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Die Gartenlaube (1893)/Heft 29

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[485]

Nr. 29.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.

 (15. Fortsetzung.)

20.

Die Nonne, in bösartigen stummen Trotz verfallen, schob die Riegel zurück und öffnete die Schlösser; Nievern sah ihr zu, und Wuth, Entsetzen und ein rasendes Mitleid machten ihn sprachlos, er hätte die Nonne am liebsten erwürgt. War es nicht, als hielten sie da hinter der Thüre eine Verbrecherin?

Und nun – nie, bis zu seinem Todestage nicht, vergaß Nievern die Augen, die sich jetzt da drinnen in Angst und müdem Jammer auf ihn richteten, Auf ihn, nein . . . nur auf die sich öffnende Thüre . . . Augen, die verlernt hatten, auf irgend etwas, was durch jenen Eingang kommen konnte, zu hoffen. Auch als Polyxene hinter der zuerst eintretenden Nonne den Oberjägermeister erkannte, wich dieser herzzerreißende Ausdruck noch nicht aus ihrem Gesicht. Kam jener als Freund? Sie wußte es nicht und glaubte an nichts Gutes mehr. Das schnitt dem Manne in die Seele, Um

Goldfischhändler in den Straßen Berlins.
Originalzeichnung von Hans Looschen.

[486] die Nonne kümmerte er sich nicht; er schritt rasch auf Polyxene zu, die vor dem Steinsitz an der Wand stand und sich noch nicht gerührt hatte. Er neigte sich vor ihr wie ehemals, was sie zu wundern schien. Mit einem Blicke hatte er gesehen, wie unsäglich sie gelitten haben mußte. Das holde Gesicht, das jungfräulichste, auf dem seine Augen je geweilt hatten, war schärfer geworden, ohne ihm aber weniger hinreißeud zu erscheinen – nein, nur noch mehr, weit mehr, jetzt nach der Trennung und dem Entbehren! Und die stolze Liliengestalt war es noch immer.

Er mußte sie berühren, daran sollte ihn keine spähende Nonne hindern. So griff er nach ihren Händen, die sie wie in Schmerz und Angst ineinandergeschränkt hatte, löste die eine sanft – Herr Gott, er fühlte, daß sie schmäler, magerer geworden war – und drückte einen sehnsüchtigen Kuß darauf.

Ach, wie wenig zeigte Polyxene von der lieblichen Verwirrung des Mädchens bei solcher stummen Sprache! Wie in mühsamer Verwunderung sah sie ihn an und fragte, endlich die Lippen öffnend: „Wem thut Ihr das, Herr von Nievern? Ihr seid lange fort gewesen, lange, lange,“ fügte sie träumerisch hinzu, „Ihr wißt vielleicht nicht, daß ich indessen eine Mörderin geworden sein soll?“

Er biß die Zähne aufeinander in dem Versuch, Jammer und Wuth zu bemeistern. „Besudelt Euere Lippen nicht mit der niederträchtigen Verleumdung,“ sagte er, so ruhig er vermochte. „Nach Eueres Vetters Verbleib wird geforscht, das läßt Euch die Euch noch immer gnädige Frau Pfalzgräfi sagen ... sie schickt mich ...“

„Sie schickt Euch,“ wiederholte Polyxeue leise, und ihm war, als zittere ein kaum merklicher Hauch der Enttäuschung durch die Worte. Und dann, als werde sie jetzt erst aufmerksamer, hob sie den Kopf. „Nach meinem Lutz wird gesucht, sagt Ihr? Ach, Gott lohne es Euch! Ihr sprecht von ihm, als ob er lebte. Aber fragt doch die da“ – und sie zeigte auf die Nonne – „wofür sie mich hier halten!“

„Ich glaube, Ihr täuscht Euch.“ Mit Ueberwindung richtete Nievern, so direkt aufgefordert, den Blick nach der Nonne. Die aber stand da, als sei sie taub, mit unbewegtem Gesicht. „Ihr seid hier,“ fuhr er fort, „um wegen Eueres Glaubens befragt und unterwiesen zu werden. Daß es ernstlich, aber liebreich geschehen sollte, war die Meinung unserer gnädigsten Frau. Sie glanbte Euch hier Eurem Stande gemäß gehalten und ahnt nicht, daß man Euch in einem dumpfen Gefängniß hinter dreifachen Riegeln verwahrt. Nun, die das verschulden, werden sich dafür zu verantworten haben, so wahr ich ein Edelmann bin. Euch aber, werthes Fräulein, hoffe ich, in kurzem ein Ende dieser absonderlichen Haft ankundigen zu können. Euer Oheim wartet Euer und das Haus“ – er war ihr näher getreten und sprach leiser – „in dem ich Euch einst grüßte, Polyxene.“

Da rang sie die Hände ineinander in plötzlich ausbrechendem Jammer. „Ach, nach Hause komm’ ich nie wieder – ich seh’ es an ihren kalten Augen hier, daß ich verloren sein soll! Aber nicht hier will ich vergehen – sagt es der Pfalzgräfin, ich verlange mein Recht, Herr von Nievern! Sie soll sorgen, daß es mir werde, um meines alten edlen Namens willen. Hier sticheln sie mit halben höhnischen Worten auf mich, oder es umgiebt mich Schweigen wie der Tod ... in diesen Mauern soll ich ersticken oder bekennen, was sie hören möchten! Und mit mir im Moder soll der theure Name vergehen, den meine Eltern getragen haben! Ich aber will, daß man mit mir thun soll, wie recht ist, und öffentlich. Bringt mich vor ein Gericht des Landes, laßt nicht täuschende Reden von diesen hier mich länger umwinden und umschnüren wie tödliches Gewürm – fragt mich laut, damit ich laut mich verantworten kann! War ich so schnöder Missethat fähig, der allerschnödesten, an dem, der mich lieb hatte und den ich liebte, ach, wie nichts sonst auf der Welt – so ist der tiefste Keller nicht tief genug für mich. Bringt mich hinein, aber nur von hier fort! Da“ – sie streckte wild die Arme von sich – „legt mir Ketten an und führt mich damit über den offenen Markt, und glaubt Ihr mich schuldig, so nehmt, wenn es Gott zuläßt, mein Leben ... denn längst ist es mir verleidet!“

„Steht es so? Allmächtiger Gott!“ murmelte Nievern. Er war zur Schwester Veritas getreten und packte sie nicht eben sanft beim Arme. „Habt Ihr das gehört? Das ist Euer Werk! Was sagt Ihr dazu?“

Die Nonne, mit einem feindselig queren Blick nach Nievern, suchte sich von seinem Griffe loszumachen. „Ich sage, daß aus dem Fräulein böse ungebärdige Geister der Zuchtlosigkeit und des Aufruhrs reden, die der Niederhaltung durch strenge Disziplin noch gar sehr bedürfen. Und hütet Ihr Euch, dem Teufel der Hoffarth, der aus ihr spricht, nach dem Munde zu schwatzen; es könnte Euch übel bekommen!“

Jetzt gab Nievern den Arm der Schwester frei, das heißt, er ließ ihn so heftig fähren, daß sie ein weniges taumelte. Einer Antwort würdigte er sie nicht; er hatte sich zu Polyxene gewandt. Erschüttert stand er vor ihr und kämpfte gegen das übermächtige Verlangen, sie an sein Herz zu reißen. Aber durfte er jetzt, hier, um sie werben? Die sehnsüchtige Liebe selber wehrte es ihm, wenn es der unheildrohende Ort nicht gethan hätte. Polyxene würde ihn kaum verstanden haben. Hatte er nicht eben, mit einem leisen Schmerzgefühl, von ihr vernommen, daß sie den Knaben Lutz lieber gehabt als irgend etwas auf der Welt?

Aber Trost, so weit er vermochte, mußte er geben. „Ihr sollt von hier fort, aber mit nichten in einen anderen Kerker,“ raunte er ihr jetzt zu, fast heiser vor Bewegung. „Dafür, daß Ihr frei seid von aller Schuld, setz’ ich mein Leben ein. Und so denken alle Eure Freunde,“ fügte er ehrlich hinzu; „ich bin nicht der einzige. Aber am längsten denk’ ich Euer Freund zu sein – von jetzt ab bis zu meiner letzte Stunde. Habt Ihr mich gehört? Und glaubt Ihr mir, Polyxene?“

Da sahen ihn die trübe gewordenen blauen Augen an wie aus weiter Tiefe, und sie sagte wie jemand, der im Schlafe spricht:

„Als mich noch die Sonne bescheinen durfte, da habt Ihr einmal zu mir gestanden; ach, wie gering erscheint mir jetzt mein Kummer von damals! Und hier, im Jammer, haben meine Gedanken Euch oft gesucht als einen Freien und Glücklichen. Warum gerade Euch? Und warnm seid Ihr von allen zu mir gekommen?“

Da stieg es dem kräftigen Manne bis in die Kehle; sein Herz klopfte in wilder Seligkeit Antwort auf dies unschuldige Fragen und es überströmte ihn hier, an der tödlichen Stätte, wie Maienluft und ätherische Wonne. Ein höhnendes Wort der Nonne brachte ihn zum Bewußtsein des Ortes. „Endet Ihr noch nicht bald, Herr? Was Ihr wissen wolltet, dächt’ ich, hättet Ihr erfahren,“ sagte sie, an ihm vorbeiblickend.

In das gebräunte Antlitz des Oberjägermeisters stieg bei den doppelsinnigen Worten eine dunklere Gluth. Scharf erwiderte er: „Ja – ich habe weit mehr erfahren, als mir lieb ist. Und doch bin ich noch nicht fertig. Ihr müßt gestatten, daß ich dies Gelaß, höchst unwürdig des Fräuleins, wie es ist, etwas näher in Augenschein nehme ... Und dann noch einmal rasch zu Polyxene: „Weshalb gerade ich hier vor Euch stehe, das sollt Ihr, so Gott will, bald wissen Fräulein von Leyen. Vor allem haltet es im Sinne, daß ein Freund Tag und Nacht Euer Geschick im Herzen trägt wie sein eigenes – nein, mehr, weit mehr!“

Und nun durchschritt er die Zelle bis zu dem Fensterschacht in der dicken Außenmauer, und seine Augen wanderten den Weg, den die Polyxenens so oft schweiften, nach dem einen Stückchen Himmel draußen jenseit des kleinen Fenstervierecks.

Kaum Licht, keine Luft! Er wandte sich hastig in die Zelle zurück. Da stand Polyxeue hinter ihm und sagte, jetzt mit einem Zuge rührender Ergebung um den Mund: „Da, wo Ihr steht, ist die Zeit her mein Platz gewesen, bis die Füße mich nicht mehr tragen wollten. Denn wenn ich stehe, kann ich ein wenig mehr vom Himmel sehen. Der Himmel über unserem Wald am Heidenkopf ist es, ich weiß es wohl.“

Er fand keine Antwort; allzu sehr schnürte ihm, was er sah und hörte, das Herz zusammen Er zwang sich, das wenige, was die Zelle an Ausstattung enthielt, zu mustern; das harte Lager, ein Tisch und ein Stuhl und das Kruzifix an der Wand – das war alles. „Ich gehe, Fräulein, weil ich muß,“ sprach er endlich und sah Polyxene schmerzlich an. „Aber dies ist kein Abschied auf lange, Ihr müßt bald frei werden ... und doch ist mir, als sollte ich Euch nicht lassen.“

„Ihr seid gut,“ sagte sie. Und dann mit einem Male, als er sein Herz endlich gebändigt hatte und an der Thür war, hörte er hinter sich einen Angstruf, der aus tiefster Seele brach: „Ach, geht nicht!“

Das war zuviel für Fleisch und Blut. Nievern stürzte zurück und riß seine Lilie an sich, ihr Blumenhaupt ein seiner Brust bettend, ihre Augen und Lippen mit Küssen bedeckend. Da sie es litt, raunte er ihr hastig zu: „Wollt Ihr mich haben, Süße, zu Eurem Mann? Ich liebe Euch längst und Euch allein.“ Daß [487] sie mit Worten nicht erwiderte, brauchte er nicht übel zu deuten – sagte die hingebende Ruhe, mit der sie in seinem Arme lag, nicht genug?

Und nun wendete er, indem er Polyxene losließ, den Kopf über die Achsel zurück zu der Nonne und sagte: „Ihr mögt denn wissen, daß dieses Fräulein hier meine allverlobte Braut ist. Seht wohl zu, wie Ihr mit ihr verfahrt, denn, beim allmächtigen Gott, ich werde Rechenschaft darüber von Euch fordern.“

„Rechenschaft über das Fräulein sind wir nur Seiner Hochwürden dem Pater Gollermann schuldig,“ autwortete die Nonne kalt. „Die Bande weltlicher Verwandschaft oder gar fleischlicher Neigung kümmern uns nicht. Und nun macht ein Ende, Herr!“

Ein Ende, ja! Es kam dem Oberjägermeister mit einem Male, wie dies Ende am erwünschtesten, wenn auch sehr unerwartet für die Schwester Veritas, zu beschleunigen sei. Ein tolles Jägerstück wäre es gewesen, hart an der Thüre sein Liebchen mit sich heraus, die Nonne aber in die Zelle hineinzuschwenken und die Riegel hinter ihr zuzustoßen! Aber er gönnte sekundenlangen Raum der Ueberlegung, daß er sich und seine Braut durch eine solche That vogelfrei machen würde und aus dem heimischen Ländchen verbannen gleich zu Anfang ihrer gemeinschaftlichen Laufbahn. Und so überwand er die Versuchung und ließ es zu, daß die Thür verschlossen und verriegelt wurde zwischen ihm und Polyxene, die stumm geblieben war bis zuletzt, überwältigt von Glück und Jammer zugleich. Und bitter, bitter sollte er das bereuen.




21.

Die nächste Aufgabe für den Oberjägermeister war, das verhehlte er sich nicht, die Pfalzgräfin mit dem veränderten Verhältniß zwischen sich und Polyxene bekannt zu machen. Hatte sie doch zur etwaigen Vermählung des minorennen Fräuleins sowohl wie auch ihres Kavalieres geradezu ihre Erlaubniß zu geben. Und ohne ihren guten Willen konnte dem Vorhaben manches Hinderniß erwachsen. Was aber diesem guten Willen entgegenstehen würde, das wußte Nievern. Verwünscht diese ihre Narrheit, wie er undankbarerweise das merkliche Wohlgefallen der kleinen Hoheit an seiner hübschen stattlichen Person nannte! Warum, bei allen Teufeln, heirathen die Weiber nicht wieder, wenn es ihnen denn doch unmöglich fällt, dem Spiel mit ihren Reizen – und mögen derer noch so wenige sein – zu entsagen! Im Falle der Frau Sabine Eleonore wußte er freilich den Grund wohl. Der kleine Satan – so hieß sie der Frevler in Gedanken – hat seinen eigenen Willen viel zu lieb. Einen Herrn will sie nicht wieder, wohl aber einen stets dienstbereiten und deshalb wenn möglich in sie verliebten Sklaven. Nun, sie suche sich jetzt einen andern! Uebrigens traute er sich trotz dem allem zu, die Fürstin sich geneigt zu erhalten ... er hatte schon Schwereres bei den Frauen fertig gebracht!

Zuerst brauchte er ihre Gunst jetzt für Polyxene. Dieser durfte er um keinen Preis das Mitleid der Pfalzgräfin verscherzen, damit ihre unwürdige Einkerkerung nicht länger währe. Ihm wurde immer wieder siedend heiß im Gedanken an ihr Elend. Wie wollte er sie dafür entschädigen, wie auf den Händen tragen nachher!

