Die Gartenlaube (1896)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241]

Nr. 15.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


In die Welt hinaus.

Sie hatten sich keines Glücks erfreut,
Der Arbeit fehlte der Segen,
Es lagen nirgend Rosen gestreut
Auf ihren dornigen Wegen.

Da faßten sie Mut zum schweren Entschluß,
Der Heimat Valet zu sagen,
Sie wandten sich los mit stummem Kuß
Und unterdrückten ihr Klagen.

Sie rafften zusammen Stück für Stück
Der letzten übrigen Habe,
Wohl blickten sie oft und oft zurück,
Als ging’ es von einem Grabe.

Und da nun am langen Schienenstrang
Den Zug sie erwartend saßen
Und die verschleierte Ferne lang’
Mit träumendem Auge maßen,

Da meinten sie, in den Lüften der Draht
Beginne auf einmal zu klingen
Und ihnen mit manchem guten Rat
Auch den Abschiedsgruß zu singen.

„Wohl habt ihr gestritten, gelitten viel,
Doch lebt noch die Hoffnung im Herzen,
Ihr werdet erschauen der Reise Ziel
Und eure Wunden verschmerzen.

Doch wenn ihr gegründet ein eig’nes Haus,
Vergeßt nicht des Stübleins, des fernen!
Ihr wandert ja nur in die Welt hinaus,
Die Heimat recht lieben zu lernen.“
 Martin Greif.


[242]

Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (14. Fortsetzung.)

Kronsberg fing allmählich an, sich zu bevölkern. Trotz der verhältnismäßig noch rauhen Jahreszeit kamen doch schon Gäste von nahe und fern und die Frühsaison versprach sehr belebt zu werden. Ehrwald hatte sich in den drei Tagen, die seit seiner Ankunft verstrichen waren, ausschließlich seinem Freunde gewidmet und verkehrte sonst nur noch mit der Bertramschen Familie, die in der That alles aufbot, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen. Besonders die jüngsten Familienglieder leisteten darin Außerordentliches, sie spielten ihm und Sonneck zu Ehren nur noch „Afrikaner“, und zwar meist unter der sachverständigen Leitung Achmets, der das doch verstehen mußte. Zum Glück sprach er etwas deutsch und die drei kleinen Europäer hingen sich wie die Kletten an den gutmütigen Schwarzen. Daß bei diesen orientalischen Spielen noch etwas mehr Lärm vollführt wurde als gewöhnlich, war selbstverständlich, störte aber niemand, und man war allerseits sehr zufrieden miteinander.

Sonneck selbst war täglich einige Stunden in Burgheim bei seiner Braut, hatte aber bisher weder seinen Freund dort vorstellen, noch das Versprechen halten können, das er Lady Marwood hinsichtlich Elsas gegeben hatte. Professor Helmreich befand sich zwar bedeutend besser, sein Zustand erlaubte aber seiner Enkelin noch nicht, Besuche zu machen oder anzunehmen.

In den Vormittagsstunden pflegte im Bertramschen Hause gewöhnlich Ruhe zu herrschen, denn die beiden ältesten Knaben, die schon in dem vorgeschrittenen Alter von sieben und acht Jahren standen, befanden sich dann in der Schule, und das war auch heute der Fall. Der Jüngste, der erst vierjährige Hans, vergnügte sich inzwischen im Kinderzimmer mit einem ganz neuen Spielwerk, einer Art Flöte, die ihm Achmet sehr kunstvoll geschnitzt hatte, und welcher der junge Virtuos jetzt Töne entlockte, die allerdings mehr merkwürdig als schön waren.

Die Frau Hofrätin saß im Wohnzimmer mit einer Handarbeit beschäftigt, als die Thür sich öffnete und das Stubenmädchen sich zeigte, offenbar in der Absicht, jemand anzumelden, aber es kam nicht so weit. Das Mädchen wurde plötzlich zur Seite geschoben, eine ältere, sehr lange Dame trat ein, die in der einen Hand eine Reisetasche, in der anderen einen großen Regenschirm trug und mit dem letzteren nachdrücklich auf den Boden stampfte, während sie kurz und bündig sagte: „Guten Tag, Selma! Da bin ich!“

„Ulrike!“ rief die junge Frau, überrascht aufspringend. „Du kommst schon jetzt? Deinem Briefe nach erwarteten wir Dich ja erst gegen Abend.“

