Die Gartenlaube (1895)/Heft 36

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[597]

Nr. 36.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Sturm im Wasserglase.

Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts.
Von Stefanie Keyser.

 (2. Fortsetzung.)

Als die Dohlen unter fröhlichem Geschnalz und Geschrei ihre langjährigen Sommerwohnungen auf dem alten Turm der Neidecke bezogen, trug ein Leibtrabant des Fürsten, den blau und gelb bequasteten Spieß in der Hand, ein Schreiben hinaus auf die Augustenburg.

Sein Erscheinen rief lebhafte Bewegung hervor. Aus den Fenstern des Kavalierhauses sahen erhitzte Köpfe.

„Nun, wann kommt der Rollwagen mit den Weinfässern?“ „Wo ist der Zug Pferde?“ „Bringt Ihr endlich den Geldsack?“ rief es durcheinander.

Der Leibtrabant zog den Hut und stapfte weiter, ohne zu antworten. Auch die beiden Hofhaltungen standen auf gespanntem Fuß.

Unterdessen war das Schreiben durch die etikettemäßige Reihenfolge der Bedienung gelaufen bis in das Zimmer der Fürstin, wo Kiliane auf Anordnung derselben für die Nonnenzelle der frommen Gertrudis eine winzige Geißel flocht.

Als Augusta Dorothea einen Blick auf die Zeilen geworfen hatte, deren Buchstaben gleichmäßig wie Perlen sich aneinander reihten, entließ sie das Hoffräulein und befahl durch den Mohren Hassan die alte Oberhofmeisterin zu sich.

Kiliane schritt langsam durch die Galerie, die sich vor den Zimmern der Fürstin hinzog. Die Stunde ihres Dienstes war noch nicht abgelaufen, und die Hofleute pflegten hier, eines Rufes gewärtig, zu harren.

Dann ließ sie sich auf einem der mit rotem Atlas bezogenen Tabouretts nieder, die für das Gefolge bereit standen.

Zum Fenster herein kam warmer Frühlingsatem. Von der Allongenperücke Neptuns, der im Garten mit seinem Dreizack aus einem Bassin aufragte, war längst der letzte Eiszapfen geschmolzen.

Ueberall grünte es empor; doch auch überall schnappten die Baumscheren, und was in neu erwachter Lebensfreudigkeit gesproßt war, säumte welkend die Wege.

Mit einem sonderbar sehnsüchtigem Blick flogen Kilianes leuchtend blaue Augen über

Eine Beratung.
Gemälde von M. Bashkirtseff.

[598] die Gärten hinweg dahin, wo neben der grau in den klaren Frühlingshimmel ragenden Ruine der Kevernburg das Vorwerk aus einem Kranz blühender Kirschbäume lugte.

Dort verwaltete einst ihr Vater Amt und Rentei. Sie meinte noch ganz deutlich seine frische Stimme zu hören, die durch die Scheunen und Ställe, Forsten und Felder hinschallte, die so ehrlich tief aus dem Herzen kam, wie es bei Hofe keine gab.

Keine?

Ihre Augen wurden träumerisch. Das Bild verblaßte, wandelte sich. Statt des Gutshofes sah sie im Geiste die Terrasse vor dem Schloß, statt maigrüner Knospen überall kupferrote Blätter vom blauen Himmel sich abzeichnen.

Die gesattelten Pferde stampften, das Gefolge der Fürstin ritt aus, um mit anzusehen, wie die Jägerei des Fürsten das Schwarzwild erlegte, das sich vom Thüringer Wald herab in den nahen Hain gezogen hatte.

Der Fürst, unpäßlich, vielleicht auch durch die Nähe der Augustenburg zurückgehalten, nahm nicht selbst teil, hatte nur Befehl gegeben, die benachbarten Dorffluren vor Wildschaden zu schützen. Aber die Augustenburger Hofgesellschaft gönnte sich das Schauspiel. Das Ziel war erreicht.

Der erste Kammerherr hatte eben gesagt: „Dieses Amüsement ist nicht nach meinem Gusto. An andern Höfen hält man Kampfjagden, wo Wölfe, Rinder mit Schwärmern an den Hörnern, Maulesel in den Schloßhöfen gegen einander losgelassen werden, während die Musik lustige Stücklein auf Jagdhörnern bläst und die Kavaliere von den Fenstern aus ihre Feuerrohre abschießen.“

Da rief eine frische fremde Stimme: „Das ist nicht Weidmannsbrauch. Rinder abzustechen ist Metzgerarbeit. Der Jäger rottet das Raubzeug aus und bei der Jagd auf Schwarzwild setzt er das Leben ein.“

Das war der neue Kammerjunker Konrad von Eichfeld.

„Roher Krautjunker!“ flüsterten achselzuckend die Hofleute um ihn herum.

Er aber ließ sich nicht irre machen. Es sah köstlich aus, wie er so verdutzt, fast mehr erstaunt als empört auf einem der kleinen Altane stand, die an den alten Buchenbäumen angebracht waren, von denen aus sie alle dem Schauspiel des Abfangens beiwohnen sollten.

Die Jagd brauste heran.

Der Oberjägermeister höhnte die Kavaliere aus, die durch ihre Lorgnetten herablugten: „Geben die Herren Wohl acht auf das Abfangen, damit Sie es kunstgerecht in Wachs bossieren können.“

Und ein Gelächter wie Höllengeister stimmten die Grünröcke an.

Ein starker Keiler mit mächtigen Hauern war von den Hunden gestellt.

Im selben Augenblick stand Eichfeld unten, die Saufeder, die er einem der Jäger entriß, vorgestreckt – sein Arm schien sich in Eisen zu verwandeln.

Das Jagdglück war ihm hold. Das grunzende Tier mit den kleinen blutunterlaufenen Augen nahm ihn an. Weidgerecht ließ er es auflaufen.

Aber – o, der unverzeihlichen Frevelthat! – ein Blutstropfen spritzte an den Sammetrock des ersten Kammerherrn. Und er war doch von der neuen Farbe bleu mourant! Tölpel! stand auf allen Gesichtern geschrieben.

Als sie heimwärts ritten, streifte sie den Handschuh ab, befestigte ein grünes Tannenzweiglein an seinem dreieckigen Hut und sagte: „Weiß der Junker nicht, daß bei Hofe ein Kampf auf Leben und Tod nichts ist gegen einen Rock von der neu erfundenen Farbe des ersterbenden Blau? Dann sollte der Herr so bald als möglich wieder heimkehren auf sein Eichfeld.“

Wie keck sie der Neuling anblitzte mit seinen grauen ehrlichen Augen. „Wünscht das Fräulein, daß ich gehe?“ fragte er etwas atemlos.

Sie hatte ihn forschend angesehen, und es machte ihr Vergnügen, wie er errötete bei ihrem Blick und dann, offenbar zornig über sich selbst, so trotzig ihn erwiderte, daß sie nun ihrerseits das Blut in den Wangen brennen fühlte und rasch antwortete: „Ich wünsche, der Herr Kammerjunker möge der Mann sein, für den ich Ihn halte. Dann wird Er ungefährdet bleiben können und schließlich über Achselzucken und Spott triumphieren.“

Ohne sich zu besinnen, entgegnete er: „Das Fräulein soll sich nicht in mir getäuscht haben. Ich verspreche es durch ehrlichen Handschlag.“

Wie gezwungen von dem Ton seiner Stimme, legte sie ihre Hand in die seine.

Kräftig und warm umschlossen sie seine Finger. Dann plötzlich, sein Pferd dicht an das ihre drängend, preßte er die Lippen auf ihre Hand, scheu zuerst und dann mit so wilder heißer Leidenschaft – wie viele Handküsse erlebte sie täglich, und die Erinnerung an den einen ließ ihr Herz noch heute stürmisch schlagen.

Und hatte er gehalten, was er damals versprach? –

„Es ist die Mode so,
Bei Hofe so zu leben,“

trällerte halblaut eine Stimme in der Tiefe der Galerie.

Bittrer Spott zuckte um ihre Lippen. Das war die Antwort auf ihre Frage.

Dort kam er heran, die Amethystknöpfe des orangefarbigen Rockes aufgerissen, die Perücke verschoben, daß eine Locke des hellbraunen Haares sich herausdrängte, widerspenstig sich aufbäumend trotz des Oeles, mit dem die Herren das eigene Haar dicht an den Kopf zu heften strebten, in der Hand einen Zipfel des spitzenbesetzten Schnupftuches, mit dem er sich Kühlung in das erhitzte Gesicht wehte.

„Schönste Kiliane,“ sprach er, und seine Zunge war schwer, die Augen loderten unstet, „es war nur ein Trabant – wieder kein Husar. Wie es scheint, satteln die angenehmen Tollköpfe auch schneller, als sie reiten.“ Er lachte, daß die schönen weißen Zähne unter den jugendlichen Lippen blitzten.

Erschreckt blickte Kiliane ihn an. Dicht an sie heran schwankte er. Offenbar! Er hatte einmal wieder zuviel von dem schweren Malaga getrunken.

„Das danke ich meinem Unglück im Spiel.“ Er kehrte die Rocktaschen um. „Alles fort – leer, wie ausgekehrt! Thut nichts! Point d'honneur will haben, daß man Aufwand macht. Je größer die Schulden, je größer der Herr! Bauern sparen.“

Kiliane schwieg entsetzt.

Er lachte. „Ja, man lernt etwas bei Hofe. Nur fechten nicht. Es ist gut, daß mir das unser alter Fechtmeister auf dem Eichfeldhof beigebracht hat. Denn“ – er faßte grimmig nach dem Degengriff – „wenn mir ein Husar in den Weg träte“ – seine Stimme wurde laut, drohend – „einer von uns müßte dran glauben.“

Kiliane erhob sich; sie war blaß geworden. „Still! der Junker befindet sich im Antichambre seiner Herrin, und ich sehe keinen Husaren, wohl aber den Mohren der Fürstin.“ Sie ging langsam nach dem andern Ende.

Er folgte, sie von der Seite mißtrauisch beobachtend. Aber er fand nicht wie sonst Spott in ihren Zügen. Es lag etwas wie verborgenes Leid auf der Stirn; der Mund zuckte leise schmerzlich.

„Habe ich das Fräulein gekränkt?“ fragte er mit überquellender Herzenswärme. „O Kiliane!“ Er lag vor ihr auf den Knieen und haschte nach ihrer Hand.

Sie zuckte plötzlich zusammen. Glitt es nicht, ohne daß sie etwas sah, wie glatter Schlangenleib an ihr vorüber. Das kostbare chinesische und japanische Porzellan, das auf kleinen Konsolen die Wand schmückte, schütterte leise.

Erstaunt, verwirrt schaute auch er um sich. „Ging da jemand?“ rief er.

Keine Antwort. Totenstille.

Kiliane lachte mit blassen Lippen. „Hat der Junker noch nicht gehört, daß es spukt im Schlosse?“

„Ammenmärchen!“ murmelte er, aufmerksam horchend. Es klang, als entferne sich ein leise schleifender Schritt, den er zu kennen meinte.

„Der blasse hagere Schleicher!“ kam es unwillkürlich über seine Lippen. „Er hat manchmal einen Blick“ – er drückte die Faust zusammen – „ich weiß, daß ich ihn noch einmal an der Gurgel haben werde.“

Kiliane erschrak. Dieser Ausbruch des Naturmenschen traf wunderlich zusammen mit dem eigenen unheimlichen Gefühl, das sie Severin gegenüber empfand.

Sie waren dabei aus der Galerie heraus getreten auf den Vorplatz, von dem eine launenhaft sich windende Doppeltreppe hinab nach dem Garten führte.

Von allen Seiten rauschten die Roben, klirrten die Galanteriedegen der Hofleute heran.

[599] Auch die Oberhofmeisterin kam aus dem Zimmer der Fürstin. „Das Neueste!“ keuchte sie. „Seine Durchlaucht gehen in die Bäder nach Aachen für längere Zeit.“

Ueber Fächer und dreieckige Hüte flogen bedeutsame Blicke. Dann begann ein eifriges Flüstern.

„Endlich die Hände frei“ – „der Justizienrat ist gefügig“ – „der Rentamtmann wird sich finden lassen.“ – „Aber dieser unbequeme Sckretarius, der immer alle praktikablen Wege mit einem Gesetzbuch vermauert“ – „der rücksichtslose Superintendent, der auf seiner Kanzel die geheimsten Vorgänge ans Licht zieht!“

Kiliane sah verächtlich auf die Gruppen. Sie wußte, welche Fäden da gesponnen wurden.

O, man würde die Fürstin zu bearbeiten, aufzuhetzen verstehen! Was alles war nicht schon einer Hofintrigue zum Opfer gefallen! Da gab es Nadelstiche, die einen ehrenhaften Mann zur Verzweiflung treiben konnten, heimliche Gruben, in die man ihn fallen ließ.

Der einzige, der an dem Gezischel nicht teilnahm, war Eichfeld; aber – er hielt sich den schweren Kopf. Was half sein gerader Sinn? Sie wehte verzweifelt mit dem Fächer.

„Dem Fräulein ist zu heiß,“ rief einer der Kavaliere. „Darf ich Kühlung zuwehen?“ Er spitzte die Finger nach ihrem Fächer.

Sie schlug ihn damit.

„Ist der Flor zu lästig?“ fragte der Stallmeister und faßte nach dem spinnwebdünnen Gewebe, das ihren Hals umhüllte.

Eichfeld wurde rot und blaß. Seine Hand lag am Griff des Degens.

Der erste Kammerherr klopfte ihn auf die Schulter. „Jaloux auf das Fräulein von Heymbrot. Ridicule!“

Sie hatte es gehört. „Ja wohl, lächerlich! Das wissen die Leute am besten, die vom Eulenschrei bis zum Hahnenkrähen vor einer Mansardenthür Schildwache gestanden haben,“ sagte sie in beißendem Tone.

Der Kammerherr lachte frivol. „Eh! Jetzt steht keine impertinente Thür zwischen uns“ – er breitete geziert die Arme aus.

„Mir schuldet das Fräulein noch eine Locke,“ rief von der andern Seite der Stallmeister.

„Eine Busenschleife mir,“ behauptete ein anderer.

„So kassieren Sie Ihre Außenstände ein,“ rief Kiliane mit einem Lachen, das frisch klang bis zur Eiseskälte. „Die Jagd beginnt! Allons!“

Sie lief davon unter den ausgebreiteten Armen des Kammerherrn hinweg, die Männerschar nach.

Eichfeld wollte ganz verzweifelt die Verfolger aufhalten; aber, verstrickt in das Getümmel, vermochte er es nicht.

Die Jagd ging um ihn herum wie um einen Baumstamm.