Er hatte sich vom Kloster aus sogleich nach seiner Wohnung im Flügel des Residenzschlosses begeben. Da fand sich, daß ein Berittener des Thurn und Taxis’schen Postdienstes indessen Briefe von dem Vetter Engelbert, dem Kanonikus in Malmedy, gebracht hatte. Obwohl wenig dafür gestimmt, erbrach und las Nievern das Schreiben seines Verwandten. Der geistliche Herr erging sich in behaglicher Erinnerung an den neulichen Besuch seines Vetters Viktor. Diesen Namen trage Nievern mit Recht, hieß es scherzend, denn die Batterien seiner hübschen Augen hätten hier allenthalben gesiegt, wohin er sie nur gerichtet. Die schöne Dalhem in St. Truyden schmachte diesen Augen ganz öffentlich nach, und jüngst sei es beinahe zu einem Duelle zwischen ihr und seiner eigenen Freundin, der goldhaarigen Magarethe de Wytt, gekommen, weil jede der Damen sich eines besonderen Vorzugs bei dem Herrn von Nievern habe rühmen wollen. „Ich hätte demnach einigen Grund, eifersüchtig auf meinen liebwerthen Vetter zu sein,“ neckte der Kanonikus. „Und daß ich es nicht bin, wird er hoffentlich meinem brüderlichen Gemüthe hoch anrechnen.“

Herr von Nievern hatte jetzt keinen Sinn für die Scherze des geistlichen Vetters, aber er konnte doch nicht hindern, daß seine Gedanken wieder flüchtig in jene Region gelockt wurden. Er stand an seinem Fenster, das Schreiben noch in der Hand, und ritt im Geiste mit dem Kanonikus über die wildreichen Moore des Hohen Veen und wo sonst ihre Jagdstreifereien sie entlang geführt hatten. Wie frei dies Schweifen, während damals schon enge Kerkermauern seine Süße umschränkt hatten! Aber damals war sein Herz noch ruhig und leicht gewesen und hatte wenig geahnt, daß über den Gegenstand seiner Liebe, mit der er noch spielen zu können meinte, der Fittich des Verderbens sich zu breiten begann.

Er war noch mit diesen Bildern beschäftigt, die der Brief des Domherrn heraufgelockt hatte, da fuhr es plötzlich vor ihm nieder wie ein Blitz – auch nur eine Erinnerung, aber diesmal eine, die ihn wie ein elektrischer Schlag traf. Er sah das Gitter der weitläufigen Gärten des Jesuitenkollegs von St. Menehould vor sich, an denen sie damals vorübergeritten waren, und dahinter die Knabengestalt, schmächtig erscheinend in dem schwarzen geistlichen Rock, und wie sie sich ans Gitter warf und gedankenschnell ein weißes Tüchlein schwenkte. Und was er damals nicht erkannt hatte, das glaubte er jetzt zu sehen, da es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel: so hätte der verschwundene Lutz von Leyen aussehen können, wenn man ihm das Blondhaar kurz verschnitten und ihn in den schwarzen Rock des Jesuitenschülers gesteckt hätte! Und doch, wenn man der Sache auf den Leib ging, was blieb für diese willkürliche Annahme zur Stütze? Mußte er sich nicht einen Thoren schelten? Nichts, was seine abenteuerliche Meinung begründen konnte, wollte mehr vorhalten bei ruhiger vernünftiger Erwägung.

Trotzdem beschloß er, Wahrscheinlichkeit hin, Wahrscheinlichkeit her, dem Ding nachforschen zu lassen. Er wußte auch schon, durch wen: hatte sich der alte Strieger nicht erboten, trotz seiner neunzig Jahre noch nach Trier zu laufen, wenn er dem Fräulein damit einen Dienst thun könnte? Diesen schlauen Spürhund dachte er auf jene Fährte zu setzen, und das sollte noch heute am Abend geschehen, wenn der Alte sich nur in dem Bereiche, den er angegeben hatte, betreffen ließ.

Das würde also das Geschäft des Abends sein; vorher aber galt es einen Gang zur Pfalzgräfin! Nievern glaubte keine Zeit verloren zu haben, als er sich nach der Mittagstafel, welche die Stunde zwischen zwölf und zwei Uhr einnahm, bei Frau Sabine Eleonore melden ließ. Allein er mußte erfahren, daß andere Leute geschwinder als er gewesen waren. Die Sonne des fürstlichen Antlitzes verbarg sich vor ihm hinter unheilkündendem Gewölk . . . die Pfalzgräfin empfing ihn nicht. Sie wußte also schon, was in der Zelle bei den Ursulinerinnen heute morgen vorgegangen war. Oder vielmehr, sie wußte so viel davon, als die giftigste Entstellung von der Wahrheit nothgedrungen hatte übrig lassen müssen. Nievern biß die Zähne aufeinander; von jetzt an mochte er sich nur ähnlicher Hindernisse bei jedem Schritt, den er würde thun wollen, versehen!

In seiner Wohlnung setzte er sich sofort hin und verfaßte einen gedrängten nachdrücklichen Bericht über die Angelegenheit, soweit sie lediglich Polyxenens unwürdige Haft betraf. Er stellte dieselbe mit entschiedenen Worten als ein strafwürdiges Uebergreifen der Klosterfrauen hin, welches das Einschreiten Ihrer Hoheit der Pfalzgräfin sofort und dringend fordere. Und dann nahm er ein neues Blatt. Er machte dasselbe als eine Privatmittheilung an die Fürstin in der vorgeschriebenen Weise kenntlich, faßte sich aber im Texte noch kürzer als in dem ersten Schriftstück. Er that darin seiner wohlgeneigten Fürstin kund, daß die Freiin Polyxene von Leyen sich ihm anverlobt habe und er dieselbe zu ehelichen gedenke. Er bitte daher die Frau Pfalzgräfin in schuldiger Ehrerbietung um allerhöchst ihre Zustimmung zu diesem Bündniß. Sollte dasselbe aber aus irgend einem Grunde der Fürstin mißfällig sein, so wolle er in diesem Falle hiermit zugleich um gnädigste Entlassung aus pfalzgräflichen Hofdiensten gebeten haben.

Ein düsteres Licht brach aus des Oberjägermeisters Augen, als er diese beiden Schreiben mit seinem Namen unterfertigt, gefaltet und gesiegelt hatte. Denn sie bedeuteten, wie sie da zum Abgang fertig vor ihm auf dem Tische lagen, einen folgenschweren Entschluß; er wußte, daß er sich damit von der glänzenden sorglosen Periode seines Lebens wahrscheinlich für immer schied. Hofgunst und Lust und das übermüthige Reiten über den Nacken gemeiner Sorgen gab er heute auf und tauschte Gefahr und Noth dafür ein. Und gerade dann zu werben, wenn jede Annäherung an die Geliebte ähnlich wie die Berührung einer Pestkranken die Mitverstrickung in ihr Jammergeschick droht – nicht jeder hätte es gethan. Daran dachte Herr Viktor von Nievern aber nun freilich am wenigsten.

[488]

Stefans-Brücke.   Nördliche Kalkalpen.  Patscherkofl (2214 m)

Langenthal-Fall.     
Blick von der Wittingwarte auf die Gebirgszüge um Innsbruck.
Originalzeichnung von W. Humer.

[489] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [490] Er ordnete sorgfältig die sofortige Ueberlieferung seiner Briefe an die Pfalzgräfin an und begab sich darauf hinüber in die Amtsstuben der Forstkämmerei. Wenn er etwa bald seine Charge niederzulegen haben würde, so schien es angezeigt, hier erst Ordnung zu machen, soweit es nöthig war. Er blieb hier bis zur Abenddämmerung, nahm Einsicht in die Akten, in die Rechnungsbücher, wies noch einige Ausgaben an für die pfalzgräfliche Meute, beziehungsweise für Ausbau des Zwingers hochdieser Bestien, da er denselben in schlechtem Stande wußte, und lachte ein wenig ingrimmig in sich hinein, wenn er dachte, daß im Falle seines Abganges die Hunde wenigstens, wenn sie’s verständen, ihm zu danken haben würden.

Aber wohl nicht sie allein würden ihn alsdann vermissen, die Schreiber der Kanzlei und der alte Kammerrath waren ganz betreten bei diesen sonderbaren Anzeichen. Der glänzende Kavalier war niemals als ihr Schrecken hierher gekommen, nicht gehaßt oder gefürchtet. Im Gegentheil, sie wußten, daß er es trotz seiner spöttischen Art nicht schlecht mit ihnen allen meine; seine trockenen Scherze entzückten sie, seine schöne vornehme Gegenwart ließ, wenn er einmal hier geweilt hatte, gleichsam einen Glanz in den dumpfen Amtsstuben zurück. Und sie hatten es als einen Vorzug betrachten gelernt, gerade des Herrn von Nievern Untergebene zu sein. So bedrohlich für ihrer aller Existenz erschien ihnen daher die Ahnung seines Scheidens, die ihnen sein Wesen heute gegeben hatte, daß sie sich nicht enthielten, ihre Besorgniß laut werden zu lassen, daheim bei ihren Weibern und auch sonst unter guten Bekannten. Das Gerücht gerieth unter die niedere Hofdienerschaft, an die Zofen und Kammerfrauen, durch welche es die Obersthofmeisterin erfuhr. Und so war dafür gesorgt, daß die überraschende Kunde der kleinen Hoheit selber früher oder später gebührend kredenzt werden mußte. –

An der Stelle, die der alte Strieger dem Oberjägermeister zum Stelldichein genannt hatte, waren die beiden in der Abenddämmerung zusammengetroffen; sie hatten sich in das Waldgebüsch zurückgezogen und dort, doppelt und dreifach gedeckt durch die völlige Oede dieser Strecken, durch das gelbe Laub des Eichengestrüpps und durch die Abenddunkelheit, schon eine ganze Weile ernstlich verhandelt.

Der Strieger hatte sich genau den Weg bezeichnen lassen nach Malmedy. Dorthin sollte er dem Kanonikus von Wildenfels einen Brief des Oberjägermeisters bringen, in keine anderen Hände zu legen als in die des geistlichen Herrn in Person; und es war ihm angedeutet worden, daß der Brief jedenfalls soviel werth sei als seine, des Waldwarts, eigene alte Haut, die demnach unbedenklich daran zu setzen sei, um dies Blatt gegen etwaige Fährniß aus dem Wege und besonders gegen unberufene Augen zu vertheidigen. Der Alte hatte hohl in sich hinein gelacht. „Seid unbesorgt, Herr! So lange ich lebe, kriegt keiner das Blatt, dem ich’s nicht gebe, und wenn ich tot bin, erst recht nicht ... da fress’ ich’s lieber vorher.“

„Lieber ist mir’s aber, der Brief wird nicht geschluckt, sondern abgeliefert, Alter, darum gehe Euch Vorsicht vor Tapferkeit,“ hatte Herr von Nievern gemahnt. Das Anerbieten eines Pferdes, um seinen alten Knochen den Weg zu erleichtern, hatte der Waldwart sehr entschieden abgelehnt. Auf seinen drei Beinen, den zwei ihm leiblich angehörigen und seinem Hagebuchenstock, werde er weit rascher vom Flecke kommen als auf vieren, denn einmal sei er des Reitens nicht gewohnt und dann getraue er sich, Schleichwege zu finden, auf denen ihn ein Gaul nur hindern würde.

Der zweite Theil seines Auftrages war minder einfach als die Ueberbringung des Briefes und je nachdem später oder schon vorher auszuführen. Es galt, die Gärten von St. Menehould zu umschleichen und im glücklichen Falle die Zöglinge der frommen Väter während ihres Spazierganges zu beobachten, wenn möglich recht aus der Nähe. Der Strieger hatte nichts hören lassen als einen langgezogenen unterdrückten Pfiff, da er in aller Kürze vernommen, was den Oberjägermeister zu diesem sonderbaren Auftrag veranlaßte. Aber irgendwie mußte er sich doch Luft machen! Schade, oder vielleicht ganz gut, daß Herr von Nievern das kleine verwitterte Greisenantlitz jetzt nicht deutlich sehen konnte! Wie die Augen in ihren tiefen Höhlen funkelten und wie bösartig das Gesicht wurde! Gleich einem schlimmen Waldteufel grinste der Alte in die Dunkelheit hinein; war er doch auch aller Welt feind, nun die Magdalena tot war, außer denen vom Namen Leyen und was mit dieser Familie jetzt zusammenhing.

„Es ist vielleicht nur ein Hirngespinst von mir, daß ich glaube, den Junker Ludwig gesehen zu haben,“ sagte Nievern jetzt. „Wollt Ihr es trotzdem daraufhin dort wagen, Strieger? Schreckt Euch der Auftrag nicht? Ihr selber glaubt ja aber nicht an des Junkers Tod. Und – halt – hat nicht in Euerem schlauen Hirne schon der Gedanke gespukt, die Geistlichkeit könnte mit seinem Verschwinden zu thun gehabt haben?“

„Fällt Euch das jetzt erst ein?“ sagte der Strieger ein weniges verächtlich, „Eins weiß ich. Wenn ich gesehen hätte, was Ihr da sagt von einem, der Euch zugewinkt hat hinter dem Gitter – ich hätte nicht so lange gebraucht wie Ihr, um mir einen Vers darauf zu machen, Also wie war’s ? Von hier zunächst auf Ehrach, dann auf Reuland und St. Wit.“ Er murmelte vor sich hin die Namen der Ortschaften am Wege, die ihm Nievern genannt hatte; dann fuhr er laut fort: „Mein Wald mag sich indessen selber hegen ... und ich lasse ja auch einen zurück an meiner Statt, denselbigen schwarzen Kumpan, der abends, mit einem feurigen Schweife geziert, den Klößefressern von Keula, den dummen Tölpeln, des öfteren hier am Heidenkopf erschienen sein soll. Da werden sie das Holzmausen schon bleiben lassen.“

„Wenn er Euch statt dessen dorthin begleitet und Euch in Euerem Geschäft bei den Vätern in St. Menehould hilft, so habe ich auch nichts dagegen,“ erwiderte Herr von Nievern mit einem finsteren Lächeln auf diesen grimmigen Scherz. „Denn ich glaube, einen viel Geringeren braucht es nicht, um gegen die etwas auszurichten.“

Noch einige letzte Anweisungen gab der Oberjägermeister, denen er aber vorsichtshalber die Worte vorausschickte: „Wollt Ihr mich nun etwa wieder hier in der Dunkelheit stehen lassen gleich einem Narren wie neulich beim Kloster, so verzieht damit wenigstens, bis Ihr das Nothwendigste wißt.“ Der Strieger brummte einiges dagegen, schien es übrigens diesmal nicht so eilig zu haben, denn er heischte von Nievern immer noch einmal Auskunft über dessen Besuch im Kloster, von dem der Oberjägermeister ihm berichtet hatte. Dabei war es dem Waldmann aber weniger um Polyxenens innere Verfassung zu thun; vielmehr wollte er vornehmlich wissen, wie und wo das Fräulein bewahrt werde; Lage und Beschaffenheit ihrer Zelle ließ er sich beschreiben, so gut das der Oberjägermeister vermochte. Dann geleitete er den Herrn von Nievern einen kurzen Pfad durch das Gehölz, den nur ein Luchs- oder Eulenauge wie seines zu finden vermochte. Erst als sie die Landstraße dicht unter sich hatten, hielt er an; im letzten Augenblick fuhr er in sein Gewand und brachte etwas zum Vorschein, das er dem Oberjägermeister hinreichte.

