laube, der ihm vorwärts half. Derselbe hatte die Direktion des Leipziger Stadttheaters übernommen; unter dem von ihm berufenen Personal befand sich auch Claar, und bald erkannte sein Blick dessen besondere Begabung für die litterarischen und artistischen Geschäfte der Theaterleitung.
Wie aus Laubes Buch über „Das norddeutsche Theater“ bekannt ist, zog er sich in jenen kämpfereichen Jahren den jungen intelligenten Künstler zu einem dramaturgischen Mitarbeiter nach seinem Sinne heran, und als er von Leipzig wegging, war Claar sofort ein gesuchter Regisseur. Am Hoftheater von Weimar erregte er als solcher durch seine Neuinscenierung klassischer Stücke viel Beifall. Als Oberregisseur am Landestheater in Prag, welche Stellung er vier weitere Jahre bekleidete, bekam er infolge andauernder Krankheit des Direktors Wirsing die ganze künstlerische Leitung dieser Bühne in die Hand und begann seine Neigung für die zeitgenössische Dichtung in selbständiger Weise zu entfalten. Hier entstand auch das Drama „Shelley“, das Laube vergeblich in Wien bei der Censur durchzusetzen suchte, hier ließ er dem vielgegebenen kleinen Lustspiel „Simson und Delila“ das liebenswürdig pikante „Auf den Knien“ folgen. Auch ein poetisches Märchendrama „Gute Geister“ schrieb er für die Bühne. In Prag war es auch, wo er sich mit der gefeierten Schauspielerin Hermine Delia verheirathete. Als Claar dann die selbständige Direktion des Berliner Residenztheaters übernahm, verlieh diesem die Mitwirkung seiner Frau eine besondere Anziehungskraft. Als Gattin des Frankfurter Intendanten hat sie sich aber – zum Bedauern der Verehrer ihrer Kunst – nur noch auf Gastspiele eingelassen.
Wer Emil Claar nur in seiner jetzigen zurückgezogenen Lebensweise kennenlernt und dabei die elegant geschmeidigen Formen beobachtet, in die er die Energie seines verantwortungsvollen Handelns kleidet, der ahnt nicht, welch warmblütige Künstlernatur sich hinter dieser scheinbar kühlen Ruhe verbirgt, Durch sein innerstes Wesen, wie es sich auch in seinen neueren Gedichten ausgesprochen, geht ein Zug entsagender Klage über die Unerfüllbarkeit der Ideale, über die Flüchtigkeit auch des höchsten Strebens. Ein Epigramm von ihm lautet:
„Glaube mir, in diesem Leben
Ist die allergrößte Kunst:
Ruhig lächelnd aufzugeben,
Was man hielt für Glück und Gunst.“
[467] Wenig Berufsarten sind denn auch so wie die seinige geeignet, solche Erkenntniß zu nähren. Für „alles Vergängliche“, das „nur ein Gleichniß“, ist die Bühne mit ihrem beständigen Wechsel neuer Aufgaben und neuer Leistungen, mit ihrer Kunst, die für das Sein des Lebens den Schein des Gleichnisses setzt, selber ein Gleichniß. Aber bei dem wiederum nur ihr eigenen Zauber, alle Schönheitsreize des Lebens in den engen Raum der vier Wände zu bannen, mit ihrem täglichen Kampf und wechselnden Sieg, mit der erhöhten Lebensstimmung, die ihr ganzes Wesen durchbebt, bietet sie ihren Jüngern auch reichen, mit nichts zu vergleichenden Ersatz. Und so klingt durch die lyrischen Bekenntnisse Claars neben der Entsagung auch eine hohe Genußfreude und ein unbeugsamer Lebensmuth, wie ein paar Verse aus seinem Gedicht „Abschied“ es aussprechen:
„Nicht weiß ich, ob ich hoffen dürfe
Zu schauen in geschwellter Frucht
Den Frühling knospender Entwürfe,
Der mich umspinnt in süßer Flucht.
– – – – – – – – – – –
Jedoch ich weiß, ich werde singen,
Ich werde glühen ruhelos,
Ich werde wandern, werde ringen,
Ein Pilgrim nach der Schönheit Schos!“ – –
Johannes Proelß.