Atemlos, glühend flog Kiliane voraus um die verschnörkelten Steinvasen, daß die Orangenbäumchen, welche daraus sich erhoben, einen Blütenregen herabschüttelten, um die Tische, auf denen bereits die zierlichen Täßchen, das Löffelbiskuit standen. Der Puder stäubte, die Stöckel klapperten – sonst kein Laut.

Da – plötzlich – ein Klopfen mit dem Stabe – und wie angewurzelt steht das Gefolge, die erhitzten frivol lachenden Gesichter in ehrfurchtsvolle Falten gelegt, die eben noch ausgestreckten Hände auf Herz und Degen gedrückt, die eben noch springenden Füße nun in der ersten Position, die Köpfe demütig gebeugt: Ihre Durchlaucht erscheint.


An einem schönen Maientag, da der Himmel sich blau über grüner Flur und blütenbedeckten Obstbäumen wölbte, rasselte der Reisezug des Fürsten zum Thor hinaus.

Vorreiter, Kuriere mit Trompeten, Leibjäger und Leibtrabanten, Kammerherren, Reisemarschall, Leibarzt und Geheimschreiber zu Pferd, zu Fuß, zu Wagen bildeten ihn.

In ihrer Mitte bewegte sich die Kutsche, das Verdeck von einer Schnur frisch gemalter Wappen umgeben, gezogen von einem mit Federbüschen geschmückten Sechsgespann, die Trittbretter besetzt mit Lakaien und Pagen.

Es war noch immer ein schönes Gesicht, das sich in dem Fenster der Karosse zeigte; aber ein Ausdruck lag darauf wie hereinbrechender Nebel auf fröhlichem Gefilde.

Die Augen des Fürsten hafteten an dem Banner, das ihm noch einmal nachwinkte vom hohen Turm, während es langsam eingezogen wurde. Der Fürstenhut war darauf gestickt, der lang’ und heiß erstrebte. Ein Lächeln flog über die feinen Züge – war’s Spott? War’s Wehmut? –

In dem kleinen Flüßchen, durch das die Landstraße nach Gotha ging, stand Märten, auf eine Steinpicke gestützt, mit welcher er hatte die Furt gangbar machen helfen, und sah der hindurchwankenden Kutsche zu, welche die Trabanten an beiden Seiten mit ihren umgekehrten Spießen stützten. Die Kappe brauchte er nicht abzunehmen, da er keine trug.

„Gafft doch nicht so unverschämt in den Wagen,“ mahnte leise ein alter Mann, während er sich tief gebückt hielt. „Der Herrschaft gegenüber schlägt man die Augen nieder.“

Märten sah ihn über die Schulter an. „Das mag gut sein für einen alten abgesetzten Bedienten wie Ihr. Ein richtiger Mann, der nichts verbrochen hat, kann offen und ehrlich jedem in das Gesicht sehen.“

„Aber Eure Offenheit ist so groß, daß sie wie Unverschämtheit aussieht,“ rügte ein Scharwächter, der den Zug bis vor das Thor geleitet hatte.

„Hebt Eure Beschwerde über meine Unverschämtheit auf, bis ich Euch einmal durchgewalkt habe, wenn Ihr nachts über Eure eigenen Beine stolpert,“ war die grobe Antwort.

Dann schwang Märten die Steinpicke über die Schulter, goß seine Holzschuhe aus und ging mit Siebenmeilenstiefelschritten davon.

Die Leute waren seinen Grobheiten gegenüber zurückgewichen; nun schimpften sie hinter ihm her.

„Der lange Schlagetot, der von je der Stadt zur Last gefallen ist!“ „Nirgends hat er gut gethan, hat in keiner Lehre ausgehalten,“ murrten Seiler und Tuchmacher, die mit Rad und nassen Tuchpacken auf den Anger zogen.

„Dafür ist er der Nachkomme des Rädleinsführers, der im Bauernkrieg am hänfenen Strick gen Himmel fuhr,“ keifte eine Bürgersfrau im runden Thüringer Kragenmantel.

„Wenn Sie das noch einmal sagt, Frau Krautwurstin, dann sehe Sie zu, wer Ihr die schiefe Hüfte zurecht polstert,“ unterbrach sie eine belfernde Stimme, und Fieke trat hervor, den einen Arm kampflustig in die Seite gestemmt, am andern ein Handkörbchen, aus dem die riesige Schneiderschere und Schnittmuster hervorsahen. Sie war auf dem Weg zur Arbeit und hatte auch ein wenig gucken wollen. „Was kann Märten dafür, daß sein Ur-Ur-Urgroßvater mit dem aufrührerischen Haufen unter dem Pflugrad gezogen ist? Was hat die Stadt schon für ihn gethan, Meister Blautöpfer? Halb verhungern lassen hat sie das Nest voll Kinder, dieweil der Vater, der kranke Tagelöhner, nichts verdienen konnte; hat nicht danach gefragt, als die arme Brut sich in alle Welt verlief wie ausgesetzte Katzen. Und warum hat Märten nicht in der Lehre ausgehalten, Meister Tuchscherer? Wenn er bei meinem seligen Vater auf dem Schneidertisch saß, ragten seine Beine bis in die Kammer; in den großen Fingern verkrochen sich die Nadeln; und wenn ihm mein Vater eins mit der Elle überzog, wie es sich für einen Lehrling gehört, lachte er, als ob ihm der Buckel gekraut würde. Ist es erhört, daß ein Magistrat so wenig Einsehen hat und einen solchen Menschen zum Schneider machen will?“

Sie holte frisch Atem. „Wollt Ihr ihm etwa das Mauertürmchen vorwerfen, in dem er seit dem Tode meines Vaters untergekrochen ist? Wo seit Menschengedenken niemand und nichts gehaust hat als die alte Kartaune? Wo er hätte verschimmeln können, wenn ihm nicht der Herr Sekretarius Struve ein Windöfchen aus seinem Haus und das Abfallholz aus seinen Gärten geschenkt hätte! Eure Wohlthaten trägt eine Mücke auf dem Schwanze fort.“

Sie machte sich patzig mit den Ellbogen Platz durch die abgetrumpften Leute. Schon im Davongehen rief sie noch zurück: „Aber daß das Stangenpferd stolperte, als die Kutsche zum Thor hinaus fuhr, ist kein gutes Vorzeichen.“


Struve hatte mit den andern Räten und Dienern dem abreisenden Herrn die letzte Verbeugung gemacht.

Man hatte lange stehen müssen, denn Verspätung gehörte zur Vornehmheit. Nun zogen alle nach Haus, die einen gehoben durch den ihnen im Vorzimmer angewiesenen Platz, die andern mit roten Köpfen, weil sie nur für die große Vorhalle würdig befunden worden waren. Am Hofe wird um eine Rangstufe heißer gestritten denn um einen Sitz in Abrahams Schoß.

[600]

Ein Skat in der Gartenlaube.
Aquarell von Oskar Gräf.

[601] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [602] Nur den Sekretarius hielt sein Dienst noch fest. Er mußte die von dem Fürsten dem Kanzler ausgestellten Vollmachten zu einem Aktenstück zusammen fügen, das dabei gebrauchte Staatssiegel unter Verschluß bringen. Unmutig stieß er es in die Holzkapsel. Trübselige Wochen lagen hinter ihm. Mit allen seinen Angelegenheiten war es gegangen wie in einem schweren Traume, wo man mit Händen und Füßen arbeitet und nicht vom Fleck kommt.

Magdalene ließ sich nirgends blicken. Seine Herzallerliebste verstand durch Verschwinden und Schweigen so deutlich ihre Meinung kund zu thun als andere durch stundenlange Reden. Es gab Augenblicke, wo sein Unmut über sie seiner Liebe die Wage hielt.

Und wenn er dann in treuer Pflichterfüllung Vergessen suchte, wurde ihm da kein besserer Erfolg zu teil. Er hatte seine Abhandlung mit einer gehorsamsten aber dringenden Mahnung dem Kanzler eingereicht. Und dann war sie in dessen Schreibpult verschwunden wie in der Höhle des Löwen, in die viele Spuren hinein, keine wieder herausführen.

Er sah ein: auf diesem Wege kam er nicht vorwärts.

Und wieder tauchte die Erinnerung an den Erbprinzen von Sondershausen in ihm auf. Gewißlich: bei dem jungen Herrn fände er Verständnis für seine Vorschläge. Wie derselbe mit weiser Umsicht den Verhandlungen präsidierte, welche der unseligen Zerstückelung des Landes ein Ende machten, zu der Entwicklung eines Staatslebens den ersten Stein legten, so würde er auch der Aussaugung seiner zukünftigen Unterthanen vorzubeugen suchen.

Riefe man ihn an –

Struve schüttelte den Kopf. Wie kam ihm nur der Gedanke? Das war nicht der gesetzmäßige Weg, den er zu wandeln hatte wie allezeit seine Altvordern.

In Nachsinnen verstrickt war er aus der Kanzleistube herausgetreten auf den Laubengang, der, mit geschnitzten Bogen auf schweren Eichenstämmen ruhend, vor dem Regierungsgebäude des äußern Schloßhofes hinlief.

„Welchen tiefen Dingen sinnt der Herr Sekretarius nach, daß Er Seine ergebene Dienerin nicht sieht?“ erklang eine helle Stimme in nächster Nähe.

Kiliane wiegte sich heran, den hohen Strohhut schief auf dem Toupet.

„Dem Ausspruch,“ erwiderte Struve, seinem Groll Luft machend, „welchen der große Kanzler Gustav Adolfs, Oxenstierna, seinem Sohn gegenüber gethan hat: ,Du glaubst nicht, mit wie wenig Weisheit die Welt regiert wird‘.“

Sie sah ihn unter dem gegen die Sonne gehaltenen Fächer hervor eindringlich an. „So spricht der Herr Sekretarius zur Nichte seines Kanzlers, zur Hofdame der Frau Fürstin, zur leichtsinnigen Heymbrotin?“

„Zu derselben Kiliane von Heymbrot,“ antwortete er ernst, „die einst als Kind den langen Christian Struve auf seinem Spaziergang nach dem Hain einfing, damit er eine junge auf das Pflaster gefallene Schwalbe wieder in das Nest setzte, und mit ihren schwachen Fingerchen die Leiter hielt, auf der er das Rettungswerk vollbrachte. Sie wird dasselbe Mitleid jetzund bereit halten für die Tausende von Mitmenschen, deren Heimstätten, deren bescheidentlicher Wohlstand bedroht sind, und für deren Schutz niemand eine Hand regt.“

Ein weicher Schimmer war in ihren Augen aufgestiegen. „Ja,“ sagte sie leise, „es ist schrecklich, aus dem Nest zu fallen. Und es giebt immer frivoles Gelichter, das andere gern daraus verjagt. Erst heute noch habe ich eine künstlich gedrehte Schlinge gefunden, mittels deren man ein unliebsam gewordenes Nest zu räumen versucht. Ich habe sie für den Herrn Sekretarius mitgebracht.“ Sie zog aus einem kleinen seidenen Beutel, der ihr am Arme hing, ein zerknittertes Stück Papier. „Ja, staune Er nur!“ scherzte sie. „Das Präsent ist so kostbar, wie Er es von Kiliane von Heymbrot erwarten kann. Eine der Papilloten, auf die unser erster Kammerherr die Locken seiner Perücke hat wickeln lassen. Er hat sie verloren, als er sich von Flickfieken seine Weste enger nähen ließ und, da ich zufällig ins Zimmer trat, Reißaus nahm.“

Etwas befremdet entfaltete Struve das Papier. Es war ein geschriebener Zettel, der den Befehl an den Kammerherrn enthielt, in die Kirche zu fahren, die Predigt des Superintendenten anzuhören und Thema und Teile, überhaupt so viel als möglich, nachzuschreiben. Das Papier trug keine Unterschrift; aber das Wasserzeichen zeigte das braunschweigische Roß.

„Das Fräulein verpflichtet deren ergebenen Diener zu ewigem Dank,“ sprach Struve erregt.

„Er sieht,“ ermahnte sie, ihren Fächer erhebend, „der Boden, auf dem wir stehen, ist Sumpf, in dem ein Mann, der ihn geradeaus durchschreiten will, lautlos versinken kann, ob er nun mit einer Predigt oder mit unbequemen Gesetzbüchern im Wege ist. Sumpf, in dem nur Schlange und Irrlicht“ – sie tippte mit schelmischer Demut sich auf die Brust „nichts zu fürchten haben.“

„Ich verstehe das Fräulein,“ sagte er. „Aber es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die ihr Leben dran wagten, unheildrohende Sümpfe unschädlich zu machen. – Ein viel gefährlicheres Werk dünkt es mich, ein Irrlicht, vorstellen zu wollen. Und,“ fuhr er mit seinem schönen ernsten Lächeln fort, „da wir einmal dabei sind, uns wie in ferner glücklicher Kinderzeit zuzurufen: ,Ueberspring keine Sprosse, Christian!‘ ,Nimm die Händchen in acht, Kiliane!‘ so lassen auch Sie mich eine Warnung aussprechen. Warum will das Fräulein für einen unsteten Flattergeist gelten? Warum trägt Sie eine Larve vor dem Gesicht, hinter deren leichtfertiger Grimasse die edlen Züge verschwinden? Sie sollte fürchten, diese Maske könnte endlich so fest haften, daß das Gute dahinter erstickt wird.“

Kiliane zuckte die Achseln, die sich, zart abfallend, unter dem lavendelfarbigen Ueberkleid abzeichneten. „Die Hofschranzen verdienen nur eine Grimasse,“ entgegnete sie verächtlich.

„Alle?“ fragte er. „Es wird mir schwer, zu glauben, daß unter diesen glatten Mienen nicht hier und da eine größere Seele sich verbergen, nicht ein einziges wärmeres Herz unter den Spitzenjabots schlagen sollte. Vielleicht verlarven auch andere ihr wahres Gesicht.“

Sie sah betroffen auf. Dann verlor sich ihr Blick hinaus in den blauen sonnigen Himmel, nachdenklich, weltvergessen.

Auch Struve schwieg. Es war so still, daß man das leise Summen der wie glitzernde Pünktchen durch die Luft fahrenden Insekten hörte.

Endlich atmete sie tief auf, als erwache sie aus einem Traum und besinne sich auf das wirkliche Leben. „Au revoir, Monsieur Struve.“ Sie machte einen anmutigen Knix.

Er verbeugte sich tief. Ihre zierlichen Stöckel klapperten nach dem Pförtchen, das in die Dienstwohnung des Kanzlers führte.

Er sah ihr mit Rührung nach, wie sie gleich einem rosigen Schmetterling mit blauen Oberflügelchen hinter den Bogen des Laubenganges verschwand.