„Ich wollte, Ihr nähmet mir dies ab, Herr. Es ist beschriebenes Papier, wie Ihr bei Tage sehen werdet“ – in der That fühlte Nievern, da er verwundert zugriff, eine dünne Rolle Papier in der Hand – „ich kann nicht verrathen, was drinnen steht, für mich ist alle Schrift Latein, bis zum Lesen habe ich’s selbst in meinen jungen Tagen nicht gebracht, Dieses hier fand ich bei der Magdalena, die das Fräulein auch besucht hat – und nicht zu eigenem Heile, fürcht’ ich – im Bett, als ich die Tote aufhob, um sie in die Erde zu legen. Sie muß es mit sich aus den Niederlanden gebracht haben. Und da sie, wie hieraus zu ersehen, dies Kauderwälsch auf dem vergilbten Papier gehegt hat, so hegte ich’s auch. Jetzt lege ich’s in Euere Hände, damit es nicht vergeht, ehe ein Kundiger es gesehen hat. Thut damit, was Euch gut dünkt!“

Der Oberjägermeister versenkte das Papier in seine Tasche, um es alsbald zu vergessen, und dann trennten sich die Männer.

Wahrlich, es war ein hinreichendes Tagewerk, das Nievern nun hinter sich hatte: am Morgen sich ein Weib gefreit, am Mittag mit der Pfalzgräfin gebrochen und am Abend begonnen, sich die mächtigste Kongregation der Christenheit zum Todfeind zu machen! Furcht, für sich, für Leib und Leben beschlich ihn dennoch nicht, als er jetzt, dies alles überdenkend, seinen Weg zurück zur Stadt nahm. Aber ruhelos war sein Herz freilich: das Verlangen wühlte darin nach den Lippen, die er heute geküßt hatte, und folternde Pein, wenn er an die dreifach verriegelte Thür dachte und das rohe geschwärzte Mauergestein, das soviel süßen Reiz umschloß. Der Schlaf, der ihm sonst treu war, floh in dieser Nacht sein Kissen fast ganz. Recht so! Er hätte sich geschämt, zu schlafen, während das unselige holde Geschöpf gewiß sich ängstlich wachend durch die langen Stunden quälte.

(Fortsetzung folgt.)


[491]
Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Dürre und Futternoth.


Es giebt an verschiedenen Orten Deutschlands Quellen, die in trockenen Jahren versiegen, in besonders regenreichen aber zu fließen beginnen. Der Volksmund hat sie sehr treffend „Hungerquellen“ genannt, denn in der That erweist sich in unserem Klima selbst eine lang anhaltende Dürre weniger gefährlich als in anderen Ländern, wie z. B. am Mittelmeer oder in Südrußland; bei uns wurden seit jeher die nassen Jahre gefürchtet, denn sie brachten Mißwachs und Hungersnoth, da unter ihnen vor allem die Brotfrüchte leiden. Das Getreide erliegt auf gut bearbeiteten, namentlich tief gepflügtem Boden nicht so leicht der Dürre und es ist eine ganze Reihe von auffallend trockenen Jahren bekannt, in welchen man über das reichliche schöne Korn und den guten Wein des Lobes voll war. Dieselbe Erfahrung hoffen wir in diesem Jahre zu machen, obwohl eine geradezu beispiellose Dürre anscheinend hinter uns liegt; wir haben im August vorigen Jahres eine tropische Gluth und dann einen dürren Herbst gehabt; schon damals klagte man überall über Wassermangel, und nun kamen heuer noch die trostlosen Monate April, Mai und Juni, in welchen nur selten ganz ungenügende Regenschauer die Erde erquickten. Trotzdem gehen wir keinem Hungerjahre entgegen. Was unsere Haupternährer, Roggen und Weizen, anbelangt, so versprechen diese Brotpflanzen nach amtlichen Berichten eine mittlere und zum Theil sogar eine gute Mittelernte.

Daran ändert diese Thatsache freilich nichts, daß die Dürre weite Gebiete Europas aufs empfindlichste getroffen hat. Die Hitze des vorigen Sommers, der ungemein starke Frost des letzten Winters und nun die anhaltende regenlose Zeit haben den Wiesen so stark zugesetzt, daß die Heuernte in vielen Gegenden sehr gering ausgefallen oder gänzlich verloren gegangen ist; in gleicher Weise haben die Kleefelder gelitten, und die Folge davon ist allgemeiner Futtermangel, der sich in vielen ungünstig gelegenen Landstrichen zu einer wahren Futternoth gesteigert hat. In Deutschland sind von diesem Unglück der Süden, ein Theil des Westens, ferner auch Thüringen am meisten betroffen. Der Mensch hat Brot genug, aber das Vieh hungert, und die Landwirthe sehen sich genöthigt, ihre Viehbestände zu verringern, einen Theil derselben zu veräußern oder zu schlachten. Dadurch wird die Landwirthschaft aufs tiefste geschädigt; namentlich der kleinere Gutsbesitzer wird doppelt schwer den Ausfall an den Einnahmen aus der Molkerei und Mast empfinden und später nur mit schwerer Mühe in der Lage sein, das in der Noth hergegebene Vieh wieder zu ergänzen. Vermehrt wird das Uebel dadurch, daß die Halme kurz geblieben sind und nur wenig Stroh geerntet werden wird.

Dieser Schaden, den die Dürre angerichtet hat, kann durch keinen noch so nachhaltigen Regen ganz ausgeglichen werden; es gilt nunmehr, Maßregeln zur Bekämpfung der Futternoth zu ergreifen, zu verhüten, daß unser Viehstand noch mehr aufgerieben werde.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß in unserer Zeit, dank der hohen Entwicklung des Warenverkehrs und den Fortschritten der Agrikulturchemie, die Bekämpfung der Futternoth leichter gelingen wird, als dies in früheren Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten der Fall war. Dampfschiffe und Eisenbahnen können die Futtermittel anderer Länder, Preßheu und vor allem Mais, in die von der Noth befallenen Gebiete bringen, und die Eisenbahnverwaltungen haben bereits den Bedürfnissen der Landwirthe Rechnung getragen, indem sie die Frachttarife bedeutend ermäßigten. Die Regierungen der deutschen Staaten sind ferner damit beschäftigt, Nothstandsvorlagen auszuarbeiten, welche den Volksvertretungen zugehen werden. Andererseits werden die Landleute von verschiedenen Seiten auf Hilfsquellen aufmerksam gemacht, welche die Dürre nicht zu vernichten vermochte und die gewiß geeignet sind, die Futternoth wesentlich zu lindern. Es sei uns gestattet, auf die wichtigsten natürlichen Hilfsquellen hinzuweisen.

Während die Wiesen verdorrt sind, grünen Strauch und Baum. An ihren Zweigen hängen Millionen Centner nahrhaften Futters. Schon im vorigen Sommer, als wir unter der großen Hitze zu leiden hatten, wurde von verschiedenen Seiten das Laub unserer gewöhnlichsten Bäume als Ersatz für Wiesengras und Heu empfohlen, und zwar auf Grund sehr eingehender Versuche, die von deutschen und französischen Agrikulturchemikern angestellt worden sind. Das Laub vieler Bäume, wie Weide, Erle, Maulbeerbaum, Ulme, Pappel, Linde, Haselnuß, Esche, Ahorn, Eiche, Buche, Platane, auch das des Weinstocks, und selbst die Nadeln der Fichten und Tannen wurden chemisch auf den Gehalt an nahrhaften Stoffen und im Thierversuch auf Verdaulichkeit und Bekömmlichkeit geprüft, und es stellte sich heraus, daß dieses Laub im frischen wie im getrockneten oder eingesäuerten Zustande von unserem Vieh sehr gern gefressen wird, im Nährwerth dem Wiesenheu durchaus nicht nachsteht und der Luzerne gleichkommt.

Geradezu überraschend sind die Mittheilungen, welche A. Müntz vor wenigen Wochen der Akademie der Wissenschaften in Paris über die Verwendung der Blätter des Weinstockes als Viehfutter gemacht hat.

Nach der Weinlese bleibt das Laub der Weinstöcke grün, bis die ersten Fröste es zu Fall bringen. So lange die Blätter am Stock hängen, eignen sie sich ausgezeichnet als Futtermittel, sie sind aber werthlos, wenn sie welk geworden oder abgefallen sind. In Südfrankreich besteht die Sitte, unmittelbar nach der Weinlese Schafe in die Weinberge hineinzulassen, die mit wahrer Gier die Blätter von den Stöcken abfressen. Müntz empfiehlt darum, im Herbst das Weinlaub von den Reben abzustreifen und entweber frisch zu verfüttern oder es für den Winter einzusäuern. Nach seinen Berechnungen könnten die Weinberge Frankreichs allein eine Menge von Futter liefern, die 40 Millionen Metercentnern guten Wiesenheus entsprechen würde.

Der Weinbergsbesitzer muß allerdings den Zeitpunkt richtig abpassen, in welchem das Rebenholz genügend ausgebildet ist, da sonst die zu frühe Entlaubung den Stock schädigen würde. Läßt man die Blätter einfach dem Laufe der Natur folgen und abfallen, so wird ein großer Theil derselben durch den Wind verweht und auch die in ihnen enthaltenen Dungstoffe gehen verloren; streift man das Laub dagegen rechtzeitig ab und verfüttert es, so bleibt der Dünger im Stall – das ist ein weiterer Vortheil der Laubfütterung.

Es dürfte sich gewiß empfehlen, im Laufe dieses Herbstes in Süddeutschland dieses Hilfsmittel in Anwendung zu bringen; der Weinstock ist trotz der Dürre grün geblieben, und so könnte man mit leichter Mühe einen Ersatz für Tausende von Centnern Wiesenheu schaffen.

Was die Bäume anbelangt, so dürfte sich nach Untersuchungen von A. Girard empfehlen, die „Ernte“ im Spätsommer und Herbst, also in den Monaten August und September, vorzunehmen, da zu junge und zu alte, dem Abfallen nahe Blätter weniger nahrhaft sind. Selbstverständlich muß man bei der Auswahl des Laubes giftige Bäume und Sträucher vermeiden; wenn man auch Fichtennadeln für Schafe unter das Futter mischen kann, so muß man von Eiben völlig absehen; auch die Wallnußblätter erweisen sich als schädlich, und ferner möchten wir entgegen den Rathschlägen verschiedener Agrikulturchemiker zur Vorsicht mit Akazienlaub rathen. In der Rinde von Akazien ist bekanntlich ein Giftstoff enthalten, und wiederholt wurden Pferde durch Genuß dieser Rinde vergiftet; die Blätter gelten zwar als ungiftig für die Thiere, da aber Vergiftungen von Menschen durch Akazienlaub bekannt sind, können wir dieses Futtermittel nicht ohne weiteres empfehlen. Die bekannten giftigen Gesträuche wie der Seidelbast oder Kellerhals, Goldregen, die Waldrebe (Clematis), der Sadebaum brauchen wohl nicht besonders als unverwendbar hervorgehoben zu werden.

Die Bäume sind gegen die Entlaubung nicht unempfindlich, sie können dadurch in ihrem Wachsthum und in der Holzbildung gehindert werden. und unsere Forstwirthschaft rechnet ja in erster Linie mit Holzerträgen; bei einer so großen Kalamität wie die augenblickliche Futternoth kann aber ein Theil des Laubes ohne besondere Schädigung der Bäume abgegeben werden und in dieser Hinsicht können unsere Wälder der Landwirthschaft vielfach aushelfen.

Auf die Wälder richten sich in dieser Futternoth überhaupt die Blicke der Landwirthe. In vielen Gegenden wurden Staats- und Gemeindewaldungen dem Vieh zur Weide geöffnet, der Herzog von Meiningen ließ von 600 Hirschen, die seinen Wildbestand [492] bilden, 400 abschießen und dafür das nothleidende Vieh seiner Bauern in den herzoglichen Waldungen grasen. Aber in unsern Wäldern stecken noch andere, bisher fast gar nicht beachtete Futterschätze.

Im Haushalt der Natur können pflanzenfressende Thiere nicht immer von frischem Grün, von Wiesengras u. dergl. leben. Im höchste Norden hat man mitten in dem strengsten Winter wohlgenährte Hasen erlegt. Der Sommer ist in jenen Gebieten ungemein kurz, drei Vierteljahre fast ist der Erdboden mit Schnee bedeckt und es erscheint geradezu wunderbar, wie der Polarhase unter solchen Umständen nicht nur sein Leben fristen, sondern sogar wohlgenährt bleiben kann. Dort muß ja nach unseren Begriffen eine fortwährende Futternoth herrschen! Die Lösung dieses Räthsels ist sehr einfach: der Hase nährt sich von Knospen und Zweigen der an der Erde kriechenden Polarweide[.] Knospen und Baumzweige bilden auch bei uns zur Winterszeit die Nahrung des Wildes. In einigen Gegenden werden im Winter Pappelzweige an Schafe verfüttert, welche dieses Futter gern annehmen.

Schon in früheren Jahren, als wir mit einer geringeren Futternoth zu kämpfen hatten, wandten einige Landwirthe und Forstleute ihre Aufmerksamkeit dieser Futterquelle zu, welche der Wald in so großer Menge bietet. Alljährlich wird in unseren Waldungen eine Menge Reisig oder Abfallholz gewonnen, das äußerst billig abgegeben wird, oft überhaupt schwierig zu verkaufen ist. Schafe und Ziegen knabbern bekanntlich die Zweige ab; wenn man jedoch rohes Reisig an andere Nutzthiere verfütterte, so zeigte es sich, daß es auf die Daner nicht gern gefressen und auch nicht verdaut wurde, da die dichte Oberhaut, welche die meisten Reisighölzer besitzen, weder durch die Zähne noch durch die Verdauungsorgane der Thiere genügend zerstört wird. Man versuchte also, das Reisig aufzuschließen, und vor einigen Jahren ist es Dr. E. Ramann an der Forstakademie Eberswalde gelungen, ein geeignetes Verfahren zu erfinden und, wie die Erfahrung gelehrt hat, aus dem Reisig ein Viehfutter herzustellen, welches an Nährwerth einem guten Futterstroh ungefähr gleichkommt.

Man nimmt zu diesem Zwecke Zweige, die höchstens bis 2 cm dick sind. In eigens dazu gebauten Maschinen wird das Reisig zerkleinert und gequetscht. Die gequetschte Masse wird mit etwa 1% Malz versetzt, mit heißer Schlempe, Kleietrank u. dgl. übergossen und der Selbsterhitzung überlassen. Genauere Auskunft über dieses patentierte Verfahren ertheilen Dr. E. Ramann, Forstakademie Eberswalde, und von Jena-Cöthen in Cöthen i. d. Mark. Durch eine Reihe von Versuchen ist es außer Zweifel gestellt, daß alle Thiere, denen das so zubereitete Futter vorgeworfen wurde, es anstandslos und gern angenommen haben. Der Gutsbesitzer Biberach in Westpreußen hat neuerdings einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, daß er mit dem vorschriftsmäßig präparierten Reisig 30 Pferde und 60 Stück Rindvieh in ausgezeichneter Weise durchfütterte.