F. G. Keller. Es freut uns, mittheilen zu können, daß der Aufruf, den wir im vorigen Jahrgang für den kranken und bedrängten Erfinder des Holzschliffpapieres erließen, den gewünschten Erfolg hatte. Schon durch die Leser und Leserinnen unserer „Gartenlaube“ wurden dem Erfinder reichliche Spenden zutheil, welche die erste Noth linderten. Herr Keller – durch Krankheit am Schreiben verhindert – bittet uns, allen gütigen Gebern und Geberinnen seinen tiefgefühltesten Dank auszusprechen, was wir hiermit in seinem Namen thun.
Unser Aufruf hatte noch eine weitere Folge: er gelangte in die Hände eines deutsch-amerikanischen Papierfabrikanten, und dieser spendete sofort eine bedeutende Summe, welche er an die Hofmannsche „Papier-Zeitung“ sandte. Daraufhin veranstaltete diese einflußreiche Fachzeitung eine Sammlung unter den Fachgenossen, welche einen ungeahnten, glänzenden Erfolg halte und deren reicher Ertrag den Erfinder bis an sein Lebensende vor jeder Nahrungssorge bewahrt. Damit haben die Papierfabrikanten auf hochherzige Weise bewiesen, daß sie der Männer nicht vergessen, die an dem Fortschritt ihres Gewerbes mitgearbeitet haben.
Auch sonst darf Keller manche ehrenvolle Anerkennung erleben. So hat am Sonntag den 11. Juni d. J. der Gebirgsverein seiner Heimath einen gewaltigen Felsen bei Krippen mit schöner Aussicht zu Ehren des Erfinders „Keller-Felsen“ getauft.
Hauswirthschaftsunterricht. (Zu den Bildern S. 461.) Das muß man unserer vielgeschmähten „modernen, realistischen, illusionslosen“ Zeit lassen: sie ist die erste, die gründlich Hand anlegt an die Bekämpfung der großen sozialen Uebel: Armuth, Krankheit, Unwissenheit. Die Erziehung zum Besseren schließt häufig schon die Verbesserung in sich, so vor allem in der Lebensführung der Arbeiter und Dienstboten. Es ist darum dringend zu wünschen, daß die schon vielfach in größeren Städten gegründeten Hauswirthschaftsschulen, von denen wir in Nr. 14 dieses Jahrgangs ein Beispiel geschildert haben, eine allgemeine dauernde Einrichtung werden. Die Erziehung zur Reinlichkeit, Geschicklichkeit und Pflichttreue findet ja am leichtesten im ersten Jugendalter statt; dort werden die Lehren mit Eifer und Freude angenommen, die später an den Ohren der Erwachsenen, Uebelgewöhnten wirkungslos verhallen. Freilich kann die große Menge der jugendlichen Fabrikarbeiterinnen an solchen Schulen für 15–18jährige Mädchen nicht theilnehmen, es würde sich also darum handeln, die allernothwendigsten Kenntnisse der häuslichen Handarbeit schon in den obersten Volksschulklassen durch praktischen Unterricht allen Schülerinnen einzuprägen. Ein wirkliches Hinderniß dagegen besteht nicht: dreizehnjährige Mädchen waschen und fegen mit größtem Vergnügen, ihnen ist eine solche Körperbewegung schon als Abwechslung neben dem anderen Lernen hochwillkommen, und sicherlich würden sie sich in den mit geringer Mühe herzustellenden Wäsche- und Bügelräumen der Volksschulen ebenso munter bewegen wie die kleinen Engländerinnen, deren hauswirthschaftliche Thätigkeit wir heute unseren Lesern im Bilde vorführen.