Dann wandte er sich dem Heimweg zu, trotz der gefährlichen Papillote mit mutvollerem, frischerem Schritt.

Auch für ihn war die Zeit gekommen zu entscheidendem Handeln. Noch heute mußte er die Warnung in die Superintendentur tragen.

Und zugleich wollte er seine Werbung zum Abschluß bringen, sich das Recht erringen, das geliebte Mädchen in den drohenden Zeitläuften schützen zu dürfen, ihr, wenn das Schicksal ihrem Vater Schweres vorbehielt, eine Zuflucht zu sein.

Wenn sie ihn auch durch ungerechten Verdacht gekränkt hatte – es war jetzt keine Zeit zu kleinlichen Häkeleien.

Ihm als Mann kam es zu, die Verhältnisse zu klären, ihr das unwandelbare Vertrauen zu ihm einzupflanzen, das zu einer würdigen Ehe unentbehrlich ist.

Ein süßer Trost hatte ja doch auf dem Grunde aller der Kränkungen gelegen: wo Eifersucht ist, muß auch Liebe sein.

Das Herz Christian Struves ging in immer rascheren Schlägen.

Es ist ein Wunder, daß so viele Ehen zu stande kommen trotz der Angst, welche die Menschenkinder vor dieser wichtigen Handlung ausstehen müssen.

Der junge Freier hatte auf keiner Stelle mehr Ruhe, nicht einmal beim Mittagstisch, von dem die alte Köchin, ein Erbstück des Hauses Struve, sogar die Potage aus Spargel und jungen Erbsen, mit Krebsen garniert, unangerührt wieder in die Küche zurück bekam. Der Bediente wurde zu außergewöhnlicher Zeit mit der Staatsperücke zum Friseur geschickt und – auch in der Perücke bringt es die Jugend zur Poesie – Christian begab sich in den Balsamgarten und pflückte von den Rabatten goldgelbe füllereiche Ranunkeln, braune Aurikeln, duftende zarte Maienglöckchen und befahl, sie mit einem seidenen, die Farbe der Treue tragenden Band zu einen Strauß zusammen zu fügen.

Von diesem Augenblick an ging das Gesinde nur auf den Fußspitzen und flüsternd im Haus umher: man wußte, was die Glocke geschlagen hatte.

(Fortsetzung folgt.)

[603]

Die Frage der „Selbstentzündung“.

Von C. Falkenhorst.
I.
Allgemeines. – Selbstentzündung der Baumwolle? Fette und Oele. – Selbstentzündung der Kohle. – Verschiedene andere Selbstentzündungen.

Innerhalb des kurzen Zeitraumes von drei Jahren, von 1889 bis 1892, sind in Berlin 54 Schadenbrände vorgekommen, deren Ursache nach amtlicher Ermittelung auf Selbstentzündung zurückgeführt werden mußte. Alljährlich liest man in Tageszeitungen Berichte, daß Schiffe infolge Selbstentzündung von Kohlen, Baumwolle oder anderen Stoffen entweder gänzlich verbrannten oder brennend einen Nothafen anliefen. Diese Beispiele lassen erkennen, wie bedeutungsvoll die Selbstentzündung als Brandursache in unser wirtschaftliches Leben eingreift; denn auf Millionen beziffern sich der Wert der Güter, die alljährlich durch sie zerstört werden, und groß ist auch die Zahl der Menschenleben, die bei solchen Unglücksfällen verloren gehen. Wie eindringlich auch diese Zahlen reden, sie werden doch nur von wenigen gehört und verstanden. Das Wesen der Selbstentzündung, die Gefahren, welche dieser eigenartige Vorgang über Haus und Hof, Fabrik und Schiff verhängt, sind leider nur den engeren Fachkreisen bekannt, während jeder Hausvorstand sie kennen sollte, da die Erfahrung gelehrt hat, daß die auf Selbstentzündung beruhenden Brände nicht immer nur große Fabriken, Speicher und Schiffe, sondern auch kleine Werkstätten, landwirtschaftliche Betriebe und selbst einfache Haushaltungen betroffen haben. Der größte Teil dieser Brände hätte gewiß verhütet werden können, wenn die Gefährlichkeit der zur Selbstentzündung neigenden Stoffe allgemein bekannt wäre.

In dieser Richtung belehrend und aufklärend zu wirken, ist der Zweck der folgenden Zeilen. Dabei werden wir auch auf die Frage nach der Möglichkeit einer Selbstentzündung des menschlichen Körpers zu sprechen kommen, eine Frage, die bis in die neueste Zeit herein viel Staub aufgewirbelt hat.

Die Chemie lehrt uns, daß es eine große Anzahl von Körpern giebt, die sich zu entzünden und in Feuer und Flamme aufzugehen pflegen, ohne daß man sie vorher erhitzt oder mit einem Funken in Berührung gebracht hat. Ein solcher Körper ist z. B. der Phosphorwasserstoff, der sich sofort entzündet, sobald er an die Luft tritt; man nimmt an, daß er es sei, der in sumpfigen Gegenden die Irrlichter hervorruft. Aehnlich wie der Phosphorwasserstoff verhalten sich Siliciumwasserstoff, Zinkäthyl und Zinkmethyl. Wir wollen hier jedoch auf solche seltene Körper, die man erst künstlich darstellen muß, nicht näher eingehen und uns lediglich auf diejenigen Stoffe beschränken, die wir tagtäglich brauchen.

Bei diesen kann die Selbstentzündung entweder infolge von chemischen oder infolge von physikalischen Einflüssen erfolgen.

Wie durch chemische Prozesse Wärme entwickelt wird, das können wir beim Löschen des gebrannten Kalkes beobachten. Dieser ist eine Verbindung von Calcium und Sauerstoff und wird darum von den Chemikern Calciumoxyd genannt; wird er nun mit Wasser in Berührung gebracht, so verbindet er sich mit diesem chemisch zu einem neuen Körper und es wird dabei so viel Wärme frei, daß das dem Aetzkalke zugesetzte Wasser ins Kochen gerät.

Es ist überaus leicht, mit Hilfe von Aetzkalk und Wasser brennbare Körper zu entzünden. Taucht man ein Stück Aetzkalk ins Wasser, nimmt es gleich wieder heraus und umgiebt es mit Holzspänen, so sieht man bald darauf, daß die Späne in Brand geraten. Gießt man 3 Teile Leinöl und 1 Teil Petroleum unter frisch gebrannten Kalk, rührt die Masse um und gießt dann Wasser hinzu, so werden alsbald aus der Mischung Flammen hervorbrechen. Was wir als Versuch mit Absicht ausführen, das bringt mitunter im Leben der Zufall zustande, und so sind seltsame Fälle bekannt, in welchen durch Zufluß von Wasser Schadenbrände verursacht wurden. In der Stadt Celle stand unfern des Bahnhofs eine Scheune, in der zu ebener Erde Tonnen mit gebranntem Kalk lagerten, daneben und darüber aber auf der sogenannten Hille Vorräte von Heu und Stroh. Als nun bei einem Gewitter ein Platzregen niederging, wurde die Scheune überschwemmt; der Kalk begann sich in den Fässern zu löschen, sprengte die Reifen; infolge der entstehenden Hitze entzündete sich das Heu und die Scheune brannte ab. Im Jahre 1874 entzündete sich im Keller eines Geschäftes in New York ein Faß mit ungelöschtem Kalk, da das steigende Grundwasser in dasselbe eindrang. In Königsberg ließ man einen Wagen mit ungelöschtem Kalk unbedeckt im Hofe stehen, über Nacht kam ein Regenschauer und wurde zum Brandstifter – denn er durchnäßte den Kalk und setzte dadurch den Wagen in Brand.

Als ein Beispiel, wie durch physikalische Einflüsse Selbstentzündung zustande kommen kann, möge hier gleich das Verhalten der Holzkohle genannt werden. Wird diese unmittelbar nach dem Ausglühen der Einwirkung der Luft ausgesetzt, so saugt sie in ihren Poren gierig Sauerstoff auf, verdichtet ihn und erhitzt sich derart, daß sie sich zuletzt entzündet. Diese Eigenschaft frisch geglühter oder gerösteter Körper ist nicht nur Fabriken gefährlich; schon im Jahre 1782 wies der Apotheker Rüde in Bautzen auf die Gefährlichkeit solcher Stoffe im Haushalte hin. Damals war im Dorfe Nauslitz im Viehstall Feuer ausgebrochen, und zwar bei Behandlung des kranken Viehs mit gerösteter Roggenkleie. Der Apotheker stellte Versuche an und bewies, daß solche Kleie sich selbst, ähnlich wie frischgeglühte Kohle, entzünden kann.

Nicht immer aber ist die Erklärung der Selbstentzündung so leicht wie in den genannten Fällen; oft bedarf es des Zusammentreffens verschiedener Umstände, bis ein anscheinend harmloser Stoff feuergefährlich wird und von selbst in Flammen aufgeht.

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Sehr viel ist in den Zeitungen von der Selbstentzündung der Baumwolle die Rede. Allein genauere Untersuchungen haben gelehrt, daß in allen Fällen, wo man Selbstentzündung der rohen Baumwolle annahm, der Brand vielmehr durch eine direkte Ursache, einen Funken, ein Zündhölzchen oder dergl. hervorgerufen war und nur infolge des eigentümlichen Verhaltens der rohen Baumwolle gegen das glimmende Feuer nicht rechtzeitig entdeckt werden konnte. Die Baumwolle kann sich von selbst weder im trocknen, noch im durchnäßten Zustande entzünden, wohl aber wird sie selbst entzündlich, sobald sie mit einer Flüssigkeit durchtränkt wird, die Sauerstoff aufnimmt und dadurch Wärme erzeugt. Zu solchen Körpern gehören nun tierische und pflanzliche Oele. Setzen wir Leinöl in einer Schale der Einwirkung der Luft aus, so wird es sich mit dem Sauerstoff der Luft verbinden, aber die dabei erzeugte Wärme wird nicht merklich groß sein, da die Fläche, an welcher sich Luft und Oel berühren, verhältnismäßig klein ist. Gießen wir dieselbe Menge Oel auf einen Haufen Baumwolle, dann wird diese Berührungsfläche ungemein vergrößert, das Oel zerteilt sich auf die zahllosen Fasern und bietet so dem Sauerstoff der Luft zahllose Angriffspunkte. Unter diesen Umständen kann die infolge der Oxydation frei werdende Wärme so stark werden, daß das Oel und mit ihm die Baumwolle sich entzünden. In derselben Weise entzünden sich auch alle anderen mit tierischen oder pflanzlichen Oelen und Fetten getränkten Faserstoffe, wie Flachs, Wolle, Jute etc. Schon Joh. Fr. Krügelstein, der Altmeister unter den Autoren über Feuerlöschwesen, machte in seinem vor etwa hundert Jahren erschienenen „System der Feuerpolizei-Wissenschaft“ auf derartige Selbstentzündungen aufmerksam. „Am 18. Juni 1751,“ schrieb er, „färbte man zu Rochefort einiges Segeltuch mit roter Oelfarbe. Bei der großen Sonnenhitze trocknete es bald. Am 20. abends gegen 4 Uhr packte man es schnell zusammen, weil man einen Platzregen fürchtete. Dieses Tuch, welches 80 Fuß lang war, wurde, als man es wegräumte, mit der angestrichenen Seite aufeinander gelegt und fest zusammengeschnürt, um es im Schiffsmagazin aufzuheben. Den 22. um 4 Uhr wollte sich ein Segelmacher auf diesen Packen niederlegen, fand ihn aber so heiß, daß er es für nötig fand, ihn aus dem Magazin zu tragen und öffnen zu lassen. Und wirklich stieg ein dicker Rauch aus seiner Mitte hervor, wo das Feuer allein gezündet hatte. An den mit Stricken am meisten zusammengezogenen Stellen war das Tuch sogar in Asche verwandelt.“ So der alte Krügelstein, und nach mehr als hundert Jahren wurde in Dinglers Polytechnischem Journal die Mitteilung gemacht, daß in einer Fabrik des sächsischen Erzgebirges nnit Leinöl getränkter Stramin an der Sonne getrocknet und in die Niederlage gebracht wurde, wo sich das Gewebe von selbst entzündete. Man stellte infolgedessen Versuche mit kleineren Proben [604] desselben Stoffes an und erkannte die Selbstentzündlichkeit der frisch gefirnißten Gewebe.

Besonders gefährlich sind namentlich mit Oel und Fett getränkte Lappen. Wo nicht die nötige Vorsicht geübt wird, da können durch ein paar vergessene Putzlappen die schlimmsten Schadenbrände verursacht werden. So brach in Chicago in einem großen Gebäude, in welchem eine Stiefelfabrik betrieben wurde, auf rätselhafte Weise Feuer aus. Der „Chicago Fire Board“ nahm die Untersuchung selbst in die Hand und erkannte auf Selbstentzündung. In dem 4. Stocke befand sich nämlich eine Werkstätte, in welcher die fertigen Stiefel geölt und dann geschwärzt wurden. Das Oel wurde zwar mit Bürsten aufgetragen, doch verwandten die Arbeiter zur Reinigung der Werkzeuge und ihrer Hände Lappen und Stücke weichen Makulaturpapiers, welche sie dann auf den Boden warfen. Am Abend, nachdem die Arbeiter die Fabrik verlassen, wurden die Lappen und Papierstücke von dem reinigenden Mädchen regelmäßig zusammengefegt, mitsamt dem Kehricht und den Lederabfällen in einen hölzernen Kasten geworfen und dieser mittels eines Elevators in den untersten Arbeitsraum hinabgelassen, woselbst das Gemisch unter den Dampfkessel geworfen wurde, um am nächsten Tage verbrannt zu werden. Zwei Tage vor dem Brande aber, an einem Sonnabend, war der Elevator nicht mehr in Thätigkeit und der Kasten blieb mit seiner Füllung im vierten Stockwerk stehen. In der Nacht vom Sonntag auf den Montag entstand das Feuer.

In verschiedenen Städten erließen Polizeibehörden besondere Vorschriften für die Behandlung fettiger Lumpen und Lappen, Putzwolle und mit Oel getränkter Faserstoffe in gewerblichen Betrieben, in Fabriken, bei Lumpen- und Produktenhändlern, trotzdem thut noch Belehrung in dieser Beziehung dringend not. In Berlin allein verursachten in den Jahren 1889 bis 1892 Putzlappen und Putzwolle zweimal einen Brandschaden in Buchdruckereien und dreimal in den Kessel- und Maschinenräumen von Fabriken.