Fast alle Bäume können in dieser Weise zur Futterbereitung Material liefern, da selbst das Reisig der Nadelhölzer einigen Nährwerth besitzt. Dagegen hat man noch nicht bei allen Baumarten über die Jahreszeit Klarheit gewonnen, in welcher ihr Reisig am vortheilhaftesten zu verwenden wäre. Gutes Wiesenhen enthält durchschnittlich 9,5% Rohproteïn oder eiweißartige bezw. stickstoffhaltige Stoffe, Waldheu 8%, Haferstroh 4% und Weizenstroh 3% Rohproteïn. Vergleichen wir damit den Gehalt verschiedener Reisigarten! Im Buchenreisig wurden im Frühling etwa 3% und im Winter 6,5% Rohproteïn gefunden; es empfiehlt sich darum, Buchenreisig im Winter zu sammeln. Im Eichenreisig wurden dagegen im Mai 19,6% und im September 12,9% Rohproteïn ermittelt. Birkenreisig ergab im Frühling 4% und im Winter 6,1% Rohproteïn. Durch weitere Untersuchungen wird wohl in nächster Zeit auch in Bezug auf andere Baumarten Aufklärung geschaffen werden. Auch das Reisig der Obstbäume, das ja bei dem unumgänglichen Baumschnitt gewonnen wird, läßt sich sehr vortheilhaft zur Bereitung eines bekömmlichen Futters verwerthen; aus vielen Obstbaumanlagen wird es fuhrenweise fortgeräumt und mindestens die Hälfte der Zweige könnte in Reisighäcksel umgewandelt werden.

So haben wir also trotz der schlimmsten Dürre eine Masse gesunden Viehfutters in unseren Waldungen. Es gilt nur, zuzugreifen und das Reisig zu erschließen; allerdiugs wird dies nur mit Hilfe von Maschinen möglich sein, die der kleine Besitzer, der von der Dürre am härtesten betroffen wurde, nicht beschaffen kann. Darum sollten die landwirthschaftlichen Vereine der Sache näher treten, und auch die Regierungen, die in ihren Forsten eine Menge von brauchbarem Reisig besitzen, würden sich wohl den Dank der Bevölkerung erwerben, wenn sie das wenig geschätzte Abfallholz in brauchbares Futter verwandeln wollten; sie würden bei diesem Unternehmen nicht nur segensreich wirken, sondern sogar auf ihre Kosten kommen; außerdem würde vieles Geld, das wir dem Auslande für Viehfutter bezahlen müßten, im Lande bleiben und manche müßige Hand würde Beschäftigung, die gesuchte Arbeit finden. Namentlich in der bevorstehenden schweren Winterszeit sollte man dieses Hilfsmittel nicht unbenutzt lassen.

Selbstverständlich wird das Reisigfutter den gesamten Ausfall der Heu- und Kleeernte nicht zu decken vermögen, wenn aber noch andere Hilfsmittel angewandt werden, wenn z. B, die Militärverwaltung mit gutem Beispiel vorangeht und in ihren Ställen nur Erd- und Torfstreu anwendet, wenn andere diesem Beispiele folgen, so wird viel Stroh zum Verfüttern erhalten bleiben. Gegen einen großen Nothstand kann ein Mittel nicht helfen, aber durch fleißiges Ausnutzen aller bisher bekannten Hilfsquellen, durch sorgfältiges Sammeln nahrhafter Stoffe, die früher unverwerthet blieben, wird man wohl imstande sein, die Lage des bedrängten Landwirthes erträglich zu gestalten.

Aus der gegenwärtigen Dürre sollten wir aber Lehren für die Zukunft ziehen. Wiesen und Kleeäcker sind gegen Regenmangel äußerst empfindlich; sie brauchen reichliche Feuchtigkeit, Benetzung durch häufige, kurz aufeinander folgende Regen und erliegen in weniger günstigen Lagen schon einer verhältnißmäßig kurzen Dürre. Darum sind bei uns die Jahre der Futternoth nicht so gar selten und bedrängen oft die Landwirtschaft. Es giebt aber noch viele, welche die Wiesen zu den sogenannten „schlafenden“ Ländereien rechnen, die ohne Zutlun des Landwirthes umsonst Erträge liefern. Das ist nicht richtig. Vor allem sollten die Wasserläufe mehr, als dies bis jetzt der Fall ist, für die Berieselung der Wiesen ausgenutzt werden. Die Rieselwiesen haben auch diesmal der Dürre getrotzt; wo immer es angeht, sollte man Stauwerke in die fließenden Gewässer setzen, um sie auf die Wiesen zu leiten. Durch die Berieselung werden ja den Pflanzen Nährstoffe zugeführt, die sonst durch die Flußläufe in das Meer fortrinnen. Treffend bemerkt Professor König am Schluß seiner beachtenswerthen Schrift über „Die Pflege der Wiesen“, „daß alle die Völker, welche in der Sammlung und Verwendung aller Abfälle zur Düngung und in der umfangreichen Benutzung der Flußläufe zur Berieselung eine weise Wirthschaft geübt haben, sich am längsten auf einer hohen Kulturstufe gehalten haben“.

Wo aber fließendes Wasser und Wald fehlen, wo nur leichter Boden vorchanden ist, wo der Gutsbesitzer über wenig Wiesen verfügt und deshalb wegen Futter- und Streumangel immer oder sehr oft in Verlegenheit ist, dort sollte er Vorsorge treffen, daß ihm in Zukunft Reisigfutter zur Verfügung stehe. Nach den bisherigen Erfahrungen hat sich die Birke als besonders vortheilhaft für die Gewinnung des Reisigfutters erwiesen und dieser Baum nimmt bekanntlich mit dem geringsten Boden vorlieb. Wenn nun der Besitzer eine entsprechende Fläche mit Birken ansamt, so gewinnt er schon im 3. und 4. Jahre Reisig und nach wiederum 3 bis 4 Jahren kann er den Stockausschlag ernten, so daß ihm 3 bis 4 Schläge nachhaltig das Material zu Reisigfütterung zu liefern imstande sind.

Die Vortheile, die er dadurch erringt, sind nicht zu unterschätzen; denn die Bäume widerstehen am längsten der Dürre, da sie mit ihren Wurzeln aus den tieferen Wasservorräthen des Bodens schöpfen; die Reisigernte kann im Winter erfolgen, wird im Gegensatz zu der Heuernte durch Witterungsverhältnisse nicht beeinträchtigt, und schließlich erfordert die Reisigpflanzung nur eine einmalige Saat oder Anpflanzung, bereitet also weniger Arbeit als der Anbau anderer Futterkräuter.

Hoffen wir, daß unsere Landwirthschaft die heurige Futternoth überwindet und aus der schweren Prüfung gegen künftige Dürren besser gewappnet hervorgehen wird! * 



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Berglandschaften um Innsbruck.

Von J. C. Platter.

Das schöne Innsbruck! Wie oft schon wurde die alte Tirolerhauptstadt als die „bergumkränzte“ in Lied und in Prosa gefeiert, und doch ist man bis jetzt wohl noch nie einer bildlichen Gesamtdarstellung dieses so vielfach besungenen Alpen-Kranzes, dieser hellgrünen Hochlandsmatten und wildzerrissenen Kalkgeschröfe, aller der Pyramiden und Felsenzacken und bläulich schimmernden Gletschermassen begegnet. Gewöhnlich zeigen die Bilder von Innsbruck die schmucke Stadt mit ihren großstädtisch breiten Straßen und hohen Häusern, von Kuppeln und Thürmen malerisch überragt und von dem breiten Firngewässer des Innstroms durchzogen, von den Bergen aber ragt immer nur ein Theil herein – entweder gegen Süden die Saile und Serles und das Domgebilde des Patscherkofls, oder aber die gleich einer schützenden Wand gegen Norden vorgelagerte Riesenkette der Kalkalpen. In dem jungen Innsbrucker Maler Wilhelm Humer hat sich jetzt ein Künstler gefunden, dem es gelungen ist, die Berglandschaften des mittleren tirolischen Innthales in ihrer gewaltigen Gesamtheit mit packender Naturtreue wiederzugeben. Es handelt sich bei einer derartigen Aufgabe in erster Linie um die Wahl des geeigneten Standpunktes, und wenn nun auch gerade die Umgebung der schönen Alpenstadt eine ganze Reihe der lohnendsten Aussichtshöhen besitzt, so dürfte dennoch wohl keine derselben an die Wittingwarte auf dem Schönberg, oder überhaupt an das Dörfchen Oberschönberg am Eingang ins Stubaithal hinanreichen. Gehört doch das nahe Stubai zu den Perlen des schönen Landes Tirol und wird nicht umsonst als ein würdiges Seitenstück zu dem benachbarten Oetzthal bezeichnet! Wie dieses, so gewährt auch das Stubaithal einen herrlichen Einblick in die ewigschöne Eiswelt der Alpen, welche hier mit der gewaltigen Masse von achtzig Gletschern sich dem Hochlandfahrer erschließt. Mehr als vierzig Spitzen im Stubaier Gebiete erreichen eine Höhe von dreitausend Metern und darüber; in der Thalniederung dagegen hat Stubai viel Aehnlichkeit mit dem vielgeliebten Zillerthal. Waldesdunkel und Wiesengrün wechseln mit freundlichen und oft recht stattlichen Dörfern, in denen gute Gasthöfe winken und ein biederes, arbeitbeflissenes Völklein haust. Die Vegetation reicht weit hinein bis zu den innersten Almen und hier beginnen an den gewaltigen Mauern und Thoren aus Felsen und Firn die Zaubergefilde der Bergmännlein und der Eisjungfrauen, die sich mit den fahrenden Rittern vom silbernen Edelweiß gar prächtig vertragen.

Wem nun aber Zeit und Umstände nur gestatten, aus einiger Entfernung die Wunder dieser höchsten Höhen zu schauen, für den ist der Schönberg wie geschaffen. In mehr als tausend Metern Seehöhe hat dort auf freiem Wiesenplane der in Jäger- und Touristenkreisen weitbekannte Innsbrucker Bürger Alois Witting neben seinem schmucken „Jagerhof“ eine für jedermann frei zugängliche, schmucke Alpenwarte erbaut, von der aus sich uns die auf dem Bilde Seite 488 und 489 dargestellte weitausgedehnte Rundschau eröffnet.

Da ist zunächst in südwestlicher Richtung das Stubaithal mit dem Kirchlein von Oberschönberg im Vordergrund; darüber erhebt sich die Serles, „der schönste Berg in Nordtirol“, und in der Niederung weisen aus den grüngebetteten Dörfern die Kirchthürme von Mieders, Telfes, Fulpmes etc. zum Himmel empor. Das dolomitartig zerrissene Geschröfe gegenüber der Serlesspitze, die Kalkkögel (Schlickermannlein, Seespitz etc.), gemahnt besonders im Schimmer der Morgensonne an das Alpenglühen des „Rosengarten“ drinnen im Etschland, währenddessen auch die Eispyramiden über den Gletschern, mit dem in der Mitte sichtbaren „Zuckerhütl“ an der Spitze, wie Feuer funkeln und glänzen. In der rechten unteren Ecke unseres Bildes hat der Zeichner in dem Langenthal-Fall den schönsten Wasserfall im Stubai vorgeführt, während auf der entgegengesetzten Seite unserer Darstellung, über die Gebäulichkeiten des Jagerhofes hinweggesehen, die Berge im Wippthal bis hinauf zum Brennerpasse sich zeigen. In nordöstlicher Richtung von der Wittingwarte erscheint jenseit des Sillflusses die mächtige Kuppe des Patscherkofls, an welchen im Mittelgebirge das Dörfchen Patsch wie ein Küchlein an die Henne sich schmiegt. Darüber hinaus aber zieht in majestätischer Reihe die von unzähligen Spitzen und Zacken, Scharten und Pässen durchbrochene Kette der nördlichen Kalkalpen durch das Innthal hin.

Hier kann man besonders im Spätfrühling ein interessantes Naturschauspiel beobachten. Mit der fortschreitenden Schneeschmelze erscheinen nämlich im obersten Theile der Felsenkette zuerst da und dort schwarze Flecken die sich bald zu allerlei riesenhaften Silhouetten gestalten, während rings um die Figur die weithin noch lagernden Schneemassen als weißer Rahmen die Linien der Zeichnung umschließen. In dieser Weise zeigt sich am Solstein ein Priester mit dem Weihwasserwedel, gerade über Innsbruck erscheinen zwei zankende Weiber, deren phantastische Hauben immer größer und deren hakenförmige Nasen immer länger werden, je weiter die Schneeschmelze fortschreitet. Das überraschendste Bild aber zeichnet die spielende Natur stets ganz nahe an den Gebirgskamm in der Figur des „Falkenjägers“ hin. Der Falkenjäger erscheint als schlanker Jüngling in Pagenkostüm mit Federbarett, auf dem rechten Arm trägt er den flugbereit stehenden Falken. Mit der zunehmenden Schneeschmelze nimmt der zierliche Junker ziemlich rasch an Beleibtheit zu, bis dann schließlich der gar dick gewordene Herr immer undeutlicher wird und endlich in der übrigen, schneefrei gewordenen Bergfläche verschwindet. Solcher „Ausaperungsfiguren“, die übrigens von Innsbruck aus ebenfalls sichtbar sind, ließen sich noch manche anführen: so erscheint z. B. am Patscherkofl ein alter verwitterter Jäger mit seinem Dachshund, welch letzterer allerdings mitunter nach wenigen sonnigen Stunden schon zu einem solch ungeschlacht riesigen Ungethüm sich auswächst, daß in ihm der kleine wohlgetroffene „Daxl“ von vorhin nicht mehr zu erkennen ist.

Alle diese Schaustücke und noch viele andere Sehenswürdigkeiten bieten sich dem Alpenfahrer auch auf dem Wege vom Schönberg über die Brennerstraße nach Innsbruck zurück. Da ist zunächst die links auf unserem Bilde sichtbare Stefansbrücke, welche in einem einzigen Riesenbogen den vom Stubaithal herausstürmenden Rutzbach überspannt. Unweit davon erinnert die altehrwürdige Herberge „zur Schupfen“ als einstiges Hauptquartier Andreas Hofers an die vier Schlachten am Berg Isel. Wenn aber der Wagen in feierlicher Abendstille gegen das Innthal niederrollt, so grüßt vom Iselberg herüber das Hofer-Denkmal selbst, indes am Nachthimmel die Sterne funkeln und von der Stadt herauf tausend und abertausend Lichter glänzen, so daß die weitgedehnte Häuserfläche in strahlendem Flammenmosaik gar prächtig sich abhebt von den gespensterhaft dunkeln Massen der darüber sich thürmenden Berge.

In diesem Jahre entfaltet sich in Innsbrnck und dessen Umgebung ein besonders reges Sommerleben aus Anlaß der am 17. Juni eröffneten tirolischen Landesausstellung, mit der mancherlei besondere Festlichkeiten sich verbinden. Dazu gehört in erster Reihe ein großes Tiroler Schützenfest zur Eröffnung des neuen Landeshauptschießstandes, sowie eine Andreas Hofer-Feier auf dem Berg Isel, wobei die altberühmten Schützenmannschaften und Sturmkompagnien aus allen Thälern hüben und drüben vom Brenner die blutgetränkten Tiroler Siegesstätten bevölkern werden. Die Ausstellung selbst giebt ein umfassendes Bild von dem Leben und Schaffen des Tiroler Alpenvolks; von der unscheinbaren, aber wetterfesten Almhütte bis zu den erlesensten Weinen und Früchten des sonnigen Etschthals findet man alles beisammen, was den Tiroler ernährt und kleidet, was ihn beschäftigt und erfreut. Und wenn dann die Besucher nach Innsbruck kommen, sich dieses gedrängte Bild eines abgeschlossenen Volkslebens anzuschauen, dann wird wohl auch mancher hinaufpilgern auf der alten Brennerstraße, auf der einst Kaiser und Päpste, Kriegs- und Dichterfürsten[1] hin und wider zogen, und wird hinaufsteigen nach Oberschönberg, sich dort auf der Wittingwarte in die Rundschau zu vertiefen, die in überwältigender Größe sich rings um ihn aufthut.



