Die Gartenlaube (1895)/Heft 52
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Nr. 52. | 1895. | |
Die Lampe der Psyche.
(Schluß.)
Zwei Tage nachher saß Magda zum erstenmal wieder bei der Arbeit. Sie wollte sich zwingen, thätig zu sein, und ihre kleine Freundin gab ihr einen Anlaß dazu.
„Weißt Du,“ hatte Sibylle mit der ihr eigenen Offenheit gesagt, „malen thust Du mir ja doch ’was zur Hochzeit. Und da möchte ich lieber ’ne ganze Menge Kleinigkeiten haben. Das füllt so nett. Tambourin und Kuhglocke und ein paar Gläser, oder eine Bocksbeutelflasche und so ’was. Alles billig und niedlich, wie es für ’ne Lieutenantswohnung paßt.“
Das kam Magda gerade recht. Indem sie an Spielereien sich versuchte, gewann sie vielleicht wieder Geschmack an der Arbeit.
Nun hatte sie eine kupferne Kuhglocke vor sich auf dem Tische und malte mit einer großen Emsigkeit eine Schweizerlandschaft
[878] darauf, einen kleinen See, von dem aus rings Tannenwald aufstieg, den graue und weiße Gipfel überragten. Es war die Landschaft, die ihr Glück gesehen. Ihre Erinnerung sah keine andere, kannte keine andere, ihre Erfindungsgabe konnte keine andere schaffen.
Langsam füllten sich ihre Augen mit Thränen.
Sie hob den Zipfel ihrer grauen Malschürze und wischte sich die Augen aus. Sie malte weiter. Aber wieder stieg es ihr naß in die Augen und sie legte die Palette hin, stützte die Ellbogen auf und legte weinend ihr Gesicht gegen die gefalteten Hände.
Mit einem Male schrak sie zusammen. An der Thür hatte sich etwas gerührt. Sie mochte ein Klopfen überhört haben. Wenn irgend jemand sie weinen sähe! Sie sprang auf und wandte sich um.
„René!“ schrie sie.
Ja, da war er. Mit strahlendem Angesicht kam er herein und warf ein großes Paket, das er unter dem Arme getragen, auf den nächsten Stuhl. Er breitete die Arme aus und umfaßte Magda stürmisch. „Da bin ich!“ rief er, „da bleib’ ich! Nun ist alles gut – alles – alles!“ Er bedeckte ihr Gesicht mit Küssen und sah sie dazwischen an wie ein zärtliches und glückliches Kind. Seine Freude war ganz unbefangen und ganz ungetrübt. Endlich aber mußte er fühlen, daß sie wie leblos seine Küsse duldete, und endlich bemerken, daß sie ganz bleich aussah.
Solche Mienen hat die Freude nicht.
„Magda,“ bat er ängstlich, „verdirb uns nicht die Stunde! Was hast Du? Zürnst Du mir? Weil ich Dich damals, an jenem schrecklichen Morgen, heimschickte? Aber sieh, ich bin so ein Mensch – ich muß in der Stille mit mir fertig werden – weißt Du, wie die Tiere im Walde, die sich auch verstecken, wenn sie leiden.“
„Daß Du mich an jenem Morgen wegschicktest,“ sagte Magda mühsam und hielt die Augen niedergeschlagen, weil sie sich vor den seinen fürchtete, „das that mir weh! Ganz fürchterlich weh! Aber schließlich – es ließ sich verstehen – es handelte sich um eine Sache, die ich nicht wissen durfte – von der man damals noch nicht wissen konnte, wie sie ausging. Aber, daß Du auch nachher ...“
„Was nachher?“ fragte er, faßte ihre beiden Oberarme an und sah ihr bezwingend in das Gesicht. Aber ihre Lider blieben gesenkt. Sie fühlte, daß sie vor seinem zärtlichen Blick ihre Haltung verlieren würde.
„Nachher las ich, daß Du Urlaub genommen habest. Ich dachte, Du wärest geflohen. Dann hörte ich, Du seiest hier. Und da – da ... Ich will es nicht mehr ertragen! Wenn Du mich vierzehn lange Tage entbehren konntest, Tage, in denen Du, von Sorgen verzehrt, von Angst und schrecklichen Gedanken gefoltert, ein unthätiges, trauriges Leben geführt haben mußt, wenn Du da nicht, in solchen Stunden, meine Nähe brauchtest, dann brauchst Du mich überhaupt nicht. Wenn ich nicht mit Dir leiden soll, will ich auch nicht mit Dir glücklich sein!“
Es war gesagt! Nun war es aus. Dies mußte er begreifen!
Aber René nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände, küßte ihr die zusammengepreßten Lippen, die sich ihm durchaus nicht öffnen wollten, und sagte:
„Aber ich habe ja gar nicht gelitten, so wie Du Dir das denkst!“
Sie sah ihn an, zum erstenmal. Und unter seinem leuchtenden, zärtlichen Blick röteten sich ihre Wangen. „Du hast nicht gelitten?“ fragte sie unsicher. Und erinnerte sich doch, damals sein Gesicht verzerrt von Schrecken gesehen, sein Herz bang und schwer klopfen gehört zu haben.
René richtete sich auf. „Schweigen wir von den Stunden, bis ich wußte: er lebt! Dann begann das Ringen!“
Er ging an den Stuhl, auf welchen er das große Paket geworfen. Er nahm es sorglich auf und trat damit an das Fenster.
„Komm!“ sagte er.
Magda kam zögernd näher. Sie sah, daß René einen großen dicken Folioband von dem grauen Papier befreite.
Und René legte den Band auf den Tisch, indem er einfach alle Gegenstände zurückschob, wobei die arme Kuhglocke mit der Schweizerlandschaft auf die volle Palette fiel und alle Pinsel auf die Erde rollten. Er schlug das Buch auf und deutete mit dem Finger auf die Worte, die groß die erste Seite schmückten.
„Was steht da?“
Magda glaubte nicht zu sehen, was doch ihre Augen deutlich sahen.
Da stand: „Meiner teuren Magda gewidmet.“
Er schlug um. Das weiße Papier knisterte und blähte sich.
„Und da?“ fragte er, seinen Arm um Magda legend.
Auf der zweiten Seite stand: „Filippo Lippi, Musikdrama in drei Aufzügen von René Flemming.“
Magda wich zurück. Sie sah auf das Buch und auf René und wieder auf das Buch. „Das – das ist – doch nicht ...“ stammelte sie.
„Das ist mein fertiges Werk und heut’ in fünf Wochen führen wir es auf!“ rief er jubelnd.
Magda legte die Hand vor die Stirn. Sie bewegte den Kopf – langsam – schüttelnd – als müsse sie verneinen, was sie da sah, als könne es nicht sein, als stehe sie vor Unfaßbarem.
„Du hast – arbeiten können?“ fragte sie endlich.
„Und wie! Es war eine gesegnete Zeit!“
„Und – und die Sorge – trübte Dir nicht die Stimmung?“ fragte sie weiter.
„Wär’ ich ein Mann,“ fragte er feurig entgegen, „wenn ich nicht stärker sein wollte als die Sorge?“
„Aber – Dein – Gewissen? Wenn er nun doch gestorben wäre? Dabei konntest Du arbeiten?“ wiederholte sie nur immer.
„Mir war’s,“ rief er, „als erarbeitete ich mir sein Leben vom Schicksal! Und wenn auch nicht! Was geschehen war, blieb unabänderlich. Es war schrecklich genug. Schwäche aber wäre Schuld gewesen und hätte das Geschehene noch vergrößert! Denn was ich bin und was ich kann, ist mir nicht zum Vergeuden gegeben! Ich soll mein Pfund verwalten! Nicht in thatenloser Reue verkümmern lassen!“
Magda stand regungslos da, aber in ihrem Kopf wirbelte es von Gedanken. Dies alles war wirklich: sie stand in ihrem Arbeitszimmer, der grelle Wintertag sandte sein schmerzendes Licht durch die Fenster, drüben auf den schneebelasteten Dächern glitzerten die Krystalle in der Sonne. Und hier war René und sprach zu ihr – da lag sein Werk! – Sie träumte nicht!
Obgleich sie von der rein materiellen Thätigkeit, die das Niederschreiben einer solchen Partitur macht, keine rechte Vorstellung hatte, obgleich sie nicht wissen konnte, wie weit der geistige Gehalt des Werkes schon vordem in Renés Kopf fertig gestanden, ahnte sie doch, daß da eine Summe ungeheurer Arbeit vor ihr lag.
Während sie thatenlos und zitternd verzagte, hatte er gearbeitet! Während sie kaum imstande gewesen war, ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen und ihre bescheidene Malerei auszuüben, Dinge, die gewiß keine große geistige Sammlung erforderten, hat er mit einer eisernen Entschlossenheit gearbeitet! Er hatte sein hohes Ziel keinen Tag lang aus den Augen verloren!
Im mutigen, mannhaften Ringen war er seiner Kunst nachgegangen. Unbekümmert um Leben und Tod, um Schuld und Gefahr, um Reue und Mitleid, hatte er einzig seinem Werke gelebt!
Welch ein Mann! War das höchste Kraft oder höchste Kälte? Welch ein Mann! Und welch eine unberechenbare, unergründliche Seele die seine! Sie bereitete ihr immer neue Ueberraschungen.
Er hatte immer anders gehandelt und anders empfunden, als Magda sich ausgemalt, daß er handeln und empfinden werde.
Ein Zittern überflog Magda. In ihr wallte etwas auf wie Demut vor seinem mächtigen Wesen. Sie sah ihn an, scheu noch, als wage sie nicht an das Unerhörte zu glauben.
Und er sprach weiter, innig und zärtlich:
„Dir konnte ich keine Kunde von mir geben. Wenn es einmal aufwallen wollte, mächtig und unbezwinglich, spät in der Nacht, wenn mich die Arbeit nicht zur Ruhe kommen ließ, das süßeste Verlangen nach Dir – weißt Du, dann ließ ich’s nicht laut werden. Alles mußte niedergehalten werden, alles! So viel Kummer hast Du erlitten durch mich – nun solltest Du auch stolz sein – mein fertiges Werk mußte ich Dir bringen – mir war’s, als dürfte ich vordem nicht zu Dir kommen. Und nun ist es fertig und nun bin ich da und ich frage Dich: willst Du mich noch – willst Du mich noch?“ Er zog sie an sich und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Mit ihrem Kuß empfing er das neue, das heilige Gelöbnis, daß sie ihm für immer ergeben sei.
Sie wußte es von diesem offenbarenden Augenblick an, daß sie ihn fraglos und vertrauend lieben könne, daß das quälende Verlangen, ihn bis in jede Falte seiner Seele immer ergründen und verstehen zu wollen, von ihr gewichen sei. Sie wußte, sie würde ihm fortan die Freiheit lassen, sich auszuleben, wie es seiner Art notwendig war; nicht aus weiblicher Feigheit, die wenigstens den Teilbesitz festhalten will, weil sie den ganzen [879] Besitz eines Mannes niemals haben kann, sondern aus Achtung vor der Kraft seines Wesens!
Auch begriff sie weiter, daß ein Mann, der mit sicheren, stolzen Schritten einem großen Ziele zustrebt, nicht immer sorgsam zusehen kann, ob sein Fuß da und dort zarte Keime zertritt. Und daß solche Wanderer manchmal heißeren Durst haben als die, welche in der Ebene wandeln, und daß die Ausblicke von den Höhen, auf denen sie stehen, sie manchmal das Kleine, Naheliegende, Alltäglichmenschliche übersehen lassen.
Ob dies Werk sich nun als ein vollkommenes oder als ein verfehltes erweisen würde: immer bewies es die Willenskraft seines Schöpfers, immer die männliche Ueberlegenheit eines Geistes, der durch Versuchung und Schuld, durch Leichtsinn und widrige Schicksalsverkettungen unbeirrt seine Bahn verfolgte!
Er war einer von den Männern, die sich in ihrer Arbeit völliger aussprechen als in ihrer Liebe. Magda fühlte es mit Schmerz und Wonne. Mit Schmerz, weil ihr offenbar ward, daß das Glück eines Weibes immer mit einem Zusatz von Entsagung erstritten und behauptet wird, mit Wonne, weil sie von heißem Stolz erfüllt war auf diese seine Arbeit.
„Und willst Du,“ fragte René ernst, „mutig auch eine Niederlage mit mir tragen?“
„Eine Niederlage? Dein Werk? Als ob das möglich wäre – hier!“ rief sie. Sie löste sich von ihm und nahm die Partitur in ihre Hände und sah erwartungsvoll hinein, als könnte sie aus den schwarzen Noten Leben und Klang herauslesen. „Gewiß, es wird rasenden Beifall geben – haben sie nicht sogar die ‚Zenobia‘ beklatscht?“ fuhr sie fort.
„Liebes Kind, denkst Du denn, ich habe keine feinen Ohren – könne nicht Leopoldsburger Lokalerfolge von dem echten, großen, dauernden unterscheiden? Spektakel und Lorbeeren genug wird es geben. Aber ob das Werk wirklich etwas Wert ist, das können nur Zwei wissen,“ sagte er.
Sie legte den Band wieder hin, doch hielt sie die Hand darauf gestützt. Ihr war, als müßte sie das Werk in Schutz nehmen gegen die Zweifel seines Schöpfers. „Nur Zwei? Wer?“
„Du und ich!“ sprach er und sah sie nachdenklich an.
„Ich,“ sagte Magda verwirrt, „ich verstehe doch so wenig … gar nichts vom Technischen ... wie soll ich ..?“
„Aber Du hast die feinen klugen Ohren der Liebe, den brennenden Ehrgeiz für mich, die Todesangst, ich könnte unter meinem Ziel geblieben sein. Du vor allen Menschen stellst die höchsten Anforderungen an mich. Wo das Publikum jubelt, wirst Du noch denken: das können andere auch. Nur wo ich Höchstes, Neues, Erschöpfendes, Ergreifendes bringe, wirst Du vergessen, daß Du mein bist, daß ich Dich liebe. Und das mußt Du vergessen, wenn Du das Kunstwerk als solches empfinden sollst! Ich kenne Deine Liebe zu mir wohl, Magda, und weiß, wie sie geartet ist, Du hast in Zorn und Schmerz zu oft meine Fehler und Menschlichkeiten in Deinen Gedanken durchgenommen, zu oft vor der Frage gestanden, Dich von mir loszulösen, als daß ich denken sollte, Deine Liebe sei blind. Sie ist streng und richtet mich, und weil sie zu genau meine Schwächen als Mensch erkennt, fordert sie tausendfach Höheres vom Künstler. Darin allein findet sie für mich Sühne und Entschuldigung. Und wie Deine Liebe ist, ist sie mir recht. Denn ich weiß, wenn ich ihr genug thue, habe ich wahrhaft etwas geleistet. Und darum sollst Du, Magda, mein Richter sein!“ Er hatte in schwerem Ernst gesprochen, als ein Mann, der auch gefaßt ist, eine Niederlage zu ertragen.
Magda fiel ihm um den Hals. Sie war sprachlos vor Glück.
Aus seinen Worten klang ihr wie ein beseligendes Geständnis entgegen, daß er sie in unbegrenzter Achtung ehre, und daß er nicht von ihr in blinder Sklavinnenliebe angebetet sein wolle. Daß er in ihr wahrhaft sah, was sie zu sein begehrte: die Genossin seines Lebenskampfes. Und alles, was sie in der vergangenen Zeit gelitten, trat noch einmal vor sie hin. Sie übersah es wie etwas, das nun außer ihr stand und das sie klar zu beurteilen vermochte. Sie hob das Haupt und schaute den Geliebten an. „Darf ich versuchen, Dir zu erklären, wodurch ich so gelitten habe?“ fragte sie lebhaft.