Wird nun Baumwolle in Ballen zufällig mit tierischen oder pflanzlichen Oelen oder Fetten verunreinigt, so wird sie selbstentzündlich. Und in der That sind Baumwollbrände besonders häufig auf Schiffen beobachtet worden, die neben Baumwolle noch mit Oel, Oelkuchen und dergl. befrachtet waren.

Man glaube aber ja nicht, daß fettige Faserstoffe nur in Großbetrieben oder auf Schiffen gefährlich werden können. Döhring berichtet in seinem „Handbuch des Feuerlösch- und Rettungswesens“: Eine mit Oel getränkte alte Pferdedecke wurde in einem Pferdestall über ein Tau gehängt. Am nächsten Morgen schlägt dem Kutscher beim Oeffnen der Stallthür eine helle Flamme entgegen, die Decke hatte sich selbst entzündet, das Tau durchgebrannt und war dann auf den Dielenboden gefallen, der sich in einem bedeutenden Umfange als durchgebrannt erwies. Als Kuriosum sei noch erwähnt, daß sich nach einer Mitteilung der „Deutschen Versicherungs-Zeitung“ in Manchester eine Sofapolsterung von selbst entzündete, die mit Wollabfällen verfälscht worden war. In seinem Werke „Zum Victoria Njansa“ berichtet W. Werther, daß im Lager von Unjangwira in Ugogo sich ein Zelt infolge der Sonnenhitze entzündet habe. Der Fall ist gar nicht unglaublich, ja natürlich, wenn wir nur annehmen, daß die Zeltdecke mit Oel oder Fett beschmutzt war.

Auch fettige Sägespäne neigen zur Selbstentzündung; das hatte bereits vor Jahren der berühmte Chemiker Dr. Graham festgestellt; in einer Reihe von Versuchen, die er zur Aufklärung der Ursachen des Brandes der „Amazone“ anstellte, fand er, daß Sägespäne, die mit ranziger Butter durchfettet waren, sich in 24 Stunden von selbst entzündeten, wenn man sie nach dem Fetten scharf zusammengepreßt hatte. Kein Wunder also, daß in einer Fabrik Sägespäne, die durch Ritzen der Dielen gefallen waren und sich zwischen den Balken anhäuften, sich selbst entzündeten, als sie dort verschüttetes Oel aufsaugten.

Mineralische Oele wie Petroleum neigen dagegen, auch mit Faserstoffen gemengt, zur Selbstentzündung nicht, da sie eben aus der Luft keinen Sauerstoff aufnehmen. Von den Fasern ist die Baumwolle am meisten, Seide und Flachs am wenigsten gefährlich. Von den Oelen stehen Seehundsthran und Leinöl in besonders schlimmem Rufe. Die Selbstentzündung gefetteter Faserstoffe wird natürlich durch die Temperatur der Umgebung beeinflußt, je höher dieselbe ist, desto leichter tritt die Selbstentzündung ein.

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Wir kommen zur Selbstentzündung der Kohle. An die Kohle ist die glorreiche Kultur, der technische Fortschritt unseres Jahrhunderts gebunden; die Kohle treibt die zahllosen Dampfmaschinen zu Lande und zu Wasser. Aber nur unter hartem Ringen können wir dem Schoß der Erde die schwarzen Diamanten entreißen und müssen sie so oft leider mit schweren Opfern an Menschenleben bezahlen! In den Gruben bedrohen den Bergmann die furchtbaren schlagenden Wetter, und wenn die Kohle gefördert und verfrachtet ist, um in ferne Länder verbracht zu werden, dann sind ihre schlimmen Eigenschaften noch lange nicht gebändigt. Schiffsleute, die dem Kohlenhandel dienen, wissen davon zu erzählen. Ihre Schiffe werden durch die schwarze Ladung zu schwimmenden Bergwerken; dann bedrohen Explosionen der Grubengase, die der Kohle entsteigen, den Seemann auf dem unendlichen Meere und unter seinen Füßen lauert in der Kohlenmasse die schlimme Feuersgefahr; denn stets muß er darauf gefaßt sein, daß seine Kohlenladung sich von selbst entzünden kann.

Da segelt im Jahre 1891 das Bremer Vollschiff „Klara“ mit etwa 2300 Tons North-Wales-Dampfkohlen von Birkenhcad nach San Francisko. Auf dieser Fahrt muß es die Gegenden von Kap Horn passieren, die bei den Seeleuten berüchtigt sind, da in ihnen viele Kohlenschiffe zu Grunde gehen oder verschollen bleiben. Rio de Janeiro wird passiert, als am 13. November das britische Schiff „Duntrune“ in Sicht kommt. Es ist auch ein Kohlenschiff; es hat aber bereits Feuer in der Ladung und hält sich in der Nähe der „Klara“. 500 Tons Kohle werden von dem Engländer über Bord geworfen; der Kapitän glaubt, das Feuer gelöscht zu haben, und die Schiffe setzen getrennt ihre Reise fort. Auf der „Klara“ wird man inzwischen besorgt; in der Kohlenladung sind eiserne Röhren angebracht, die senkrecht in die Tiefe gehen; man versenkt in dieselben Thermometer und macht die trübe Wahrnehmung, daß die Kohlen sich erwärmen, ihre Temperatur beträgt, bereits 44,5° C. Es wird darum alles mögliche aufgeboten, um möglichst gute Ventilation im Laderaum herzustellen. Das Kap Horn wird umsegelt und die „Klara“ muß stark gegen westliche Winde kämpfen, aber es gelingt doch, die Temperatur der Kohlen auf 40,5° C. herabzudrücken, und als das Schiff den Großen Ocean erreicht, fällt die Temperatnr der Kohlen sogar auf 37° C. Die Gefahr ist aber doch noch nicht abgewendet und nun erst sollen sich die Folgen des schweren Arbeitens des Schiffes bei Kap Horn zeigen. Am 4. Januar 1892 bemerkt die Mannschaft Brandgeruch und aus den drei Luken beginnt ein leichter Rauch aufzusteigen, während zugleich ein starker Gasgeruch sich wahrnehmen läßt. Feuer im Schiff! Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß die Ladung in Brand geraten ist, und nun wird der schwierige Kampf gegen das furchtbare Element eröffnet. Aus der großen Luke wird die Ladung über Bord geworfen und die Mannschaft arbeitet die Nacht durch, um an den Brandherd zu kommen; aber Qualm und Hitze steigen und am andern Morgen müssen die Kohlen mit Wasser begossen werden. Alles menschliche Ringen war indessen vergeblich, ein großer Teil des Unterraumes stand in Feuer und am 6. Januar war es wegen der großen Hitze und des Qualms nicht mehr möglich, im Raum zu arbeiten; so wurde das Schiff beigedreht, sämtliche Luken wurden gedichtet, die Boote klar gemacht und mit Proviant versehen. Der letzte Akt des Dramas sollte sich nun abspielen: in der Nacht schleuderten die Gase die große Luke empor, wobei ein raketenartiges Funkensprühen begann. Gegen Mittag des 7. Januar brachen endlich die hellen Flammen hervor und bald darauf war das Schiff vorn eine Feuersäule; nun wurden die Boote zu Wasser gebracht und die „Klara“ verlassen. Ein schauerlicher Anblick war es, als Fockmast und Marsstangen über Bord gingen; denn mächtige Feuergarben stiegen noch aus dem Schiffe und gewaltige Rauchsäulen bedeckten den Himmel. – Die Mannschaft wurde glücklich gerettet, das eine Boot begegnete einem englischen Viermaster, während das andere nach sechzehn Tagen Fahrt auf Tahiti landete.

Leider laufen die Brände der Kohlenschiffe nicht immer so glimpflich ab, sondern sind häufig mit schweren Verlusten an Menschenleben verknüpft; außerordentlich viele Kohlenschiffe bleiben verschollen, und nur die wenigsten von ihnen dürften vom Sturm zerstört sein, die meisten sind zweifellos als Opfer der Selbstentzündung der Kohlen zu betrachten. Im Kohlenhandel nach Ost-Afrika gingen nach einer amtlichen englischen Zusammenstellung im Laufe von sieben Jahren nicht weniger als 39 Schiffe verloren, von denen 24 verbrannten und 15 vermißt wurden; die Zahl der dabei verloren [605]

Sevillaner Stickerinnen.
Gemälde von E. Gabelsberger.


gegangenen Menschenleben betrug 375. Dr. L. Häpke hat für die Jahre 1889 bis 1892 die Nachrichten über Unglücksfälle auf Kohlenschiffen gesammelt und gefunden, daß in dieser Zeit 7 Kohlenschiffe gänzlich verbrannten, 2 mit brennender Ladung in einen Nothafen einliefen und 8 verschollen blieben. Diese Trauerliste darf aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

Auf welche Ursachen sind nun diese Selbstentzündungen der Kohlen, die man auch auf dem festen Lande in größeren Kohlenlagern, in Gasanstalten, Fabriken u. s. w. beobachtet, zurückzuführen?

Schon Justus v. Liebig wies darauf hin, daß der Gehalt der Kohlen an Schwefel und Eisen die Gefahr der Selbstentzündung besonders erhöhe. Manchmal sind die Kohlen von Schwefel- und Wasserkies derart durchsetzt, daß sie wie Messing glänzen. Diese Kiese zersetzen sich nun an der Luft, indem der Schwefel sich mit dem Sauerstoff verbindet und der Kies in schwefelsaures Eisen umgewandelt wird, wobei Wärme entwickelt wird. Dieser Vorgang wird beschleunigt, wenn die Kohlen feucht geworden sind oder wenn die Kohle zu klein zerfallen ist. In der That lehrt die Erfahrung, daß die meisten Selbstentzündungen auf Kohlenschiffen in der feuchtwarmen Luft der Tropen vorkommen. Anderseits erklärt sich das Häufen der Schiffsbrände in der Gegend vom Kap Horn dadurch, daß die Schiffe gegen widrige Winde kämpfen müssen, wobei die Kohle in der Ladung zerkleinert wird und geringere oder größere Mengen Wasser in den Laderaum dringen.

Die Kiese sind aber nicht die alleinige Ursache der Selbstentzündung; Dr. Otto Volger sucht dieselbe in der porösen Beschaffenheit der Kohle, wodurch die Luft in ihr verdichtet wird und eine Erhitzung zu stande kommt.

In England und Deutschland wurden von seiten der Behörden die eingehendsten Untersuchungen über diese Selbstentzündungen angestellt und verschiedene Vorschriften erlassen, die nur für den Fachmann von Interesse sind; aber man kann leider nicht sagen, daß infolge dieser Bemühungen die Zahl der Schiffsbrände dieser Art abgenommen hätte. Besser ist dagegen der Erfolg in der Bekämpfung der Gasexplosionen auf Kohlenschiffen.

Jede Kohle ist mehr oder weniger mit brennbaren Gasen, namentlich mit dem sogenannten Grubengas, gesättigt. Dieses Gas entweicht durch Risse und Spalten aus der Kohle; mischt es sich mit 8 bis 10 Teilen Luft, so entsteht ein höchst gefährliches Gemenge, das, durch einen Funken oder Licht entzündet, eine furchtbare Explosion verursacht. Beim Verladen und während der Seefahrt wird die Kohle zerkleinert und das Gas kann nun leichter aus den frischen Rissen und Spalten entweichen. Es sammelt sich im Laderaum an und kann auf dem Schiffe ebenso wie in Bergwerken eine Explosion herbeiführen. Diese Explosionen sind bald geringfügig, bald aber so gewaltig, daß das Schiff starke Beschädigungen erleidet und Menschen verwundet oder getötet werden. Das deutsche Reichsamt des Innern hat vor einiger Zeit eine Schrift herausgegeben, in welcher Mittel zur Verhütung der Gasexplosionen angegeben sind. Laut derselben darf das Kohlenlager des Schiffs nur mit einer zuverlässigen Sicherheitslampe betreten werden; eine Ventilation innerhalb der Kohlenmasse muß unterbleiben, weil dadurch die Zersetzung der Kohlen begünstigt wird, wohl aber muß eine kräftige Oberflächenventilation eingeleitet werden, um die zwischen Kohlen und Deck sich sammelnden brennbaren Gase zu entfernen. Auch ist die Thatsache festgestellt worden, daß die Explosionsgefahr bei abnehmendem Luftdruck wächst, darum muß die Beobachtung eines Barometersturzes den Schiffer zur doppelten Vorsicht mahnen.

Die Selbstentzündungen der Kohle, die auf dem Lande vorkommen, sind weniger bedeutungsvoll, da sie Menschenleben nicht bedrohen und ihre Bekämpfung sich leichter gestaltet. Sie ereignen sich nur dort, wo Kohlen, in größeren Mengen aufbewahrt, hoch geschichtet werden und den Einflüssen von Wind und Wetter ausgesetzt sind. Als besonders selbstentzündlich erwiesen sich in Berlin die Preßkohlen oder Briquetts, denn in drei Jahren wurden [606] 45 solcher Selbstentzündungen beobachtet und zwar nicht nur auf den Kohlenlagerplätzen an Bahnhöfen, sondern auch in den Schuppen und Kellern der Kohlenhändler in den verschiedensten Stadtteilen. Ferner wurde auch festgestellt, daß Kohlenzünder, die aus harzigen Massen und Sägespänen bereitet werden, sich von selbst entzünden. Die Fabrikanten der Briquetts und der Kohlenzünder müssen schon in eigenem Interesse auf die Fabrikation dieser Brennmaterialien die größte Sorgfalt verwenden. Das große Publikum sollte jedoch wissen, daß diese Stoffe unter Umständen sich von selbst entzünden können, und sie darum zweckmäßig aufbewahren.

Schließlich sei noch der Kohle in Gestalt von Ruß gedacht. Kienruß und Beinschwarz werden zu vielen Fabrikationszwecken benutzt. Als fein verteilte Kohle saugen sie begierig Gase und namentlich den Sauerstoff auf; sie neigen darum sehr zur Selbstentzündung und werden höchst gefährlich, wenn man sie, mit Oel vermengt, stehen läßt. Im Jahre 1781 fand, um ein geschichtliches Beispiel anzuführen, im Hafen von Kronstadt der Brand der Kriegsfregatte „Marie“ statt. Hier war es die Kaiserin Katharina, welche aus dem Umstande, daß in einer Kajüte mit Oel befeuchteter Kienruß, in Segeltuch eingeschlagen, aufbewahrt worden war, zuerst und richtig auf Selbstentzündung schloß.