„Ich bin die Nacht durch gefahren und habe mir an der Bahnstation einen Wagen genommen,“ erklärte Ulrike. „Draußen steht er mit dem Gepäck. Laß es hereinbringen!“

Es war noch der alte herrische Ton, der jetzt sehr ungewohnt in den Ohren der Frau Hofrätin klang; trotzdem begrüßte sie ihre Schwägerin freundlich, war ihr beim Ablegen ihrer Sachen behilflich und gab dem Mädchen Weisung, das Gepäck nach dem Fremdenzimmer zu schaffen. Ulrike sah sich inzwischen in dem geschmackvoll und behaglich eingerichteten Wohnzimmer um, dann bemerkte sie trocken: „Nun, vornehm genug sieht es hier bei Euch aus. In Martinsfelde war es einfacher. Und nun habt Ihr Euch gar einen schwarzen Lakaien angeschafft. Ich denke, ich komme in ein deutsches, christliches Haus, und das erste, was ich sehe, ist solch ein rabenschwarzes heidnisches Ungetüm, wie sie am Nil zu Hunderten herumlaufen. Das grinst mich an und will mir meine Reisetasche nehmen, in der ich das Geld habe, aber ich drohte ihm mit dem Regenschirm, daß es zurückfuhr.“

„O, das war der Achmet des Herrn Ehrwald,“ lachte Selma. „Ich schrieb es Dir ja, daß wir die beiden berühmten Gäste Sonneck und Ehrwald im Hause haben. Achmet ist sehr gutmütig und dienstfertig, er hat die Tasche nur tragen wollen.“

„Einerlei, ich leide es nicht, daß man mir meine Sachen so aus den Händen reißt,“ erklärte Fräulein Mallner, „und diesem afrikanischen Diebsgesindel träue ich ein für allemal nicht. Aber nun laß Dich einmal anschauen, Selma, wir haben uns ja zehn Jahr lang nicht gesehen!“

Sie musterte die kleine blühende Frau, die mit dem rosigen lachenden Gesichte allerdings himmelweit verschieden war von der blassen, ängstlichen und verschüchterten Witwe des seligen Martin. Aber auch Selma kam jetzt erst dazu, ihre Schwägerin genauer anzusehen. Schöner war Fräulein Ulrike Mallner im Laufe der Jahre nicht geworden, aber noch etwas hagerer und sehr viel älter. Das nunmehr ganz einsame Leben, das sie in Martinsfelde geführt hatte, schien sehr ungünstig auf sie gewirkt zu haben, denn während sie früher nur herrisch und rücksichtslos gewesen war, hatte ihr ganzes Wesen jetzt einen Zug von Verbitterung und Verbissenheit, der sofort hervortrat.

„Dir ist es gut gegangen, das sieht man!“ sagte sie im herbsten Tone. „Mir nicht. Mein Martinsfelde haben sie mir genommen, Du weißt es ja, und nun bin ich obdachlos in die Welt hinausgetrieben worden.“

„Du hättest ja aber das Gut nicht sofort zu übergeben brauchen,“ wandte Selma ein. „Man wollte Dir ja Zeit lassen bis zum Herbste, nötigenfalls bis zum nächsten Frühjahr.“

„Glaubst Du etwa, daß mir das Vergnügen gemacht hätte?“ fuhr das Fräulein zornig auf. „Soll ich vielleicht noch ein Jahr lang arbeiten, wenn ich weiß, daß dann Haus und Hof dem Boden gleich gemacht werden, um Raum zu schaffen für diese verwünschten Bahnbauten! Da ich nun einmal fort mußte, ging ich lieber gleich.“

Der rücksichtslose Ton berührte die Frau Hofrätin sehr peinlich und es kam ihr der Gedanke, daß sie mit dieser Einladung doch wohl einen Fehlgriff begangen habe. Da erhob sich nebenan im Kinderzimmer ein lautes Zetergeschrei, dazwischen tönten zwei streitende Knabenstimmen und das Gepolter eines umfallenden Stuhles. Ulrike wurde aufmerksam.

„Was giebt es denn da?“ fragte sie. „Ist etwas geschehen?“

„O nein, es sind nur meine Jungen,“ versetzte Selma mit vollster Seelenruhe. „Sie werden sich wohl wieder prügeln, wie gewöhnlich.“

„Und das leidest Du?“ rief die Schwägerin entrüstet.