  1. In Oberschönberg erinnert heute noch die „Goethe-Zirbel“ an die Durchfahrt des Dichters nach Italien, und am Aufstieg bei der Stefansbrücke besagt ein Marmorstein vom Volke „das Papstl“ genannt, daß Anno 1782 Papst Pius VI. auf diesem Wege von Deutschland nach Rom zurückkehrte. Von deutschen Kaisern aber sind wohl viele diese Straße gezogen, da von den 114 Kaiserfahrten nach oder aus Italien 66 auf die Brennerstraße entfallen.


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Der Sänger.

Roman von Karl v. Heigel.

(2. Fortsetzung.)


4.0 Der Cäcilienverein.

Der folgende Nachmittag, an dem die Prinzessin erwartet wurde, war so schön, daß es in den Anlagen von Spaziergängern wimmelte und die Wagen der Pferdebahn bei der Abfahrt vom Städtchen immer überfüllt waren. Auf den Terrassen vor dem Strandschloß und dem „Deutschen Kaiser“ war kein Platz frei, der Strand bis zum Landhause Hagemanns wie an einem Feiertage bunt bevölkert. Es wehte eine kühle Brise, angenehm für die Menschen, harmlos für das blaue Gewässer. Das war wirklich nur ein Wellentanz, und wenn zuweilen eine lange hohe Woge mit weißem Kamm über das kleinere Wellengetümmel hereinbrach, glaubten die Poetischen unter den Badegästen das Gelächter und Kreischen fröhlicher Nixen zu hören.

Das einsame Haus in den Armen des Waldes, mit neubemalten Wänden, braunem Holzwerk, blanken Fensterscheiben, machte einen stattlichen Eindruck. Die Pflanzengruppen und Gesträuche wie der Rasen, den man zu Ehren des hohen Gastes geschoren hatte, schimmerten, frisch besprengt, wie im Morgenthau, der Fahrweg, mit feinem Kies bestreut, schien noch von keinem Fuß berührt zu sein. Ein Laubbogen wölbte sich über dem Eingang, Blumengewinde hingen am steinernen Siehdichum von der [494] Brüstung. Kurz, alles war festlich unb lockte die Menge. Allein die Sicherheitsmannschaft von Wörde war vollzählig, war zwei Mann hoch da und duldete keine Stauung. Hüben und drüben von dem Vorplatz lief ein Fußweg am Walde hin; auf dem Wege rechts vom Eingang ging die adelige Gesellschaft aus dem „Deutschen Kaiser“, links spazierten die Bürgerlichen auf und ab. So sieht man an den Thürbogen gothischer Kirchen einerseits die Geistlichkeit, andererseits die weltliche Gesellschaft.

Fritz Hagemann, im Frack, hatte sich zuerst eingefunden. Der Hoffourier machte ihn mit Aschau bekannt, der seiner Gebieterin vorausgefahren war. Als dieser mit hochgezogenen Brauen nach Hagemanns Wünschen fragte, kam er übel an. „Erlauben Sie,“ antwortete Hagemann und warf sich in die Brust, „es ist doch selbstverständlich, daß ich und meine Tochter die Prinzessin auf meinem Grund und Boden willkommen heißen. Sonst wünsche ich nichts, aber das werd’ ich thun.“

Aschau setzte seinen Kneifer auf und betrachtete den Mann mit Staunen. Dann reichte er ihm die Hand und sagte trocken: „Sehr hübsch von Ihnen. Bitte, mich Fräulein Tochter vorzustellen.“

„Sie ist noch nicht da, wird aber kommen. Und unser Bürgermeister und die Gemeinderäthe kommen auch. Wir sind zwar Kleinstädter, aber nicht ohne Lebensart.“

Dann gingen beide im Hause von Zimmer zu Zimmer, zuletzt auch in die Küche. „Potztausend,“ sagte der Hofmarschall, „da haben wir ja einen Spieß!“

Hagemann schmunzelte. „Wir sind nur Kleinstädter, aber den Unterschied zwischen Spießbraten und anderem Braten kennen wir doch!“

„Das freut mich, freut mich außerordentlich,“ sagte Aschau mit einem zärtlichen Blick auf die Vorrichtung. „Auch ich bin für den Spieß.“ Er sah umher. „Die Küche ist sehr geräumig – fließendes Wasser, große Anrichte, Uhr über dem Herde . . . Herr Hagemann, ich wette, Sie sind ein Gourmand!“

„Ich will mich nicht rühmen, aber – auf gute Küche halte ich allerdings.“

„Das Thier nährt sich; der Mensch ißt; der Mann von Geist allein versteht zu essen.“

Hagemanns Gesicht strahlte vor Vergnügen. „Mir aus der Seele gesprochen, und wenn ich mir bei näherer Bekanntschaft erlauben darf, Herrn Baron zu Tisch zu bitten –“

„Sehr liebenswürdig. Leider bin ich von früh bis spät außerordentlich in Anspruch genommen, indes“ – er klopfte Fritz Hagemann auf die Schulter – „wir werden näher bekannt werden!“

Sie gefielen sich gegenseitig, doch da kam die vornehme Gesellschaft, darunter eine russische Fürstin, und nahm den Hofmarschall für sich in Anspruch. Indes blieb Hagemann nicht lange allein. Die Väter der Stadt erschienen, und dann schritt Siegfried Leisewitz mit dem Machtbewußtsein eines Herrschers an der Schutzwache vorüber in den Garten, schwenkte grüßend den Hut gegen den Hofmatschall, gesellte sich aber dann zu den Bürgerlichen. Denn seitdem er Fräulein Hagemann gesehen, gestern im Wagen, heute am Fenster, zog ihn alles, was zu Wörde gehörte, magnetisch an. Land und Leute, zumal der biedere Hagemann, mit dem er gestern bis spät in die Nacht in der „Sonne“ gesessen hatte, gefielen ihm außerordentlich. Dafür hatte aber auch er die Herzen der „Sonnenbrüder“, wie sich die Stammgäste der Gastwirthschaft nannten, im Sturm erobert. Er war unerschöpflich in Schnurren und Schwänken, er konnte Negerlieder und Schnaderhüpfeln singen, den Csardas tanzen wie den Schuhplattler. Die „Sonnenbrüder“ waren sonst gegen Fremde mißtrauisch und zugeknöpft, doch diesem Kauz widerstanden sie nicht. Sie verziehen ihm sogar das Kopfweh, mit dem sie heute erwacht waren, und die Frauen und Mädchen, als sie den Verführer ihrer Gatten und Väter sahen, verziehen ihm auch.

Endlich erschien auch Emma. Sie trug einen mächtigen Rosenstrauß für die Prinzessin und glühte selbst wie eine Rose, als sie an der Seite ihres Vaters den Sänger erblickte. Hagemann stellte seine Tochter mit Stolz dem neben ihm stehenden Leisewitz vor und dieser verneigte sich vor ihr, wie er sonst nur bei einem Hervorruf gegen die fürstliche Loge sich verneigte. Emma sah auf die Rosen nieder, mehr schelmisch als schüchtern, denn sie dachte an die gestrige Unterhaltung mit dem Vater. Er war der beste, der klügste aller Väter, doch in Bezug auf ihren Geschmack täuschte er sich. Dann schlug sie die Wimpern auf, und die Blicke der zwei schönen Menschenkinder begegneten sich. Gleich darauf entstand eine Bewegung unter den Leuten auf der Straße, und Stenzel, der auf dem Gartensöller stand, sah sich nach dem Hofmarschall um und streckte den Arm in die Höhe, was der Verabredung gemäß hieß: sie kommen!

Alle eilten dem Eingang zu, und die Adeligen rechts, die Bürgerlichen links bildeten eine Ehrengasse, denn der Viererzug durfte auf Befehl Ernas, die bei jedem Gedränge unruhig und ängstlich wurde, nicht in den Garten einfahren. Sie stieg mit ihren Damen am Eingang ab.

Der erste Blick der Prinzessin fiel auf die ihr bekannte russische Fürstin. „Meine theure Fürstin,“ sagte sie auf französisch, „wie freue ich mich, Sie hier zu sehen.“ Und Fragen und Antworten folgten einander wie Blitz auf Blitz, denn die beiden Damen waren sich lange nicht mehr begegnet. Herr von Aschau hielt Emma an der Hand. „Hoheit,“ sprach er in einem günstigen Augenblick, „Fräulein Hagemann, die Tochter unseres Hauswirthes, bittet Ihre Hoheit, diese Rosen als Willkommgruß gnädigst anzuuehmen.“

„Wie hübsch!“ sagte die Prinzessin und nahm die Rosen. „Sie verpflichten mich sehr, mein Fräulein; ich liebe Blumen –“ sie sah das Mädchen an und setzte dann, einen Ton wärmer, hinzu: „wie alles Schöne. Ich finde Wörde sehr hübsch. Und beim ersten Schritte treffe ich eine Freundin und eine so liebliche Blnmenspenderin. Ich werde Sie bitten lassen, mich zu besuchen.“ Und sie zog Emma sanft an sich und küßte sie auf die Stirn.

„Das Mädchen ist eine Schönheit,“ sagte Gräfin Casasola, die den neuesten und rothesten Pariser Sommerhut trug, „aber der geschlossene Hut kleidet sie nicht. Sie erinnert mich an die Klosterschule und an deutsche Romane.“

Jetzt wurde die Prinzessin den Sänger gewahr. „Sieh da, Herr Leisewitz! Wie kommen Sie nach Wörde? Doch ja, Aschau hat mir von Ihrem Sommerplan schon vor längerer Zeit erzählt. Unterhalten Sie sich gut?“ Sie fragte leichthin und blickte dabei schon auf die schwarzgekleideten Stadtherren. „Herr Bürgermeister Segeberg,“ stellte Aschau die einzelnen vor, „Herr Fritz Hagemann – – – –“

Der Empfang war vorüber. An einem anderen Tage würde Leisewitz über die kühle Ansprache der Prinzessin verstimmt gewesen sein, heute zuckte er nur die Schultern. Was liegt daran? dachte er, als er Emma Hagemann durch das Gedränge der Straße führte; wie glücklich würde er gewesen sein, die Hand, die leicht auf seinem Arm ruhte, drücken zu dürfen; doch zum ersten Mal fühlte er sich blöde. Als ihm Emma die Hand entzog, weil der Weg freier wurde, seufzte er, seufzte aufrichtig; es ging sich so wunderbar leicht mit diesem sanften Druck auf dem Arm – man ging nicht, man schwebte!

„Die Prinzessin hat mich bezaubert,“ sagte Emma.

„Das beruht wohl auf Gegenseitigkeit, denn sie ist sonst sehr kühl; immer höflich, aber unnahbar.“

„Ich beneide ihre Begleiterinnen dennoch.“

„Sie brauchen niemand in der Welt zu beneiden, liebes Fräulein,“ rief er treuherzig, „am allerwenigsten jene. Sehen Sie, da ist mein Freund, Herr von Aschau, der Herr mit dem rothen Backenbart dort, der Sie vorstellte! Er ift Hofmarschall. Klingt das nicht hübsch ? Und über Jahr und Tag ist er Excellenz, das klingt noch hübscher. Unsereins hat ja auch das eine und andere Ritterkreuz“ – er schielte auf die bunten Bändchen in seinem Knopfloch – „aber Freund Aschau hat Halsorden in allen Farben und über Jahr und Tag funkelt seine Brust wie ein Juwelierladen. Glauben Sie nun, daß ich mit ihm tauschen möchte? Nicht auf einen Tag, nicht auf eine Stunde! Denn das Köstlichste fehlt ihm: er ist nicht unabhängig. In mancher Hinsicht sind wir Künstler das ja auch nicht – der nächste beste Tintenverschwender kann mich in seinem Blatte herunterreißen. Aber ich bin auch frei wie der Vogel: der singt sein Lied und fliegt dahin.“ Und Siegfried rollte die Augen gen Himmel, zu den Möwen, die allerdings keine Singvögel sind.

„Man sagt, daß die Prinzessin leidend sei?“

„Sie leidet hauptsächlich an Langerweile. Ihr Schloß Solitude leistet in dieser Beziehung nicht viel weniger als das gesegnete Wahndorf.“

„War Ihnen Wahndorf wirklich so schrecklich? Mein Vater [495] hat mir Ihre Leiden erzählt. Uebrigens hatten Sie doch Gesellschaft – Herrn Lenz –“

„Lenz ist ein kreuzbraver Mensch, das lautere Gold – mein Freund – aber als Gesellschafter gleich Null. Erstens war er von seinem Klavier, einem greulichen Klimperkasten, nicht fortzubringen, sodann trägt er eine Liebe im Herzen.“ Leisewitz sah aus den Augenwinkeln auf seine Begleiterin.

„Man hört in Wörde alles,“ erwiderte sie ruhig, „doch davon habe ich nichts gehört.“

„Weil er in diesem Punkt ein Duckmäuser oder besser gesagt ein Spießbürger ist. Er liebt ohne Schwung. Ich, wenn ich liebte, ich –

‚Mit starker Hand, aus Norwegs Wäldern
Reiß’ ich die höchste Tanne
Und tauche sie ein
In des Aetnas glühenden Schlund, und mit solcher
Feuergetränkten Riesenfeder
Schreib’ ich an die dunkle Himmelsdecke:
N. N. ich liebe dich!‘“

„Hallo, Siegfriedrich, alter Schwede, stopp!“ rief Fritz Hagemann hinter ihnen. Das junge Paar blieb seufzend stehen. Hagemann trug den neuen Hut in der Hand und einen rothen Striemen an der Stirn. Der Bürgermeister und Schiffsreeder Segeberg ging neben ihm, ein hünenhafter schweigsamer Mann; Gesicht, Bart und Hals hatten bei ihm die Farbe einer gut angerauchten Meerschaumpfeife. Die übrigen Rathsherren waren zurückgeblieben und stritten sich über eine Brigg, die in weiter Ferne kreuzte.

„Kind,“ sagte Hagemann, „daß Du den Wilhelm heimgeschickt hast, kann ich Dir nicht verzeihen. Wozu hat man denn Wagen und Pferde? – Freund Segeberg meint, da der Tag einmal angebrochen sei, sollten wir irgendwo vor Anker gehen. Ich bin für das Strandschloß, denn ich habe mir nun vornehme Welt genug angesehen. Wir lassen uns das Erkerstübchen aufschließen. Dort sitzen wir fest, und Leisewitz braut uns ein leichtes Rothweinbowlechen wie gestern. Kind, das versteht er so gut wie Singen.“

„Und ich?“

„Welche Frage! Du trinkst mit.“

„Aber Vater –“

„Na, unseren Bürgermeister zur Rechten und Deinen Vater zur Linken bist Du wohl sicher genug vertaut! Und ich will, daß Du unter Fröhliche gehst. Denn Fröhlichkeit steckt an. Leisewitz, fideles Haus, Du bist doch auch für Strandschloß und Bowle?“ Der Sänger bejahte freudig und Emma fügte sich nicht ungern dem väterlichen Willen. – –

Prinzessin Erna war aus dem Innern des Landes gekommen; sie hatte bisher nichts von der See gesehen und am Hafenplatz von Wörde entzückt halten lassen, um den ungewohnten Anblick länger zu genießen. Das Bild war nicht großartig, aber anziehend: der freundliche Platz, der Hafen mit seinen Booten und Jachten, dann das breite unruhige Gewässer, auf dem sich schwanke Segel blähten, und endlich Fluth und Himmel in eins verschwimmend.