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Auf chemischem Wege kann der Mensch eine große Anzahl von Stoffen herstellen, die sich von selbst entzünden, sei es, daß sie sich allein überlassen bleiben, sei es, daß sie mit anderen Stoffen gemischt werden. Diese Selbstentzündungen werden namentlich in der Fabrikation von Feuerwerkssätzen gefürchtet. Wir wollen nur ein Beispiel dieser Art anführen. Gemenge von salpetersaurem Strontian oder Baryt, Schwefel und chlorsaurem Kali entzünden sich, wenn sie aus frisch bereiteten und zugleich scharf getrockneten Materialien dargestellt sind, ganz gewiß von selbst innerhalb weniger Stunden, namentlich wenn sie an einem etwas feuchten Orte aufbewahrt werden. Diese Entzündung beginnt mit der Entwicklung eines orangefarbigen Gases; dann zerfließt die Masse an mehreren Stellen; ein zischendes Geräusch wird hörbar, gleichzeitig wird die Entwicklung des Gases stärker und der ganze Satz entzündet sich.

Ein Unglücksfall, der sich jüngst ereignet hat, zeigt, daß auch beim Verschreiben von Recepten mitunter Vorsicht wegen der Selbstentzündung und Explosion nötig ist. Ein Arzt verschrieb ein Pulver, in dem sich auch chlorsaures Kali und Saccharin befinden sollte; der Apotheker rieb die Stoffe, dabei entzündete sich das Pulver und verbrannte dem Apotheker die Hände.

Doch wir wollen noch einige Selbstentzündungen von allgemeinerem Interesse besprechen. Unsere Leserinnen wird gewiß die Selbstentzündlichkeit der Seide befremden. Aber sie besteht in der That. Der Fabrikant kann Seidenstoffe derart zurichten, daß sie zur Selbstentzündung stark neigen. Um Seide schwerer zu machen, pflegt man sie mit Rostbeize zu behandeln, und die Kunst ist so weit gediehen, daß in einem Stück Seidenstoff, das vier Pfund wiegt, nur ein Pfund Seidenfaser, wohl aber drei Pfund Rostbeize vorhanden sind. Diese Beize besteht aus Katechu, Galläpfeln und schwefelsaurem Eisen und neigt, auf Faserstoffe gebracht, zur Selbstentzündung. Eine solche Seide hat schon wiederholt Feuersbrünste in Seidenmagazinen verursacht. Vor längeren Jahren entzündeten sich mehrere Ballen solcher französischer Seide auf dem deutschen Schiffe „Mosel“ und ungefähr zu derselben Zeit ging in einem New Yorker Packhause ein Posten Seidenfabrikat in Feuer auf. Die Untersuchung ergab, daß die beiden feuergefährlichen Seidenposten aus einer und derselben Fabrik stammten. Einmal hat sich auch ein Posten Seidenwaren beim Transport auf der Eisenbahn entzündet; die Untersuchung zeigte diesmal, daß die Ware mit pikrinsaurem Blei gefärbt war. Dieser Körper explodiert leicht; entzündete man die mit prikrinsaurem Blei gefärbte Seide, so brannte sie manchmal mit heller Flamme; durch Reiben an Steinen gelang es oftmals, diese Seide zu entzünden, worauf sie von selbst nicht erlosch, sondern weiter unter Knistern verglomm. Die Fülle von neuen Körpern, mit welchen wir von der Chemie überschüttet werden, gereicht nicht immer zum Vorteil, mancher Stoff muß nach trüben Erfahrungen als giftig oder feuergefährlich verpönt werden.

Die Fülle der neuen chemischen Körper bereitet auch dem Sachverständigen vor Gericht mitunter schwere Sorgen. Da wird z. B. ein Kranker mit irgend einem stärkenden Spiritus eingerieben und der Unglückliche geht dabei in Flammen auf und stirbt an Verbrennung. In der darauf folgenden Gerichtsverhandlung kann nicht festgestellt werden, daß jemand mit brennendem Lichte oder Zündholz in die Nähe des Kranken gekommen ist; nun entsteht die Frage, ob eine Selbstentzündung vorliegt. Es ist uns nicht bekannt, daß reiner Spiritus sich jemals von selbst entzündet hätte, aber es ist schwierig, mit Bestimmtheit zu erklären, wie sich eine mit verschiedenen Stoffen versetzte Spiritusmenge beim Verreiben verhalten kann. In Anbetracht solcher schwierigen Fragen ist es oft lehrreich, von der Höhe unserer Zeit in die Tiefen der Vergangenheit zurückzublicken. Und so möchten wir nunmehr im Verlauf dieser gedrängten Mitteilungen den Lesern über ein zwar veraltetes, aber doch in geschichtlich-wissenschaftlicher Hinsicht höchst lehrreiches Kapitel, das der Selbstverbrennung des menschlichen Körpers berichten.


Aus dem Familienleben der Kraniche.

Der Wirklichkeit nacherzählt von Joachim von Dürow.

Dem Rittergutsbesitzer v. K. auf S. in Ostpreußen wurde eines Tages ein flügellahm geschossener Kranich eingebracht und die Familie, die für allerlei Getier stets ein offenes Herz hatte, empfing den Ankömmling mit Freuden. Man setzte ihn in den umfriedeten Park, in dem das Tier in möglichster Freiheit seine Genesung abwarten konnte, während für die Ernährung in der Art gesorgt war, daß den Jungen des Dorfes für jeden Frosch ein Pfennig zugesichert wurde. Da nahte sich denn manch’ einer, in dessen leinener Hosentasche es bedeutungsvoll krabbelte!

Anfangs vor jeder Annäherung ängstlich fliehend, begann der von Natur so scheue Vogel bald dem Vertrauen in die Menschheit Raum zu geben. In immer engeren Kreisen nahte er sich den Hausbewohnern, und bald fand man es natürlich, daß, sobald die Familie sich in der Veranda versammelte, der Kranich an der zu derselben führenden Treppe Posto faßte. Er nahm Brot und Fleisch ohne Umstände aus der Hand, wobei der scharfe Blick, mit dem er denjenigen fixierte, der sich bei der Fütterung etwa saumselig zeigte, peinlich berührte. –

Nachts über hielt sich der Kranich, der übrigens wie so viele zahmen Haustiere auf den Namen „Hans“ hörte, auf einem Beine stehend im Teiche auf, diesem tagsüber als Pferdeschwemme benutzten Gewässer im Verein mit Mondschein und Wasserrosen zu einer etwas trügerischen Poesie verhelfend. –

Ein geräumiger Verschlag im Schafstall diente als Winterquartier, und mit behaglichem Schnarchen begrüßte der Kranich den täglichen Besuch der Töchter des Hauses, während er sich dem diese begleitenden Teckel oder einem sich etwa vordrängenden Schaf durchaus nicht wohlgesinnt zeigte, insofern ein scharfer Schnabelhieb derlei Leute sofort belehrte, daß sie hier durchaus nichts zu suchen hätten.

Wenn nun auch ein ungewöhnlich zeitiges Frühjahr bald wieder den Aufenthalt im Garten gestattete, so war es mit dem ersten Zug Wandervögel doch um Ruhe und Frieden des Kranichs geschehen; als gar eines Tages ein Kranichzug in der bekannten Dreiecksform über den Garten hinstrich, stürzte der Vogel wie rasend von einer Seite des Parkes zur andern; – er rief, er lockte in Tönen, wie man sie noch niemals von ihm vernommen hatte – bald lang gezogen, bald scharf hinausgestoßen – und siehe da, es kam eine Antwort aus der Luft.

Die Feldarbeiter beobachteten, daß ein Vogel sich von der Kette löste und zurück blieb. Man sah ihn sich auf das hinter dem Garten liegende Brachgefild niederlassen, worauf andern Tages der Gärtner mit der Meldung kam, daß zwei Kraniche sich in den einsamen Gartenpartien ergingen. Der eine sei wegen kleinerer Statur und wegen weniger lebhafter Färbung der Wangen augenscheinlich ein Weibchen.

Der Fremdling blieb da. Jeden Tag sah man ihn, immer von dem alten gelockt, dem Bereiche des Hauses näher kommen, worauf es wie ein Jubelruf durch die Familie ging, als eines Morgens beide Kraniche vor den Stufen der Veranda standen – der Gast jedoch um einige Schritte zurück.

Wie gewöhnlich empfing Hans sein Futter aus der Hand der Hausfrau, warf aber die Fleischstückchen sofort nach rückwärts der Gattin zu, umkreiste sie mit leise lockendem Tone, und erst wenn er sich überzeugt, daß sie nach langem Zögern das Futter aufgenommen, machte er sich selber an die Mahlzeit.

Dieses ritterliche Benehmen hielt Hans übrigens fest, denn niemals war sie zu bewegen, das Futter direkt aus der Hand zu nehmen oder ohne Zureden seinerseits zuzulangen.

Das Zusammenleben beider Tiere wurde nun zu einer Idylle, deren Beobachtung den Sommer für die Familie in angenehmster Weise ausfüllte. – Täglich flog das Weibchen für einige Stunden fort und der Gatte fand sich, dem Freiheitsdrang der Gefährtin Rechnung tragend, geduldig in das Unvermeidliche. Sobald sie sich aber länger als gewöhnlich da draußen aufhielt, bemächtigte sich eine furchtbare Unruhe des [607] Gefangenen; die fettesten Frösche verachtend, jagte und hastete er durch den Garten, bis ein Ruf, meist schon aus weiter Ferne, die Heimkehr der Treulosen verkündete. Sofort änderte sich das Benehmen des Kranichs, und stolz einherwandelnd, trug er eine erhabene Gleichgültigkeit zur Schau; – er strafte sogar die Sünderin durch vollständiges Nichtbeachten ihrer Person, trotzdem sie demütig jedem seiner stolzen Schritte folgte, bis mit der sinkenden Sonne der Tanz der Beiden auch die Versöhnung brachte.

Dieser Tanz wurde folgendermaßen ausgeführt:

Zunächst sprang man mit gleichen Füßen und ausgespannten Flügeln, sich gegenseitig in der Leistung überbietend, einige Minuten lang vor einander in die Luft. Dann jagten die großen Vögel in entgegengesetzter Richtung, wieder mit ausgespannten Flügeln, um ein Boskett, neigten sich tief voreinander, sobald sie sich begegneten, nebenbei durch das schallende Gelächter der Hausbewohner und etwaiger Gäste eher angefeuert als eingeschüchtert. Die Whistpartie, die die biedern Landonkel vereinigte, der Pferdehandel im entscheidenden Augenblick, die Klavierstunde der Töchter, alles wurde unterbrochen, sobald der Ruf ertönte: Die Kraniche tanzen!

Durch die groteske Komik der Sprünge ging dann wieder ein Zug der Galanterie, wenn die Tänzer im Vorbeistürmen eine Blume köpften, sich diese im hohen Bogen zuwarfen und dann sich wieder höflich voreinander neigten.

So ging der Sommer in Lust und Leid dahin, bis mit den ersten Herbstanzeichen der Wandertrieb des Weibchens in bedenkliche Konkurrenz mit der Pflicht trat. Immer länger wurde ihr tägliches Ausbleiben, trotzdem Hans sich keine Mühe mehr gab, seine wachsende Angst und Sorge zu verbergen.

Unruhig streiften die Vögel durch den im Laube schon stark gelichteten Garten als die ersten Oktoberstürme die alten Ulmen schüttelten. Wie dann abermals ein Kranichzug über den Garten gen Süden zog, stieß der fremde Vogel einen scharfen Schrei aus, hob sich im unbezwinglichen Drange des Anschlusses an die Gefährten hoch in die Lüfte empor – und fort war er. –

In wilder Verzweiflung durchbrach der Zurückgebliebene das Gehege des Parkes. Er lief bis in ein nahes Gehölz, in dem es den zu seiner Verfolgung abgesandten Leuten gelang, das sich wie rasend gebärdende Tier nach heftigem Kampfe zu ergreifen; nach hartem Kampfe – denn das rechte Bein war im Gelenk gebrochen und aus dem Halse lief Blut. – Die Kugel von der Hand des Hausherrn brachte der äußern und innern Qual ein rasches Ende. –

Als dann das Brausen des Frühlings wieder durch die Föhren ging und alle die erwachenden Stimmen der Natur das Menschenherz mit Sehnsucht zu füllen begannen, erklang auch wieder der wohlbekannte Ruf, mit dem im vorigen Sommer das Kranichweibchen schon von ferne seine Ankunft zu verkünden pflegte. Hoch über dem Garten sah man sie die Kreise enger und enger ziehen – sie ließ sich nieder, durcheilte die Gänge in wilder Hast, sprach andern Tages noch einmal vor und dann – kam sie nicht mehr.


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Die braune Marenz.

Erzählung von Charlotte Niese.

Als wir Kinder waren, zählte die braune Marenz zu unseren Freundinnen. Zwar gab es Leute, die behaupten wollten, die braune Marenz sei kein vorteilhafter Umgang für uns. Aber man muß sich nicht immer danach richten, was die Leute sagen, sondern thun, was einem selbst gefällt. Und da uns die braune Marenz wirklich gefiel, so sprachen wir mit ihr so oft, wie wir ihr begegneten.

Sie war übrigens gar nicht braun, sondern hatte ebenso rote Wangen wie wir. Niemand nannte sie die braune Marenz als wir allein, und wir hatten ihr diesen Namen gegeben, weil sie immer nur ein braunes, sehr häßliches Kleid trug. Aus dem war sie herausgewachsen; sie hatte es nämlich zur Konfirmation erhalten und nun war sie neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Damals war es vielleicht auch nicht mehr neu gewesen: nun hatte es unzählige Löcher.

„Marenz, ziehe doch einmal ein anderes Kleid an,“ sagten wir zu ihr, als selbst unsern immerhin anspruchslosen Augen das Gewand etwas zu schadhaft erschien – und die also Aufgeforderte lachte, wobei sie ihre weißen Zähne zeigte.

„Wenn ich ein anner Kleid hätt, dann hätt ich es all lang angezogen!“

„Giebt Deine Mutter Dir denn kein neues Kleid?“ fragten wir weiter und Marenz lachte noch mehr.

„Was Ihr doch dumm seid! Ich habe Euch schon ein paarmal gesagt, daß ich aus’n Armenhaus komme und kein Vater hab und kein Mutter! Wo sollt ich da neue Kleiders herkriegen?“

„Aber Du dienst doch! Bekommst Du denn keinen Lohn?“

Marenz sah nachdenklich aus.

„Lohn krieg ich woll; abers was der Bäcker is, wo ich bin, der hat gesagt, die Kost wär das meiste, was er geben thät. Ich brauch denn auch Toffeln[1] und Strümpfens, und ein Unterrock mußt ich mich neulich auch noch kaufen! Auf’n Jahrmarkt, in die Bude bei die Frau aus Kiel. Mit’n feinen roten Band an, und das is gleich abgerissen! Nee, Geld zum Kleid hab ich nich!“

Sorgenvoll gingen wir nach Hause. Es mußte doch unangenehm sein, nur ein Kleid zu haben, wo wir doch selbst aus eigener Erfahrung wußten, wie leicht einem Kleidungsstücke etwas ankommen kann!