„Warum denn nicht? Das liegt nun einmal in der Natur der Jungen und Adolf meint, es sei eigentlich eine sehr gesunde Bewegung. Aber sie sollen nicht solchen Lärm dabei machen, ich werde sie gleich zur Ruhe bringen.“

Damit stand Selma auf, ebenso gelassen wie vorhin, und öffnete die Thür des Nebenzimmers, wo sie ihre Voraussetzung denn auch bestätigt fand. Die beiden ältesten Knaben waren soeben nach Hause gekommen, denn sie trugen die Schulranzen noch auf dem Rücken, und hatten das neue Spielzeug ihres jüngsten Bruders schleunigst begutachten und probieren wollen. Dieser aber wehrte sich dagegen; er verteidigte tapfer sein Eigentum, und als er der Uebermacht weichen mußte, erhob er ein lautes Hilfegeschrei. Die beiden anderen aber waren nun ihrerseits über die eroberte Flöte in Streit geraten und augenblicklich bildeten alle drei einen Knäuel und pufften eifrig und vergnüglich aufeinander los, als die Mutter dazwischen fuhr.

Sie faßte ihren ältesten Sprößling mit der rechten, den zweiten mit der linken Hand und gab jedem eine schallende Ohrfeige, dann raffte sie ihren Jüngsten auf, der zappelnd am Boden lag, und schalt sie alle aus.

„Könnt Ihr denn niemals Ruhe halten? Was soll die fremde Tante denken, die eben angekommen ist! Schämt Ihr Euch denn gar nicht?“

Die Neuigkeit wirkte. Die Knaben wurden augenblicklich ruhig und besahen sich die fremde Tante, die erst heute abend ankommen sollte und nun schon da war. Diese aber stand starr und steif auf der Schwelle und blickte auf die kleine Frau, die so energisch Ruhe stiftete.

„Nun, das muß man sagen – Du hast Dich ganz merkwürdig verändert!“ brach sie endlich aus.

„Ja, wenn man drei solche Wildfänge hat, kommt man mit der Sanftmut nicht durch!“ meinte Selma. „Jetzt folgt mir ins Wohnzimmer, gebt der Tante die Hand und benehmt Euch artig!“

Die Knaben gehorchten und die beiden ältesten, Adolf und Ernst, wie der kleine Hans wurden jetzt in aller Form vorgestellt. Fräulein Mallner sah jeden einzelnen scharf an, dann zuckte sie die Achseln und sagte mit Bedauern: „Allesamt dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Deshalb sind sie auch so geraten! [243] Im übrigen weißt Du ja, Selma, daß ich Kinder nicht leiden kann, also halte sie mir möglichst vom Leibe.“

Das war aber leichter gesagt als gethan, denn die drei Jungen belagerten die neue Tante von allen Seiten und versuchten Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen. Sie erzählten ihr mit ungemeiner Wichtigkeit, daß sie zwei „afrikanische Onkel“ im Hause hätten und auch den Achmet, der kein Onkel sei, aber gleichfalls aus Afrika komme, und brachten Ulrike durch die fortwährende Erwähnung des verhaßten Wüstenlandes in die übelste Laune. Die Geduld riß ihr aber vollends, als der kleine Hans ganz naiv fragte: „Kommst Du auch aus Afrika?“

„Nein, aus Hinterpommern!“ schnaubte sie ihn an und machte dazu ihr grimmigstes Gesicht. Der kleine Bursche schaute sie anfangs ganz verdutzt an, dann aber schien er diesen Ton und dies Gesicht sehr komisch zu finden, denn er fing laut und herzlich an zu lachen, seine beiden Brüder stimmten ein und es erhob sich ein förmlicher Jubel über die neue Tante, die so köstlichen Spaß zu machen verstand.

„Nun lacht mich die kleine Bande gar noch aus!“ rief das alte Fräulein gereizt und wollte aufspringen, aber Hans kletterte ohne weiteres auf ihren Schoß und setzte sich da fest, und die anderen beiden blockierten sie rechts und links.

Ulrike hatte nie mit Kindern verkehrt, die der unfreundlichen, ewig scheltenden Dame immer scheu auszuweichen pflegten. Diese Zutraulichkeit machte sie daher so bestürzt, daß sie gar nicht versuchte, sich zu wehren, sondern ruhig sitzen blieb. So fand sie denn auch der eintretende Hofrat, der draußen schon von ihrer Ankunft gehört hatte und sie nun in seiner jovialen Art begrüßte.