Währenddem waren die Wagen mit dem Gefolge angekommen, und Doktor Walter hatte sich nach Ernas Befinden erkundigt; sie war heiter gewesen und hatte sich wohl gefühlt. Darauf war der Arzt nicht mehr eingestiegen. Er habe eine Karte im Städtchen abzugeben und komme mit der Pferdebahn sofort nach.

Die Wahrheit war, Walter wollte die erste Viertelstunde an der See allein sein. Der Theergeruch des Städtchens wirkte auf ihn wie Waldgeruch auf andere. Ihm war, als trete er aus dem Engen in das Weite – die Masten und Raaen gaben dem nüchternen Denker Schwingen. Er sah einen Welthafen vor sich, einen Wald von Masten, eine Legion rauchender Essen, Ostindienfahrer und Walfischfänger und die Leviathane der Neuzeit, riesenhafte Panzerschiffe; er sah und hörte das tosende Gewühl, sah seltsame Trachten und abenteuerliche Waffen, Gesichter braun wie Tabak, schwarz wie Ebenholz; er sah den rollenden Ocean an rosig angehauchten Felsenküsten branden, sah fremdartige, von der Sonne vergoldete Gebäude und da und dort über dem Gemäuer eine Palme. – Gewaltsam rüttelte er sich auf. Ich habe das Reisen verschworen, dachte er, doch wenn ich nicht bald ein festes Daheim finde, werde ich meineidig.

Die Einbildungskraft spielt auch dem Ernstesten zuweilen Possen; so sah der Doktor jetzt eine blasse dunkeläugige schlanke Schöne, allerdings nur eine zarte Wolkengestalt, unfaßbar, unerreichbar – dennoch der Gräfin Livia zum Verwechseln ähnlich.

Der Arzt hatte seinem fürstlichen Schützling zulieb Wörde und das umliegende Gelände zu seinem Studium gemacht; obwohl er daher heute das Städtchen zum ersten Mal betrat, war er doch darin zu Hause. Er bog in eine Seitengasse ein, die den kürzesten Weg zur Haltestelle bildete. Jetzt machte er sich Vorwürfe: „Wahnvorstellungen! Ich werde dich unter ärztliche Beobachtung stellen, Felix! Und es war unverantwortlich von dir, deinem Schützling nicht auf den Fersen zu folgen. Wenn jetzt ein Ungtück geschähe! Robert Lenz ist morgen auch noch da!“

In der Straße, die der Doktor durchschritt, schien die Armuth sich Häuser gebaut zu haben. Diese hatten nicht nur von der Zeit gelitten, sondern waren offenbar von Anfang an dürftig und bresthaft gewesen. In einem der besseren Häuschen, einem einstöckigen Gebäude, klang aus den offenen Fenstern droben Klavierspiel von einem Instrument, das jedenfalls nur noch das Gespenst eines Klaviers war. Und jetzt sang eine Tenorstimme von hoffnungsloser Dünne und Heiserkeit:

„In deinem Haar die blasse Rose -“

Das Instrument und diese Stimme – sagte sich Walter und trat in das Haus, in einen hallenartigen Raum, der als Schusterwerkstätte diente. Der Meister, schwärzlichgrau vom Scheitel bis zu den Sohlen, saß in tiefsinniger Betrachtung eines äußerst schadhaften Wasserstiefels; auf Walters Frage blickte er über die Brille weg auf den Fremdling.

„Ja, Herr Robert wohnt bei mir. Haben Sie den Vogel an seinem Gesang erkannt? Aber ein schlechter Sänger ist noch kein schlechter Vogel.“

Walter hörte den philosophischen Schuster nicht mehr, er sprang die knarrende Stiege in drei Sätzen hinan; und alsbald lagen sich die Freunde in den Armen. Von Robert auf das Sofa gedrängt, sah der Arzt in der Stube umher. Sie war wider alles Erwarten geräumig und trotz der ärmlichen Einrichtung ganz wohnlich. Eine Bücherei füllte beinahe eine ganze Wand. Klavier und Notenständer, auch Rafaels „Heilige Cäcilie“ in einem vortrefflichen Kupferstich ließen auf den Musiker schließen. Eine holländische Standuhr, ein uralter geschnitzter Lehnstuhl und ein paar Delfter Vasen verriethen den Sammler. Geniale Unordnung war nirgends, sogar nicht auf dem langen Wirthshaustisch, der vor den Fenstern stand und als Schreibtisch diente. Feldblumen, Maßliebchen und Mohnblumen in einem venetianischen Glase brachten den Sommer in das Zimmer. Ein Alkoven barg das Bett. Aus den Fenstern sah man in trübe Fenster gegenüber.

„Aber, Mensch,“ sagte Walter, „wie kann man so nahe an der See in einer engen häßlichen Straße wohnen!“

„Ja, siehst Du, die Zimmer mit Seeanssicht sind nicht billig. Auch ist für unsereinen nicht alle Tage Feiertag. Wenn ich an der See wohnte, würde ich von früh bis spät im Fenster liegen. Und vom Herbst bis zum Frühjahr rückt sie uns nahe genug. Aber nun sag’ – wie ich höre, bist Du –“

„Davon bei der ersten Flasche heute abend; ich kann mich jetzt nicht aufhalten. Nur noch eine Frage: bist Du geneigt, draußen in Hagemanns Landhaus zuweilen Musik zu machen? Nicht mir, sondern der Prinzessin und ihrem Hof. Natürlich gegen Bezahlung. Du nimmst das doch nicht übel, mein feinfühliges Kerlchen?“

Robert war dunkelroth geworden. Er rieb verlegen mit der Rechten die Linke und stotterte: „Ich – ich weiß nicht, ob –“

„Ja oder nein?“

„Freilich – das heißt, gern – aber –“

„Du bist der Alte. Wo kneipst Du heute?“

„Ja, siehst Du, ich stecke tief in einer furchtbaren Arbeit. Zwar ist sie vollendet, aber, du lieber Himmel, was heißt vollendet! Doch heute trifft es sich glücklich, heute muß ich kneipen. Ich bin nämlich nicht nur Dirigent der Stadtmusik, sondern auch des Cäcilienvereins. Um Fünf ist heute für die Männerstimmen Probe im Strandschloß –“

„Strandschloß?“ rief Walter und schnellte empor, „dann haben wir einen Weg. Von hier bis zur Pferdebahn sind es fünf Minuten, bis zum Strandschloß fährt man zwanzig Minuten – wir können also eine Menge Neuigkeiten besprechen. Avanti![496] Die Gesellschaft der schönen Livia Casasola wirkte in sprachlicher Beziehung verderblich auf Walter.

„Auch Du bist noch der Alte,“ sagte Robert und holte seinen Hut vom Thürnagel. –

Als der Kapellmeister vor dem Strandschloß abstieg, rief ihm Walter nach: „Ohne Verbindlichkeit, aber hoffentlich auf Wiedersehen!“

„Um Sechs!“

Es waren außer Lenz viele Fahrgäste ausgestiegen, sangliebendes Männervolk; der Wagen wurde beinahe leer. Walter streckte die Beine von sich. „Herr Leisewitz,“ sagte er bei sich, „wir werden uns ohne Sie behelfen!“

Unterdessen war in der Erkerstube der Strandwirthschaft die Bowle gebraut worden. Das Wort: „Sänger sind immer durstig“, paßte nicht auf Leisewitz. Er saß nicht ungern unter fröhlichen Zechern, aber zechte nicht selbst. Nicht nur aus Furcht für die Million in seiner Kehle, sondern auch aus „Selbstachtung“. So konnte es nicht fehlen, daß ihn auch diese Eigenschaft für Emma, die zwischen ihrem Vater und Segeberg saß, unter den kantigen Männern, die gewaltig tranken, zu einer Erscheinung aus einer schöneren Welt machte.

Leisewitz hatte ein hübsches Stück Welt gesehen und wußte gut davon zu erzählen. Vielleicht war nicht alles wahr, doch er erzählte so, daß man ihm glaubte, mit dem schönsten Aufgebot seiner lebhaften Phantasie. Und da seine Zuhörer einfache biedere Leute waren, wurden sie von der Pracht und Verschwendung in seinen Schilderungen bezaubert; sie staunten über das Sonntagskind, das solches gesehen und erlebt hatte, und waren so versunken ins Zuhören, daß sie von dem Lärm und der Unruhe draußen nichts vernahmen. Die Erkerstube lag nach dem Walde zu, stieß aber an den großen Saal, in dem der Cäcilienverein seine Konzerte und der Schützenbund seine Tanzkränzchen veranstaltete. Aus dem Saal, der Erkerstube gegenüber, führte eine Thür unmittelbar ins Freie, auf die Terrasse mit dem Ausblick auf Strand und Meer. In diesem Saale hatten sich inzwischen die „Eismänner“ versammelt. So hieß ein Zweig des Cäcilienvereins, dessen fast durchweg jugendliche Mitglieder ebenso den vierstimmigen Männergesang pflegten wie im Winter den Schlittschuhsport.

Jetzt wurden plötzlich die beiden Flügel der Thür, die zur Erkerstube führte, von außen geöffnet, und unsere Gesellschaft sah vor ihrer Schwelle dichtgeschart und vollzählig den Bund der Jugend, die gesangeskundigen „Eismänner“, mit Robert Lenz an der Spitze. Dieser winkte mit der Rechten, worauf aus vierzig kräftigen Kehlen der Wahlspruch der „Eismänner“ erklang:

„Unser Lied, es sei
Wie der Sänger – stolz, wahr, frei!“

Dann trat Lenz auf die Schwelle und richtete das Wort an Leisewitz, der – ein umwölkter Zeus – ihm gegenüber thronte. Er sprach ohne Schüchternheit und ohne Uebertreibung. „Ich bitte, diese Störung zu verzeihen. Wir hatten uns zu einer Probe für das nächste Wohlthätigkeitskonzert des Cäcilienvereins versammelt, als wir erfuhren, daß ein großer Künstler, ein Sänger von Gottes Gnaden im Hause anwesend sei. Herr Siegfried Leisewitz! So klein unsere Stadt ist, so sind doch der aufrichtigen Musikfreunde viele darin und jedem ist Ihr Name theuer. Ihr Ruhm ist heimisch bei uns. Von unserer Probe kann heute nicht mehr die Rede sein. Doch da der Grund unseres Verstummens kein trauriges, sondern ein freudiges Ereigniß, ein Ereigniß im wahren Sinne des Wortes ist, stehlen wir uns nicht davon, sondern bleiben und feiern nach germanischem Brauch den Tag und den Helden des Tages. Sie aber und Ihren liebenswürdigen Kreis bitten wir, sich zu uns zu gesellen. Mißverstehen Sie uns nicht! Das soll nicht heißen: nun wirst Du uns auch singen. Nein, wir wollen Sie nur unter uns haben wie Rekruten einen berühmten Feldherrn. Und wenn Ihnen der eine und andere von uns derb die Hand drückt, so sagen Sie sich, ich bin nicht bei Hofe, sondern in Wörde. Mich hat zwar die See nicht wie meine Freunde hier schon als Kind in Schlaf gewiegt, aber ich kenne die See und das Volk, das an ihr großwächst – die See hat ihre Tücken, aber im Volk ist kein Falsch. Und so heißen meine Freunde, meine Schüler hier den berühmten Künstler aus aufrichtigem Herzen willkommen. Der große Sänger lebe hoch!“

Leisewitz sah die Augen Emmas seinetwillen süß aufleuchten vor Freude und Stolz, und berauscht von diesem Erfolge sprang er auf. „Ich danke Ihnen, Freund,“ rief er pathetisch, „und Ihren Freunden. Ueber unser Bleiben habe aber nicht ich, sondern haben Fritz Hagemann und Kompagnie zu entscheiden. Wenn es ihnen recht ist, bleibe ich gerne noch ein Stündchen in Ihrer Mitte. Aber singen werde ich heute nicht – hem, hem – denn ich möchte meine Probe vor Ihnen mit Ehren bestehen, fühle mich aber – hem, hem – heute dazu außer stande. Freund Lenz sprach von einem Wohlthätigkeitskonzert Ihres Vereins. Ich bitte, mitwirken zu dürfen. Und zwar bitte ich darum nicht nur aus Dankbarkeit für Ihre Begrüßung, sondern auch, um Ihnen einen gemeinsamen Freund, den Sie sicherlich hochschätzen und dennoch kaum in seinem ganzen Werthe kennen, ins Herz zu singen. – Lieber Maëstro, erlaube mir, Dein Progamm um eine Nummer zu vermehren – um Tassos Lied aus der Oper ‚Tasso‘ von Robert Lenz!“

Nachdem das Hurrarufen und Beifallklatschen verhallt war, fand die Uebersiedlung statt, denn Hagemann und Kompagnie gaben mit Begeisterung das Stündchen zu . . . Man hat gesagt, daß es unmöglich sei, eine Schlacht und einen Ball zu beschreiben. Ebenso schwierig dürfte es sein, das Gelage junger Stürmer zu schildern, auch wenn sie sich mit Alten zusammenthun, denn die bemoosten Häupter sind bald um kein Haar besser als die andern. Jeder ist gesprächig, doch kaum einer wird sich am folgenden Tage erinnern, was er gestern gesprochen, gepriesen, getadelt, verleugnet, geschworen hat; alle, auch die Nüchternen, sind nichts als eben seelenvergnügt. Aber warum?

Wenigstens zwei wußten an jenem Abend, warum, und weil sie es wußten, waren sie nur still vergnügt, verschämt selig: Emma, die wieder zwischen dem Bürgermeister und ihrem Vater vertaut wurde, und Siegfried, der ihr gegenüber saß. Die Wandlung des Sängers kam Herrn Hagemann nachgerade sonderbar vor. Der eine und andere Blick zu Emma hinüber, der beredt war wie der schönste Brief, wurde auch von ihm aufgefangen und gedeutet. Alle Wetter der junge Mann bildet sich am Ende ein – doch just, wenn Hagemann grimmig werden wollte, kam wieder ein „Eismann“, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Hagemann, famoses Haus, das haben wir Ihnen zu verdanken – auf Ihr Wohl!“ Hagemann nahm Dank und Huldigung mit Würde in Empfang und that schmunzelnd Bescheid. Warum sich heute den Abend verderben, dachte er. Aber morgen werde ich ihm den Standpunkt klar machen!

Doktor Walter traf erst um Neun im Strandschloß ein, gerade als sich die Familie Hagemann, Leisewitz und der Bürgermeister von den „Eismännern“ verabschiedeten, um als gesetzte Leute den letzten Wagen der Pferdebahn nach dem Städtchen zu benutzen.

Leisewitz hatte ein Umschlagetuch malerisch um Schultern und Hüften gezogen. Das Tuch hatte ihm der Kapellmeister aufgenöthigt. „Sie haben recht,“ hatte Leisewitz erwidert, „man kann hier abends nicht vorsichtig genug sein. Mein Diener wird Ihnen – ja so, will sagen, Dir das Tuch morgen früh zurückbringen.“ Er warf einen Blick auf Doktor Walter, der nahebei in einer Fensternische stand. „Wenn ich Dich vorhin recht verstanden habe, bist Du mit dem neuen Hofmedikus unserer Prinzessin bekannt?“

„Wir sind Jugendfreunde.“

„So, so. Na, adieu! Es bleibt bei der Verabredung, ich singe Tassos Lied, und wie werd’ ich singen!“

Die vierzig „Eismänner“ stimmten den Scheidenden zu Ehren abermals ihren Wahlspruch an; doch klang derselbe nicht mehr so stolz und siegessicher wie das erste Mal . . .