Allerdings erklärten unsere erwachsenen weiblichen Familienmitglieder, sie hätten nichts zum Verschenken und ihre Schränke seien leer – aber wir setzten es dennoch durch, nach einigen Tagen mit einem ziemlich großen Bündel vor dem Bäckerladen erscheinen zu können, wo Marenz gerade die Straße fegte.

Sie hatte ihr zerrissenes Kleid hoch aufgeschürzt und bei jeder Bewegung wehte ein langes rotes Band, dessen Heimat der Unterrock aus Kiel zu sein schien, hinter ihr her. Aber sie sang mit heller Stimme ein lustiges Lied, und als sie uns kommen sah, lief sie uns einige Schritte entgegen.

„Wir haben ein Kleid für Dich, Marenz!“ bemerkte ich wichtig.

Mit einem Freudenschrei riß sie mir das Paket vom Arm.

„Ein Kleid? O, was seid Ihr für Engels, Engels, Engels! O, was forn Farbe sollt es woll haben? Is da woll ein büschen Rot und Grün ein?“

Rot und Grün! Du lieber Gott! Unsere alte, gute Tante, die ledigen Standes war und die sich bescheiden, wie es einer Jungfrau ziemt, in die dunkelsten Farben kleidete, hatte sich das Kleid für uns gewissermaßen vom Leibe gerissen. Es war, wie sie sagte, so gut wie neu und erst fünf Jahre alt! Seine Farbe war ein tiefes Dunkelbraun mit schwarzen Punkten darin und sein allgemeiner Eindruck ein etwas düsterer.

Als es in seiner ganzen dunklen Pracht aus dem Paket kam, konnte Marenz denn auch einen kleinen Schrei der Enttäuschung nicht unterdrücken.

„Du meine Zeit!“ seufzte sie. „Furchbar fein is es und den Stoff scheint prachvoll – wenn ich abers doch einmal in mein irdischen Leben ein buntes Kleid kriegte. Bloß einmal! In Armenhaus hatt ich ümmer ein dunkelblaues an und wie ich die Gööse[2] in Staberdorf hütete, kriegt ich mal ein dunkellilares von die Bäurin! Und denn das braune, was nu so slecht is und denn dieses! Das is noch das swärzeste von alle Kleiders!“

Marenz weinte jetzt ein wenig. Nicht gerade viel, aber doch so, daß wir es sehen konnten. Uns war ihre Betrübnis ganz verständlich, denn wir mochten helle Farben auch lieber leiden als dunkle – und wir hätten sie gern getröstet.

„Dunkle Kleider sind sehr gut!“ bemerkte mein Bruder Jürgen. „Man kann die Flecke nicht so deutlich darauf sehen. Ich hatte neulich eine weiße Hose an; aber als ich ein bißchen auf dem Rasen saß, wurde sie gleich grün, und Mama schalt mich aus!“

„Wenn Du mal Trauer bekommst,“ sagte ich jetzt, „dann hast Du gleich ein dunkles Kleid und brauchst Dir keins zu kaufen!“

Marenz lachte schon wieder.

„Wo sollt ich woll Trauer herkriegen, wo ich nich mal ein Großmutter mehr hab?“

„Nee, sie hat nix nich auf die Welt!“ mischte sich jetzt die dicke Bäckersfrau ins Gespräch. Sie stand plötzlich in der Hausthür und hatte wohl unsere Verhandlungen mit angehört. „So’n arme Deern! Denkt noch an bunte Farbens, wo sie Gott danken kann, wenn sie überhaupt was auf’n Leib und in den Leib kriegt! Bedank Dir, Marenz!“

Frau Bäckermeister Olten war eine Dame, die wir uns lieber aus der Ferne betrachteten, als daß wir in der Nähe mit ihr sprachen. Sie sollte nämlich nicht allein ihren Mann, sondern auch ihre Dienstboten prügeln und einmal einen Käufer aus dem Laden geworfen haben, weil er behauptete, das Brot sei alt. Wir empfanden daher mehr Respekt als Liebe für Frau Olten und wir [608] liefen jetzt ohne weiteres davon, ohne auf Marenz zu achten, die uns mit zitternder Stimme einige Dankesworte nachrief.

Einige Tage später trug sie aber das neue Kleid und sah viel ordentlicher aus als sonst. Sie konnte aber jetzt wirklich nicht mehr verhindern, daß auch andere Leute sie die braune Marenz nannten.

Sie lachte darüber, wie sie denn überhaupt niemals lange ernsthaft sein konnte.

„So’n komischen Namen!“ sagte sie eines Tages zu mir, als sie mir mit ihrem kleinen Brotwagen begegnete. Zweimal in der Woche, gerade so oft wie Oltens backten, mußte Marenz aufs Land, um das Brot in den Dörfern zu verkaufen.

„So’n drolligen Namen!“ wiederholte sie noch einmal. „Wo ich doch Emmerentia Kathrine getauft bin, und gar nix Braunes an mich is!“

Und sie strich sich die goldfarbigen Haare hinter die Ohren.

„Du hast hübsche Namen!“ bemerkte ich und sie nickte.

„Vater is auch mit’n Drehorgel gegangen und hat ein Bild gehabt, mit’n Brudermord auf!“ sagte sie nicht ohne Stolz. „Und was mein Mutter war, die hat allens, was bei die Mordthat passiert is, gesungen. Wunderhübsch is es gewesen und mannichein hat dabei geweint, wenn er die Geschichte gehört hat und is auch hinterher graulich gewesen. Die Leute ins Armenhaus haben mich das verzählt, wo Vater und Mutter auch gestorben sind. Mutter is noch ganz jung gewesen; abers sie is doch totgeblieben und ich bin allein nachgeblieben!“

„Du mußt Dir Geld sparen!“ begann ich in ermahnendem Tone. Eine Tante von mir, die ich um einen Schilliug für Bonbons gebeten hatte, hatte mich kürzlich mit dieser Antwort abgefunden und ich fand es jetzt an der Zeit, sie zu verwerten.

Marenz nickte vergnügt.

„Ich hab was!“ sagte sie geheimnisvoll. „In mein Strumpf in Bettstroh steckt es! Willst mein Geld mal sehen?“

Natürlich wollte ich dies. Am liebsten wäre ich gleich mit Marenz umgekehrt; aber sie mußte aufs Land fahren und hatte keine Zeit mehr für mich. In den nächsten Tagen sollte ich aber einmal nachmittags kommen. Dann schlief Frau Olten, konnte uns also nicht stören und Marenz wollte mir ihren Schatz zeigen.

An den folgenden Tagen hatte ich irgend etwas verbrochen und durfte nicht ausgehen. Es dauerte also ungefähr eine Woche, ehe ich Marenz besuchen konnte, und meine Brüder Jürgen und Milo begleiteten mich. Jürgen, weil er mit seiner gewohnten Ungläubigkeit an Marenz ihrem Strumpfe zweifelte, und Milo, weil er niemals einen Strumpf voll Geld gesehen hatte und diese gute Gelegenheit, seine Wißbegierde zu befriedigen, doch nicht vorübergehen lassen konnte.

Wir waren alle drei in ziemlich feierlicher Stimmung und Marenz, die allein im Laden saß und nähte, sah uns ganz überrascht an.

„Nu, Kinners, wo seht Ihr aus? Habt Ihr einen begraben?“

„Wir wollen Deinen Strumpf sehen,“ sagte ich. „Deinen Strumpf voll Geld.“

Marenz lachte etwas verlegen.

„Besten Kinners – ich hab keinen Strumpf voll Geld!“

„Aber damals –“ begann ich vorwurfsvoll, doch sie unterbrach mich eilig.

„Ja dazumal! Dazumal hatt ich ein büschen Geld in mein Strumpf – nu is das allens natürlichenweise fort! Wo kann man sein Geld auch so lang verwahren! Geiz is die Wurzel von allen Uebel! sagt der Pastor in die Konfirmatschonsstunde!“

„Was hast Du denn mit dem Gelde gemacht?“ fragten wir nicht wenig enttäuscht und sie sah uns alle Drei mit glänzenden Augen an.

„Soll ich Euch mal weisen, was ich mich gekauft hab for mein Geld? Denn kommp man snell mit mich nach oben, abers ganz leise, daß meine Ohlsch nich aufwacht!“

Wir huschten hinter ihr die steile Bodentreppe hinauf und standen bald in einem ärmlich eingerichteten Stübchen. Dort auf dem elenden Bett lag ein sehr buntes Kleid. Ich glaube, alle Farben vom Regenbogen hätte man darin finden können.

„Das is mein Ballkleid!“ sagte Marenz mit vorstellender Handbewegung. „Morgen abend geh ich zu Ball mit Johann Kühl! Er hat mir eingeladen und will mir freihalten, denn da is Angträ bei das Ball. Herrens zwölf Bankschillinge und Damens die Hälfte! Und weil ich doch nich in das braune Kleid tanzen kann, hab ich mich ein Ballkleid gekauft. Is es nich prachvoll? Alle Farbens auf einmal ein, und denn noch ganzen billig, weil kein ein es haben wollte und Kaufmann Ohrts es nich loswerden konnte! Oh – was freue ich mir auf den Ball und auf das feine, feine Kleid!“

Sie schlug die Hände immer wieder zusammen vor Freude, und dann mußten wir das Kleid befühlen und sagen, daß es ein schöner Stoff sei und daß er aussähe wie Seide, obgleich es nur Kattun war.

Aber wir fühlten uns doch enttäuscht, weil wir den Strumpf mit Geld und kein Kleid hatten sehen wollen, und Jürgen gab seinen Gefühlen Ausdruck:

„Weißt Du, Marenz, es wäre doch besser gewesen, wenn Du das Geld behalten und Dir später etwas dafür gekauft hättest!“

Marenz machte große Augen.

„Warum soll ich mich nu nix kaufen, wo Johann Kühl mir freihalten will und ich noch niemalen auf’n Ball gewesen bin? Auf’n Ball mit Angträ und Punsch und Kuchens und mit Musik? Ins Armenhaus war niemalen ein Ball und wo ich die Gösselns hütete, auch nich! Und jeden Tag muß ich um Klock vier aufstehen und hab so viel zu thun – kann ich da nich mal auf’n Ball gehen, wo Johann Kühl mir freihält?“

Hierauf wußten wir nun nichts zu erwidern und bewunderten noch einmal das Kleid, ehe wir fortgingen. Aber als wir zu Hause erzählten, wie Marenz ihre Ersparnisse angewandt hatte, da gab es doch Leute, die ihren Leichtsinn sehr tadelten und ihr nichts mehr schenken wollten. Besonders eine ältere Tante, die bei uns zum Besuch war, konnte sich gar nicht über den Leichtsinn der heutigen Jugend beruhigen und sagte, wir dürften nicht mehr mit Marenz umgehen.

„Dürfen wir denn gar nicht mehr mit ihr sprechen?“ klagte ich.

„Nein!“ sagte Tante Klementine mit großer Entschiedenheit; Mamas Herz aber war gottlob noch nicht ganz hart geworden. Sie meinte, wenn Marenz uns anredete, sollten wir ihr nur immerhin antworten; es wäre aber besser, wenn wir sie nicht mehr besuchten.

„Im Armenhaus hat sie niemals tanzen können!“ murmelte ich noch einmal – aber mir wurde gesagt, daß ich schweigen solle.

Als ich nach einigen Tagen Marenz begegnete, begrüßte ich sie also mit einiger Zurückhaltung. Sie aber nickte mir fröhlich zu.

„Oh Kind, was is das Leben schön! Was war es fein und wie hab ich getanzt! Von abends Klock sieben bis morgens Klock fünf und denn mußte ich wieder an die Arbeit! Nee doch! Was zu schön is, das is zu schön!“

Ihre Augen funkelten vor Lebenslust und ich konnte unmöglich ernst bleiben.

„War Dein Kleid denn hübsch?“ fragte ich, und sie sah mich fast verächtlich an.

„Hübsch? Das war einfach großartig – kein Engel im Paradies konnt feiner sein! Johann Kühl sagt das auch!“

„Der hat Dich freigehalten, nicht wahr?“

Die braune Marenz nickte. Dann lachte sie ein wenig und wurde rot.

„Denk Dich – der mag mir leiden!“

„Wirklich? Will er Dich noch einmal freihalten?“

„Ja – das auch woll – abers er mag mir leiden! Er möcht woll, daß ich sein Frau würde. Noch nich, weil er nix hat – abers, wenn er mal was hat!“

„Du hast ja auch nichts, Marenz!“

„Nee –“ sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Nee – haben hab ich nix – abers wir könnten ja warten! Hannes Bergmann sagt, warten is slimm!“

„Wer ist Hannes Bergmann?“

„Nu – das is Hannes, der so viel mit mich tanzte, was Johann nich mochte. Hannes kann so prachvoll Galopp tanzen! So ganzen prachvoll! Und er hat ein silberne Uhr, ganz von echten Silber und er hat mich gesagt, wenn ich ihm nähme, denn dürfte ich auch die Uhr jedweden Tag aufziehen! Nachts hängt sie an die Wand und ich kann ihr ankucken so lange ich will!“

„Will Hannes Dich denn auch heiraten?“ fragte ich.

„Er sagt sowas – ich glaub, er macht Witzens!“ erwiderte Marenz lachend. Dann schlug die Uhr vom Kirchturm und sie griff nach der Deichsel ihres kleinen Handwagens.

„Du liebe Zeit, da slägt es all vier und ich soll noch Brot nach zwei Dörfers bringen!“

Jürgen, dem ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit diese

[609]

Heimwärts.
Zeichnung von Fr. Leuschner.

[610] Unterredung erzählte, kannte sowohl Johann Kühl wie Hannes Bergmann.

Ersterer war Bootsknecht in dem kleinen, unweit der Stadt gelegenen Hafen und Hannes Bergmann war Großknecht bei Herrn Hermenstein, einem wohlhabenden Landbesitzer. Ihre Bekanntschaft zu machen, war auch für mich nicht schwer, und als wir eines Tages am Hafen waren, fanden wir Johann Kühl mit dem Teeren seines Bootes beschäftigt. Er war groß und blond, mit vielen Sommersprossen und etwas schläfrigen Augen. Als ich ihn fragte, ob er später einmal Marenz heiraten wolle, wurde er sehr verlegen und wendete sich ab, ohne ein Wort zu erwidern. Das fanden wir nun nicht nett von ihm – uns hätte er doch gern seine Absichten mitteilen können; aber er schien über diesen Punkt andere Ansichten zu haben.