„Guten Tag, Fräulein Mallner! Bitte, behalten Sie Platz, das ist ja sehr freundlich, daß Sie sich meiner Jungen so annehmen!“

„Die Jungen haben mich genommen,“ erklärte Ulrike, die nun allerdings einen Versuch machte, ihre Bedränger abzuschütteln. Aber das gelang nur teilweise, denn Hans behauptete seinen Platz auf ihrem Schoße und verkündete sehr energisch: „Ich will bei der Tante bleiben!“

Diese ließ sich das merkwürdigerweise gefallen, aber sie gewann es nicht über sich, ihrem alten Widersacher freundlich zu begegnen, obgleich sie sich jetzt als Gast in seinem Hause befand. Ihr Ton war nichts weniger als freundschaftlich, als sie jetzt fortfuhr: „Ihre Frau hat mich eingeladen – ob es Ihnen recht ist, weiß ich nicht.“

„Was meine Frau thut, ist mir immer recht,“ versetzte Bertram artig. „Und überdies kennen Sie ja die Hochachtung, die ich stets vor Ihnen gehegt habe. Also, Sie haben Martinsfelde verkauft –?“

„Genommen hat man es mir – schändlicherweise!“ unterbrach ihn das Fräulein in voller Gereiztheit.

„Sie thun, als habe man Ihnen das Gut geraubt oder gestohlen,“ warf er ein. „Sie haben doch einen schönen Preis dafür bekommen, fast das Doppelte des Bodenwertes, und könnten eigentlich damit zufrieden sein.“

„Zufrieden!“ fuhr Ulrike zornig auf. „Glauben Sie, ich hätte mir mein altes Erbgut, den Hof, auf dem schon meine Eltern saßen, für irgend einen Preis abkaufen lassen, wenn man mir nicht mit dem Zwangsverfahren gedroht hätte? Was soll ich denn mit all’ dem Gelde anfangen?“

„Vermachen Sie es meinen Jungen,“ riet der Hofrat. „Das ist eine sehr nützliche Verwendung.“

„So?“ Sie sah ihn argwöhnisch an. „Haben Sie mich vielleicht deswegen eingeladen?“

„Einzig und allein deswegen! Ich stelle Ihnen die ganze Familie Bertram hiermit als Erbschleicher vor!“

Dabei lachte der Herr Doktor ebenso übermütig wie einst, Selma stimmte mit ein und für die drei Knaben war jedes Lachen ein Stichwort, auf das sie immer einfielen. Fräulein Mallner ließ den kleinen Hans unsanft von ihrem Schoße gleiten und sprang auf.

„Das scheint ja hier recht lustig zuzugehen,“ rief sie entrüstet. „Wird hier immer so gelacht?“

„Meistenteils,“ bestätigte der Hofrat. „Sie sehen, ich bin noch immer so ‚empörend vergnügt‘ wie damals in Luksor, und meine Jungen schlagen in dieser Beziehung ganz nach dem Vater.“

Jetzt mischte sich Selma ein, sie schlug vor, den Gast nach dem Fremdenzimmer zu führen, und die drei Knaben beteiligten sich schleunigst an dem Aufbruch. Adolf stürzte sich auf die Reisetasche, Ernst auf den Regenschirm, um sie hinaufzutragen, und der kleine Hans, der nichts mehr zum Tragen fand, hing sich an das Kleid Ulrikens und schrie aus vollem Halse: „Ich will auch mit!“

„Laß die Tante in Ruhe, Hansel,“ sagte Bertram. „Du reißt ihr ja das Kleid vom Leibe, Du bleibst hier!“

Fräulein Mallner schien aber dies Verbot merkwürdigerweise übelzunehmen, denn sie fuhr nicht den kleinen zudringlichen Burschen, sondern dessen Vater an: „So lassen Sie doch das ewige Verbieten! Was liegt an dem alten Kleide – Hansel, Du kommst mit!“

Dabei packte sie ihn derb am Arme und schleifte ihn mit sich, was dem Hansel ein unendliches Vergnügen bereitete, er jauchzte förmlich darüber.