Er fürchtete, sie möchte auf seine Treulosigkeit zurückkommen. Helle Röte stieg in sein Gesicht.
„Laß das Vergangene,“ bat er.
„Nein,“ sprach sie und legte beide Hände mit einer beredten bittenden Gebärde ineinander, mit leuchtenden Augen zu ihm aufschauend. „Wenn es gesagt ist, ist es ganz überwunden. Du kannst mich später, wenn mir der Hang wiederkäme, dann an das erinnern, was ich Dir erklären will. Ich muß jetzt immer an die Sage von Amor und Psyche denken, und daß es Psyche verboten war, ihn zu sehen. Sie aber beschlich ihn nachts mit der Lampe, und als sie ihn gesehen hatte, entfloh er. Siehst Du, ich meine, der Sinn ist so: wir Frauen vertragen kein Geheimnis, kein Unbegreifliches. Wir wollen immer ergründen; jede Handlung des geliebten Mannes, jeden seiner Gedanken, jede seiner Stimmungen, jedes seiner Worte wollen wir verstehen und bis auf die tiefste Wurzel der Gründe bloßlegen. Das gelingt uns nicht, eine Mannesseele und ein Mannestemperament sind für ein Frauenherz nie ganz zu verstehen. Und weil uns manchmal Ueberraschungen werden und weil wir manchmal vor Rätseln stehen, kommen wir schließlich dazu, auch das Einfache, Bedeutungslose, nur obenhin Gesagte als Deckmantel für ein Geheimnis anzusehen. So, mein René, so bin ich immer mit der Lampe der Psyche an Dich herangeschlichen und beinahe wäre mir darüber die Liebe entflohen. Seit heute aber weiß ich es gewiß: die Liebe muß sein wie der Glaube: stark, auch wo man nicht sieht und nicht versteht. Und darum darf ich erst jetzt wirklich sagen, ich liebe Dich! – Ich liebe Dich!“ rief sie mit hinreißendem Feuer aus.
Von einem dankbaren Glücksgefühl ohnegleichen überwältigt, zog René die Geliebte an sich.
Von diesem Tag an begann eine Zeit froher Unruhe für Magda. Sie sah den Geliebten fast jeden Tag, obschon er so in der Arbeit saß, daß die Minuten ihm wertvoll waren. Oft aß er bei ihr, weil diese kurze Stunde sich noch am leichtesten für Magda aufbewahren ließ. Magda gewöhnte sich deshalb an eine frühere Speisestunde und daran, für ihren Vater, der immer stiller und schwächer ward, eine besondere Tagesordnung innezuhalten. Sie sah mit Ueberraschung, daß sich beide Pflichten, die gegen René und die gegen den Kranken, sehr gut vereinen ließen.
René hingegen, immer Feuer und Flamme von dem, was er am Morgen gethan, oder für das, was er am Abend noch zu thun hatte, beachtete den alten Mann kaum mehr. Er empfand weder Abneigung, noch Störung seiner Fröhlichkeit. Ruhland saß auch immer sauber, friedlich und viel schlummernd in seinem Stuhl; die feindseligen Anwandlungen gegen Fremde waren verschwunden.
Die Leopoldsburger hatten unendlichen Gesprächsstoff. Daß René Flemming und Magda Ruhland sich nun doch verloben würden, war stadtbekannt. Die einen sagten, es solle Weihnacht veröffentlicht werden, die andern, nach der Aufführung des „Filippo Lippi“. Als das Weihnachtsfest vorüberging, ohne daß in der „Leopoldsburger Zeitung“ die beiden Namen untereinander gestanden hatten, schienen die zweiten recht zu bekommen.
Ueber die Gründe der Verzögerung und den vorausgegangenen Roman wurden die ungeheuerlichsten Sachen erzählt. René habe erst gar nicht gewollt, aber da sei Hortense von Eschen ihm mit Magda Ruhland in die Wohnung gerückt und habe ihm das Ehrenwort abgenommen, das Verlöbnis zu halten. Er habe erstens überhaupt noch nicht heiraten wollen und dann sich auch an der Geisteskrankheit der alten Excellenz gestoßen, so was sei doch erblich. Unsinn sagten die andern, die Excellenz habe Gehirnerweichung und das sei niemals erblich, hingegen habe René Flemming, der ein notorischer Don Juan sei, noch irgendwo eine Braut sitzen gehabt, von der er sich erst frei machen mußte.
Und Schulden habe René Flemming! Das würde eine schöne Wirtschaft geben, besonders da Magda Ruhland wenig oder gar nichts besitze. Dann hieß es mit einem Male, der Herzog habe alle Schulden bezahlt, zehntausend, nein zwanzig-, dreißigtausend Mark. Und die reiche Frau von Eschen, die doch auch ein bißchen in René Flemming verliebt war, schenke Magda eine märchenhafte Aussteuer. Auch solle René Flemming am Abend der Aufführung seines „Filippo Lippi“ eine ganz besondere Auszeichnung haben, einen schönen Titel oder gar den Sternenorden, da er das Hauskreuz schon besitze. Ja, die Schwäche des guten Herzogs ging eben ein bißchen weit!
Die Thatsachen waren in Wirklichkeit sehr erheblich einfacher, als die Leopoldsburger sich dachten.
Es widerstrebte Magda, sich schon vor aller Welt ihres Glückes zu freuen, so lange Sibylle noch an einem Krankenbett zu wachen hatte. Wenn René und sie ihre Verlobung jetzt veröffentlichten, mußte Magda ihn im Lenzowschen Hause vorstellen. Sie wollte Sibylle diese Begegnung ersparen. Walfrieds Genesung schritt
[880][881] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [882] sicher, wenn auch nicht sehr rasch vor, man hoffte, daß das Brautpaar mit der Baronin Zielendorf Ende Januar abreisen könne. Später, wenn sie wiederkehrte, wenn Wochen auf Wochen, versöhnend wie die Zeit immer ist, dahingegangen sein würden, dann mochte Sibylle auch wieder dem Mann die Hand reichen können, durch den sie – ohne seinen Willen – gelitten hatte.
Als Magda dem Geliebten diese ihre Gründe andeutete, die sie bestimmten, abermals ihren Bund noch geheimzuhalten, hatte René ihr nur schweigend die Hand geküßt und sie mit einem tiefen, liebevollen Blick lange angesehen.
Daß trotzdem ihr bevorstehendes Verlöbnis öffentliches Geheimnis war, bemerkten sie gar nicht, befangen in jener gewissen Naivetät, die glückliche Menschen annehmen läßt, daß die Umgebung sich nicht um sie kümmere, weil sie sich nicht um die Umgebung kümmern. Hortense ließ ihnen die Unbefangenheit, fühlte sich als Brautmutter und brachte alle praktischen Fragen in Fluß.
Da waren also zunächst Renés Schulden. Nachdem Hortense und Magda ihm gut zugeredet hatten, fing er nach vielem Seufzen und Schelten an, zu rechnen. Er wandte eine ganze Abendstunde dran, unbezahlte Rechnungen aus all seinen Schreibtischfächern zusammen zu suchen. Dabei fand er eine ganze Menge kleiner Schuldscheine: hier hatte er einem Kollegen ein paar hundert Mark gepumpt, da einem Freund aus der Patsche geholfen, dort einem Theatermitglied in Krankheit und Not beigestanden.
Er war selbst ganz erstaunt. Die meisten Namen und Summen hatte er ganz vergessen gehabt – und sah nun mit einem gewissen objektiven Interesse die alten und neuen Geschichten durch. Er kam mit vergnügter Resignation zu dem Schluß, daß die sämtlichen Schuldscheine keinen Heller Wert hätten – denn wie hätte er mahnen oder drängen können? – verbrannte den ganzen Kram und nahm sich vor, fortan allen Anpumpereien etwas mehr Festigkeit entgegenzusetzen und jeden Fall mit Magda vorher zu besprechen.
Die Aufstellung seiner Schulden bereitete ihm eine freudige Ueberraschung. Voll kindlichen Stolzes erzählte er den beiden Damen, daß es nur ein paar tausend Mark seien.
Hortense bestand darauf, sie bezahlen zu dürfen.
„Nein, nein,“ sagte René lachend, „ich muß einmal merken, wie das schmeckt. Ich habe für meinen ‚Filippo Lippi‘ die erste Honorarzahlung allernächstens vom Verleger zu empfangen. Anstatt nun für unsere künftige Häuslichkeit etwas kunstvoll Schönes zu kaufen, fang’ ich gleich an, Schulden zu bezahlen. Geht der ‚Filippo‘ nur einigermaßen, so ist die ganze Sache bald erledigt.“
Und schon wenige Tage nachher zog er eine Menge zerknüllter Quittungen aus der Tasche, zeigte sie fröhlich Magda und ernannte sie für alle zukünftigen Zeiten zu seinem Finanzminister.
Hortense konnte es aber nicht ertragen, gar nicht als handelnde Person bei der ganzen Sache aufzutreten. Sie beschloß darum ihrerseits, die Frage, was mit der alten Ercellenz geschehen solle, zu lösen. René hatte neuerdings gesagt, der alte Mann störe ihn gar nicht, aber selbst Magda fürchtete, daß dies nur in der jetzigen so überreichen Stimmung von Lebensfröhlichkeit der Fall sei. „Ich will ihn zu mir nehmen,“ sagte Hortense, „er kann in meinem Hause zwei Zimmer haben und dort mit seinem Wärter leben, solange es Gott gefällt. Bitte, liebe Magda – keine Rührung! Bitte, lieber René – keinen Dank! Es ist ja bloß ein Zugeständnis an Magdas Einbildungskraft. Im Grunde genommen ist es für den Kranken und damit für Dich und uns ja ganz gleich, ob er bei Euch, bei mir, oder im Hospital bei den Grauen Schwestern lebt; er hat es überall gleich gut. Aber Magda bildet sich ein, es wäre herzlos, es thäte ihr weh, den Vater im Hospital zu wissen. Und so soll sie denn ruhig glauben, es wäre schöner, rührender, inniger, wenn ihr Vater unter meinem, statt unter einem fremden Dach weiter lebt.“
Trotz dieser kühlen Betrachtung dankten die beiden ihr aber doch aus innerstem Herzen. Sie wußten ja, daß all’ die nüchterne Weltweisheit nur angenommene Farbe war, mit der Hortense ihre schmerzlichen Erfahrungen übermalte.
Ein großer innerer Zwiespalt entstand Magda noch aus dem Testament Nicolais. Es erwies sich, daß dieser ihr sein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Das Testament war vom Anfang des Oktobers datiert. Nicolai hatte also den Entschluß gefaßt, Magda seine Habe zu vererben, nachdem er von ihrer Liebe zu René Flemming erfahren. Sie hätte diese Erbschaft lieber nicht empfangen. Und hier mußte ihr die kluge Menschenkennerin Hortense wieder den Schlüssel geben zu Nicolais That.
„Siehst Du, es ist eine Art von Egoismus. Er, der Dich liebte, wollte auch nach seinem Tod in Deiner Erinnerung sein, gleichsam teilhaben an Deinem Heim; er wollte Dich nicht ganz und gar René überlassen. Wenn das Geld von ihm Dir hier und da gestattet, Dir einen Wunsch zu erfüllen, wollte Nicolai sich sagen: es muß, es wird ihr sein, als hätte ich ihn ihr erfüllt. Er gönnte es Deinem Manne nicht, daß Du alles, alles von ihm habest. Er wollte auch dazu beitragen, es Dir bequem zu machen. Sein Vermächtnis zurückweisen, hieße das Andenken dieser feinen, keuschen Seele kränken. Es mag Dich auch trösten, daß Du es niemand entziehst, denn er hatte keine Familie mehr. Und es mag Dich auch beruhigen, daß es nicht das Vermächtnis eines Krösus ist, sondern daß wir noch gerührt, ja voll Ehrfurcht staunen können, wie der Mann mit den Zinsen dieses kleinen Kapitals zu leben verstand. Wenn Du ganz in Nicolais Seele handeln willst, richtest Du Dir Euer Heim damit vollständig ein.“
„Dazu wird die Hälfte genügen,“ sagte Magda, „und wenn es René recht ist, lassen wir für die andere Hälfte ein schönes Denkmal auf Nicolais Grab setzen, einen Todesengel oder dergleichen, in seinem Stil. Sonst hab’ ich keine Ruhe.“
„Wieder eine schöne Einbildung,“ bemerkte Hortense, aber wie ich René kenne, wird er freudig einverstanden sein.“
Mitte Januar reiste die Baronesse Zielendorf mit Sibylle und Walfried, begleitet von einer Zofe und einem Diener, ab. Sibylle fand sich sehr freudig gehoben durch diesen „Train“ und die ganze teure vielbeneidete Reise. Ihre kindliche Eitelkeit fand soviel Befriedigung in der Situation, daß sie ganz versöhnlich gegen René Flemming gestimmt ward, ohne dessen „schreckliche Unthaten“ doch schließlich auch diese großartige Reise nach Italien nicht zustande gekommen wäre.
Magda ging mit viel Selbstüberwindung zum Bahnhofe, denn ihr Herz bebte davor zurück, dem Manne zu begegnen, der sich zum Richter über René aufgeworfen und ihn so leiden gemacht hatte. Sie sah oft in Walfried nicht den Verwundeten, der ihr Mitleid verdiente, sondern den Mann, der durch seine Herausforderung René beinahe mit der Vernichtung eines Menschenlebens belastet hatte.
Am Bahnhof war es voll von Abschiednehmenden. Sibylle stand zwischen all’ den Freundinnen und den Kameraden Walfrieds und nahm Blumen entgegen und kam sich vor wie eine reisende Hoheit.
Der Zug, der an Leopoldsburg, mit acht Minuten Aufenthalt, seinen Weg vorbei zum Süden nahm, fuhr gerade in die Halle. Dampf fuhr weiß und zischend aus dem eisernen Körper der Lokomotive und aus den unter dem Zug entlang laufenden Heizungsröhren. Ein furchtbarer Lärm erfüllte die Halle.
Tante Zielendorf redete übermäßig besorgt in Wallwitz hinein, der ein wenig bleich, aber sonst gut anzusehen, in der Coupéecke saß. Magda trat heran. Herr von Wallwitz wußte so gut wie jedermann in Leopoldsburg, wessen Braut Magda Ruhland war. Aber sein Gesicht behielt den freundlich ernsten Ausdruck, der ihm immer eigen war. Er gab Magda die Hand und dankte ihr für die treue Liebe, welche sie seiner kleinen Sibylle bewiesen habe.
Sibylle aber, in der namenlosen Aufregung, in welcher sie sich befand, mochte sekundenlang vergessen haben, was Walfried und sie von René trennte, oder es war eine ihrer „großen“ Aufwallungen – genug, sie sagte laut und freundlich:
„Grüß auch René Flemming noch vielmals von uns.“
Es blieb unentschieden, ob sie es mit oder ohne Bedacht gethan. Magda sah nur ein Zucken über Walfrieds Gesicht gehen, ward fortgedrängt und stand nun inmitten aller anderen Abschiednehmenden, während Sibylle einstieg.
„Adieu – adieu!“ rief es vielstimmig hinter dem Zuge her und noch eine Weile sah man neben der Wagenschlange, die schnell und schneller fortglitt, Sibyllens weißes Tüchlein wehen.