Die Londoner oberste Schulbehörde hat im Einverständniß mit den städtischen Innungen und hauptsächlich mit Unterstützung der berühmten Tuchhändlergilde diese Unterweisung in hauswirthschaftlicher Thätigkeit ins Leben gerufen. Der Lehrplan, das Werk einer Frau Lord, unter deren Oberaufsicht dieser Unterrichtszweig auch heute noch steht, umfaßt den ganzen Kreis der täglichen und wöchentlichen Geschäfte in einem Arbeiterhaus: Feueranzünden, Bettmachen, Waschen und Bügeln, Zimmer kehren und putzen, Tisch decken sowie das Scheuern der Küchengeräthe. Die Mädchen werden mit den Grundregeln der häuslichen Gesundheit und mit deren praktischer Anwendung bei jeder einzelnen Arbeit bekannt gemacht, man erklärt ihnen die Nothwendigkeit, Bett, Zimmer und Hausgang zu lüften, und zeigt ihnen den kürzesten Weg, es zu thun. Ein Hauptgewicht aber wird auf das Waschen und Bügeln gelegt, hier ist ein eigentlicher Lehrkurs durchzumachen, aus dessen Betrieb unsere Bildchen einige Züge herausgreifen. Erst wird die Sache theoretisch betrieben durch Anschauungsunterricht und Aufschreiben an der großen Tafel, hierauf wäscht eine Lehrerin den in den Bänken sitzenden Mädchen etwas vor, um die Bewegung zu zeigen. Bald aber stehen sie selbst an den Waschbütten, um voll Eifer und Gründlichkeit Leibwäsche, wollene und baumwollene Kleider zu reinigen, dann wieder an breiten Tischen, um die Stärkebereitung zu erlernen und in der Führung des Plätteisens sich zu üben. Ist es ja doch ihr eigenes Zeug, das sie von zu Hause mitbringen dürfen und nach einigen Tagen voll Stolz als Beweis der erworbenen Geschicklichkeit wieder heimtragen, nachdem sie es selbst gestärkt und gebügelt haben. Das Trocknen geschieht in der Londoner Anstalt auf Schulgestellen und Kleiderrechen, könnte aber in unseren Schulpalästen viel leichter und besser auf den geräumigen Speichern besorgt werden. Die hübschen Abbildungen zeigen, mit welchem Ernste sich die kleinen Londoner Schülerinnen ihrer Arbeit unterziehen; es steht zu hoffen, daß die deutschen Schwesterchen ihnen darin nichts nachgeben werden.
Wir stellen diesen Wäsche- und Bügelunterricht aus dem Grunde ausführlich dar, weil er, im Gegensatz zu den auch schon mehrfach angeregten Kochschulen in den Oberklassen, praktisch und leicht möglich ist. Gegen letztere bestehen große Einwände. Sie sind schwerer einzurichten, beanspruchen viel Zeit, das gekochte Essen muß regelmäßige Abnehmer finden, die Mädchen sind zu jung, um das Erlernte sicher zu behalten: Kochen vergißt sich leichter als Zimmer- und Bettmachen. Außerdem ist das Kochen im Arbeiterhaushalt ein sehr einfaches und muß sich auf den kleinsten Kreis beschränken, dies kann die erwachsene Tochter eher nach dem mütterlichen Beispiel machen als die häuslichen Geschäfte. An Reinlichkeit und Ordnung, den beiden großen Quellen der Behaglichkeit für den heimkehrenden Mann, fehlt es dagegen vielfach gar zu sehr. Diese Tugenden sollten also dem Schulkinde bereits eingeprägt werden; kann dann später der Besuch einer eigentlichen Haushaltungsschule dazu treten, um so besser! Für das künftige Dienstmädchen sollte eine solche geradezu vorgeschrieben sein: eine Menge der bekannten und berechtigten Klagen über Ungeschick und mangelndes Pflichtgefühl würden dadurch beseitigt werden. Wieder und wieder muß man es sagen: möchten doch die vielen wohlhabenden und unbeschäftigten Damen, hauptsächlich Witwen und ältere Mädchen, überall zusammentreten, um im Einverständniß mit den Schulbehörden eine Erziehungsthätigkeit zu entfalten, die für den weiblichen Theil der untern Stände genau ebensoviel werth ist als das eigentliche Lernen. In jedem Schulhaus wird ein Zimmer im Erd- oder Kellergeschoß für diesen Zweck einzurichten sein. Der Vormittagsunterricht der beiden Oberklassen genügt für die eigentlichen Lernfächer vollständig, der Nachmittag müßte dann ausschließlich der Haus- und Handarbeit, einschließlich Nähen und Flicken gewidmet sein, dann könnte im Lauf der letzten Schuljahre etwas geschaffen werden, was später eine ganz beträchtliche Hebung unserer Volkswohlfahrt und sicher auch vermehrte Zufriedenheit im einzelnen Haus zur Folge haben würde. Das große soziale Heilmittel, nach welchem heute so viele ausschauen, besteht vielleicht nur in einer Reihe von Einzelverbesserungen, wobei die Hebung von Pflichtgefühl und Tüchtigkeit in erster Linie steht. Daher ist jede darauf abzielende neue Einrichtung der wärmsten Förderung werth. R. Artaria.