Das Zimmer für den neuen Gast lag im oberen Stock, und als die ganze Gesellschaft in den Hausflur trat, traf sie mit Sonneck und Ehrwald zusammen, die gerade die Treppe herabkamen. Da gab es nun natürlich ein gegenseitiges Erkennen und Begrüßen. Für Fräulein Ulrike Mallner war Sonneck immer noch der einzige „Mensch“ und folglich der einzige, den sie mit ihrem Wohlwollen beehrte. Sie schüttelte ihm freundschaftlich die Hand und wandte sich dann zu seinem Gefährten mit der liebenswürdigen Bemerkung: „Nun, und Sie sind ja inzwischen auch ein großes Tier geworden, von dem die halbe Welt spricht.“

„Ja, so eine Art Wüstentier!“ versetzte Reinhart, der mit der Ausdrucksweise der Dame noch zu vertraut war, um das übelzunehmen. „Verabscheuen Sie das Wüstenland noch immer so, Fräulein Mallner? Ich denke stets mit Vergnügen an unseren Ausflug nach Karnak, wo ich die Ehre hatte, Sie eine volle Stunde lang unterhalten zu dürfen, allerdings bei erhöhter Temperatur, während wir uns im heißen Sande gegenüber saßen. Und inzwischen benutzte dieser hinterlistige Hofrat die Gelegenheit zu einer Liebeserklärung und Verlobung.“

„Wovon Sie natürlich keine Ahnung hatten,“ warf Ulrike ein, in einem Tone, der verriet, daß sie jetzt über den Zusammenhang im klaren war.

„Nicht die geringste! Aber im Grunde hatte er recht. Sehen Sie sich nur diese drei prächtigen Jungen an!“

Damit hob Reinhart den kleinen Hansel empor, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf.

„Lassen Sie doch diese gefährliche Spielerei!“ schalt das Fräulein. „Das Kind kann ja fallen.“

„Es fällt nicht, dafür sorge ich schon,“ lachte Ehrwald. „Und übrigens schadet den Bertramschen Jungen auch ein Luftsprung nicht, die sind von guter Rasse.“

Er machte Miene, das Spiel zu wiederholen, das stets ein Hauptvergnügen für den Hansel war, jetzt aber fuhr Ulrike dazwischen und riß ihm den Kleinen förmlich aus den Händen.

„Das haben Sie wohl bei Ihren Wilden gelernt?“ rief sie zornig. „Den kleinen schwarzen Kobolden schadet es freilich nicht, wenn sie auf den dicken Schädel fallen, ich will es aber nicht mit ansehen, wie der Hansel sich hier vor meinen Augen Arme und Beine bricht. Und die Eltern stehen ganz ruhig dabei – das geht ja barbarisch zu in diesem Hause!“ Damit nahm sie den Hansel auf den Arm und steuerte mit ihm eiligst nach der Treppe, als wollte sie ihn in Sicherheit bringen. Während Selma ihr oben im Zimmer die Aussicht zeigte, widmeten die Knaben ihre ganze Aufmerksamkeit dem Gepäck, das man bereits heraufgebracht hatte, und der kleine Hans machte sich zum Sprachrohr der allgemeinen Erwartung, indem er sich vor die Tante hinstellte und angelegentlich fragte: „Tante Ulrike, was hast Du uns eigentlich mitgebracht?“

Fräulein Mallner geriet vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben in Verlegenheit. Sie hatte natürlich nicht daran gedacht, den Kleinen Selmas irgend eine Freude zu machen, aber den drei frohen erwartungsvollen Kindergesichtern gegenüber fühlte sie doch so etwas wie Beschämung. Als jedoch Adolf und Ernst anfingen, die Herrlichkeiten aufzuzählen, die Onkel Ehrwald ihnen mitgebracht hatte, ärgerte sie sich von neuem.

„Dieser unerträgliche Ehrwald!“ grollte sie innerlich. „Ueberall Will er die erste Rolle spielen, sogar bei den Kindern, aber den Spaß werde ich ihm verderben. – Was möchtest Du denn eigentlich, Hansel?“ frug sie den Kleinsten.

„Ein Schaukelpferd!“ rief Hansel mit strahlenden Augen und maß den Koffer der Tante, ob er wohl groß genug sei, um das Gewünschte zu bergen.