Magda ging glücklich nach Hause. Ihr war, als habe ein Lebensabschnitt einen lösenden Abschluß gefunden und als dürfe sie nun ganz frei an ihr eigenes Glück denken.
In acht Tagen war die Erstaufführung des „Filippo Lippi“. Am Abend nach der Vorstellung gab Herr von Rechenbach ein Fest und dort endlich sollte alle Welt es hören, daß sie Renés Braut sei und Ostern schon sein Weib werden dürfe.
In den letzten Tagen vor der Aufführung ließ René sich nicht sehen. Und ganz allmählich wurde Magda von einem [883] entsetzlichen Zustand befallen. Mehrmals am Tage ward ihr schwindlig, sie war außerstande, zu essen. Sie fuhr nachts aus ängstlichen Träumen auf und litt an schwerem Herzklopfen.
„Du hast Lampenfieber,“ sagte Hortense ihr auf den Kopf zu.
Magda leugnete es. Sie glaubte so fest an den wahren, dauernden Erfolg; der sichere Lokalerfolg nahm ja ohnedies dem Abend die Gefahr einer direkten Niederlage. Sie erwog auch zuweilen mit kaltem Blut die Möglichkeit, daß das Werk verfehlt sein könne. Nichts von Renés Bedeutung, nichts von der Größe seiner Begabung würde es abstreichen, wäre wirklich dieses erste Werk ein Fehlgriff gewesen. Das sagte sich Magda mit Stolz.
Ja, zuweilen verlor auch der Gedanke an die Möglichkeit einer Niederlage für sie seine Schrecken. Auch aus einem Unglück des geliebten Mannes saugt ein rechtes Weib noch das Glück, ihn trösten, ihm erhöhte Liebe zeigen zu dürfen.
Aber nach solchen Augenblicken entsetzte sie sich fast über ihren Liebesegoismus und ward von glühenden Wünschen erfüllt für seinen Sieg und seinen Ruhm.
Am Morgen des Aufführungstages steigerte sich ihr Zustand bis zur Unerträglichkeit. Ob wohl auch René unter der Erwartung ähnlich litt? Sie hätte ihm gern einige zärtliche Grüße gesandt, aber bescheiden unterdrückte sie das Verlangen: er sollte sehen, daß sie verstand, ganz zurückzutreten, wenn er im heißen Kampf seines Berufslebens stand.
Ganz grundloserweise ward ihr besser, als sie begann, sich festlich anzukleiden. Sie wählte dasselbe hellblaue Gewand, das sie auf der verunglückten Zenobiasoirée getragen hatte. Sie wählte es ungern, denn eine peinvolle Erinnerung knüpfte sich daran. Aber Magda gehörte nicht zu den Damen, die zwischen vielen Festkleidern herauszusondern haben, was ihnen just gefällt – es war eben noch ihr einziges Staatskleid. Tapfer kämpfte sie die Erinnerung nieder.
Und von Hortense kam eine köstliche Sendung: Maiblumen in Hülle und Fülle, für Handstrauß und Taillenschmuck.
Als Magda sich, eine halbe Stunde vor Beginn des Theaters, so prächtig angethan im Spiegel sah, ward ihr so fröhlich und sorglos wie bei Frühlingswetter. „Festkleider und Sonnenschein haben eine verwandte Wirkung auf ein ängstliches Gemüt,“ dachte sie.
Ehe sie hinabging, suchte sie ihren Vater auf. Er konnte ihr nichts sagen und ihr keinen Segen mitgeben. Aber sie streichelte sein weißes Haar und küßte seine Stirn und legte einige von den frischen Blütenstengeln in seine Hand. Ihr wurden die Augen feucht dabei.
Unten erwarteten sie Herr und Frau von Rechenbach im Wagen, die sich für diesen Abend das Vorrecht ausgebeten hatten, sie zu beschützen. Magda sollte auch in der kleinen Intendantenloge mitsitzen; dieselbe befand sich unmittelbar neben der Bühne und durch eine kleine Thür konnte man direkt in die erste Coulisse gelangen.
Im Wagen wußte Herr von Rechenbach von dem glänzenden Ausfall der Generalprobe zu erzählen und von dem interessanten Publikum, welches heute das ausverkaufte Haus füllen werde. Aus Berlin, Dresden und München und anderen Theaterstädten seien Intendanten oder Bevollmächtigte derselben anwesend. Seine Hoheit habe versprochen, heute abend noch das Fest zu beehren und René Flemming persönlich eine Auszeichnung zu verleihen.
Magda hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie sah während der kurzen Fahrt zum Fenster hinaus. Jede Dame, die im Pelzmantel und Kopftuch in der Richtung zum Opernhaus ging, jeden Herrn, der ein Opernglas trug, sah sie mit einer gewissen persönlichen Anteilnahme an – diese alle, die da durch den schneehellen Winterabend ins Theater gingen, sollten über sein Werk zu Gericht sitzen.
Im Theater ward Magda wieder schwindlig. Das Gefühl, welch eine furchtbare Sache die Oeffentlichkeit ist, überkam sie in jäher Erkenntnis. Alles, was in stillen, heiligen Schaffensstunden entstanden war, alles, was aus den keuschesten tiefsten Gründen der Seele schmerzhaft selig sich emporgerungen – hier sollte es nackt und bloß preisgegeben werden, an tausend Menschen, mit tausend verschiedenen Sinnen und Gedanken. Die Neugier, das Uebelwollen, das Unverständnis, die Gleichgültigkeit sollte das Werk mit einem gewaltigen Griff erfassen und niederzwingen. Dieser ganzen unruhigen, flüsternden und lachenden Menge sollte er gegenüber treten mit seinem Werk – ihr die Stirn bieten – gleichsam seine Brust aufreißen und hinausschreien: seht, das kann ich! Das fühle ich! Das denke ich! Das ist meine ganze Seele, die ich Euch heute zeige!
Magda faltete die Hände krampfhaft um ihren zusammen gelegten Fächer. Sie wollte nicht zittern, nicht zucken.
Wie mußte erst ihm ums Herz sein! O, gewiß köstlich kampfesfreudig, königlich mutig! Gefaßt, auch einen Mißerfolg hinzunehmen als nichts Schlimmeres denn eine Lehre!
Ja, er war der Mann, sich und seine Kunst beim Publikum durchzusetzen, müßte er auch mit ihm ringen und wieder ringen.
Und noch einmal begriff Magda es: Schritte, die auf solchen Wegen kraftvoll vorwärts wandern, können nicht darauf achten, ob sie einen zarten Keim zertreten.
Jetzt trat René in den Orchesterraum. Er sah sehr bleich aus und grüßte nicht zu der Intendantenloge hin. Aber sein Schritt war fest und seine Hand, die den Taktstock ergriff, zitterte nicht. Er wandte sich noch zu dem Konzertmeister und sprach einige Worte. – Dann nickte er nach rechts und links seiner Truppe, wie er immer vor dem entscheidenden Zeichen that, auffordernd zu.
Und diese Sekunde, wo René mit erhobenem Taktstock stand, wo die Augen aller Orchestermitglieder, wo die Augen des ganzen Hauses an ihm hingen, diese Sekunde dünkte Magda eine Ewigkeit.
Dann zuckte der Dirigentenstab und ein voller C moll-Accord setzte ein.
Magda brach in Thränen aus.
Frau von Rechenbach drückte ihr teilnehmend die Hand.
Langsam faßte Magda sich und Ruhe kam in ihr Herz, als sie hörte, daß alles mit glänzender Sicherheit und Hingabe wiedergegeben wurde. Sie hatte sich eingebildet, es würde irgend etwas Besonderes geschehen – irgend ein im Theaterleben noch nie dagewesener, schrecklicher Zufall. Während des Vorspiels trat das herzogliche Paar in die Hofloge, was eine erhebliche Ablenkung der Aufmerksamkeit verursachte, denn die Herzogin erschien so selten im Theater, daß sie dann stets von neugierigen Blicken gesucht ward.
Die leise, kurze Unruhe, die durchs Haus ging, gab Magda vollends ihre Sammlung.
Der Vorhang ging auf. Magda sah das ganze ihr wohlbekannte Drama an sich vorüberziehen und hörte den rasenden Applaus und sah, wie René sich nach den ersten zwei Aktschlüssen verbeugte. Und sie selbst lachte und sprach aufgeregt mit ihren Freunden und hatte ein heißes, rotes Gesicht. Dabei aber war es ihr, als müßte sie immer fragen: ist das Werk wirklich von René Flemming? Sie konnte es gar nicht fassen, daß da ein Zusammenhang war, daß derselbe Mann, den sie liebte, in ihren Armen gehalten hatte, den sie heiraten wollte, ein und dieselbe Persönlichkeit mit dem Schöpfer dieses Werks sein sollte. Es war, als wenn dies außer ihr und außer ihm bestehe, als ob das noch eine andere Existenz sei, eine ganz für sich.
Die tiefen, gewaltigen, sich immer steigernden Schönheiten der Musik hörte sie hingerissen an und sie sah wohl, daß René dirigierte – aber sie sah ihn dirigieren wie bei einem anderen Werk von einem anderen Meister.
Und indem sie dieses Wunder anstaunte, daß es einen doppelten René Flemming gäbe, begriff sie zugleich das Phänomen seiner geistigen Unabhängigkeit.
Er kam nicht zu ihr in den Zwischenakten. Es seien da immer noch allerlei Kleinigkeiten mit den Sängern zu besprechen, sagte der Intendant und René sei nicht abkömmlich. Magda hatte auch gar nicht daran gedacht, daß er zu ihr hereinkommen solle.
Aber als er zum dritten Akt den Orchesterraum betrat, nickte er ihr zu, strahlend und stolz.
Der dritte Akt hatte ein Vorspiel in kirchlicher, tiefernster Stimmung. Als der Vorhang aufging, sah man die Hallen der Kirche der heiligen Margarethe und den malenden Mönch am Bilde der Heiligen arbeiten, das die Züge der Lucrezia Buti trug. Dann kam der Nonnenchor, der von einer erhabenen Einfachheit und Eindringlichkeit war. Die Erkennungsscene folgte. Lucrezia raunte dem Geliebten zu, sie zu erwarten. Und dann kam, nachdem der wiederaufgenommene Nonnenchor allmählich verhallte, eine furchtbare Scene, wo der lebensdurstige, liebesrasende und schaffensmutige Filippo Lippi mit heißer Gier sich an das reiche Dasein klammert, während er das tötende Gift in seinen Adern fühlt, das Piero di Cosimo ihm beigebracht.
Das Publikum saß wie unter einem Bann. Bärwald sang und spielte grandios. Und dann kam Lucrezia Buti herein, bereit zur seligen Flucht mit dem Heißgeliebten. Die Kaspari fand für die Raserei des jäh sie befallenden Schmerzes erschütternde Töne. Und als die Wucht des Unglücks sie an der Leiche des Geliebten fast erdrückt zu haben schien, erhob sie sich, einer gigantischen [884] Rachegöttin und Prophetin gleich, und jubelte dem Mörder und Rivalen ihres toten Gatten die Unsterblichkeit von Filippos Liebe und Filippos Ruhm entgegen. –
Magda fühlte eine Hand auf der ihren, fühlte sich fortgezogen und folgte mechanisch. Eine kleine Thür that sich auf und ein fremder, seltsamer Raum umfing Magda. Bemalte Leinwand und Lampen hinter Schutzgitter und Latten und Gebälk überall.
Sie stand mit Herrn von Rechenbach in der ersten Coulisse. Und vor ihr auf der Bühne bewegten sich allerlei Menschen: René, inmitten der Sänger, Bärwald an der einen, die Kaspari an der anderen Hand, und sie verbeugten sich, und immer wieder drang das dröhnende, erschütternde Geräusch des Beifalls neuentfacht zur Bühne empor. Kränze flogen hinauf.
Und Magda sah zu, als wäre das noch eine Aufführung für sich, daran sie keinen anderen Anteil habe als den des Zuschauens.
Endlich hatte das Publikum ausgerast und da entstand eine neue Bewegung auf der Bühne, indes mit schwerem Rasseln der eiserne Vorhang niederging.
Die buntgekleideten Menschen, mit Perücken und Schminken umarmten René und er umarmte sie wieder und er küßte sie alle und des Jubelns war kein Ende. Sie waren seine treuen, tapferen Streitgenossen und ihm in diesem Augenblick viel werter und viel wichtiger als alle Ehren der Welt und alle Auszeichnungen, die ihn noch an diesem Abend erwarten mochten.
Sie waren die Kameraden seines Sieges und er dankte ihnen.
„Bärwald, mein Junge,“ rief er, „Du hast Dich ins Zeug gelegt … großartig!“ Er küßte ihn.
„Und Du, Kaspari! Die Lucrezia Buti macht Dir Deinen Ruf! Der Berliner und der Münchener wollen Dich beide haben, mitsamt meinem ‚Filippo‘. Das sichert mir auch dort den Erfolg! Du warst kolossal!“
Und er küßte auch die Kaspari.
Sie aber, das schöne, volle Weib sah ihm tief in die Augen und ihre Augen waren naß. Sie mochte mancher arbeitsfröhlichen und mancher lebenslustigen Stunde mit ihrem lieben Kapellmeister gedenken. Sie schüttelte ihm fest die Hand.
Magda, von einem unwiderstehlichen Drang getrieben, kam näher und näher. Die ganze Scene erschien ihr so natürlich, so selbstverständlich. Auch sie hätte alle diese Hände schütteln und all diesen begeisterten Künstlern danken mögen. Sie sah, daß alle außer sich waren und keiner imstande, das Maß des alltäglichen Gebahrens innezuhalten.
Und sie sah und hörte ohne zuckende Eifersucht – ja mit einem heißen Empfinden des Mitgefühls, der dankbaren Freude.
Da bemerkte René sie. Er that einen Jubelruf, sprang auf sie zu und schloß sie kurz in seine Arme. Dann nahm er ihre Hand und trat mit ihr in den Kreis der Künstler.
„Hier,“ sagte er, „Euch zuerst sei sie vorgestellt! Das ist meine Magda, meine Braut, bald mein Weib! Mein lieber, mein strenger, mein guter Engel!“
„Hoch!“ rief Bärwald, „hoch unseres Meisters Meisterin!“
Und brausend umhallte der Ruf die vor Glück weinende Magda.
„Nein,“ dachte sie, „nicht seine Meisterin, sein treues, geduldiges Weib!“
René ergriff ihre beiden Hände. Mit einem festen und großen Blick sahen sie einander in die Augen. Sie wußten es, nicht alle Stunden der Zukunft konnten so glänzend sein wie diese, sie würde auch ihnen, wie allen Sterblichen, mehr Kämpfe als Siege bringen.
Und Magda wußte auch, daß es vielleicht ihr tragisches Los sein werde, jede Stunde des Glücks mit bitteren Thränen der Sorge zu bezahlen; immer neu streiten zu müssen um seine Liebe, um seinen Besitz.
Aber in ihr lebte der heilige Glaube, daß ihre Treue die Erlöserin sein werde, wenn das Leben den leidenschaftlichen Mann wieder und wieder in Gefahr bringen sollte, sich zu verlieren.
Sie fühlte sich emporgetragen zu jenen Höhen der Liebe, die über allen Zweifeln und über aller Selbstsucht steht.
Und René fühlte, daß ihre Liebe in dem Sturm seines Lebens wie ein Fels sein würde: unerschütterlich und unveränderlich.