Hannes Bergmann war eigentlich mehr nach unserem Geschmack. Der zeigte uns gleich seine große silberne Uhr, und als wir ihn fragten, ob er Marenz leiden möchte, entgegnete er lachend, daß er sie sehr nett fände. Auch hatte er zwei braune Pferde, die einen Leiterwagen zogen, und er bot uns an, uns durch die Stadt spazieren zu fahren, ein Anerbieten, das wir sofort annahmen.

Auf einem federlosen Leiterwagen über holpriges Straßenpflaster zu fahren, ist bekanntlich eine der angenehmsten Bewegungen und bei dieser Gelegenheit wurde uns jeder Gedanke an Marenz aus dem Kopf gestoßen.

Wir sahen sie auch eine lange Zeit gar nicht – wahrscheinlich hatte sie mit ihren Fahrten aufs Land viel zu thun und mußte noch dazu im Hause viel schaffen.

Es war in den Herbstmonaten gewesen, als wir das Kleid von Marenz bewundert hatten; dann kam Weihnachten mit seinen vielen Freuden und dann der Januar, der Monat, in dem unser Großvater, der Beamter war, sehr viel zu thun hatte. Es wurden nämlich die Geldgeschäfte der ganzen Insel dann in Ordnung gebracht, Erbschaften ausbezahlt, Schuldverschreibungen eingelöst und alle Zinsen beglichen. Jede Zahlung mußte aber in dänischen Speziesthalern gemacht werden, einem Geldstück, das ungefähr den Wert von vier heutigen Reichsmark hatte. Mein Großvater hatte sehr viel mit diesen Geldgeschäften zu thun – er verwaltete verschiedene große Kapitalien und mußte zu Zeiten sich viel Geld vorzählen lassen.

Unter den Hofbesitzern, die viel Geld auszahlen mußten, befand sich auch der reiche Herr Dorning, der im Westen der Insel wohnte.

Wir kannten Herrn Dorning nicht genau und würden niemals von ihm gesagt haben, daß er unser Freund sei – aber wir begrüßten ihn, wo wir ihn sahen, und er sprach dann einige nachlässig freundliche Worte mit uns. Auch seine Frau kannten wir nur aus der Entfernung und sie war uns immer interessant gewesen, weil es keinen Menschen gab, der so fest in der Kirche schlief wie sie. Kaum hatte sie sich gesetzt, so legte sie den Kopf auf die Brust, und ihr leises Schnarchen begleitete Gesang und Predigt mit solcher ruhigen Gleichmäßigkeit, daß alle Kirchenbesucher nur erstaunt waren, wenn sie nicht schnarchte und nur leise atmete. Seit einiger Zeit aber fehlte Frau Dorning unter den Kirchenschläfern und das kam daher, weil sie nun für immer unter dem grünen Rasen des Kirchhofes schlief.

Ihr Mann hatte ihr, wie es sich gehörte, eine stattliche Leichenfeier mit sehr viel Torten und Wein ausrichten und auf ihr Grab ein schönes Granitkreuz setzen lassen. Auf diesem Kreuz befand sich außer einigen Bibelsprüchen auch ein Schmetterling, der uns Kinder sehr in Verwunderung setzte. Wir hatten niemals an einen Schmetterling gedacht, wenn wir die dicke und sehr schwere Frau Dorning sahen, und wir konnten auch nicht verstehen, was die Großen uns darüber sagten.

Als Herr Dorning mit seinem Gelde bei unserem Großvater vorfuhr, hatte es gerade einige Tage sehr stark geschneit und der Schnee lag hoch. Herr Dorning kam daher auch in einem Schlitten, der aussah wie ein altes Bett und der mit Stroh ganz angefüllt war. Der reiche Hofbesitzer sollte manchmal überhaupt geizig sein, wie wir schon gehört hatten – jedenfalls aber hatte seine Sparsamkeit ihre Früchte getragen.

Wie der Schlitten vor unserem großelterlichen Hause hielt und Dorning ausstieg – Jürgen und ich standen gerade vor der Thür – wühlte er ein wenig im Schlittenstroh herum und zog dann vier schwere Beutel mit Geld heraus, die er auf die Hausthürschwelle setzte und uns darauf aufforderte, wir sollten sie nur stehlen. Wir versuchten die Beutel zu heben, aber das ging nicht; sie waren zu schwer und Dorning lachte laut auf.

„Na seht Ihr woll, Kinners – mit Geld könnt Ihr noch nich umgehen! Nich mal tausend Spezies könnt Ihr heben!“

Er ergriff einen Beutel und hielt ihn im steifen Arm. Da er groß und stark war, konnte er es wirklich und lachte selbstgefällig.

„Ja, so is es – mit Geld versteh ich mir noch! Krischan,“ wandte er sich an seinen Kutscher, „lang’ nu auch noch den annern Beutel her, wo die achhunnert ein sind. Der muß unter mein Sitz stehen!“

Krischan, dessen Pferde unser Kutscher Hinrich hielt, wühlte im Stroh, bis er einen sehr roten Kopf bekam.

„Dor is nix mehr!“ murmelte er endlich und Herrn Dornings Gesicht wurde etwas blaß.

„Wo, was? Is der Büdel nich da, mit die achhunnert Spezies ein? Krischan, besinn Dir!“

Krischan besann sich, kratzte sich hinter den Ohren, seufzte, kaute einen Strohhalm nach dem andern und warf alles Schlittenstroh in den Schnee. Es half aber nichts – der Beutel mit den achthundert Spezies war fort. Herr Dorning fluchte auf plattdeutsch und hochdeutsch und dann fiel ihm ein, daß der Schlitten einmal umgeschlagen sei. Es war nicht schlimm gewesen, der Schlitten hatte gleich wieder gerade gestanden, aber es konnte doch bei dieser Gelegenheit der Beutel in den weichen Schnee gefallen sein.

Als Herr Dorning erst auf diesen Gedanken kam, ließ er schnell die vier großen Beutel mit Thalern in Großvaters Kontor bringen und jagte dann mit seinem Schlitten wieder nach der Stelle, wo der Unfall passiert war. Heinrich, einer meiner ältern Brüder, und Jürgen fuhren mit. Dies Suchen auf offener Straße hatte natürlich viele Menschen, besonders Frauen mit Kindern auf dem Arm, herangezogen, und alle Menschen sahen auf die Straße, als wenn sie dort die achthundert Speziesthaler finden könnten. Die lagen aber weder auf der Straße, noch dort, wo Herrn Dornings Schlitten umgeschlagen war. Unverrichteter Sache kehrten alle nach etlichen Stunden eifrigen Suchens wieder und Herr Dorning soll sehr schlechter Laune gewesen sein, als er das andere Geld bei meinem Großvater aufzählte.

Mein Großvater riet ihm, das Geld durch den Ausrufer „ausklingeln“ zu lassen und dem ehrlichen Finder eine gute Belohnung zu versprechen. Er aber hatte verdrießlich den Kopf geschüttelt.

„Weg is weg, Herr Justizrat! Wer achhunnert Thalers auf die Landstraße findet, der behält ihnen auch. Na, und versmerzcn kann ich es – Sie wissen, ich bin ein reicher Mann!“

Diesen Trost hatte er sich öfters wiederholt, und dabei war es geblieben.

Aber auf der ganzen Insel wußten doch bald alle Menschen, welchen Verlust Herr Dorning erlitten habe und wie ruhig er ihn trüge. Sogar das „Wochenblatt für Intelligenz und Unterhaltung“ brachte einen langen Bericht über das einem der geschätztesten Mitbewohner widerfahrene Mißgeschick und wir Kinder dachten darüber nach, was wir anfangen wollten, wenn wir so viel Geld fänden. Denn daß wir es behalten würden, erschien uns selbstverständlich.

Einen ganzen Monat lag der Schnee und die Brüder hatten sich eine Schneehütte gemacht, in der sechs Personen sitzen konnten. Sie sprachen davon, einen Anbau zu machen und dann eine Abendgesellschaft für die Erwachsenen zu geben, bei der jeder Geladene mindestens ein halbes Pfund Chokolade oder ebensoviel Kuchen mitbringen solle, als das Tauwetter kam. Dies kam uns sehr ungelegen und wir konnten den lieben Gott nicht recht begreifen. Wir hatten ihn jeden Abend gebeten, er möge uns den Schnee und den scharfen Frost noch recht lange lassen, damit wir unser Schneehaus behalten könnten, und nun that er nicht, was wir wollten!

Wir fühlten uns von ihm geradezu schlecht behandelt und ich sagte dies auch zu Marenz, der ich den folgenden Tag im feinen Tauregen begegnete.

Sie patschte durch den aufgeweichten Schnee, schob ihren Brotwagen vor sich her und trug das braune Kleid unserer Tante. Aber es war nicht mehr sehr gut erhalten. Sie trug weder ein Tuch um die Schulter, noch eins um den Kopf und ihre Hände waren rot und verschwollen.

Ich betrachtete sie denn auch mit einigem Mißfallen.

[611] „Du bist gar nicht hübsch heute, Marenz! Und nicht einmal ein Tuch trägst Du?“

„Ich hab ja kein!“ sagte ae etwas wehmütig. „Kuck mal, was die Menschen verschieden sind! Du willst, daß der liebe Gott den Frost beibehält, und ich hab ihm gebeten, daß er Tauwetter schickt. Weil daß mir bei Frost furchbar frieren thut und ich auch noch ganzen geswollene Fingers kriege!“

„Bitte ihn doch, daß Du ein wollenes Tuch bekommst!“ riet ich und sie lachte etwas zweifelnd.

„Das thut er nich – nee, das thut er nich! Mein Ohlsch, die Oltensch, sagt das auch. For mir thut uns’ Herrgott nix, weil daß ich mein Geld forn sündiges Ballkleid ausgegeben hab. Frau Olten sagt, sie hätt mich vielleich ein Tuch zu Weihnachen geschenkt, wenn ich nich so fors Tanzen gewesen wär! Nu hat sie das sein lassen, denn Hoffart muß Pein leiden, sagt sie! Nu, da hab ich natürlichenweise den lieben Gott nich um ein Tuch bitten mögen, weil ich ja einsah, daß ich nix taug. Bloß um Tauwetter. Das hab ich gethan.“

„Hast Du schon einmal wieder getanzt?“ fragte ich und Marenz schüttelte den Kopf.

„Nee! Den zweiten Weihnachstag wollt Hannes Bergmann mir mit haben, abers ich kriegte kein Erlaubnis. Is auch einerlei – aus Hannes mach ich mich nich viel und so fein wie dazumal kann es doch nich wieder werden! O – und was tanzte er fein Galopp!“

Sie war samt ihrem Wagen im Sprühregen verschwunden und ich watete durch den tiefsten Schnee nach Hause, um dort den Brüdern zu sagen, daß das Tauwetter auch sein Gutes haben könnte. Aber sie rieten mir, den Mund zu halten, wenn ich es nicht mit ihnen verderben wollte.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.


Ein wichtiger Erinnerungstag für die Stadt Braunschweig war der 6. August dieses Jahres. An diesem Tage vor 700 Jahren starb daselbst Heinrich der Löwe, der eigentliche Gründer der Stadt. Der leidenschaftliche Kämpe für die Vorherrschaft des Welfenhauses in Deutschland war es, der die zusammenhanglose Siedelung an der Oker „Brunesvik“, d. h. Brunos Weiler, zu einer befestigten Stadt erhob.

Das Standbild Heinrichs des Löwen im Dom zu Braunschweig.

In der Pfalz zu Braunschweig, die er selbst in der Zeit von 1150 bis 1160 an Stelle der Burg Dankwarderode erbauen ließ, war des Herzogs liebster Aufenthalt, wenn er sich nicht auf einem seiner zahlreichen Heerzüge befand. Der herrliche alte Dom zu Braunschweig ist, wie andere Kirchen und Kapellen der Stadt, seine Stiftung. 1172, nach seiner Rückkehr aus dem gelobten Lande, legte er den Grund zu ihm und kurz vor seinem Tode – 1192 – war er vollendet. Im Mittelschiff des Domes hatte er das Grabdenkmal errichten lassen, das noch heute eine Hauptsehenswürdigkeit Braunschweigs bildet und unter welchem er neben seiner Gemahlin Mechtildis die ewige Ruhe fand. Die lebensgroße, liegende Sandsteinfigur, auf dem Grabgewölbe, welches ihn darstellt, in einer Hand das Modell des Doms haltend, stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus etwas späterer Zeit. Aelter der Entstehung nach, aber wie jene in romanischem Stil ausgeführt, ist das Standbild aus Sandstein und Alabaster, das sich auch in dem Dome und zwar auf dem Chore befindet und den schlachtenfrohen Sachsenherzog mit gezücktem Schwert in der Hand darstellt. Die Abbildung, welche wir von diesem Standbild nebenstehend unsern Lesern bieten, ist nach einer neuerdings gemachten Aufnahme des Hofkunsthändlers George Behrens in Braunschweig angefertigt.

Eine Beratung. (Zu dem Bilde S. 597.) Wer je das vielgelesene Buch „Memoiren von Marie Bashkirtseff“ in Händen hatte, der wird mit besonderem Anteil die beifolgende Gruppe kleiner beratschlagender Straßenjungen betrachten. Ist es doch eines jener Bilder, um welche sich die glühende junge Menschenseele abrang, im heißen Streben nach Realismus, nach packender Wahrheit, nach Ueberflügelung aller mitstrebenden Künstlerinnen. Alle diese Ziele standen schon der sechzehnjährigen vornehmen und reichen Russin fest vor Augen, ihre in jenem Alter begonnenen Tagebücher sind ein einziger großer Schrei nach Ruhm, nach unzweifelhaftem Erfolg, und im fieberhaften Arbeiten hat sich in Zeit von kurzen acht Jahren das hochbegabte, seltsame Mädchen aufgerieben. Der heißersehnte Ruhm ist ihr geworden, aber nicht durch ihre Bilder, welche, hübsch und lebendig aufgefaßt, sich doch nicht von denen vieler anderer der modernen Richtung unterscheiden, sondern durch die oben erwähnten Memoiren. Dort wird mit fester Hand und rücksichtsloser Offenheit das höchst merkwürdige Charakterbild einer genialen leidenschaftlichen Künstlernatur gezeichnet, die zugleich alle Schwächen eines eitlen gefallsüchtigen Weltkindes hat und dieselben mit einer erstaunlichen Genauigkeit darlegt. Nach Mariens frühem Tode wurden diese Tagebücher durch ihre darin oft hart genug mitgenomenene Mutter veröffentlicht, und heute ist der dort so oft und glühend ausgesprochene Wunsch erfüllt: Marie Bashkirtseff ist eine europäische Berühmtheit geworden, deren wenige Bilder von Ausstellung zu Ausstellung wandern. Sie sind für eine Anfängerin sehr bemerkenswert, wer weiß, ob nicht bei längerem Leben ihre Sehnsucht nach bedeutendem Künstlerruhm sich voll erfüllt hätte! 0Bn.     