[244] „Nun, wir wollen sehen!“ sagte Ulrike verheißungsvoll, und zu Selma gewendet, fügte sie leise hinzu. „Man kann solches Zeug doch hoffentlich hier in Eurem Nest kaufen? – Aber nun macht, daß Ihr hinauskommt, Ihr Jungen, ich will auspacken!“

Die drei Herren waren am Fuße der Treppe zurückgeblieben und Sonneck sagte, zu dem Arzte gewandt: „Wir wollen nach Burgheim, der Professor hat sich ja so ziemlich wieder erholt und ich möchte Reinhart nun endlich meiner Braut vorstellen. Aber ich fürchte, lieber Hofrat, Sie und Ihre Frau haben sich mit dieser Einladung eine arge Rute aufgebunden. Fräulein Mallner scheint noch unliebenswürdiger zu sein als früher.“

„Ja, Bertram, ich bewundere Ihren Mut, diesen Drachen ins Haus zu nehmen,“ fiel Ehrwald ein. „Glauben Sie denn wirklich, daß Sie mit ihm auskommen werden?“

„Das überlasse ich meinen Jungen,“ sagte der Hofrat mit ruhiger Zuversicht. „Die werden mit allem fertig, auch mit der Tante Ulrike, vor allem der Hansel. Geben Sie acht, der macht sie zahm!“




In Burgheim war der alte Bastian im Garten beschäftigt und blickte mit grämlicher Verwunderung auf, als draußen ein Wagen vorfuhr. Sonneck kam gewöhnlich zu Fuß und es war auch nicht der Wagen des Hofrats Bertram, der vor dem Eingang hielt, sondern eine fremde Equipage, mit zwei prachtvollen Pferden bespannt. Vom Bock sprang ein ganz merkwürdiges Menschenkind, in seltsam bunter Tracht, mit tiefbraunem Gesicht, trat an den Schlag, aus dem sich eine Dame beugte, und läutete dann an der Pforte.

Die Fremden begehrten offenbar Einlaß, was Bastian natürlich für eine Unverschämtheit erachtete. Er verwies zwar den mit lautem Gebell herbeistürzenden Wotan, mit Rücksicht auf den kranken Hausherrn, zur Ruhe, aber es fiel ihm nicht ein, das Gitterthor zu öffnen. Er streckte nur die Hand hindurch, um eine Karte in Empfang zu nehmen, die, wie jener braune Bursche ihm in gebrochenem Deutsch erklärte, für Fräulein von Bernried bestimmt war, und trollte damit ab, ließ jedoch weislich den knurrenden Wotan zur Bewachung des Eingangs zurück.

Elsa trat gerade aus dem Schlafzimmer ihres Großvaters, als der Alte erschien und ihr die Karte übergab, auf der sie zu ihrer Ueberraschung den Namen: „Zenaide Marwood“ las. Bastian erhielt zu seinem höchsten Erstaunen und Mißvergnügen die Weisung, das Thor schleunigst zu öffnen und die Dame eintreten zu lassen. Wenige Minuten später schritt Lady Marwood durch den Garten und wurde von dem jungen Mädchen auf den Stufen der Terrasse empfangen.

„Meine Elsa, mein geliebtes Kind, da bin ich!“ begrüßte sie Zenaide. „Da Du Dein Versprechen nicht hältst, mich aufzusuchen, so komme ich zu Dir. Ich mußte Dich endlich wiedersehen!“

Elsa verneigte sich, offenbar in Verlegenheit gesetzt durch die vertrauliche Anrede. Sonneck hatte ihr ja alles Nähere über Lady Marwood mitgeteilt, aber die schöne Frau, die sie jetzt mit so stürmischer Zärtlichkeit in die Arme schloß, war ihr doch eine völlig Fremde.

„Ich war bisher wohl entschuldigt, Mylady,“ entgegnete sie. „Die Erkrankung meines Großvaters –“

„Ich weiß, mein liebes Kind, ich weiß!“ fiel Zenaide ein. „Sonneck hat es mir geschrieben und eben deshalb bin ich hier. Aber es kostete Mühe, bis zu Dir zu dringen, der grimmige alte Pförtner schien mir den Eingang verwehren zu wollen und der prächtige Hund da richtete sich so drohend auf, als wollte er seine junge Herrin auf Tod und Leben verteidigen. Du bist ja bewacht und behütet wie irgend eine verzauberte Prinzessin, und Deine Heimat hat auch etwas von dem Märchenhause im tiefen Wald.“