5.0 Tassos Lied.

Zwischen jenem Abend im Strandschloß und dem Tag, an welchem das Konzert stattfand, waren zwei Wochen vergangen, für Leisewitz in Qual und Seligkeit. Schon bei der Heimkehr hatte Hagemann jedes Zwiegespräch vereitelt, und seitdem war es dem Sänger nie gelungen, Emma allein zu treffen. Keine Mutter hätte diese besser als Hagemann bewacht; ja eine Frau hätte sich am Ende durch die schönen Augen Siegfrieds, durch seine Liebenswürdigkeit, seinen Gesang und sein Klavierspiel, nicht weniger durch die sanfte Ergebenheit Emmas rühren lassen – Hagemann blieb unbestechlich. Er vermied den Sänger nicht, im Gegentheil, wenn dieser nicht zu ihm kam, suchte er ihn selbst auf. Er war

[497]

Geächtet.
Nach einem Gemälde von H. Gillard Glindoni.

[498] ihm gut, aber er wollte ihn nicht zum Schwiegersohn. Alle im Städtchen waren dem Sänger gut, denn er wirkte wie ein Gärmittel auf die schwerblütige Gesellschaft. Da das Wetter beständig blieb, wurden fast an jedem Nachmittag Ausflüge zu Wasser und zu Lande unternommen, Emma war immer dabei, aber keine Minute allein. Zuweilen löste der Hausfreund Segeberg den Vater in der Wache ab. Da dieser ein rüstiger Witwer und reich war, sah Leisewitz anfangs einen Freier in ihm und empfand alle Qualen der Eifersucht, bis ihn endlich die wahrhaft feierliche Hochachtung, die Emma dem Vater der Stadt erwies, beruhigte. Aber was half ihm diese kleine Erleichterung seines Herzens? Wenn die anderen Wörder Damen morgens mit der Pferdebahn zum Seebad fuhren, brachte Hagemann seine Tochter im eigenen Wagen dahin und wartete dann auf dem Platz vor dem „Deutschen Kaiser“, wo auch schon der Sänger beim Kaffee, seinem zweiten Morgenkaffee, saß. Die beiden Männer plauderten, bis Emma wieder erschien, den Hut in der Hand, das wellige Haar, das ihr tief über den Gürtel herabhing, aufgelöst. Sie nickte und grüßte dann herüber, doch Hagemann bezog das auf sich allein, verabschiedete sich von Leisewitz und fuhr mit seinem Töchterlein in die Fabrik, wo die Essen rauchten und ein widrig süßlicher Geruch die Luft verdarb. Emma beklagte sich darüber und fortan fuhr Hagemann mit seiner Tochter nach Wahndorf zu spazieren.

Bei alledem wagte Emma zur Verzweiflung des Sängers nicht die geringste List gegen ihren Wächter. Wenn sie auf den Ausflügen nur ein einziges Mal dem Beispiel der anderen Mädchen gefolgt wäre, die wie Rehe in das Dickicht sprangen! Leisewitz würde sie eingeholt haben – und wieviel läßt sich mit wenig Worten sagen! Doch Emma sprang nicht mit dem Rudel, sondern ging sittig an der Seite des Vaters, „in gleichem Schritt und Tritt“. Siegfried klagte sowohl sie wie sich selbst der Feigheit an; verzweifelnd faßte er dann den Entschluß, morgen abzureisen. Doch da gab ihm ein heimlicher Blick oder ein Erröthen wieder Trost und Hoffnung, und er rief sich zu: Du bist ein Thor, an ihr zu zweifeln!

So genoß er das Glück, zu lieben und geliebt zu werden, ohne Uebermuth. Das Hangen und Bangen vertiefte seine Empfindung, es gab seinem Wesen ungewohnten Ernst und seiner Miene einen schwärmerischen Ausdruck, was alles ihm in den Augen Emmas zu nicht geringem Vortheil gereichte.

Prinzessin Erna verlangte niemals nach dem Sänger, dagegen wurde Kapellmeister Lenz täglich in das Sommerhaus geladen. Leisewitz hörte das ohne Verdruß, Für ihn war das Städtchen Wörde jetzt die Welt und Emma deren Königin.

*               *
*

Das Konzert des Cäcilienvereins sollte um Fünf beginnen. Bald nach Tisch hatte Leisewitz seinen Bedienten Purzel mit einem Blumenstrauß für das Fräulein zu Hagemanns hinübergeschickt und dann am Fenster sehnsüchtig auf die Rückkehr des Boten gewartet. Aber noch bevor dieser wieder aus dem Hause getreten, war drüben Emma an einem offenen Fenster erschienen, den Strauß in der Hand, und als sie den Sänger gewahr geworden, hatte sie freudig genickt und das Gesicht in die Blumen gedrückt; nur einen Augenblick lang, denn alsbald war Herr Fritz Hagemann neben ihr erschienen und hatte auch genickt.

Nun war es fünf Uhr und der große Saal des Strandschlosses dicht gefüllt; nur inmitten zwischen den zwei Sitzreihen war der Gang zu den vorderste Stühlen frei, die von der Prinzessin und ihrem Gefolge eingenommen waren. An den Langseiten standen die Leute Kopf an Kopf. Ein paar Stufen höher als der Boden lag die Bühne für die Vereinsmitglieder, für Sänger und Orchester, ebenso dicht besetzt wie der Zuschauerraum. Emma hatte ihren Platz nahe dem Mittelgang, in der vierten Reihe, zwischen dem Vater und dem unvermeidlichen Bürgermeister.

Siegfried Leisewitz hatte sich nach reiflicher Erwägung nicht auf die Tondichtung seines Freundes Lenz beschränkt. Er trug schon am Schluß der ersten Abtheilung ein paar Lieder Schuberts vor und sang, dem stürmischen Zuruf sich fügend, das Lied „Gute Nacht, du mein herziges Kind!“ als Zugabe. Er sang von den „blauen Aeugelein“ der blauäugigen Wörder Maid zu Ehren, er sang das Lied für Emma allein und zwar mit einer Inbrunst und Klangfülle, daß nicht nur Emma es für das allerschönste hielt. Die biederen Wörder verwandelten sich in feurige Südländer; der Sänger mußte ein dutzend Mal vor die Rampe. Selbst Segeberg erwachte aus fünfundvierzigjähriger Ruhe; er vergaß seine zehnjahrige Amtswürde, stampfte mit dem Fuß, schlug mit der Rechten in die Linke und rief dröhnend ein Bravo um das andere. Wie das Horn von Uri klang seine Stimme.

Auch während der Pause hielt die freudige Erregung an. Niemand blieb steif und ruhig, jedermann fühlte sich leichtblütig und mittheilsam. Nur in der nächsten Nähe der Prinzessin wurde es eine Weile still, als der Hofmarschall seiner Herrin Fräulein Hagemann zuführte. Emma, aus allen Himmeln gerissen, war über die Auszeichnung wenig erfreut und stand roth und verlegen vor Erna, die allerlei Freundliches zu ihr sagte.

„Wie Ihre Augen glänzen!“ meinte Erna zuletzt; „ich freue mich an Ihrer Freude. Bleiben Sie in meiner Nähe, damit ich Sie sehen kann. Bitte, Herr von Aschau, schaffen Sie Platz!“

Der Hofmarschall überließ dem Mädchen seinen eigenen Stuhl und setzte sich zu Fritz Hagemann, der verdrießlich neben zwei leeren Sesseln saß, denn auch Segeberg hatte ihn verlassen.

„Nun, was sagen Sie zu unserem Schwan, zu unserem gemeinsamen Freunde, denn wie ich vom Kapellmeister höre, stecken Sie ja von früh bis spät mit Leisewitz zusammen!“

Hagemann als ehrenfester Kleinstädter glaubte sich deshalb entschuldigen zu müssen – Leisewitz sei eben ein ausgezeichneter Gesellschafter und guter Junge.

„Sie nehmen ihn doch wohl zu leicht, lieber Herr. Er ist vor allem ein großer Künstler.“

„Das auch, das auch, aber Sie wissen, für uns Bürger sind die Künste brotlose Sachen.“

„Na, na, brotlos! Das paßt auf unseren Leisewitz am allerwenigsten. Von seiner amerikanischen Kunstreise hat er bare fünfzigtausend Mark heimgebracht. Jetzt halten wir den kostbaren Vogel vorläufig auf zehn Jahre fest. Dafür sind ihm jährlich fünfundzwanzigtausend Mark zugesichert, als emsiger Mann aber verdient er weit mehr. Denken Sie nur an die Busennadeln, Diamantringe und so weiter, die er sich nebenbei ersingt. Sein Einkommen ist wahrscheinlich geringer als das Ihrige, aber jedenfalls viel größer als das meinige.“

Hagemann machte ein verblüfftes Gesicht. „Was Sie sagen! Allerdings – er hat einen Bedienten, geht fein, flunkert gerne mit der Million in seiner Kehle – aber da dies Künstlervölkchen immer mehr ausgiebt, als es einnimmt, so denke ich –“

„Da sind Sie wieder im Irrthum, mein Bester. Leisewitz ist ein sparsamer Mann, obwohl er es nicht nöthig hätte. Er raucht, trinkt und spielt nicht, macht freilich die Herrenmoden mit, nun ja – doch sein Diener ist zugleich sein Barbier, Friseur und vermuthlich auch Claqueur. Was wollen diese Ausgaben bei seinen Einnahmen sagen! Er legt auf die hohe Kante, lieber Herr. Und das wird ihm doch unter Bürgern nicht verargt werden!“

„Das freut mich, das freut mich, daß er mein Vertrauen verdient. Ich habe ihn nämlich für morgen zu Tisch geladen.“

„So, so, und an mich haben Sie nicht gedacht?“

„Aber, Herr Baron! Wenn ich wüßte, daß Sie mit Leisewitz und einem Teller Suppe vorlieb nehmen –“

„I, Leisewitz ist der beste Tischkamerad, den man sich wünschen kann, und – und – aber was hat das zu bedeuten? Es wird immer dunkler!“

Hagemann sah zum nächsten Fenster hinaus. „Segeberg behält recht,“ sagte er, „es giebt ein Gewitter.“

„Dann würd’ es wohl besser sein, Hoheit ginge schon jetzt?“

„Nein, nein! Entweder bricht es sofort los oder drückt sich noch lange herum. Wir haben übrigens nur noch zwei Nummern bis zum Schluß- und Glanzstack des Abends.“

Während dieser zwei Nummern war es im verdüsterten Saal unruhig, sobald aber Leisewitz zu seinem letzten Lied erschien, trat Totenstille ein. Kapellmeister Lenz setzte sich an den Flügel. Erst sangen die „Eismänner“ den Chor der schadefrohen oder furchtsamen Höflinge, Tassos Ungnade beim Fürsten verkündend. Dann sang eine stimmbegabte Wörderin mit Leisewitz ein Duett – sie, Leonorens Freundin, schmeichelt dem gekränkten Tasso, tröstet ihn, doch er antwortet nur in abgerissenen Lauten, dumpf, verzweiflungsvoll.

Da tritt Leonore von Este selbst ein, und nun strömte Siegfrieds Stimme im Lied sich aus:

[499]

„In deinem Haar die blasse Rose
Will ich von deiner schönen Hand,
Dann lebe wohl, du Gnadenlose:
Verworfen bin ich und verbannt!
Einst wollt’ ich fliehen, doch es sprachen
Die Augen zärtlich damals: bleib’!
O diese Strahlenaugen brachen
Mein Herz – die damals baten: bleib’!
Nun wandr’ ich wieder, aber finde
Den Weg nicht mehr, der vor mir lag –
Wohin? Es schleicht der arme Blinde
Von Haus zu Haus, in Nacht am Tag!
Ich soll auf immer von dir scheiden?
Unmöglich – Fieber – Wahnstnn! Sprich!
Scheiden ist Tod! Ich will ja leiden,
Doch leben, denn ich liebe dich!“

Als der Sänger endigte, erzitterte das Haus unter dem losbrechenden Beifall, die Menge raste. Prinzessin Erna und ihre Damen gingen mit dem Beispiel voran; sie standen auf und schwenkten ihre Tücher. Blumen flogen. Emma liefen die Thränen über die Wangen, und doch war sie unaussprechlich selig.

Kaum aber hatte der Jubel, der minutenlang dauerte, sich gelegt, so brauste ein anderer Sturm durch den Saal. Mit eins flogen die Fenster auf und die Windsbraut stürzte heulend herein, ihr Brausen mit dem Donner der Wogen vermischend. Eine unglaubliche Verwirrung entstand. Alles rannte durcheinander. Und Siegfried benutzte die Gunst des Augenblickes; mit einem Sprung war er unten bei Emma, faßte ihre beiden Hände und flüsterte leidenschaftlich: „Ich liebe Dich – ich liebe Dich!“

„O, Siegfried!“

„Und liebst Du mich?“

Sie schlug die großen Augen zu ihm auf. „Ewig!“ –

Anfangs wurde Fritz Hagemann von den Badegästen, die erschreckt ins Freie wollten, fast bis zur Thür mitgewirbelt, dann arbeitete er sich mühsam gegen den Strom zu seiner Tochter durch. Sie stand jetzt vor der Rampe zwischen Lenz und Leisewitz. Hagemann hatte den Hut auf und war sehr roth, als er angeschnauft kam. Dann aber beruhigte er sich; bei zwei Beschützern haftet der eine für den anderen. Er stellte sich breitspurig vor Emma.

„Hat man je einen solchen Aufstand erlebt um einen Mundvoll Wind! Diese Landratten! Weil ein paar Scheiben in Scherben gehen, glauben sie schon, der Sturm bläst das Haus um und die See ersäuft sie.“ Er blickte in das Gewühl auf der Bühne. „Aber die Cäcilianer sind auch keine Helden. Wenn ich Musikmeister wäre, ich hätte einen Walzer spielen lassen, und alles war gut. Na, nehmt’s nicht übel, Lenz! Lustig, Leisewitz! Ich bin kein Freund von Redensarten – aber es war großartig!“

„Vater, meine Blumen!“ rief Emma. „Ich habe sie Dir übergeben, als man mich zur Prinzessin holte.“

„Erlaube mir, in diesem Wirrwarr konnte ich unmöglich –“

„Sie sind das Opfer der rasenden See,“ sagte Leisewitz und lachte.

„Die schönen armen Blumen!“

„Morgen bringe ich Ihnen andere. Und was wird jetzt? Es zieht hier fürchterlich!“ Im Nu hatte ihm Emma ihr Spitzentuch um den Hals geschlungen – ihre erste Kühnheit!

„Sie sind ein Engel, Fräulein Emma! Aber wehe meinem Giuseppe, der Kerl läßt sich nicht blicken!“

„Sie dürfen heute niemand böse sein, Herr Leisewitz,“ sagte Emma mit einem Blick, der dem Vater nicht gefiel. Er sah mißtrauisch von ihr auf den Sänger. „Warum heute nicht?“

„Fräulein Emma meint wohl, wenn man eben soviel Güte erfahren habe - aber was machen Ihre Miether, Hagemann? Ich sehe die Prinzessin nicht mehr.“

Hagemann stellte sich auf die Fußspitzen. „Zum Teufel, wer kann an alles denken!“ Robert konnte ihn beruhigen. Er hatte die Prinzessin am Arm des Bürgermeisters auf der Bühne gesehen.