In ihren Seelen brannte der heilige Wille, einander Glück zu geben. Und indem sie mit heißen Blicken dies Gelöbnis tauschten, umbrauste sie noch einmal der frohe Jubelruf: „Hoch Meister René und seine Braut!“
Sylvesterlärm.
Vor Jahren war es ... In der Musenstadt, wo wir studierten, sollten mit des Jahres letzter Stunde die alten biederen Nachtwächter ihr beschwerliches Amt der löblichen Polizei abtreten. Ob der lustigste Teil der ewig fröhlichen akademischen Jugend im stillen den Beschluß gefaßt hatte, die „Polypen“ durch besondere Ovationen zu „begrüßen“ – das kann nicht mehr aktenmäßig festgestellt werden. In sichtlicher Spannung vergingen aber die letzten Stunden des dahinscheidenden Jahres an den Biertischen der beliebtesten Studentenkneipen. In unserem Kreise saß auch ein Musensohn, ein eifriger Germanist, der, den alten Deutschen gleich, ehe das alte Jahr ging, immer noch eins trank und – als nun endlich von den Türmen der Stadt die Sylvesterglocken läuteten – in urfideler Stimmung die Straße betrat. Unter den „Prost Neujahr“-Rufern war er einer der lautesten … Einige Tage darauf hatte er sich wegen nächtlichen Lärmens vor dem Universitätsrichter zu verantworten und er verteidigte sich mit der gelehrten Behauptung, es sei ein urgermanischer Brauch, in der Sylvesternacht zu lärmen.
Das moderne Gericht ließ diese Ausflucht nicht gelten, obwohl jene Behauptung an sich nicht ganz und gar unberechtigt war. Seit jeher ließen die alten Deutschen die Jahreswende nicht sang- und klanglos sich vollziehen. Und wenn unsere Uraltvordern auch vom Sylvestertage nichts wußten, so kannten sie doch die Wintersonnenwende und trieben in den Rauchnächten allerlei lauten Mummenschanz. Als nach und nach das Jahr in die Formen unseres heutigen Kalenders sich fügen mußte, als Weihnachten und Neujahr voneinander geschieden wurden, da beging das Volk die althergebrachten Feste hier an diesem, dort an jenem der neuen Feiertage. Weihnachten fiel dabei der Löwenanteil zu, weil es auch ein kirchlicher Feiertag war, der Sylvester kam dabei schlechter weg. Hier und dort haben sich auf diese Weise verschiedene Sitten und Bräuche aus alter Zeit erhalten, die die letzte Nacht des scheidenden Jahres zu einer sehr bewegten gestalten. Wir möchten z. B. nur an das „Zuschellen“ oder „Bröken“ erinnern, das in manchen Gegenden der Schweiz gebräuchlich ist.
Stille liegt über dem Dorfe, während am dunkel gewordenen Himmel die ersten Sterne aufblinken. Da ertönen in einem der dunklen Straßenwinkel durchdringende Töne schriller Blasinstruniente. Das ist ein Weckruf, der aus allen Richtungen vermummte Gestalten herbeilockt. Sie tragen zumeist Weiberkleider, aber es handelt sich nur um einen Mummenschanz, denn in den Unterröcken stecken Mannsleute. Jeder von ihnen schleppt irgend ein Lärminstrument herbei; dieser bringt einen Triangel, jener eine Kuhschelle, der andere ein Kuchenblech und ein anderer wieder rasselnde Ketten. Die Schar wächst, zwanzig, dreißig, ja sechzig Mann kommen zusammen und nun setzt sich der Zug lärmend und polternd in Bewegung. Vor dem Hause irgend eines Bewohners, der im Laufe des Jahres irgend eine That, die von der öffentlichen Meinung gemißbilligt wurde, begangen hat, wird Halt gemacht. Die vermummten Gestalten vollführen eine schauerliche Katzenmusik; dann tritt eine Pause in dem Lärm ein, und nun ergreift ein Volksredner das Wort, der den Missethäter in der allgemeinen Meinung durchzieht, seinen Lebenslauf in Knittelversen bloßlegt. Nach dem Schluß der Strafpredigt wird von neuem gelärmt und an Thüren und Fenster geschlagen. Dann zieht der Trupp vor ein anderes Haus, in dem mißliebige Personen wohnen, um ähnliche Auftritte zu veranstalten. Schließlich verläßt die Schar das Dorf, geht auf die Felder, auf einen erhöhten Punkt und lärmt, damit die Nachbargemeinde es höre.
In anderen Gegenden finden lärmende Umzüge statt ohne das an das oberbayrische Haberfeldtreiben erinnernde „Bröken“ oder Verhöhnen mißliebiger Personen. Da sammeln sich in einem Dorfe gegen Abend Burschen und junge Männer, alle mit rasselnden oder schellenden Werkzeugen ausgerüstet, und unter einem Höllenspektakel wandert die Schar über Berg und Thal nach dem Nachbardorfe, wo sie von der dortigen Jugend mit gleichem Spektakel empfangen wird. In der Mitte der Lärmmacher befindet sich eine als Hexe vermummte Gestalt. In
[885]Süddeutschland gestalten sich in ähnlicher Weise die Berchteljagd oder das Berchtenlaufen, die am Vorabend des Dreikönigstags, 6. Januar, abgehalten werden. Zweifellos hängen diese Umzüge mit der altheidnischen Verehrung der Göttin Berchta zusammen. Nach und nach verblassten die alten Göttergestalten; die aufgeklärtere Neuzeit war dem wüsten Lärme, dessen Zweck sie nicht verstand, wenig hold und allmählich wurden diese Bräuche verpönt; sie verschwanden gänzlich oder nahmen ruhigere Formen an.
Nun liefen in den Nächten um die Jahreswende Burschen und Mädchen einzeln herum, klopften an Fensterläden und Thüren und heischten Geschenke. Das geschah in der Zeit von Weihnachten bis zum 6. Januar. Alte Sprüche, die dabei hergesagt wurden, haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten. In Franken pflegen die Kinder bei ihrem Anklöpfeln zu sagen:
„Klopfe, klopfe, hämmerle!
’s Brot ligt inn Kämmerle
’s Messer ligt derneben:
solt mer eppes geben,
gut tal, gut tal,
und mein Gselln a en toil.“
Der schwäbische Spruch für diesen Brauch lautet:
„Holla, holla, Knöpflesnacht!
Guts Johr, guts Johr, daß ’s Korn grat!
Kraut un Zwiebel
Ischt an net übel.
Bhüet uns got vorm totengrübel!“ (Totengräber.)
In Thüringen hat die Sitte eine andere Form erhalten. Hier laufen in den Tagen nach dem Weihnachtsfest die Kinder in den Straßen umher und schlagen mit Ruten oder grünen Tannenzweigen an die Häuser, indem sie gleichfalls Gaben heischen. Der grüne Zweig, das Symbol des Lebens inmitten der toten winterlichen Natur, wird auch zum Peitschen von Personen benutzt, wobei der Spruch gang und gäbe ist:
„Guten Morgen!
Frisches Grün!
Langes Leben!“
Die schönste Entfaltung gewann diese Sitte gegen das Ende des 15. Jahrhunderts in Nürnberg. Man klopfte dort in der Neujahrsnacht mit einem hölzernen Hammer an die Thüren der Häuser, in welchen Freunde, Bekannte und Geliebte wohnten, und sagte dabei einen gereimten Neujahrswunsch her. Auf diese Weise entstand in Nürnberg eine besondere Art von Neujahrsgedichten, die mit den Worten „Klopf an!“ anfangen; sie wurden vielfach gedruckt und haben sich infolgedessen bis auf unsere Tage erhalten. Eins der kürzesten sei hier als Beispiel angeführt:
„Klopf an, klopf an!
Mein herz hat sich auf getan,
Und wünsch dir glück und alles gut,
Gesunden leib und frischen mut,
Vil guter jar und lank leben:
Das muß dir got auf erden geben!
Ich wünsch dir ein fräulein wolgestalt,
Das dir im herzen wol gefalt
Und dich lieb hat für ander knaben:
Die soltn dir zum neun jar haben.“
Am meisten hat sich in dieser Dichtungsart Hans Folz hervorgethan, der aus Worms stammte, sich in Nürnberg ansiedelte, wo er Barbier war und wahrscheinlich auch eigene Druckerei besaß. Er war als Meistersinger thätig und ist der zwölfte der zwölf alten Nürnbergischen Meister. In der Litteratur nimmt er einen Ehrenplatz als einer der bedeutendsten Fastnachtsspieldichter seiner Zeit ein. Seine „Klopf an“ wurden von Oscar Schade gesammelt und im II. Bande des „Weimarischen Jahrbuchs“ herausgegeben. Diese Neujahrsgedichte sind zum Teil satirisch und geißeln die Auswüchse der zeitgenössischen Sitten; mitunter sind sie sehr derb, ja unflätig, enthalten aber auch wahrhaft poetische Stellen.
Auch ein anderer Nürnberger Dichter, Hans Rosenblüt, unter dem Beinamen Schnepperer oder Schwätzer bekannt, hat ähnliche „Klopf an!“ gedichtet.
In diesen Dichtungen finden wir den Uebergang von der alten lärmenden Art, den Sylvester zu feiern, zu den ruhigeren Beglückwünschungen, die sich vielfach eingebürgert haben. Ganz und gar sind die lauten Bräuche jedoch nicht verschwunden. In den Großstädten drängt sich in der Jahreswende das Volk auf die Straßen und alle wünschen sich gegenseitig ein glückliches Neues Jahr; anderswo, wie z. B. in Süddeutschland, wird der fröhliche Lärm durch Schießen gesteigert. Dieser Sylvesterlärm ist vielleicht in der That nicht nur eine einfache Bethätigung der aufgeregten Stimmung, in der sich so viele am Jahresschluß befinden, sondern ein Nachklang der alten Bräuche. So lange er sich in anständigen Grenzen hält, kann er als ein Volksbrauch gut geheißen werden; ausarten sollte er jedoch nicht. Daran mögen die lustigen lauten Geister der Sylvesternacht denken. In diesem Sinne wünschen wir unsern Lesern und Leserinnen eine lautfröhliche Sylvesternacht und nehmen von ihnen Abschied in dem alten Jahre mit einem Sprüchlein von Hans Folz:
„Got wol dir geben als vil ern
Als der himmel hat manig stern,
Und so du gute zeit
Als vil santkörnlein im mere leit,
Und darnach das ewig leben,
Das muß dir got mit freuden geben.
Das wünsch ich dir zum neuen jar.
Sprich amen, daß es werde war!“
[886]
Karl Thiessens Brautfahrt.
(Schluß.)
Als Karl und Anna das Haus verlassen hatten, blieb er noch einen Augenblick stehen. „Fräulein Anna – es ist so herrlicher Mondschein heute abend – wollen wir nicht noch einmal miteinander um den Marktplatz gehen? Ich bringe Sie dann auf dem kleinen Umweg ebenso sicher nach Hause. In drei Wochen bin ich ja wieder fort von Deutschland – ich möchte meine alte Heimatstadt noch einmal im Vollmondschein sehen – und nicht ganz allein.“
Anna nickte nur.
Sie fühlte wohl, daß es thöricht von ihr war, sich diesem Zusammensein mit dem heimlich geliebten Jugendfreunde noch einmal auszusetzen – aber sie dachte im stillen: „Das Andenken an diese Stunde kannst du dir dann in dein ganzes, freudeloses Leben mit hinüber nehmen – das kann kein Unrecht sein!“
So gingen sie denn durch die stillen mondhellen Straßen. – Wie flüssiges Silber lag es auf den spitzigen Giebeldächern der alten Häuser – und wie flüssiges Silber schimmerte es auf dem dunkeln Wasser des Stadtgrabens. Hier und da – hoch auf dem Boden oder tief im Erdgeschoß – glimmte noch ein Licht wie ein Glühwürmchen, aus der Ferne hörte man durch die lautlose Nacht nur die abgebrochenen Töne einer Ziehharmonika, die vor irgend einer Hausthür gespielt wurde.
Die Beiden sprachen lange kein Wort – endlich sagte Karl: „Fräulein Anna – wenn Sie später einmal an mich denken – und man denkt ja an einen Jugendfreund, auch wenn er weit weg ist – dann denken Sie, daß Sie mir heut’ abend sehr wohl gethan haben. Es war alles so deutsch – das Mondlicht – und die alten Lieder – nach der Stunde werde ich oft Heimweh haben!“
Seine Stimme klang ganz unsicher, als wenn er mit Thränen zu kämpfen hätte. Anna erwiderte kein Wort; sie dachte nur immer vor sich hin: „Lieber Gott – lieber Gott – er wird nicht glücklich!“ – weiter nichts.
So gingen sie weiter, bis endlich Anna, die genau merkte, daß ihr schweigsamer Begleiter gar nicht wußte, welchen Weg er einschlug, in ihre Straße bog und vor ihrer Wohnung still stand.
„Hier bin ich zu Hause, Herr Thiessen,“ sagte sie schüchtern.
Er sah sie an wie aus dem Schlaf erwacht.
„Schon!?“ sagte er dann, „schade – schade! Nun gute Nacht, Fräulein Anna, und schönen Dank für den hübschen Spaziergang!“
Anna lächelte mühsam.
„Ich habe Sie gar nicht unterhalten,“ brachte sie endlich hervor.
„Nein – aber Sie können nicht bloß so schön singen – Sie können auch so schön schweigen – und Sie glauben nicht, wie gut das manchmal thut.“
Er preßte ihre Hand verwirrt in der seinen, daß sie fast aufgeschrieen hätte – dann blieb er stehen, bis sie im Hause verschwunden war, und trat, in mancherlei Gedanken, seinen eigenen Heimweg an.
Diesem hochgestimmten Abend folgten nüchterne Tage. Je näher die Hochzeit kam – sie sollte vierzehn Tage vor Karls Abreise gefeiert werden, damit er seiner schönen kleinen Frau noch ein wenig die großen europäischen Städte zeigen konnte – um so unruhiger wurde es im steuerrätlichen Hause – nach außen und nach innen. Karl hatte sich von Binchens Eltern ausbedungen, die Aussteuer ganz allein zu beschaffen, und das Mobiliar wurde nun schon verpackt und verladen. Karl wollte durchaus deutsche Möbel und Geräte drüben in seinem Hause haben.
Auch bei der Anschaffung und Auswahl aller dieser Dinge zeigte es sich wieder häufig, wie verschieden die Anschauung und der Geschmack des Paares war, welches so bald miteinander in die weite Welt hinausziehen und sich gegenseitig Heimat und Freunde, Verwandte und Muttersprache zu ersetzen haben sollte.
Karl wollte alles einfach, gemütlich und solid – Binchen alles zierlich, elegant und hochmodern haben. In manchen Stücken gab Karl nach – in den meisten setzte er seinen Willen durch, und so kam es, daß das verzogene Kind jetzt oft und öfter mit rotgeweinten Augen zu sehen war.
Karl befand sich in einem Taumel von Unruhe. Die Hochzeit, die Reise, der Abschied von der deutschen Heimat und den alten Beziehungen – und daneben, bei aller Glückseligkeit, der nicht ganz totzuschweigende Zweifel, wie das kleine eigensinnige, verwöhnte Mädchen sich und ihm dort drüben das Leben gestalten werde, dies alles zusammen sang und summte ihm in den Ohren und ließ ihn nicht zu Behagen kommen.