Die Cronauschen Bilder von den Niagara-Fällen. Die Aquarell-Originale zu den beiden Bildern von den Niagara-Fällen, welche Rudolf Cronau seinem ersten Weltausstellungsbriefe in Nr. 21 dieses Jahrgangs beigegeben hat, d. h. zu der „Höhle des Windes“ und der Ansicht der Fälle von der amerikanischen Seite aus, befinden sich im Besitze der Herren Grimme und Hempel in Leipzig (Filiale: Berlin, Friedrichstraße Nr. 59/60), welche nach denselben Diaphanien haben herstellen lassen. Unsere Leser kennen diesen hübschen Schmuck für die Fenster unserer Wohnungen auf dessen anmuthige Wirkung auch die „Gartenlaube“ schon wiederholt hingewiesen hat, und es wird sie interessieren, zu erfahren, daß außer den beiden genannten Ansichten noch zwei weitere Aquarellaufnahmen jenes großartigen Naturschauspiels und viele andere neue Bilder in der Reihe der Diaphanien erschienen sind. Es ist beabsichtigt, die Landschaften auch noch auf Karton in Mappen herauszugeben, und wir zweifeln nicht, daß sie überall einer günstigen Aufnahme begegnen werden.
Die bedauernswerthesten Kranken. Wenn der Geist das höchste Gut des Menschen ist, das ihm die Beherrschung der Erde sichert und ihm die edelsten Genüsse des Lebens schafft, so giebt es gewiß kein größeres Unglück, als durch Krankheit diesen werthvollen Besitz zu verlieren. Obwohl die krankhaften Geistesstörungen so alt sind wie das Menschengeschlecht selbst, obwohl sie bei allen Völkern und auf allen Kulturstufen von jeher zur Beobachtung gekommen sind, hat sich doch erst im Laufe der letzten hundert Jahre ihre richtige Würdigung Bahn gebrochen. Im Alterthum betrachtete man sie meist als Zeichen göttlicher [468] Ungnade, und der erleuchtete Vater der Medizin, der Grieche Hippokrates, im 4. Jahrhnndert vor Christus lebend, steht ganz vereinsamt da, wenn er die Geistesstörungen als Krankheiten des Gehirns ansieht. Die Herenprozesse des Mittelalters wüthen erbarmungslos unter den Melancholischen und an Verfolgungswahn Leidenden. Und wenn die folgenden Jahrhunderte den Glauben der Teufelsbesessenheit aufgeben, so haben es die armen Geisteskranken darum nicht besser, weil sie mit allen Mitteln des Zwanges und der rohesten Gewalt zur Vernunft gebracht werden sollen.
Wie ein Licht erstrahlt in der Zeit der französischen Schreckensherrschaft die That des Pariser Arztes Pinel, der den Irren der großen Staatsanstalten Bicêtre und Salpêtrière die Ketten abnehmen läßt. Seitdem haben die Irrenärzte nicht aufgehört, für das Wohl der unglücklichsten unter den Kranken zu kämpfen, und die wachsende Einsicht der Behörden und der Völker hat ihren Bestrebungen mit jedem Jahrzehnt herrlichere Erfolge verliehen. In allen civilisierten Ländern sind zahlreiche Irrenanstalten entstanden, in denen die Geisteskranken unter möglichster Vermeidung jedes Zwanges verpflegt, unter günstige hygieinische Verhältnisse gebracht und nach dem Stande des ärztlichen Wissens behandelt werden. Die Vorurtheile gegen diese Anstalten sind durch die Erzählungen der geheilt oder gebessert Zurückgekehrten und durch die Zulassung der Besuche von Angehörigen und Antheilnehmenden wesentlich eingeschränkt worden. Auf dem Zurückgehen dieser Vorurtheile beruht zu einem bedeutenden Theile das unaufhörliche Wachsen der Anstalten an Zahl und Größe; einen ferneren Antheil haben daran die erhebliche Verlängerung des Lebens zahlreicher Irren, die früher durch Selbstmord und Elend dahingerafft wurden, und endlich die Zunahme der Bevölkerungsdichtigkeit, bei welcher zahllose Geisteskranke jetzt als störend erscheinen, die früher in dem abgeschlossenen Kreise ihres Heimathsortes unbehelligt und harmlos dahinlebten.
Eine wirkliche Vermehrung der Irrenzahl im Verhältniß zu der allgemeinen Bevölkerungszahl ist zwar oft behauptet worden, aber schwer zu beweisen, weil genaue Feststellungen über die Zahl der Geisteskranken (außer in Großbritannien) fast nirgends vorliegen. Wenn die Zunahme Thatsache ist, so beruht sie auf dem Wachsen des Alkoholmißbrauchs, der nicht nur den Trinker selbst, sondern auch seine Nachkommen geisteskrank macht oder wenigstens in letzteren eine starke Veranlagung dazu erzeugt. Einen werthvollen Beweis dafür giebt die norwegische Statistik, wonach mit dem Rückgange des Alkoholverbrauchs in den letzten Jahren die Aufnahmezahl der Irrenanstalten sich erheblich vermindert hat.