Sie blickte lächelnd auf den verwilderten Garten und die dichten, düsteren Tannen. Elsa stand noch immer in scheuer Befangenheit vor ihr, sie wußte jetzt freilich von ihrem Aufenthalt im Osmarschen Hause, von der liebevollen Güte, mit der man die kleine Waise dort aufgenommen, und der leidenschaftlichen Neigung, die Zenaide damals für ihren Schützling gefaßt hatte. Sonneck hatte ihr das alles ausführlich erzählt, als er sie auf den Besuch bei Lady Marwood vorbereitete, aber in ihrer Erinnerung antwortete nichts darauf und so fand sie denn auch jetzt keine Antwort, sondern bat ihren Gast nur, einzutreten.

Ueber die Schwelle des alten Hauses war wohl noch nie eine so blendende Erscheinung gerauscht. Zenaide sah in der Frühjahrstoilette von violettem Sammet und dem Hute mit den weißen Straußenfedern wie die verkörperte Vornehmheit und Eleganz aus, aber sie blickte sich betroffen um in den düsteren Räumen mit ihrer einfach nüchternen Einrichtung.

Hier bist Du aufgewachsen?“ fragte sie mitleidig. „Armes Kind, hier atmet es sich ja wie hinter Gefängnismauern –! Jetzt begreife ich es freilich, daß mein süßer, kleiner Trotzkopf so ganz anders geworden ist, so ernst und still, so scheu und fremd. Aber das muß fallen zwischen uns. Erinnerst Du Dich meiner garnicht mehr?“

Elsa blickte stumm aber mit unverhohlener Bewunderung in das schöne Antlitz, das sich so vertraulich zu ihr neigte, doch die Erinnerung wollte auch jetzt nicht aufdämmern. Die glänzende Erscheinung, die blendend und blitzähnlich wie ein Meteor in die stille düstere Häuslichkeit brach, glich freilich nicht mehr der einstigen Zenaide von Osmar. Das junge Mädchen konnte sich offenbar nicht darin finden und entgegnete wie entschuldigend: „Ich war damals noch ein Kind, Mylady, und es ist so lange her –“

„Mylady?“ unterbrach sie diese unwillig. „Sonst nanntest Du mich Tante Zenaide. Die Tante werden wir freilich wohl fallen lassen müssen, aber das Du behalten wir. Sprich es aus, Elsa, ich will es auch von Deinen Lippen hören!“

Das klang halb zärtlich bittend, halb ungeduldig befehlend, allein das junge Mädchen verharrte in der scheuen Zurückhaltung. Dies stürmische Drängen nach Vertraulichkeit schien ihre Verschlossenheit nur noch zu steigern, sie gab eine ausweichende Antwort.

„Sie müssen Nachsicht mit mir haben, Mylady. Ich bin sehr einsam aufgewachsen und verstehe es noch nicht, Freundlichkeiten zu erwidern – lassen Sie mir Zeit dazu.“

„Nun, so lerne es, Du scheues Reh!“ sagte Zenaide lächelnd. „Ich sehe es wohl, daß ich Dir Zeit lassen muß, aber ich werde mir Deine Liebe schon zurückerobern. Den ersten Platz muß ich jetzt freilich einem anderen lassen, Du bist ja Sonnecks Braut. Hat der ernste Mann es wirklich verstanden, Dein Herz zu gewinnen, trotz seiner Jahre? Er scheint Dich grenzenlos zu lieben.“

Elsas Antlitz belebte sich und ihre Stimme gewann zum erstenmal einen warmen Klang, als sie entgegnete: „Lothar ist so unendlich gütig gegen mich. Er hat mir in den Krankheitstagen meines Großvaters so liebevoll, so aufopfernd zur Seite gestanden, daß ich es ihm nie genug danken kann.“

„Ja, er ist ein seltener Mensch,“ stimmte Lady Marwood bei. „Aber was weißt Du achtzehnjährige Einsiedlerin davon! Du kennst ja nur Deinen alten, kranken Großvater und Deinen Verlobten. Wenn Du freilich an seiner Hand in die Welt und in das Leben trittst, dann werden Dir die Menschen nicht wehe thun.“