Ein Skat in der Gartenlaube. (Zu dem Bilde. S. 600 und 601.) Eiee herrlicher Sonntagnachmittag hat die ganze Familie in den Garten gelockt. Und der ständige unterhaltsame Sonntagsgast, welcher zur Species der „Vettern“ gehört, hat sich gern angeschlossen. Nach kurzem Gang über die kiesbestreuten Wege umfängt sie wohlthätig die schattige Laube. „Hier müßte es sich brillant Skat spielen lassen,“ äußert der „Vetter“, ein leidenschaftlicher Skatspieler, halb für sich, halb zu seiner liebreizenden Nachbarin gewandt. Diese ist nicht so träumerisch veranlagt und so anspruchslos wie ihre Schwestern, nicht so belesen wie der Bruder, dafür aber von praktischer Lebensauffassung und Schlagfertigkeit. „Wir spieleee mit,“ stimmt sie belustigt bei, ohne die Sache ernst zu nehmen, „nicht wahr, Mutter, Du auch?“ „Natürlich!“ giebt diese beruhigend zurück. Aber siehe da – zu Aller Ueberraschung zieht der spiellustige „Vetter“ ein vollzähliges Spiel Karten aus der Tasche! Schnell wird der Skattisch hergerichtet, die nötigen Zahlmarken – denn um Geld zu spielen, erlaubt die Hausordnung nicht – werden herbeigeholt und das Spiel beginnt wirklich. Wie es verläuft? Nun, man braucht keine Lenormand zu sein, um das Kommende vorauszusehen. „Schön Bäschen“, das eben „Grand“ ansagt und neben dem Coeurbuben auch die anderen drei in der Karte hat, muß das Spiel ja – so wollen wir zu ihrer Ehre annehmen – gewinnen. Aber der „Vetter“ wird dabei auch nicht verlieren, er wird die kleine weiße Hand seiner Gegnerin, die so siegesgewiß den Kartenfächer zwischen sich und ihn hinhält, schließlich doch gefangen nehmen und fürs ganze Leben festhalten. Und die Eltern, die schon jetzt so vergnüglichen Anteil an dem Spiele nehmen, werden, wenn es erst Ernst zwischen den beiden da werden wird, gewiß nicht mit unfreundlichem Auge dreinschauen, sondern mit Freuden ihr Jawort geben. M. H – g.      

Sevillaner Stickerinnen. (Zu dem Bilde S. 605.) „Wer Sevilla nicht gesehen, hat ein Wunder nicht gesehen,“ sagt ein altes spanisches Sprichwort, und wenn dies auch nur für den Spanier, der so wenig von der Außenwelt kennt, seinem ganzen Inhalt nach als richtig gelten kann, so ist es doch nicht zweifelhaft, daß auch kein Ausländer, der sich noch Empfänglichkeit sür den Reiz eigenartiger landschaftlicher und kultureller Eindrücke bewahrt hat, sich dem Zauber entziehen kann, den Sevilla ausübt. Es bietet jedem etwas, das ihn anziehen muß. Der Geschichtskenner sieht sich überall an die große Rolle erinnert, die Sevilla im Laufe des zweitausendjährigen historischen Lebens von Spanien gespielt hat. Der strenge Gläubige, ob er Katholik oder Protestant sei, kann sich dem gewaltigen Eindruck nicht verschließen, welchen die Kathedrale auf jeden Besucher machen muß. Der Naturfreund, der Maler, der Musiker, der Dichter, der Tourist finden die größte Anregung. Wer aber könnte vollends unempfindlich bleiben bei dem Anblick der eingebornen Sevillanerinnen? Spanien ist reich an schönen Frauen und die Eigenart des Landes sowie die ungewöhnlich starke Völkermischung haben dazu beigetragen, eine außerordentliche Fülle verschiedenartiger Typen zu schaffen, die zum Teil sehr bedeutend voneinander abweichen. Die junge Sevillanerin wird von vielen als die erste Vertreterin spanischer Frauenschönheit betrachtet; jedenfalls vereinigt sie in sich viele der Reize, die man bei den Frauen anderer Provinzen nur vereinzelt vorfindet. Das Feuer der dunkeln Augen, der Ausdruck der überwiegend ernsten Gesichtszüge, die zierlichen Gestalten, die kleinen Hände, die natürliche Anmut der gemessenen Bewegungen bilden die Faktoren der Anziehungskraft der Sevillanerin. Sie bedarf keiner künstlichen Mittel, keiner kostbaren Stoffe und Schmucksachen, um ihre Reize zu heben. Eine Rose, eine Nelke, einige Tuberosen oder andere Blumen [612] sind die einzige und die schönste Zierde ihres schwarzen Haares. Ein Umschlagtuch, meist aus feinem Woll- oder Seidenstoff, mit langen Fransen versehen und schön gestickt, gehört gewissermaßen zur Kleidung und wird, wie wir es auf unserem Bilde sehen, selbst bei der Arbeit und im Hause nicht abgelegt. Daß es den Sevillanerinnen an Fleiß nicht fehlt, das sehen wir in der großen Cigarrenfabrik, in der 6000 Frauen beschäftigt sind, das sehen wir aber auch, wenn wir in die Häuser treten, und die Feinheit der berühmten Stickarbeiten beweist uns die Sorgfalt, mit der die Sevillanerin arbeiten kann – wenn sie will. Der Künstler zeigt uns auf seinem Bilde einige dieser Mädchen des Mittelstandes bei ihren Stickrahmen und in der Umgebung, welche, für den Fremden namentlich, auch so außerordentlich anziehend ist. Die in arabischem Stil verzierte Truhe, die mit den gemusterten maurischen Kacheln versehene Wand, das glaslose hölzerne Fenster erinnern hier an den Orient, an den mächtigen Einfluß der arabischen Kultur. G. Diercks.     

Der Knivsberg von Norden gesehen.

Ein „deutscher Verein“ in Deutschland zum Schutze und zur Förderung des Deutschtums – das klingt befremdlich, und doch giebt es in der That einen solchcn im „meerumschlungenen“, „stammverwandten“ Schleswig-Holstein, jenem deutschen Lande mit deutscher Sprache und Sitte, das seit 30 Jahren zum Königreich Preußen gehört und dessen Söhne todesmutig vor 25 Jahren auf den Schlachtfeldern Frankreichs ihr Leben einsetzten für das große deutsche Vaterland und begeisterungsvoll mitkämpften für die Wiederherstellung des Deutschen Reiches. Und in diesem Lande war die Gründung eines Vereins zur Wahrung des Deutschtums eine unabweisbare Notwendigkeit, denn die an sich ruhige, gesetz- und ordnungsliebende Bevölkerung Nordschleswigs war im Laufe der Zeit durch dänischc Agitatoren und die unermüdliche Wühlerei einer deutschfeindlichen Presse derart gegen alles, was deutsch heißt, aufgestachelt, daß schließlich die Deutschen im eigenen Lande als die Geduldeten lebten und deutsche Gesinnung über den Schwachen Verfolgung und Aechtung heraufbeschwor.

Es würde zu weit führen, hier eingehend jene unerträglichen Zustände zu beleuchten, welche die Vaterlandsfreunde endlich zu einem festen Zusammenschließen gegen den Feind im Lande zwangen.

Schon 1889 hatte in Lügumkloster der damalige Amtsrichter Schwartz einen „Deutschen Verein“ gegründet, um der verhetzenden, aufreizenden Thätigkeit eines dänischcn Agitators aus Flensburg energisch zu begegnen.

Dieser Ortsverein war durch seinen Gründer so vorzüglich organisiert, daß er sich schnell weiter und weiter ausbreitete und fast unmittelbar nach der Gründung schon Früchte des Zusammenschlusses zeitigte. Die Stimmenzahl der Deutschen wuchs bei der Reichstagswahl 1890 erheblich, und bei der Kirchenwahl, d. h. der Wahl von Gemeindevertretern, in dem Maße, daß zum erstenmal deutsche Vertreter gewählt wurden. Wo aber die Dänen in den Kirchenkollegien die Majorität besitzen, hindern sie jede Konzession an das Deutschtum, wie das Anbringen von Gedenktafeln für die im Kriege Gefallenen, die Einführung deutscher Gottesdienste etc.

Die Erfolge des Vereins in Lügumkloster wurdcn bekannt, und von einem sehr rührigen Mitglied, dem Pastor Jacobsen in Scherrebek, ward der Plan gefaßt, den Verein über das ganze nördliche Schleswig auszubreiten. Am 19. November 1890 traten im Dorfe Toftlund 48 Patrioten zusammen und gründeten einen „Deutschen Verein für das nördliche Schleswig“, der wesentlich die Satzungen des ursprünglichen Vereins annahm, sich aber etwas anders organisieren mußte. Der Sitz dieses Vereins ist Hadersleben. In größeren Orten und ländlichen Bezirken hat der Verein Ortsabteilungen, deren Vorsitzende zum Gesamtvorstande gehören. Der Verein umfaßt das ganze nördliche Schleswig und eine Reihe von Städten Südschleswigs und Holsteins.

Nach seinen Satzungen wirkt er durch straffe Organisation der reichstreuen Elemente und durch thätiges Eingreifen bei allen Wahlen, durch Errichtung von Volksbibliotheken, durch populäre Vorträge, durch Unterstützung und Förderung der reichstreuen Presse im nördlichen Schleswig. Sieben Bibliotheken besitzt er jetzt und diese erfreuen sich reger Benutzung. Von deutschen Buchhändlern und Privatleuten sind dem Verein Bücher umsonst überlassen worden. Eine Tageszeitung in dänischer Sprache, aber von deutscher Haltung wird kleinen Leuten kostenlos zugcsandt. Ein Kalender in dänischer Sprache ist seit 2 Jahren erschienen. Von jetzt ab giebt der Verein einen solchen in deutscher Sprache und einen in dänischer Sprache heraus.

Die Grundsteinlegung des Bismarckturms auf dem Knivsberg in Nordschleswig.
Nach einer Photographie von Willy Wilcke in Hamburg.

Dann wurde eine Darlehnskommission errichtet, weil deutschgesinnten Handwerkern und Bauern von den Dänen Darlehne nur gegeben wurden, wenn sie sich der Wahlen enthielten oder im vaterlandsfeindlichen Sinne wählten. Allein mehr noch als die Darlehnskommission wirkt eine von dem Pastor Jacobsen in Scherrebek errichtete Kreditbank im nationalen und socialen Sinne gemeinnützig. Der Anfang dieser Bank war klein. Der Umsatz ist aber von 59000 Mark im ersten Jahre auf 2800000 Mark gestiegen. Jm Jahre 1893 ging die Kreditbank mit dem Bau von Arbeiterwohnungen vor. In diese setzte sie deutsche Handwerker, denen zum Teil auch Rohmaterial und Maschinen auf genossenschaftlichem Wege beschafft wurden. Der Einfluß dieses Vorgehens zeigte sich bald: während in den achtziger Jahren in Scherrebek 4 deutsche gegen 130 dänischc Stimmen abgegeben wurden, fielen 1893 schon 67 auf den deutschen, 77 auf den dänischen Kandidaten. Alle Sturmläufe der Gegner gegen die Thätigkeit Jacobsens und seine Person nützten nichts.

Und wie Jacobsen im Westen, so wirkt die Ansiedlungskommission im Osten, die zwar nicht über Geldmittel verfügt, aber mit Rat und That deutschen Landleuten zur Hand geht bei Ankauf von Landstellen im nördlichen Schleswig.

Wie der „Deutsche Verein“ die Deutschen in den wenigen Jahren gcsammelt hat, zeigte sich besonders bei den Knivsbergfesten im vorigen Sommer und am 4. August d. J. Zu Tausenden waren da die Gesinnungsgenossen nach dem Knivsberg bei Apenrade, dem höchsten Punkt Schleswigs, geströmt, um hier die 25jährige Feier des ersten deutschen Sieges zu begehen und zugleich den Grundstein zu legen für den vom Verein geplanten Bismarckturm.

„Wir wollen dieses einst so deutsche Land für das Deutschtum wieder zurückerobern,“ sagte der Landrichter Schwartz, der Gründer des Vereins, in seiner Festrede am 4. August d. J. „Das aber wollen wir nicht als Gegner der nordschleswigschen Bevölkerung, sondern als ihre Freunde, wir wollen sie nicht bekämpfen, sondern bekehren. Bekämpfen wollen wir nur das, was nicht hinein gehört in die deutschen Lande, dessen Duldung der Bevölkerung mit Recht als schwächliche Nachgiebigkeit erscheinen muß. Unsere Gegner sind vor allem die, welche unter dem Schutze deutscher Gesetze alles, was deutsch ist, schmähen und beleidigen.“

In diesen Worten sind die Bestrebungen des Vereins kurz und trefend charakterisiert und sie werden nicht ungehört verhallen. Mögen sie im Reiche manchen Gesinnungsgenossen dem Verein zuführen, damit, was 1864 mit dem Schwerte erkämpft wurde, durch Wort und That ganz erworben werde. Meldungen zur Mitgliedschaft nimmt der Schriftführer des Vereins, Gymnasialoberlehrer Schröder in Hadersleben, entgegen.


Inhalt: Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (2. Fortsetzung). S. 597. – Eine Beratung. Bild. S. 597. – Ein Skat in der Gartenlaube. Bild. S. 600 und 601. – Die Frage der „Selbstentzündung“. Von C. Falkenhorst. I. S. 603. – Sevillaner Stickerinnen. Bild. S. 605. – Aus dem Familienleben der Kraniche. Der Wirklichkeit nacherzählt von Joachim von Dürow. S. 606. – Die braune Marenz. Erzählung von Charlotte Niese. S. 607. – Heimwärts. Bild. S. 609. – Blätter und Blüten: Ein wichtiger Erinnerungstag für die Stadt Braunschweig. Mit Abbildung S. 611. – Eine Beratung. S. 611. (Zu dem Bilde S. 597.) – Ein Skat in der Gartenlaube. S. 611. (Zu dem Bilde S. 600 und 601.) – Sevillaner Stickerinnen. Von G. Diercks. S. 611. (Zu dem Bilde S. 605.) – Ein „deutscher Verein“ in Deutschland. Mit Abbildung. S. 612.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Pantoffeln.
  2. Gänse.