In den meisten Ländern, wo Berechnungen vorliegen, rechnet man gegenwärtig etwa 3 Geisteskranke auf 1000 Seelen. Von der Gesamtzahl der Irren wird in Deutschland noch nicht ein Drittel in Irren- und Idiotenanstalten verpflegt; bei dem größten Theil der übrigen zwei Drittel ist dies in der That nicht nöthig, bei einem geringeren wäre es allerdings sehr wünschenswerth, aber der dauernde Platzmangel in den Anstalten, die leidige Geldfrage und – der Rest von Vorurtheilen gegen das Irrenhaus stehen hindernd im Wege.
Wie keine menschliche Einrichtung unfehlbar ist, so haben auch die
Irrenanstalten ihre Mängel, und die Irrenärzte selbst haben sich niemals
für unfehlbar erklärt. Es giebt gewiß gute und schlechte Anstalten, aber die
Zahl der schlechten verringert sich immerfort und wenn vom Standpunkt
der Geisteskranken aus Vorwürfe zu erheben sind, so müssen sie sich
entschieden mehr gegen die Laienwelt richten, deren Verständniß für die Irren
noch manches zu wünschen übrig läßt. Wie viele dieser Unglücklichen durch
verspottende Worte und rauhe Behandlung gequält werden, wie vielen
durch die beliebten „Zerstreuungen“, durch Reisen, durch die Meinung, sie
seien „noch nicht reif fürs Irrenhaus“, die Aussichten auf Heilung abgeschnitten und unauslöschliche trübe Erinnerungen auf die Seele gewälzt
werden, läßt sich gar nicht ermessen. Im engen Rahmen dieses Hinweises
kann dies alles nur angedeutet werden, die weitere Ausführung ist die
Aufgabe eigener Bücher, deren Deutschland schon manche gute besitzt.
Ein besonders vorzügliches ist nach dem Urtheil eines der berühmtesten Irrenärzte der Gegenwart, des Profeffors Freiherrn von Krafft-Ebing in Wien, der eine eingehende Vorrede dazu geschrieben hat, das
kleine Werk von Chatelain, „Das Irresein“[2], das für gebildete Leser
bestimmt ist und ohne Bedenken in die Hand eines jeden solchen gelegt werden kann. Es enthält eine erschöpfende Darstellung des allgemein Wichtigen auf diesem Gebiet und ist geeignet, viel Unheil zu verhüten
und viel Segen zu stiften. Dr. Hans Otto.
Die elektrische Beförderung von Postsendungen. (Mit Abbildungen.) Aus der lebhaftesten Unterhaltung mit seinem Geschäftsfreunde wird der Herr Müller durch den Ruf des Pförtners: „Schnellzug nach Aachen! Sofort einsteigen!“ aufgeschreckt; er stürzt zum Zuge und vergißt in der Eile seine Reisetasche. Aber das wachsame Auge des Pförtners hat die Sachlage durchschaut, und im Augenblick der Abfahrt wirft er die Reisetasche des ihm wohlbekannten Herrn Müller dem Packmeister in den Gepäckwagen. Der Vorfall wird der nächsten Haltestelle telegraphisch gemeldet, auf welcher der Herr Müller, der bald seinen Verlust entdeckt hat, zum Bahnhofsvorsteher eilt. „Herr Inspektor, beim Einsteigen in K. habe ich meine Reisetasche zurückgelassen, es waren 80 Thaler drin; helfen Sie mir doch, Herr Inspektor, helfen Sie!“
„Ruhig Blut, Herr Müller! – Ich helfe sofort – das können wir rasch machen – wir lassen die Tasche telegraphisch nachkommen – Silberthaler, das leitet gut.“ Dabei macht der joviale Inspektor einige Griffe am Telegraphen, geht in die Packstube und übergiebt gleich darauf mit verbindlichem Lächeln dem ängstlich harrenden Herrn Müller seine Tasche. Der hier erzählte Fall begab sich zu Anfang der fünfziger Jahre und wurde als gelungener Scherz vielfach belacht und auf Kosten des Herrn Müller weiter erzählt. – Und heute? Seit kurzer Zeit liegt das System der elektrischen Post- und Paketbeförderung fertig ausgeblldet vor.