Ein paar Tage vor der Hochzeit – derenthalben die ganze Stadt mit Polterabendvorbereitungen und Kleider- und Putzangelegenheiten in mehr oder minder großer Aufregung sich befand, begegnete der glückliche Bräutigam Annchen Braun, die er seit jenem Musik- und Mondscheinabend nicht wieder gesehen hatte. Ihr eine Einladung zu seiner Hochzeit zu verschaffen, das hatte der gutmütige Karl vergeblich versucht. Steuerrats setzten sich gegen ein solches Ansinnen entschieden zur Wehr; die einfache kleine Lehrerin paßte ihnen nicht in den erlesenen Kreis, der ihres schönsten Töchterchens Ehrentag verherrlichen helfen sollte. Ja, Binchen erklärte, Anna Braun würde sich bei einer solchen Festlichkeit nur unbehaglich fühlen, da sie kein Kleid hätte, das für eine solche Gelegenheit geeignet und schicklich wäre. „Um so mehr, da Du ihre alte Liebe bist,“ setzte sie übermütig lachend hinzu; aber Karl Thiessen lachte dies Mal nicht mit, sondern sah Binchen groß an und ging davon.
Unter dem Eindruck dieser nun schon zweimal von seiner Braut gemachten Bemerkung traf er, wie gesagt, Anna Braun und trat ihr natürlich nicht ohne eine leichte Befangenheit gegenüber.
Er wollte erst mit stummem Gruß an ihr vorbei – besann sich aber dann eines Bessern und blieb stehen, indem er den Hut zog.
„Nun, Fräulein Annchen,“ begann er, „so sehe ich Sie doch noch einmal vor meiner Hochzeit und kann mir Ihren Glückwunsch ausbittcn. Werden Sie nicht“ – er stotterte verlegen und setzte dann ungeschickt hinzu: „Werden Sie nicht in die Kirche kommen und die Trauung ansehen?“
Sie schüttelte ruhig den Kopf.
„Nein, Herr Thiessen, das kann ich leider nicht,“ sagte sie dann scheinbar ganz unbefangen, „ich habe eine Stellung in Berlin angenommen und reise am Donnerstag früh – also an Ihrem Polterabendmorgen dahin ab. Es freut mich aber, Sie vorher noch zu treffen, und ich wünsche Ihnen alles – alles Gute, was man einem Menschen nur wünschen kann,“ setzte sie mit sinkender Stimme hinzu – es war doch furchtbar schwer!
Er sah an ihr vorbei in die Luft. „Ich danke – – ich danke sehr!“ erwiderte er in tiefster Verwirrung – „und wenn Sie – ich meine, Fräulein Annchen, wenn Sie auch einmal heiraten –“
Sie lächelte ihn durch aufsteigende Thränen an.
„Das wird nie geschehen,“ sagte sie dann ganz fest.
„Nun – wenn es aber doch geschieht,“ fuhr er fort, „dann wünsche ich Ihnen – nein, ich meine Ihrem Zukünftigen, daß Sie ihm jeden Abend so schöne Lieder vorsingen möchten wie damals mir – wissen Sie noch? – an dem Abend, wo der Mond so hell schien?“
„Adieu!“ sagte sie plötzlich, drehte sich auf dem Absatz um und war fort, als wenn die Erde sie eingeschluckt hätte, so daß er verblüfft dastand und um sich her sah.
Das sah er aber nicht, daß sie dicht neben ihm ins Haus gerannt war, daß sie dort hinter der Treppe stand und schluchzte, als sollte ihr das Herz in Stücken gehen – was mußte er auch vom Mondschein sprechen!
Zwei Tage vor dem Polterabend fügte es sich so, daß Karl Thiessen noch eine kleine Reise in geschäftlichen Angelegenheiten nach der Kreisstadt unternehmen mußte. Er benutzte diese kurze Abwesenheit zu den letzten Vorbereitungen – kaufte die Trauringe, nahm mit heimlichem vergnügten Lächeln das für Frau Karl Thiessen bestellte Schiffsbillet in Empfang und kehrte am Mittwoch abend zu spätester Stunde nach seiner Vaterstadt zurück, mit dem Gefühle eines Menschen, der nun auch alles besorgt hat, was sich besorgen läßt, und sich vergnügt die Hände reibt – „Nun kann es losgehen!“
Er hatte der guten Tante Verwalterin das Versprechen ablegen müssen, die letzten acht Tage vor seiner Hochzeit ihr Gast zu sein, und war infolgedessen mit Anfang der Woche zu ihr gezogen.
So ging er denn jetzt auch vom Bahnhof geradeswegs nach dem kleinen Gartenhause. Die alte Dame schlief natürlich schon [887] lange. Auch heute schien der Mond, wenn auch nicht so schön wie an jenem Liederabend – und in dem blassen ungewissen Lichte sah er auf seinem Tische einen weißen Brief schimmern.
Er zündete Licht an und nahm das Couvert mit einem eigenen, unbehaglichen Gefühl in die Hand, über dessen Berechtigung und Ursprung er sich selbst im Augenblicke keine Rechenschaft zu geben vermochte. Die Schrift war ihm unbekannt – er riß das Couvert, seiner sonstigen ordnungsliebenden Gewohnheit entgegen, ungeduldig auf – ein langer Brief steckte darin. Doch ehe er ihn gelesen hatte oder sich dazu anschickte, rollte ihm, als deutliche, greifbare Inhaltsangabe, ein goldblitzender Gegenstand auf dem Tische entgegen, fiel mit einem kurzen harten Klang zu Boden rollte ein Stückchen hin und blieb dann liegen.
Er hob ihn auf – es war der Verlobungsring, den er selbst vor wenig Wochen so glücklich und hoffnungsfroh an Binchens Goldfinger gesteckt hatte.
Er stand eine lange Zeit, ohne ein Glied zu rühren, und hielt den kleinen Ring in der Hand, indem er nur ein paarmal ganz mechanisch und gedankenlos vor sich hin sagte: „Was? – was?“ ein Mal immer lauter als das andere, bis der zornige Klang seiner eigenen Stimme ihn gewissermaßen aufweckte und ihm zum Bewußtsein brachte, daß er auch noch andere Leute aus ihrer Ruhe stören könnte – seine gute, alte Tante!
Mit dieser kleinen innerlichen Mahnung war er gewissermaßen zu sich selbst gekommen – zu seinem ruhigen, rücksichtsvollen Selbst; und das unklare, beschämende, widerwärtige Gefühl, daß man ihn – Kar! Thiessen – beiseite geworfen habe wie einen alten Handschuh, der zu nichts mehr zu gebrauchen ist – dies Gefühl wich einer dumpfen, ungemütlichen Verwunderung, wie denn so etwas gerade jetzt und gerade heute und gerade zwei Tage vor seiner Hochzeit möglich sei.
Er stand auf und ging hastigen Schrittes in der Stube hin und wieder. „Aber was habe ich denn gethan?“ frug er wieder laut vor sich hin, gleichsam, um wenigstens seine eigene Stimme zu hören – um sich nicht so grenzenlos verlassen und allein zu empfinden.
Da fiel ihm der Brief, der den Ring begleitet hatte, ein. Er setzte sich an den Tisch, um ihn zu lesen und sich Aufklärung zu schaffen. Nun erst bemerkte er, daß die Dämmerung schon hereinbrach, daß also der halb betäubte Zustand, in dem er sich befunden, nicht Minuten, wie er gewähnt, sondern Stunden gedauert haben mußte. Er las den Brief – er war von der Steuerrätin – einmal, zweimal,. und immer wieder durch, ohne eigentlich so recht zu begreifen, was er enthielt, und mit jedem Mal, da er ihn las, wurde er ihm unverständlicher.
Er hatte plötzlich die Empfindung: „Aber das geht mich ja im Grunde gar nichts an! – Das bin ich ja gar nicht, von dem hier die Rede ist!“
Und schwer war es für ihn, sich mit dem abgedankten Bewerber eins zu glauben, sich, der seine kleine Braut wie ein Meißner Porzellanfigürchen behandelt hatte, so zart und vorsichtig, und dem die Frau Steuerrätin jetzt Schwarz auf Weiß zu wissen that, daß durch sein rauhes, herrschsüchtiges Wesen und durch die namenlosen Ansprüche, die er schon während des Brautstandes an die Leistungen Sabinchens gestellt hätte, das arme Kind sich bis zur Verzweiflung verschüchtert fühlte. Bei dem Gedanken, ihm von den sie so zärtlich liebenden Eltern und Geschwistern fort in ein ganz fremdes Land zu folgen und dort nicht einmal, wie sie geglaubt, in glänzende Verhältnisse zu kommen, sondern wie eine Hausmagd arbeiten zu müssen – bei dieser Vorstellung habe Binchen den Mut verloren, ihm ihr Wort zu halten. Sie gebe ihm hiermit seinen Ring zurück und hoffe – sie beide wären ja noch so jung – daß das Leben ihm noch ein anderes Glück bescheren werde – und so weiter, und so weiter.
Als Karl Thiessen diesen sehr inhaltsreichen Brief endlich wirklich gelesen, nicht bloß mechanisch angestarrt, und als er den Inhalt wirklich begriffen hatte, als ihm klar und deutlich vor Augen gebracht wurde, daß er aufgehört hatte, ein begehrenswerter Bräutigam zu sein, seit sein angeblicher Reichtum sich als einfacher, behaglicher Wohlstand erwiesen hatte – da gewann plötzlich der ruhige, gesunde Menschenverstand, der eigentlich in seinem ganzen Leben noch stets die erste Stimme gehabt, sein Recht wieder und er sprach zum letztenmal in dieser denkwürdigen Nacht laut mit sich und sagte: „Aber da kann ich ja eigentlich recht froh sein!“
Es war ihm klar geworden, daß er an dem Mädchen nichts verloren habe als ihr niedliches Gesicht, und das wäre, wenn es fürs ganze Lebensglück ausreichen sollte, auch nicht viel gewesen.
Aber anders sah es freilich in ihm und um ihn aus, wenn er in die aufsteigende Sonne starrte und sich fragte, was er nun mit dem beginnenden Tage und jedem, der ihm folgen würde, anfangen sollte.
Keine Braut – kein Haus – keine Zukunft – wieder allein im fremden Land! Doch was half es, sich das alles immerfort her zu sagen!
Das Nächste, was sich ihm mit größter Entschiedenheit aufdrängte und vor Augen stellte, war, daß er hier nicht bleiben konnte. Sollte morgen die halbe und übermorgen die ganze Stadt mit Fingern auf ihn zeigen als auf den Bräutigam, den die Braut zwei Tage vor der Hochzeit seiner Wege gehen hieß? Sollte er sich von der guten alten Tante Verwalterin nach guter alter Damenart trösten, bemitleiden, sich gute Bissen vorsetzen lassen und nebenbei hören, fühlen und merken, wie sie urteilte: „Ja, siehst du, das habe ich mir immer gedacht – hättest du mich gefragt“ – und was der billigen Hinterher-Weisheit mehr ist?
Ihn überlief es siedendheiß bei dem Gedanken an das helle Tageslicht, das jetzt so siegreich, so unbarmherzig und unumgänglich dort im Osten heraufkam, um ihn und seine Demütigung in greller Beleuchtung den Blicken der Menschen preiszugeben.
Nein – das Leben hat ohne jede Frage Augenblicke, wo Flucht keine Feigheit, sondern eine moralische Notwendigkeit ist – und ein solcher Augenblick war gekommen. Er riß ein Blatt aus seiner Schreibmappe, teilte der Tante Verwalterin in kurzen fliegenden Worten, denen mehr nach der Schrift als nach dem Jnhalt die Erregung des Schreibenden anzumerken war, das Geschehene mit und that ihr zugleich kund und zu wissen, daß er mit dem ersten Frühzuge nach Berlin reisen wolle. Dort würde er vorläufig bleiben und ihr, ehe er Europa verließ, in jedem Fall noch ein Stelldichein geben, um ihr persönlich Lebewohl zu sagen. Sein Gepäck solle sie ihm nach dem von ihm bezeichneten Hotel schicken.
Dann zog er auch seinerseits den Verlobungsring vom Finger, siegelte ihn ein und adressierte ihn an Binchcn und – ja, nun war er ja wohl fertig!
Als er im Tagesgrauen, seine Handtasche mit den unentbehrlichsten Gegenständen bei sich, auf der Straße stand und die schlafende regungslose Stadt betrachtete, über der die eigentümliche kühle Farblosigkeit der ersten Morgenstunden lag, als er sich sagte, daß er in dieser Stadt sein Glück gesucht, scheinbar gefunden und es nun darin zurücklassen müsse, da bäumte sich etwas in ihm auf – ein wenig schmerzliche Wehmut und ein gut Teil mannhafter Trotz.
„Sein Glück hat der Mensch in sich,“ dachte er und richtete sich zu seiner ganzen stattlichen Größe auf, „wollen doch einmal sehen, ob ich nicht noch etwas aus meinem Leben zurechtschnitze – und nun vor allen Dingen nicht weich werden!“
Unter solchen Gedanken, solchem sich selbst Zureden hatte er den Bahnhof erreicht und saß nun im Wartesaal, der wie alle Wartesäle nicht sehr reizvoll und in dieser frühen Frühstunde doppelt öde aussah.
Zum Glück brauchte er nicht mehr lange zu warten. Draußen dampfte und keuchte schon der Kurierzug, wie erschöpft von seiner atemlosen Fahrt durch das deutsche Land, und eben wollte Karl das erste beste Coupé besteigen, als er eine wohlbekannte Gestalt mit derselben Absicht den Bahnsteig entlang gehen sah, ganz allein und mit müden, kleinen Schritten, die etwas Hilfloses, fast Rührendes an sich hatten – Anna Braun!
Karls erste und begreiflichste Empfindung war, der Begegnung schleunigst aus dem Wege zu gehen. Schon hatte er den Fuß auf dem Wagentritt – da kam eine zweite Empfindung, stärker als die erste. Es mußte doch in gewisser Weise wohlthuend sein, diesem guten kleinen Mädchen zu erzählen, wie man mit ihm umgegangen sei, und in ihren teilnehmenden Augen zu lesen, wie warm sie für ihn Partei nahm – er vertrat ihr den Weg.
„Fräulein Anna!“ sagte er mit einem gewissen Ernst, „wir sind zusammen hier angekommen und nun wollen wir auch zusammen abreisen – ich fahre auch nach Berlin.“
Die paar Worte, kurz wie sie waren, hatten doch lange genug gewährt, um Anna ihre volle Fassung wieder zu geben. Zuerst hatte sie ein bitteres, fast grollendes Gefühl empfunden, als sie den Jugendfreund vor sich sah und von der kühlen, stillen Insel des Verzichtens und der Ergebung, auf die sie sich mit so viel Mühe und so viel Thränen gerettet hatte, sich wieder in das brandende Meer der innerlichen Kämpfe zurückgeschleudert fand. [888] Aber hatte sie sich so lange beherrscht, so wollte sie es auch noch bis zum Schluß thun. „Sie fahren auch nach Berlin?“ fragte sie, seine letzten Worte wiederholend „und heut’?“
„Ja, gerade heut’!“ sagte er und wies nach der offenstehenden Coupéthür, „aber wollen Sie nicht einsteigen? Wir haben ja viele Stunden Zeit, uns unsere Pläne für die Zukunft zu erzählen.“
„Meine Pläne sind rasch erzählt,“ sagte sie mit etwas erkünstelter Unbefangenheit, als sie einander gegenüber im Wagen saßen und der Zug sich langsam in Bewegung setzte, „ich gehe als Erzieherin zu fünf kleinen Mädchen nach Berlin – und alles andere wird sich dann später finden.“
„Und ich,“ sagte er und zog langsam den Handschuh von der linken Hand, „ich sage auch: ,alles andere wird sich finden‘ – ich bin so ein bißchen was man herrenloses Gut nennt – da – sehen Sie einmal her!“
Und er hielt ihr seine braune Hand hin, an der statt des Verlobungsringes ein weißeres Streifchen Haut zu sehen war, welches in letzter Zeit der Ring vor dem Braunwerden geschützt hatte.