„Am Arm Segebergs – die Prinzessin!“ rief Hagemann. „Mein Sonnenbruder Prinzessinnenführer – Gott, daß ich das nicht gesehen habe! Aber jetzt gelüstet mich nach etwas Trinkbarem – ich denke, wir können jetzt in das Erkerstübchen. Nein, nein, Leisewitz, lassen Sie den Kapellmeister nicht fort, reichen Sie ihm den Arm, so! Ihr habt Euch heute in die Ehren getheilt, Ihr müßt auch für den Rest des Tages die Unzertrennlichen sein.“ –

In der wogenden Menge war die Gruppe um die Prinzessin eine Insel. Wenigstens Segeberg, der den Bedrängten beigesprungen war, die zwei Lakaien, die sich aus dem Hintergrund den Weg zu ihrer Herrin ertrotzt hatten, und Doktor Walter standen wie Felsen. Erna verlangte dem Arzt gegenüber die sofortige Heimkehr. Er wandte ihr ein, daß die Pferde des fürstlichen Marstalls wohl an Gewitter, aber nicht an die brüllende kochende See gewöhnt seien.

„Aber ich will ja nicht fahren! Ich will gehen!“

„Unmöglich, Hoheit!“

Sie lachte unmuthig auf. „Glauben Sie denn, ich werde den Wellen in die Arme laufen? Was kann mir geschehen?“

„Naß werden Sie werden, gnädigste Prinzessin,“ sagte Segeberg, „naß bis auf die Haut.“

„Ach was – ein Gang von zehn Minuten! Daheim giebt’s trockene Kleider und warmen Thee – Sie müssen ihn mit uns trinken, Herr Segeberg! Ja, daheim beim warmen Thee und in trockenen Kleidern – Aschau, Sie werden für unseren Bürgermeister Sorge tragen! – lachen wir darüber.“

„Sie vergessen den Sturm, Hoheit,“ sagte Walter.

„Den Sturm? Glauben Sie, ich kenne nicht den Unterschied zwischen einem Sturm und einer Bö? Vorwärts!“

Da war nicht länger zu streiten; der Zug setzte sich in Bewegung. Die Bedienten gingen an der Spitze; Segeberg folgte mit Erna und gab den anderen die Richtung an. Der Adjutant schritt der Prinzessin zur Linken. Aschau führte Frau von Schönfeld oder vielmehr sie führte ihren Ritter; denn der Wind blies ihm derart über Augen und Nase, daß er das Niesen bekam und alle Haltung verlor. Der Arzt und Gräfin Casasola beschlossen den Zug. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und stützte sich ohne Zimperlichkeit auf den Arm Walters.

Es war nicht Tag, nicht Nacht, aber auch nicht die holde Dämmerung der langen Sommerabende. Ein fahles Licht unter einem schwarzen Himmel, das nicht dem Aether, sondern den Gegenständen anzugehören schien; die kahle Hinterwand des großen Gasthofes, die schwanken Wipfel über der Gartenmauer, die farbigen Sommerhäuser, Kioske und Laubgänge, das alles war deutlich und scharf umrissen, aber in seiner Buntheit unter dem ungeheuren Trauermantel ebenso sonderbar wie ein Kerzenlicht bei blauem Himmel. Der Wind heulte und wimmerte; dazwischen hörte man das Donnern der See. Der Steig führte im Zickzack erst aufwärts in der Richtung auf den Wald, dann seewärts hinab. „Jetzt aufgepaßt!“ schrie der Führer; sie traten aus dem Schutz der Mauern auf die freie Uferstraße. Der Sturm packte sie sofort und schleuberte ihnen Schaumflocken und den Sprühregen der hochgehenden Wogen ins Gesicht. Sie mußten sich schief stellen und sammeln. Dann gingen sie langsam, ruckweise vorwärts.

Zur Rechten hatten sie die tobenbe See: Wellen über Wellen, wuchtige Massen mit krausen Kämmen; dunkle Schlünde, im nächsten Augenblick von stürzenden Bergen verschüttet; eine Million häßlicher ruheloser Polypenarme, gierig hervorlangend aus fliegendem Gischt. Ueberall sinnlos wüthende Kraft. Zur Linken der Wald, landein gebeugt, wie auf der Flucht vor der See. Möwen taumelten über dem Gewoge und schossen auf dem Strande hin und her; zuweilen hörten die Wanderer ihr Geschrei durch das Getöse. Die Prinzessin blickte scheu auf das Meer und seine greuliche Unrast. Ihr wurde schwindlig, die unendliche Wasserwüste schien sich über sie zu wälzen . . . „Unmöglich – Fieber – Wahnsinn!“ murmelte sie unwillkürlich und schmiegte sich an den wetterfesten Bürgersmann wie ein furchtsames Kind an den Vater.

Endlich auf dem Vorplatz der Villa Hagemann, angesichts der weitgeöffneten Thür zu dem schon hellerleuchteten Flur blieb Aschau stehen und sagte, indem er den triefenden Hut schüttelte und nach seinem Kneifer tastete, zu Frau von Schönfeld: „Man muß Gott für alles danken! Denken Sie sich, wenn unsere Gnädigste die Heimkehr zu Wasser befohlen hätte!“

Erna sah blaß und erschöpft aus. Sie verabschiedete sich noch in der Halle, empfahl ihrem Gefolge aufs wärmste den guten Bürgermeister und wünschte allen einen vergnügten Abend. Brausewein ging mit der Würde eines Grandseigneurs voraus, die Treppe hinauf; Erna und eine Kammerfrau folgten. Oben drehte sich die Prinzessin noch einmal um und nickte hinab; die Herren und Damen verneigten sich. Jeder freundliche Zug verschwand aus dem Antlitz Ernas, sobald sie der Gesellschaft den Rücken kehrte. Sie hatte Kopfweh, und wie es jedem zuweilen mit Versen oder Musikstücken ergeht, die Stelle aus dem Liede des Kapellmeisters: „Unmöglich – Fieber – Wahnsinn!“ verließ sie nicht mehr.

(Fortsetzung folgt.)


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Blätter und Blüthen.


Volksbücher. Man rühmte einst den deutschen Schulmeister, der die Siege in Frankreich mit erfochten habe, und noch heute dient die deutsche Schule in vielfacher Beziehung anderen Völkern als Vorbild. Aber immer lauter werden die Stimmen, welche betonen, daß die Schulbildung allein dem Volke nicht genüge, daß auch der heranreifende und gereifte Mann sich fortbilden müsse, um im Leben nicht zurückzubleiben. Auf Versammlungen von Vereinen, welche die Förderung der Volksbildung und des Arbeiterwohls erstreben, wurde wiederholt hervorgehoben, daß in den Mitteln zur Fortbildung des Volkes uns im Laufe der letzten Jahrzehnte andere Völker überflügelt haben.

Man könnte darauf erwidern, daß wir ja eine Reihe von Volksbibliotheken besitzen und daß auch in dieser Beziehung bei uns viel für die Volksbildung gethan werde. Das ist wahr, aber dieses Viel ist noch nicht genügend und jedenfalls steht es dem nach, was beispielsweise in England und in den Vereinigten Staaten von Nordamerika für Volksbüchereien gethan wird. In Manchester, Boston und anderen Städten giebt es Volksbibliotheken, die in ihrer Bändezahl selbst viele unserer Universitätsbibliotheken übertreffen und in denen die Benutzungen der Bücher jährlich nach Hunderttausenden zählen. Es ist geradezu erstaunlich, welche Mittel dort der Fortbildung des Volkes durch Gründung guter Bibliotheken geopfert werden und wie gut diese Volksbüchereien ausgestattet sind. Bei uns kostet die Benutzung eines Buches in den Volksbibliotheken der Vereine und Stiftungen sechs bis zwölf Pfennig; in England stellt sich dieser Preis auf zwanzig und in Nordamerika auf dreißig bis vierzig Pfennig. Dafür sind aber dort die Bücher dem Publikum leichter zugänglich.

Auf der Versammlung des deutschen Vereins für Volksbildung wurde der Ruf laut, das materielle und geistige Kapital zur Beschaffung guter Volksbücher in Deutschland „mobil“ zu machen.

Die Vereinstätigkeit allein genügt aber auf diesem Gebiet nicht; auch am häuslichen Herde muß auf das Lesen guter Bücher mehr Nachdruck gelegt werden. Namentlich sollte die heranreifende Jugend mehr gewöhnt werden, ernstere Werke zu lesen. Das wünschen ja auch die besten Pädagogen, die im Plane der Zukunftsschule der Privatlektüre der Schüler eine besondere Bedeutung beimessen. Die Eltern können schon heute in diesem Sinne mehr als bisher wirken. Ernste geschichtliche und populärwissenschaftliche, dem allgemeinen Verständniß angepaßte Werke werden die Jugend vor jener Frühreife schützen, die sich heute so oft zeigt und in allzufrüher Genußsucht und Vernachlässigung der idealen Geistesrichtung ihre Wurzeln hat. *      

Ein Malkontenter.
Nach einem Gemälde von C. Reichert.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

Geächtet! (Zu dem Bilde S. 497.) Mit welcher Wollust mag der rohe Pöbelhaufe in den Aristokratensalon eingebrochen sein, welchen Spaß mag er sich davon versprochen haben, die Bewohner, denen das Aechtungsdekret der französischen Revolutionsbehörde gegen den angeblich geflüchteten Hausherrn mitgetheilt werden, sie mit seinen Drohungen in Todesschrecken zu versetzen und sie am Ende vor dem „souveränen Volk“ am Boden kriechen zu sehen!

Aber merkwürdig – diesen Anblick erlebte das „souveräne Volk“ nicht oft. Der ehemals so frivole und gewissenlose Adel verstand es jetzt, ebenso wie das Königspaar, dem Tod mit Hoheit ins Auge zu sehen. Wie verächtlich wendet die junge Herzogin auf unserem Bild das schöne Haupt von der Pöbelrotte ab, einzig bemüht, durch ihre Haltung denjenigen zu decken, welchem der Aechtungsbefehl gilt, den alten Gemahl, früher für sie der gleichgültigste der Menschen jetzt durch die Gefahr ihrem Herzen heilig und theuer. Sie hat ihn hinter den Schirm gedrängt – wenn alles glücklich abgeht, wird er als Bedienter verkleidet heute nacht mit ihr über die Grenze fahren und dem Emigrantenheer zur Rettung des Königs zueilen.

Diese Erwägung allein ist es, die den alten Edelmann unbeweglich hinter dem Wandschirm hält. Aber seine Faust umklammert den Degen: eine Zügellosigkeit des rohen Soldaten oder seines Gassengesellen gegen die zarte Frau, und er wird hervorbrechen, um sein und ihr Leben theuer zu verkaufen.

Der Künstler giebt außer diesen Hauptfiguren mit treuer Charakteristik den Haufen der Schreier, der Anstifter und Verführten. Er zeigt uns auch im Vordergrund den ehemaligen Diener des Hauses, nunmehrigen Freiheitsmann, dem beim Anblick seiner alten Herrschaft übel zu Muthe wird. Er kennt den Wandschirm, aber die anderen darauf aufmerksam zu machen – nein, das vermag Baptiste nicht. Er wünscht jetzt im stillen, die beiden, die er im Herweg mit den anderen Schreiern als schändliches Aristokratengezücht verflucht hat, möchten doch lieber gerettet werden.

Ein charakteristisches Bild aus furchtbarer Zeit. Man wird es neben dem künstlerischen Interesse mit der tiefen menschlichen Theilnahme betrachten, welche alle Darstellungen aus jener Zeit unwillkürlich in uns erwecken. Bn.     

Das Kind in der Natur. Dem Großstadtkinde Freude an der Natur beizubringen, ist angesichts der bestehenden Verhältnisse keine leichte, aber auch durchaus keine unmögliche Aufgabe. Kennt es auch Nachtigall und Lerche, Hirsch und Reh, Waldbäume und -blumen vielfach nur vom Hörensagen, so sieht es dafür Hund, Katze, Meerschweinchen, Gans und Ente, findet Blumen, Gräser und Kräuter auf seinen Spaziergängen und wird für alles dieses Sinn bekommen, wenn Eltern und Erzieher seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken verstehen. Manche junge Mutter dürfte freilich in Verlegenheit sein, das Material zu längerem Gespräch der Begegnung mit einem Pferd oder Esel oder dem Anblick eines Blumenbeetes abzugewinnen. Sie möge dann das Buch „Das Kind in der Natur“ von Th. Focking (Braunschweig, Wissmann) zur Hand nehmen, die einzelnen Kapitel sich lesend einprägen und dann den Inhalt ihren Kleinen beim Spaziergang oder am abendlichen Familientisch erzählend, fragend und vergleichen lassend in kleinen Stücken mittheilen. Das beste Mittel gegen die gelangweilte Unart der vom Spielen ermüdeten Kinder liegt in solchen Anregungen ihres Denkvermögens, sie suchen eifrig nach Beispielen und Merkmalen, sie schauen beim Spaziergang nach den genannten Pflanzen aus und freuen sich über jeden Fund, statt träge und verdrossen hinzuschlendern; dabei gewinnen sie allmählich, bis das Alter für eigene Reisen und Ausflüge kommt, die liebevolle Freude an Thier- und Pflanzenwelt, an der Betrachtung der Naturschönheit, welche eine der besten und reinsten Glücksquellen im Leben ausmacht. Als Bereicherung der häuslichen Erziehungsmittel wie auch zur Anleitung für Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen der unteren Schulklassen ist das hübsch geschriebene, verständnißvoll angeordnete Buch bestens zu empfehlen Bn.     

Goldfischhändler in den Straßen Berlins. (Zu dem Bilde S. 485.) Die weitverbreitete Sitte, des Hauses „Gute Stube“ mit einem Glasgefäß zu schmücken, in welchem ein paar muntere Goldfischchen sich tummeln, hat in Berlin zu einer eigenthümlichen Erscheinung geführt. Es giebt ja wohl eine Reihe von Läden, in denen solche Thierchen neben anderen Aquariumsschätzen, Salamandern, Schildkröten, Laubfröschen u. dgl., zu haben sind; ebenso werden sie in allen Markthallen verkauft. Unternehmende Händler aber haben sich darauf gelegt, ihre Ware auch in den Straßen feilzubieten, um es dem kauflustigen Publikum ja recht bequem zu machen. Sie fahren mit großen Behältern umher, deren Wände aus Glas sind, so daß der Vorübergehende und vor allem die liebe Jugend die niedlichen Geschöpfe mühelos betrachten und bewundern kann. Nach oben sind die Behälter offen, so daß der Händler rasch mit seinem Netze das Gewünschte herausfischen kann.

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Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (15. Fortsetzung). S. 485 – Goldfischhändler in den Straßen Berlins. Bild. S. 485 – Dürre und Futternoth. S. 491 – Berglandschaften um Innsbruck. Von J. C. Platter. S. 493. Mit Abbildungen S. 488, 489 und 493. – Der Sänger. Roman von Karl v. Heigel (2. Fortsetzung). S. 493. – Geächtet. Bild. S. 497 – Blätter und Blüthen: Volksbücher. S. 500. – Geächtet! S. 500. (Zu dem Bilde S. 497.) – Das Kind in der Natur. S. 500. – Goldfischhändler in den Straßen Berlins. S. 500. (Zu dem Bilde S. 485.) – Ein Makoltenter. Bild. S. 500.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.