Nach vielen vergeblichen Versuchen ist es in Boston gelungen, das Modell einer betriebsfähigen elektrischen Bahn aufzustellen. Die Versuchsstrecke hat, wie Professor Dolbear berichtet, eine Länge von etwa 3/4 Wegstunden und kehrt zur Ausgangsstelle zurück. Die nebenstehenden Figuren geben ein Bild der Einrichtung, und zwar ist Figur 1 der aus der Schienenführung herausgenommene stählerne Wagen, an welchem der Deckel aufgeklappt ist. Das vordere sowohl wie das hintere Ende desselben ist mit einem Räderpaare, und zwar mit je einem großen, dem Laufrade, und einem kleinen höher gelegenen, dem Leitrade, versehen. Der Wagen wird vom Laufrade getragen und vom Leitrade gegen Umschlagen gesichert, wie dies aus Fig. 2 zu ersehen ist, welche auch das Laufgerüst sowie die oberen Enden der Tragsäulen und die Lauf- und Leitschienen zeigt.
In Abständen von etwa zwei Metern sind mit Kupferdraht umwundene Eisenhülsen, sogenannte Solenoïde, angebracht, welche zur Uebertragung der elektrischen Kraft dienen und zum Schutze gegen die Witterungseinflüsse kastenförmig verkleidet sind. Die Wagen, welche die Poststücke aufnehmen, sind 31/2 Meter lang, können also eine bedeutende Sendung fassen. Eine Dynamomaschine von zwanzig Pferdekräften liefert den erforderlichen elektrischen Strom, der durch die Berührung zwischen Wagen und den Solenoïden selbstthätig geschlossen und geöffnet wird. Infolge der hierdurch entstehenden magnetischen Anziehung und Abstoßung wird der Wagen mit einer Geschwindigkeit fortbewegt, welche der Geschwindigkeit der Eisenbahnexpreßzüge gleichkommt. Eine besondere Vorkehrung bewirkt, daß gegen das Ende der Fahrt eine langsamere Gangart eintritt, so daß der Postwagen am Zielpunkt mit der nöthigen Würde sich vorstellen kann. Da beliebig viele Beförderungswagen eingestellt werden können, so ist man imstande, einen großen Verkehr in kurzer Frist zu bewältigen. A. H.
Heinrich Düntzer. Der verdienstvolle Philologe und Litterarhistoriker Heinrich Düntzer, ein Sohn der Rheinlande, feiert am 12. Juli dieses Jahres seinen achtzigsten Geburtstag. Geboren am 12. Juli 1813 zu Köln, hat er sich durch eindringende Forschungen auf dem Gebiete der Homerischen Poesie, dann aber insbesondere durch zahlreiche Schriften über Goethe und seine Zeitgenossen einen hervorragenden Namen in der deutschen Gelehrtenwelt erworben. Erst jüngst noch ist er mit frischem Kampfesmuthe in einer kleinen Schrift, „Friederike von Sesenheim im Lichte der Wahrheit“, gegen die schnöden Verdächtigungen ins Feld gezogen, welche gegen die Heldin des Sesenheimer Idylls laut geworden sind, und er hat darin den Beweis geliefert, daß die Waffen seines Geistes unter der Last der achtzig Jahre nicht gelitten haben. Möge dem greisen Gelehrten ein freundliches Alter beschieden sein!
Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (13. Fortsetzung). S. 449. – In den Gärten Wiens. Von V. Chiavacci. S. 452. Mit Abbildungen S. 449, 452, 453, 455, 456 und 457. – Rosenduft. Von C. Falkenhorst. S. 458. – Der Sänger. Roman von Karl v. Heigel. S. 460. – Bilder aus einer englischen Haushaltungsschule. S. 461. – Sommerrast. Gedicht von Max Hoffmann. Mit Bild. S. 465. – Deutsche Bühnenleiter. Emil Claar. Von Johannes Proelß. S. 465. Mit Bildniß S. 466. – Blätter und Blüthen: F. G. Keller. S. 467. – Hauswirthschaftsunterricht. S. 467. (Zu den Bildern S. 461.) – Die Cronauschen Bilder von den Niagara-Fällen. S. 467. – Die bedauernwerthesten Kranken. S. 467. – Die elektrische Beförderung von Postsendungen. Mit Abbildungen. S. 468. – Heinrich Düntzer. S. 468.