Anna wirbelte der Kopf. Sie konnte zunächst nur eins denken – nur eins, so wenig egoistisch sie sonst war: es war jetzt kein Unrecht mehr, daß sie Karl Thiessen lieb hatte; er war wieder frei – und am Ende – man konnte ja nicht wissen – Sie wagte es nicht, den Gedanken weiter auszudeuten; sie saß ganz regungslos, ganz still mit zusammengepreßten Händen da, deren Zittern sie nicht ganz zu beherrschen vermochte. So hörte sie der Geschichte zu, die Karl Thiessen ihr erzählte, und nur ab und zu entrang sich ihrer Brust ein tiefer Seufzer des Mitgefühls, der vielleicht beredter war, als Worte es hätten sein können.
Und als Karl nun seine Erzählung schloß „Na ja!“ und auch tief seufzte, da blieben die Beiden eine ganze Weile still und Anna sah unentwegt vor sich nieder, als wenn sie die größte Angst hätte, ihre Augen könnten mehr sagen, als sie ihnen erlauben wollte.
„Und nun sehen Sie einmal, Fräulein Anna,“ fuhr Karl Thiessen fort, in dem der praktische Mensch in jeder Lebenslage immer wieder zum Durchbruch kam, „nun sehen Sie ’mal, nun schwimmt die ganze schöne Aussteuer nach China. Die hübschen, gemütlichen Möbel – das Nähtischchen, die große Wanduhr – all’ die netten Sachen – und dann werde ich dazwischen sitzen und mir ausdenken, wie hübsch es hätte sein können – wenn es eben hätte sein sollen! Schade – nicht wahr?“
„Sehr!“ erwiderte Anna fast unhörbar.
„Na, sprechen wir nicht mehr davon,“ meinte Karl und fuhr sich mit der Hand durch die krausen Haare, „was hin ist, ist hin. Sprechen wir lieber von Ihnen, Fräulein Anna – erzählen Sie mir einmal, wie Sie sich Ihr späteres Leben denken!“
Anna zuckte die Achseln. „Nun – am liebsten denke ich es mir gar nicht,“ sagte sie dann mit einem Versuch zur Heiterkeit, „ich werde eben die fünf kleinen Mädchen unterrichten, bis es fünf große Mädchen geworden sind – und dann – nun, dann wird es ja wohl anderwärts irgendwo wieder fünf kleine Mädchen geben, mit denen werde ich das Unterrichten wieder von vorn anfangen. Und so wird es dann weiter gehen.“
Karl sah sie nachdenklich an. „Und immer unter fremden Leuten?“ sagte er dann vor sich hin.
„Ja – aber das thut ja nichts,“ meinte Anna, tapferer als ihr zu Mut war; sie wollte um keinen Preis sein Mitleid rege machen – jetzt weniger als je! „Ich bin ja gesund und jung!“
„Das sind Sie!“ meinte Karl und sah freundlich in das liebe Gesicht seines Gegenübers, „aber Sie bleiben doch nicht immer jung, Fräulein Anna! Wenn Sie einmal alt werden – was wird denn dann?“
Sie holte tief, tief Atem.
„Daran habe ich freilich noch nicht gedacht,“ sagte sie dann, „und es ist wohl auch besser, man denkt nicht daran – und,“ setzte sie stockend hinzu, „es werden ja auch nicht alle Leute alt.“
Karl sah sie erschrocken an.
Also so ein Leben lag vor dem armen Mädchen – vor dem netten, lieben Mädchen – daß sie darauf hoffte, nicht alt zu werden!
„Aber Fräulein Anna,“ sagt er mit unsicherer Stimme, „wer wird denn so etwas sagen?! Sie haben doch so viel – ich meine, es giebt doch so viel – Sie können ja doch so hübsch singen. Herrgott, daran habe ich ja nie mehr gedacht, wie hübsch Sie singen können!“ setzte er hinzu und verfiel in ein langes, nachdenkliches Schweigen, das sie auch nicht unterbrach.
Nach einer ganzen Weile hob er den Kopf. „Ein Klavier habe ich nicht gekauft bei der Aussteuer,“ sagte er dann.
„Nein?“ erwiderte Anna fragend.
„Nein!“ antwortete er, „sie – Binchen – konnte ja gar nicht spielen und singen – das hat mir schon immer sehr leid gethan. Ich höre es so sehr gerne.“
Keine Antwort.
„Sehen Sie mal, Fräulein Anna,“ begann Karl nach kurzem Schweigen von neuem, „Sie können sich das Altwerden nicht hübsch denken – na – ich eigentlich auch nicht. Dort unten in der Fremde – unter lauter Leuten, die knapp Deutsch verstehen, und mit einem chinesischen Koch – und wenn man dann des Abends müde nach Hause kommt, dann ist niemand da. Und es wäre doch sehr hübsch, wenn man dann jemand fände, der ein deutsches Volkslied singt!“
Anna wendete in tiefster Beklommenheit den Kopf hin und her.
„Sie haben ja kein Klavier,“ warf sie fast unhörbar ein.
„Nun, das ließe sich am Ende – das läßt sich ja beschaffen – das kriegt man auch drüben,“ meinte Karl, seltsam erheitert durch diesen Einwurf. „Fräulein Anna – darf ich Ihnen einmal etwas sagen?“
„Das kann ich Ihnen ja wohl nicht verbieten,“ meinte sie halb lachend.
In diesem kritischen Momente öffnete der Schaffner die Thür, um sich von dem Paar, das jetzt ohne Mitreisende war, die Billets zu erbitten.
Karl öffnete seine Brieftasche und fand neben seiner Fahrkarte die zwei Schiffsbillets – er warf einen raschen Blick auf dieselben und wurde ganz blaß.
„Ach so!“ sagte er verstört vor sich hin.
Der Schaffner sah ihn verwundert an, knipste an den Kärtchen herum und verließ das Coupé.
„Sehen Sie ’mal, Fräulein Anna,“ begann Karl nun wieder, fast ebenso verlegen wie sein Gegenüber, „hier habe ich mein Retourbillet nach China – und hier habe ich einen zweiten Schein, worauf ich mir meine Frau mitnehmen wollte – bitte, Fräulein Anna wollen Sie ihn sich nicht einmal ansehen?“
Anna schüttelte heftig den Kopf.
„Fräulein Anna – wenn Sie nun das zweite – wenn ich Ihnen das geben könnte – und Sie dann als meine Frau – Sie sind ja doch ein verständiges Mädchen, welches das Leben mit Ruhe ansieht –“
Aber das war zu viel! Anna, die beherrschte, sanfte, ruhige Anna, sprang von ihrem Sitz auf und trat mit blitzenden Augen vor Karl hin.
„Nein!“ rief sie überlaut, „nein, ich bin kein ruhiges, verständiges Mädchen – gar nicht die Spur! Und Sie mögen es denn einmal hören – einmal – und dann nie – nie wieder! – Ich habe Sie lieb gehabt mein ganzes Leben lang – schon wie ich mit der Schulmappe herumlief. Und ich habe an Sie gedacht und auf Sie gewartet und auf Sie gehofft – die ganzen langen Jahre hindurch – und ich habe es mit angesehen, daß Sie an mir vorbeigingen zu einer andern, die jünger und hübscher war, und ich habe mich nicht verraten. Aber wenn Sie nun kommen und mir sagen, Sie hätten keine Frau für Ihre Schiffskarte, und da sollte ich sie benutzen – da will ich es Ihnen doch sagen – als Retourbillet lasse ich mich nicht heiraten – und nun will ich aussteigen, und ich fahre nicht mehr mit Ihnen!“
Und ohne jede Rücksicht auf den erschwerenden Umstand, daß der Zug im vollsten Jagen war, rüttelte Anna mit beiden Händen an der fest verschlossenen Coupéthür, um, als diese – in diesem Augenblick entschieden die Verständigere von beiden – nicht nachgab und sie die Fruchtlosigkeit ihrer Bemühungen einsehen mußte, in ihren Sitz zurückzufallen und in leidenschaftliches Weinen auszubrechcn.
Karl war durch die Ereignisse der letzten zwölf Stunden bis zur äußersten Leistungsfähigkeit seiner Nerven gebracht – es fehlte nicht viel, so hätte er ihr Gesellschaft geleistet. Zunächst that er es nicht – dafür aber das klügste, was er thun konnte – er ließ sie ruhig ausweinen, und als sie endlich – wie ihm schien, ungefähr nach einem halben Jahr – ihre Thränen zu trocknen begann und den Kopf erhob, da nahm er denn seine Verteidigungsrede auf.
Er setzte ihr mit großer, ehrlicher Wärme auseinander, daß er sie ja immer sehr gern gehabt hätte und daß er gar nicht der Mann dazu sei, jemand aus purer Gutmütigkeit zu seiner Frau
[889][890] haben zu wollen – „aus lauter schnödem, unverfälschtem Egoismus vielmehr, Anna – denn daß ich ’mal einen ganzen Abend auf dem schnurgeradesten Wege dazu war, mich in Sie zu verlieben, das wissen Sie doch ganz genau! Nein, schütteln Sie nur nicht den Kopf! Denken Sie ’mal an den Abend, wo der Mond schien und Sie die deutschen Lieder sangen. Damals habe ich schon gedacht: ,wie schön wäre es, wenn sie mir in China so, Abend für Abenh ein Paar Lieder vorsänge‘ – aber da habe ich den Gedanken weit fortgeworfen, denn da ging es ja doch gar nicht, daß ich ihn ausspinnen durfte. Und wenn wir nun wieder hier zusammen kommen – wie zusammen geführt, Anna, am Anfang und am Ende meiner Heiratsfahrt – und mir alles so klar wird – und wenn Sie mich wirklich eher lieb gehabt haben als ich Sie – so wahr mir Gott helfe! – jetzt habe ich Sie auch lieb – und warum soll es denn nicht auch einmal anders in der Welt hergehen beim Verloben als alle Tage?“
Sie schwieg, aber schüttelte noch immer den Kopf.
„Nun, Anna?“ drängte er.
„Und wenn ich es thäte,“ sagte sie leise – „ich sage nicht, daß ich, es thun will – aber wenn: da würden alle Leute sagen, Sie hätten mich nur aus Aerger genommen, weil Binchen Sie nicht gemocht hat!“
Er sah ihr lachend ins Gesicht.
„Nun, Anna – und wenn wirklich hier in Deutschland ein Paar alte Klatschbasen so etwas sagen – meinen Sie, daß Sie das in China sehr anfechten wird? Schreiben wird’s uns wohl keine dahin! – Nein, mit solchen Gründen wollen wir uns das Leben, nicht schwer machen – die lasse ich gar nicht gelten.“
Er hielt ihr die Hand hin und sah sie mit seinem gutmütigsten Schelmenblick an. „Nun, Annchen? Darf ich das Klavier kaufen?“
Und sie schlug unter Thränen lachend ein und sagte dann ganz leise: „Siehst Du, ich habe es mir immer vorgesagt in der ganzen langen schweren Zeit, wo Du Dich gar nicht um mich kümmertest – ‚wenn der liebe Gott es will, kriegst Du ihn doch noch‘ – und nun hat er es gewollt!“
„Du gutes Mädchen!“ sagte er ernst und gerührt.
Meine Geschichte wäre nun wohl mit der Verlobung zu Ende, wie es einer richtigen Geschichte zukommt.
Aber ich muß doch noch erzählen, daß Karl Thiessen es unter Aufbietung aller Möglichkeiten und Unmöglichkeiten fertig bekam, einen Ersatz für Annchen in ihrer nun doch einmal angenommenen Stellung zu gewinnen; daß die Frau Verwalterin die Freuds erlebte, Brautmutter spielen und die glänzende Hochzeit des jungen Paares in Berlin anordnen zu dürfen und als Hauptperson schon an der Hochzeitstafel probierte, sich einzureden, sie habe die beiden eigentlich zusammengebracht. Und jetzt glaubt sie’s schon so fest, daß es ihr niemand mehr abstreiten kann!
Kürz darauf dampften Karl und Anna zusammen nach China ab und sind dort ein sehr glückliches Paar geworden.
Wer noch etwas von Steuerrats Binchen wissen will, dem sei mitgeteilt, daß sie einen recht vermögenden Kaufmann geheiratet hat, der aber verlangt, daß seine hübsche Frau an besonders beschäftigten Tagen selber hinter den Ladentisch tritt und Zucker und Kaffee für die Kunden abwägt. Ob sie da manchmal mit einem Seufzer an Karl Thiessen und an China denkt, das weiß ich nicht – bin auch viel zu diskret, um danach zu fragen.
Karl Thiessen und seine Frau sind übrigens vor kurzem mit einer Schar prächtiger Jungen wieder in Deutschland gewesen.
Das ehemalige Annchen Braun scheint jetzt ganz beruhigt darüber zu sein, daß sie einst „als Retourbillet“ geheiratet worden ist, und sieht hübscher und jünger aus als in ihrer Mädchenzeit.
Ich kann es mit gutem Gewissen versichern, denn ich habe sie selbst gesehen.
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Modefarben.
Auszeichnungsbedürfnis und Nachahmungstrieb, diese beiden tief in der Menschennatur begründeten Reize haben die Mode erschaffen und halten sie durch ihr abwechselndes Eingreifen in stetem Fluß. Deshalb ist der Kampf gegen den Modewechsel von jeher aussichtslos gewesen: dieser vollzieht sich ganz gesetzmäßig von selbst, wenn auch manchmal äußere Ereignisse zum Anlaß plötzlicher Modeneuheiten werden. Besonders knüpfen neu auftauchende Modefarben mit Vorliebe an hervorragende Persönlichkeiten, ihre Eigenschaften und Liebhabereien an, wie sowohl die Neuzeit, als die vergangenen Jahrhunderte zeigen.
Vom grauen Altertum freilich fehlen uns die Beispiele; wir wissen nicht, nach wem sich die erste Modefarbe der Welt, der dunkle phönizische Purpur, nannte, dessen Kostbarkeit ihn zum ausschließlichen Eigentum der Reichsten und Vornehmsten im Umkreis des Mittelmeeres machte. Seine unverwüstliche, herrliche Leuchtkraft bezeugen die alten Schriftsteller einstimmig, wenn auch keine Kunde von der Art erhalten ist, durch welche die großen lyrischen Färbereien den Saft der Purpurschnecke gewannen und ausnutzten.
Wenn Wir nun im Purpur die begehrteste Farbe des Altertums erblicken, so können wir uns der Einsicht nicht verschließen, daß der Scharlach, d. h. ein ins Gelbe spielendes Hellrot, das aus Karmoisinrot mit etwas Citronengelb gemischt zu sein scheint, die vornehmste Modefarbe des Mittelalters gewesen ist. Auch der Scharlach stammt aus dem Orient und ist von den Kreuzfahrern mit heimgebracht worden. Neben dem hauptsächlich aus den Niederlanden eingeführten Scharlachtuch war Gold, d. h. die köstlichen, mit Gold durchwirkten orientalischen Seiden-Brokate und Siglate, der Hauptbegehr der mittelalterlichen Frauen. Bis zum 13. Jahrhundert waren sie hauptsächlich als Geschenke aus Byzanz oder dem weiteren Morgenlande an die Fürstinnen gelangt, von da ab wurde Venedig der Stapelplatz dafür, und bald erstanden auch in Italien Fabriken, welche die orientalische Goldweberei mit vielem Glück nachahmten. Auch ein pfauenblau schillernder Seidenstoff (Pfaoin) wurde von dort nach Deutschland eingeführt, der sich einer großen Beliebtheit bei höfischcn Frauen und Minnesängern erfreute.
Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts griff die Revolutionsepoche, die Zeit des schlanken griechischen Ideals, auf das weiße Kleid zurück, weil es die Gestalt vergrößert. Eine Modedame wie Madame Tallien besaß Dutzende von weißen Musselingewändern, auch Josefine Beauharnais zeigte ihre graziöse Gestalt mit Vorliebe in solchen, selbst der so wenig ästhetisch veranlagte Bonaparte stand dermaßen im Banne dieser Farbe, daß er gelegentlich sagte, er kenne nichts Entzückenderes als eine Abendlandschaft mit dunklen Bäumen, unter welchen eine schlanke weißgekleidete Frauengestalt hinwandle. Auch in Deutschland herrschte das weiße Kleid unumschränkt, wie die Bilder der Königin Luise und vieler anderen jugendlichen Fürstinnen bezeugen.
Bis in die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein hielt sich die Vorstellung von der Zusammengehörigkeit weiblichen Jugendreizes mit dem weißen Gewand, dann verschwand dieses allmählich, sogar aus dem Ballsaal, vor der in den siebziger Jahren gründlich zur vollen Alleinherrschaft gelangten Modefarbe Crème. Sogar das bräutliche Gewand vor dem Altar fiel vom Schneeweiß zur Elfenbeinfarbe ab. Aber neuerdings hat sich die Mode gelegentlich ihrer Rückkehr zu den „Récamier-Formen“ auch auf den alten erprobten Effekt „Weiß“ besonnen: die großen Frühlingsrennen von Auteuil und Longchamps entfalteten vor einigen Jahren zuerst wahre Symphonien von Weiß, und seitdem sehen auch wir unsere jungen Mädchen wieder in sommerlichen Musselingewändern, deren Faltentaille und halbkurze Aermel an die Jugendzeit der Großmama erinnern, während die lichten Seidenbänder des Ausputzes weiter zurückgreifen und die alten verschollenen Rokokofarben Seladongrün und Bleu mourant (der deutschen Zunge als „blümerant“ mundgerecht gemacht) wieder zu Ehren bringen.
Aber der vor hundert Jahren allverbreitete wertherblaue Frack will nicht wieder erscheinen, und der vor einigen Jahren mit dem Hochdruck vereinigter Schneiderkräfte eingeführte scharlachrote ist vereinzelte Gigerltracht geblieben. Die moderne Männerwelt läßt sich offenbar aus der bequemen Billigkeit ihrer vom Schwarz bis ins Hellgrau reichenden Farbenskala nicht mehr [891] heraustreiben, und viele Damen teilen die Neigung für die „unbestimmten“, bräunlichen und grauen Töne. Ja, man kann sagen, daß Grau heutzutage eine Hauptmodefarbe geworden ist. Mögen die Verehrer der Farbe noch so sehr gegen seine trübe Unschönheit eifern, wie noch jüngst J. v. Falke in einem sehr hübschen Aufsatz der „Frankfurter Zeitung“: das graue Reisekleid, der Regenmantel, das Herbstkostüm von derselben Farbe sind zu praktisch, um wieder abgelegt zu werden. Sonne, Regen und Staub vermögen ihnen nichts anzuhaben, und das so sicher vorausgesetzte „Schlecht stehen“ läßt sich in solcher Allgemeinheit nicht behaupten. Zwar sagt sogar Papst Leo XIII. gelegentlich der Vermählung seiner Nichte Marie Pecci mit dem Grafen Moroni, wo Se. Heiligkeit seinen Sekretär beauftragte, sich um die Toiletten der Braut zu kümmern: „Der Anzug muß weiß, schwarz oder blau sein, das sind die Farben, welche junge Personen am besten kleiden. Das Grau und Braun steht nur alten Frauen gut, junge sollten es daher nicht wählen.“ Da aber diese päpstlichen Worte nicht ex cathedra gesprochen sind, so darf bescheidentlich dagegen erinnert werden, daß die sogenannten neutralen Töne, grau in allen Mischungen, bräunlich, sand- und haselnußfarben, jungen Mädchen und Frauen von rosigem Teint mit lichten oder dunkeln Haaren vorzüglich stehen. Nur blasse und gelbliche Gesichter thun gut, sie zu vermeiden, weil ihr Teint und die Kleiderfarbe zu viel Gemeinsames haben. Für sie ist das kräftige Braun, das tiefe Rot trotz der Lehre von den Komplementärfarben, welche immer wieder in populären Aufsätzen recht unglücklich auf die weibliche Kleidung angewendet wird. „Langes Sehen auf Grün erzeugt hinterher den Eindruck von Rot.“ Also müßte eine Dame von gelber Gesichtsfarbe dunkelgrüne Kleider wählen, um dadurch rosiger auszusehen. Wie aber würde sich das in Wirklichkeit machen? . . Sie wird jedenfalls besser thun, sich davor zu hüten, und ein tiefes Braun oder Rot wählen. Mädchen mit starker Wangenröte aber werden sich gewiß nicht lebhaft blau kleiden, um dadurch gelblicher auszusehen, sondern ein dunkles, mit Grau gebrochenes Grün am vorteilhaftesten neben Schwarz, Weiß und Grau finden.
Hellbraun ist eine gefährliche Farbe, kommt auch als Modefarbe immer schnell wieder ab, weil die Nuancen: tabak, havanna etc. nur ganz wenigen gut stehen. In Amerika war 1893 die Flohfarbe (flea color) die größte Neuigkeit. Die dortigen Damen trugen flohbraune Kleider und Mäntel, flohfarbene Oberkleider und die Kinder flohbraune Mäntelchen. Diese Idee ist indes keineswegs amerikanisch, sondern es war der unglückliche König Ludwig XVI., welcher dem glänzenden Kastanienbraun, das in Frankreich unter dem Namen flohbraun (puce) bekannt ist, diesen Namen gegeben hat. Als eines Tages Marie Antoinette in einem so gefärbten Kleide erschien, bemerkte der König: „Diese Flohfarbe kleidet ganz bewundernswert.“ Und die Hofdamen, die dies hörten, waren sofort Feuer und Flamme für diesen neuen Ausdruck. Sie eilten unverzüglich zu ihren Kleiderlieferanten, um sich ebensolche flohfarbene Kleider, wie das der Königin, zu bestellen. Später wurde eine Farbe double-puce erfunden und blieb eine Saison lang in allgemeiner Gunst.
Bedeutend länger hielt sich in Wien das Kaiseraugenblau, eine Farbe, die genau der der Augen Kaiser Josefs II. entsprach.
Aber nicht nur die Bewunderung großer Männer, die unter anderem das Tegetthoffblau und später, in den siebziger Jahren, das Bismarckbraun geschaffen hat, sondern auch die Begeisterung für Aufsehen erregende Personen ist bereits zur Schöpferin von Modefarben geworden. Wir erinnern hier nur an das schwarz-weiß karrierte, nach der Tänzerin Pepita benannte, noch heute beliebte Gewebe, sowie an die in verschiedenen Farben schillernden Stoffe, welche der Enthusiasmus für die amerikanische Schlangentänzerin Loïe Fuller aufgebracht hat. Ueberhaupt wird jede Farbe, kurz alles, was Loïe Fuller wählt, modern, und da dies schon ins vierte Jahr währt, so kann man ohne weiteres sagen, daß selten eine einzelne Person einen so großen Einfluß auf die Entwicklung der Modefarben ausgeübt hat als diese Amerikanerin. Allerdings blicken in betreff dieser Farben nicht alle Pariserinnen auf Loïe Fuller, sondern erwarten vielmehr mit Spannung das jährlich etwa sechsmal erscheinende Album mit der Kollektion neuer Farbennuancen, von denen dann einige auserwählt werden, um im Reiche der Mode mehr oder minder lange zu herrschen.
Im Jahre 1893 gab es zur Herbstsaison nicht weniger als dreihundert solcher Nuancen und dabei waren, wie es in einem Pariser Berichte hieß, noch einige Nachzügler in Aussicht gestellt. Selbstverständlich mußten all diese Nuancen Namen besitzen, und es mag keine Kleinigkeit gewesen sein, dieselben zu erfinden. Uebrigens haben sich die maßgebenden Faktoren die Sache mitunter sehr leicht gemacht und drei reizenden Lila-Nuancen z. B. die willkürlichen Bezeichnungen „Sainte Therese“, „Sainte Marthe“ und „Marie Madeleine“ gegeben, während eine geschmacklose blaue Farbe „Sarah Bernhardt“ zubenannt wurde. Ein mildes Blaugrün hieß „Das Auge Christi“ und ein klares, für Ballkleider bestimmtes Grün „Heuschreck“. Vier grauen Schattierungen gab man die Namen „Dampf“, „Melinit“, „Dynamit“ und – „Tau“ und ein rötliches Braun wurde gar „Moïse“ („Moses“) genannt.
Wie geht es nun bei Erschaffung solcher Modefarben eigentlich zu? Sehr einfach: sie werden von irgend einem Geschäfte, dessen stiller Teilhaber ein Modereporter ist, eingeführt und ihr Erfolg ist gemacht, wenn sich irgend eine Modedame findet, der eine der betreffenden Farben gut steht. Ihrem Beispiel folgen dann die andern nach.
Manchmal mißglückt aber auch eine solche Spekulation, wie z. B. die vor zwei Jahren mit so großer Reklame bewerkstelligte Einführung neuer greller Anilinfarben: Rot, Blau und Violett, welche nach kurzer Existenz in den Ladenfenstern stillschweigend zu Grabe, d. h. zum Umfärben, gegangen sind. Die Damenwelt erkannte bald, wie schlecht diese starken Farben zu Gesichte stehen, und kaufte sie nicht, trotz alles Anpreisens.
Ein Beispiel von dem Mißerfolg einer an sich hübschen, aber zu billigen, also gleich für alle erreichbaren Modefarbe lieferte vor einigen Jahren das Grün auf Schwarz. In den Auslagen standen mit Frühlingsanfang als „große Neuheit“ schwarze Spitzen- oder Strohhüte, deren Kopf ein Kranz von maigrünen Waldblättern, Hopfenranken u. dergl. umgab. Das war einmal etwas ganz Apartes! Das Auszeichnungsbedürfnis kaufte sofort, aber dem Nachahmungstrieb war die Sache zu leicht gemacht – in Zeit von vier Wochen saßen die grünen Kränze auf einer solchen Menge selbstaufgesteckter schwarzer billiger Hüte, daß das Auszeichnungs-Bedürfnis beschämt die Seinigen zum Umändern schickte. Es triumphierten die Selbständigen, die nicht Schwarz-Grün gekauft hatten und das schnelle Ende dieser Mode voraussahen, welche dann auch vor Mitte Mai bereits abgethan und aus den eleganten Schaufenstern gänzlich verschwunden war.
Solcher Selbständigen giebt es heute in Paris und New-York noch mehr als in den deutschen Hauptstädten, aber auch hier ist die Zahl derer in stetem Wachstum, welche eine neue Modefarbe nicht blind annehmen, sondern sich die ihrige nach den Bedingungen ihrer Erscheinung auswählen. Die „launische Göttin Mode“ herrscht nur dort tyrannisch, wo man sich ihr sklavisch unterwirft. Schönheitssinn und ästhetische Bildung wissen stets, auch mit bescheidenen Mitteln, aus der großen Allgemeinheit das Besondere, Reizvolle auszuwählen und ihm den Stempel des persönlichen guten Geschmackes aufzuprägen. Eine unendliche Mannigfaltigkeit muß die Folge davon sein, und wenn diese einmal die „neue Mode“ jedes Jahres berichtigt und variiert, dann ist die goldene Zeit für Modeberichterstatter gekommen.
Blätter und Blüten.
Ein unbeachteter Uebelthäter. Zu den größten Fortschritten unserer Zeit muß sicher derjenige gerechnet werden, den wir in der Gesundheitspflege gemacht haben. Früher beschränkte man sich darauf, die Krankheiten mit mehr oder weniger Erfolg zu bekämpfen, jetzt suchen wir ihnen vorzubeugen, und das hat bereits die segensreichsten Folgen gehabt. Trotzdem man nun nach dieser Richtung hin bisweilen des Guten zu viel thut und gar zu vorsichtig ist, hat man doch einem Uebelthäter noch keine Beachtung geschenkt, der das ärgste Mißtrauen verdient, einem Möbelstück, das wir arglos in unsere Wohn- und Schlafstuben stellen,
obwohl sein Inhalt ein ganz bedenklicher ist. Ich meine den Kleiderschrank. Nicht bloß hängen wir in unseren Kleidern den mikrobendurchsetzten Staub der Straße in unseren Zimmern auf, wir konservieren darin auch geradezu die Krankheitsstoffe, die bisweilen durch die Ausatmung der Haut aus unserem Körper gebracht werden. Niemand wird es einfallen, schmutzige Wäsche in der Stube, in der man wohnt oder schläft, aufzustapein, und doch liegt der Fall bei den Kleidern ja nicht viel anders. Um einen idealen Zustand in diesem Sinne herbeizuführen, müßten wir unsere Kleider nicht bloß ausklopfen und ausbürsten – das ist immerhin
[892] schon eine sehr gesunde Maßregel – sondern sie waschen, geradeso wie Hemden und Strümpfe. Aber wie unsere Kleider nun einmal sind, geht das nur in Ausnahmefällen. Nur teure, gute Stoffe vertragen das Waschen, und die gebräuchlichen Kleiderformen sind auch nur wenig geeignet dafür. Was also thun? Daß die Befreiung von den Ausatmungsstoffen unseres Körpers eine der wichtigsten Aufgaben der Gesundheitspflege ist, daran zweifelt man ja heutzutage nicht mehr. Dieselbe wird nun durch Lüftung gefördert, und zwar nicht nur durch Lüftung der Zimmer und Lüftung des ganzen Menschen draußen im Freien, sondern auch – Lüftung der Kleider. Das ist es, was wir thun können, um den bisher unbeachteten Uebelthäter möglichst unschädlich zu machen. Man pflegt die Kleider, wenn man sich ihrer entledigt hat, rasch in den Schränken zu verwahren, und gerade in den musterhaften Wirtschaften geschieht dies sofort, nur in den leichtsinnigeren bleiben sie auf Betten, Stühlen und Tischen kürzere oder längere Zeit liegen. Thun wir nun weder das eine noch das andere, sondern hängen wir unsere Garderobe so lange und so gut, als es die Verhältnisse erlauben, an die Luft! Wer ein Gärtchen oder einen Hofraum zur Verfügung hat, wird am besten dran sein. Andere haben einen Balkon oder ein Kämmerchen, in dem sich ein beständiger Luftzug herstellen läßt. Wer aber gar nichts von dem hat, der hat doch ein Fenster, kann einen Stuhl davor stellen und darauf seiner Toilette ein paar Stunden lang frische Luft gönnen. E. Peschkau.
Die letzte Runde im alten Jahr. (Zu dem Bilde S. 877.) Heut’ am Silvesterabend haben sich die drei Freunde, die seit Jahren gewohnt sind, den Dienstagabend an ihrem Stammtisch bei einem „Spielchen“ zu verbringen, in der Wohnung des einen zusammengefunden, der in der Kunst des Bowlebrauens den andern als Meister gilt. Und der Justizrat versteht’s, es den Gästen bei sich behaglich zu machen. Da ist’s doch gemütlicher als im großen Wirtszimmer, das am Abend vor Neujahr nur wenig Besucher sieht und in seiner Oede dann gar unheimlich an die Schattenseiten des Junggesellentums mahnt. Der Jahreswechsel hat ohnedies die unangenehme Eigenschaft, den Geist zu allerhand Erinnerungen und Berachtungen anzuregen, welche die Seele wehmütig stimmen, an frühere Zeiten zu mahnen, da man den festlichen Abend in frohem Familienkreise verbrachte und sich die Zukunft so ganz anders ausmalte, als sie sich nun – trotz aller Erfolge in Amt und Würden – gestaltet hat. Um solche Gedanken zu bannen, ist der Skat ein erprobtes Zaubermittel. Der verlangt Aufmerksamkeit, weckt Frohsinn und Heiterkeit, hält die Geister in Spannung. Aber bei der letzten „Runde“ vor dem Glockenschlag Zwölf beschleicht die Bedeutung der Stunde nun doch die drei standhaften Junggesellen. Und den Justizrat, der die Bowlengläser am nächsten Tisch in den Pausen fleißig gefüllt hat, überkommt auf einmal mit dem Gefühl, daß er der Jüngste im Bunde, der Geist der Neckerei und ganz keck schlägt er den Partnern vor: „Jetzt gilt’s, wer in der Runde gewinnt, heiratet im nächsten Jahr!“ Er lächelt dabei verschmitzt, als fände er dies Geschick gar nicht so übel. Die andern aber protestieren lebhaft. Doch schließlich ergeben sie sich drein und spielen nun voll Eifers, zum erstenmal in ihrem Leben von dem Wunsche beseelt, zu – verlieren!
Entdeckung von hundert Ruinenstädten. Die Halbinsel Yucatan war einst der Sitz einer blühenden altamerikanischen Kultur. Noch heute zeugen gewaltige Ruinen von der Fülle und Macht des Volkslebens, das sich hier entfaltet hatte. In einem der früheren Jahrgänge der „Gartenlaube“ (1892, S. 704) haben wir von dem rätselhaften Volke der Maya berichtet und dargethan, wie vieles noch auf diesem Gebiete nachgeforscht werden muß. Einen großen Erfolg hat neuerdings in dieser Hinsicht ein Deutscher, Teobert Maler, errungen. Er hatte früher als Hauptmann in Diensten des Kaisers Maximilian Land und Leute in Mexiko kennengelernt und widmete sich nach dem Sturze des mexikanischen Kaiserreichs geographischen und altertumsgeschichtlichen Studien. In dem letzten Jahrzehnt wählte er die Halbinsel Yucatan zum Schauplatz seiner Thätigkeit. Dieselbe war durchaus kein leichtes und gefahrloses Beginnen; denn in jenen Grenzgebieten der spanisch-mexikanischen und der mayanischen Republiken, die durch Wüsteneien voneinander getrennt sind, herrschen noch eigenartige Zustände. Ein Fremder, der dort das Land näher kennenlernen will, wird von der spanischen Bevölkerung mit Mißtrauen angesehen, und gelangt er zu den freien Maya, so vermuten diese in ihm einen Spion der mexikanischen Regierung und wollen ihn umbringen. Alle diese Schwierigkeiten wußte Teobert Maler zu überwinden. Gleich im Anbeginn seiner Expedition im Jahre 1886 beschloß er, sein Quartier an irgend einem geeigneten Punkte aufzuschlagen und dann strahlenförmig nach allen Richtungen hin, wo ihm die Indier von einer Ruine Kunde gegeben, kleine Ausflüge zu machen; erst, wenn alles in weitem Umkreise erforscht war, verlegte er sein Hauptquartier nach einem anderen Orte. Der Erfolg, den Teobert Maler im Laufe der Jahre errang, ist in der That ein außerordentlicher. Er hat mindestens hundert bisher gänzlich unbekannt gebliebene Ruinenstädte entdeckt und durchforscht. Einen besondern Wert erhalten aber seine Arbeiten dadurch, daß es ihm gelungen ist, eine große Anzahl ausgezeichneter photographischer Aufnahmen zu machen. Die vortreffliche geographische Zeitschrift „Globus“ (Verlag von Friedr. Vieweg u. Sohn in Braunschweig) hat in Nr. 16 und 18 des laufenden Jahrgangs einen mit Illustrationen geschmückten Bericht über die verdienstvollen Arbeiten Malers gebracht. *
Hochzeit im Felde. (Zu dem Bilde S. 880 und 881.) Wie beredt schildert diese Feier vor dem aus Trommeln und Fahnen in der Eile hergerichteten Feldaltar den Jammer des großen deutschen Krieges! Nicht soviel Zeit, als ein fröhliches Hochzeitsfest im Kreis der Verwandten erfordert, kann sich der wackere Obrist gönnen, er bleibt in seinem Felddienst und muß froh sein, daß die Kriegswoge ihn soweit südwärts verschlagen hat, um die ihm seit Jahren Angelobte zur Trauung ins Lager herüberholen zu lassen. Aber so ernst die Stimmung dieser festlichen Versammlung auch ist, der Zauber inniger Beseligung verklärt doch das Gesicht der neben dem treuen Geliebten knieenden jungen Braut. Und muß sie auch, nach kurzen Rasttagen im Lager an der Seite des ihr endlich Angetrauten, mit den Angehörigen wieder heim auf die väterliche Burg, das Glück, ihm anzugehören, nimmt sie mit in die Einsamkeit und die feste Zuversicht, daß der lange Krieg doch ein Ende finden und der Friede ihr den Gatten wieder heil und glücklich in die Arme zurückführen wird. Tiefernst und ergriffen kniet das Brautpaar vor dem guten Pater, der sich bemüht, ihm durch doppelt warme Segenswünsche den Blick in die Zukunft zu lichten; der Ernst der Stunde beherrscht auch die Züge der Angehörigen und Freunde, die im Kreis dahinterstehen.
Neujahrsgruß auf der Landstraße. (Zu dem Bilde S. 889.) Wie das schneit! Wie geschäftig eilen die Flocken am Sylvestertage über Berg und Thal. Es ist, als ob der Wettergeist des alten Jahres den Menschen zeigen wollte, was er kann. Und ehe der kurze Tag sich zum Abend neigt, hat er sein Werk vollbracht. Verschneit ist Weg und Steg; verweht sind die Schienenstränge; der Verkehr ruht. Da hat das Wetter den Menschen einen Strich durch die Rechnung gemacht; was noch im alten Jahre erreicht werden sollte, es liegt unerreichbar da. Auf zahllosen Stationen liegen die vielen Passagiere und müssen in Wartesälen die Sylvesternacht feiern – so fernab von den Lieben und bei einem mitunter so fraglichen Punsch! Erst am Morgen des Neujahrstages naht die Erlösung in Gestalt der alten gelben Postkutsche. Lustig klingt das Schellengeläute, fröhlich schmettert das Posthorn und in alter Väter Weise sucht im neuesten Jahre der moderne Mensch sein Ziel zu erreichen. Und drüben aus dem Thal klingt ein anderes Horn herüber, da kommt ein anderer Postschlitten, und als die beiden Kutschen sich kreuzen, halten die „Schwäger“ und tauschen Neujahrsgrüße aus. Sie scherzen über den Schneefall und verspotten das Dampfroß, das in einem bißchen Schnee nicht vorwärts kann. Die alte Post wird als Retterin in der Not gepriesen.
„Hat’s gut angefangen, das Jahr?“ fragt der eine Postillon.
„Umsonst hab’ ich nicht zu blasen brauchen,“ erwiderte der andere mit einem behaglichen Blick auf die freundliche Reisegefährtin, die seinen Sitz auf dem Bock teilt.
„Ich auch nicht,“ versicherte der andere. „Die haben ordentlich in die Taschen gegriffen!“ und weist mit einem Kopfnicken auf seine Passagiere hin. „Prost Neujahr, Schwager! Hoiho!“ *
Inhalt: Die Lampe der Psyche. Roman von Ida Boy-Ed (Schluß). S. 877. – Die letzte Runde im alten Jahr. Bild. S. 877. – Hochzeit im Felde. Bild. S. 880 und 881. – Sylvesterlärm. Skizzen von Erich Falk. S. 884. Mit Illustrationen S. 884 und 885. – Karl Thiessens Brautfahrt. Eine Heiratsgeschichte von Hans Arnold (Schluß). S. 886. – Neujahrsgruß auf der Landstraße. Bild. S. 889. – Modefarben. Plauderei von R. Braun. S. 890. – Blätter und Blüten: Ein unbeachteter Uebelthäter. Von E. Peschkau. S. 891. – Die letzte Runde im alten Jahr. S. 892. (Zu dem Bilde S. 877.) – Entdeckung von hundert Ruinenstädten. S. 892. – Hochzeit im Felde. S. 892. (Zu dem Bilde S. 880 und 881.) – Neujahrsgruß auf der Landstraße. S. 892. (Zu dem Bilde S. 889.) – Prosit Neujahr! Bild. S. 892.
Zum Jahreswechsel.
1895–1896.
Wenn sonst ein Jahr beschlossen
Den flücht’gen Erdenlauf,
Enteilt es stumm, verdrossen,
Und niemand hält es auf.
Ist erst der Herbst dahin;
Die Hoffnung windet Kränze
Der neuen Königin.
Doch heute vor dem Scheiden
Läßt es noch einmal weiden
Den Blick am deutschen Land,
Von wo ihm Grüße schallen
Voll Preis und Dank – fürwahr,
Dies stolze Jubeljahr!
Du Jubeljahr der Siege,
Die unser Volk erstritt,
Als es, gezwungen zum Kriege,
Du schürtest neu das Feuer,
Das Jene heiß durchloht,
Die uns das Reich so teuer
Erkauft mit ihrem Tod!
Dem Frieden Kampf und Streit,
Das krönte das Vollbringen
Mit Siegesherrlichkeit!
Drum ließest Du entfalten
Trugst auf dem florumwallten
Gelock der Freude Kranz.
Den Kranz, den mit frohlocken,
Eh’ Du von hinnen weichst,
Dem neuen Jahr Du reichst –
Dem jungen zukunftsreichen,
Das, grüßend froh die Welt,
In seiner Hand als Zeichen
Ein freudig Gottwillkommen
Bringt unser Herz ihm dar,
O, mög’ sein Gruß uns frommen –
Heil, Friedensjubeljahr!
Zum Friedensfeste ein –
O, möcht’ es uns auch immer
Ein Jahr des Friedens sein!
Johannes Proelß.
Es ist ein alter Brauch, daß am Jahresschlusse die Redaktion und der Verlag der „Gartenlaube“ vor ihren weiten Leserkreis treten und ihm mitteilen, was im Laufe des kommenden Jahres an Erzählungen und bildenden Artikeln in der „Gartenlaube“ geboten werden soll. Dreiundvierzig Jahre sind seit der Gründung der „Gartenlaube“ verflossen; rasch emporgeblüht, hat sie seit Jahrzehnten einen Leserkreis, der nach Millionen zählt, um sich geschart, und so fest wurde das Band, das sie mit dem deutschen Hause vereinigte, daß die „Gartenlaube“ wie einst den Großeltern, nunmehr auch den Enkeln eine liebe Freundin ist, an deren Hand sie, nach des Tages Last und Mühe, Herz und Gemüt erquicken, ihr Wissen erweitern können. Der mächtige Stamm eines so weiten Leserkreises wechselt nicht von Jahr zu Jahr, er ist ein unwandelbarer Stamm von Freunden, der seinen eigenen Sinn und seinen eigenen Herzschlag in dem Lieblingsblatte wiederfühlt! So sind wir auch fest überzeugt, daß für unsere Leser und die „Gartenlaube“ ein Jahresschluß keine Trennung bedeutet, daß sie sich auch im neuen Jahre wieder zusammenfinden werden.
Unbeirrt werden wir auch im nächsten Jahre auf unserem einmal gewählten Wege fortschreiten: das deutsche Volkstum sei nach wie vor der Leitstern der „Gartenlaube“! Frei von der Sucht, Fremdartiges nachzuahmen, allerlei menschlichen Schwächen und Leidenschaften zu schmeicheln, wollen wir nach keinem blendenden äußeren Erfolg haschen. Begeisterung für unsre idealen Güter, Vaterlandsliebe und der Geist lebendigen Fortschritts, die vor fünfundzwanzig Jahren in siegreichem Kampfe des Volkes Einheit schufen – sie sollen nach wie vor aus den Spalten der „Gartenlaube“ dem Leser entgegenwehen und das tiefe Gemüt, dessen innige Glut das deutsche Familienleben durchwärmt, soll sich in unsern Erzählungen und Novellen wiederspiegeln.
In diesem Sinne sind wir der Mitarbeiterschaft unsrer hervorragendsten Dichter und Dichterinnen sicher und können für den nächsten Jahrgang folgende Romane und Novellen in Aussicht nehmen:
Trotzige Herzen. Roman von W. Heimburg.
Der Klageschrei. Erzählung von Rudolf Lindau.
Vielliebchen. Novelle von Ernst Eckstein.
Teckel auf Reisen. Humoreske von Hans Arnold.
Fredy. Novelle von Marie Bernhard.
Böse Zungen. Novelle von Ernst Lenbach.
Ferner Erzählungen von Ludwig Ganghofer, Stefanie Keyser, Jassy Torrund, Anton v. Perfall, Charlotte Niese, Hermine Villinger, Arthur Achleitner, Eva Treu, Karl Wolf-Meran, Johannes Wilda, Ernst Wichert u. a.
Aus dem Nachlaß
werden mit Einwilligung der Schiller-Stiftung dessen tiefergreifende Liebesbriefe an seine Braut zur Veröffentlichung gelangen.
Unter Mitwirkung hervorragender Gelehrten und unsrer besten Volksschriftsteller wird die „Gartenlaube“ ihre wichtige Aufgabe, Bildung und Aufklärung in den weitesten Volkskreisen zu verbreiten, mit Fleiß und Ernst fortsetzen.
Nach wie vor wird sie Sorge tragen für volkstümliche Beleuchtung wahrhaft wichtiger Zeitfragen und Zeitereignisse, für Förderung aller gemeinnützigen und das Volkswohl betreffenden Bestrebungen, für Belehrung auf allen Gebieten des Wissens und Könnens, für Mitteilungen über deutsches Leben und Wirken in allen Weltteilen.
Im Dienste des deutschen Hauses wird die „Gartenlaube“ in altbewährter Weise den Familiengedanken hochhalten und nützliche praktische Kenntnisse verbreiten. Ueber Gesundheits- und Krankenpflege in der Familie, über Hauswirtschaft, Kindererziehung, leibliche und geistige Pflege der Jugend soll ihren Lesern und Leserinnen auch weiterhin reiche Belehrung zu teil werden.
So wird die „Gartenlaube“, gehoben durch einen sorgfältig hergestellten, reichen Bilderschmuck, wie seither
bleiben; in diesem Sinne erhofft sie auch im neuen Jahre ein schaffensfreudiges Gedeihen und sendet ihren Freunden in allen deutschen Gauen und in allen Weltteilen
Sylvester 1895. Redaktion und Verlag der „Gartenlaube“.