„Wir werden gar nicht in der großen Welt leben,“ sagte das junge Mädchen ruhig. „Lothars Gesundheit legt ihm Schonung auf und er hat es mir ja gesagt, daß er nur ein stilles, häusliches Glück ersehnt.“

„Ein stilles, häusliches Glück?“ Es war ein halb schmerzlicher, halb spöttischer Ton, mit dem Zenaide die Worte wiederholte. „Nun, Euch beiden ist es vielleicht beschieden. Sonneck hat das Leben hinter sich und Du sollst es gar nicht erst kennenlernen an seiner Seite. O, er hat recht, wenn er Dich davor schützen will, ganz recht! Sehne Dich nie nach dieser Welt, Kind, die von ferne so blendend und berauschend erscheint und doch innerlich so schal und leer ist – schal bis zum Ekel!“

Elsa hörte betroffen zu, sie begriff nicht, wie die schöne, glänzende Frau zu dieser Bitterkeit kam. Sonneck hatte es in seinem Zartgefühl nicht über sich gewonnen, seiner jungen Braut das schwere, unheilbare Zerwürfnis zwischen Marwood und seiner Gemahlin zu entschleiern, er hatte nur angedeutet, daß die Ehe keine glückliche sei. Das junge Mädchen wagte daher nur die halblaute Bemerkung: „Und doch leben Sie in der großen Welt?“

„Ich?“ Zenaide lachte auf, aber es war ein herbes, höhnisches Lachen. „Nun ja, was soll ich denn sonst thun? Mich in die Einsamkeit vergraben? Das halte ich nicht aus, es ist fürchterlich, das Alleinsein, mit seinem Denken und Träumen! Da mache ich lieber die tolle Hetzjagd mit, von einem Vergnügen zum andern. Es ist doch wenigstens Bewegung und Zerstreuung und man kommt leichter hinweg über die endlosen Tage und Wochen. – Was siehst Du mich so fragend an mit Deinen großen Kinderaugen? Das sind Dinge, die Du nicht verstehst. Danke es Deinem künftigen Gatten, wenn er Dich rettet an seinen stillen Herd, da wirst Du nie erwachen aus dem Kindertraum, wirst es nie kennenlernen, das

[245]

Photographie im Verlage von V. Angerer in Wien.
Verlassen.
Nach dem Gemälde von Imre Knopp.

[246] wilde, verzweifelte Sehnen und Ringen nach Liebe und Glück. Ich habe danach gesucht all’ die Jahre lang und Habe es nie gefunden! Ich weiß es ja, daß der Trank vergiftet ist, daß er verzehrt; doch was fragt der Verschmachtende in der Wüste danach, er trinkt sich zu Tode an dem vergifteten Quell!“

Das klang in der That so wild und verzweifelt, daß es den Zuhörer erschrecken konnte; allein hier hatte es die entgegengesetzte Wirkung, Die leidenschaftliche Frau hatte sich wie immer von ihrer Stimmung fortreißen lassen und darüber ganz vergessen, zu wem sie sprach; aber Elsa, die sich der schmeichelnden Zärtlichkeit gegenüber so spröde gezeigt hatte, schien jetzt auf einmal Vertrauen zu fassen, sie sagte leise und bittend: „Zenaide!“

„Ah, endlich!“ rief diese beinahe jubelnd. „Muß man Dir erst Schmerz und Verzweiflung zeigen, wenn man den Weg zu Deinem Herzen finden will? O, habe mich lieb, meine süße Elsa, Du ahnst nicht, wie ich mich danach sehne, wie arm ich an Liebe bin, wie bettelarm!“ Und damit zog sie das junge Mädchen in ihre Arme und küßte es leidenschaftlich.

Da schlug Wotan draußen an, aber diesmal mit freudig winselndem Gebell. Elsa horchte auf.

„Das ist Lothar,“ sagte sie. „Er wollte heute seinen Freund mitbringen.“

„Ah so – Herrn Ehrwald!“ Lady Marwood richtete sich plötzlich auf und ließ das junge Mädchen aus ihren Armen. „Nun, da kann ich ja gleich eine alte Bekanntschaft erneuern. Geh’, mein Kind, empfange Deinen Verlobten!“ Und als Elsa zögerte, drängte sie ungeduldig: „Geh’, Du sollst mich nicht als einen fremden Besuch betrachten! Begrüße Deinen Bräutigam, ich bitte Dich!“

Es schien fast, als wollte sie einige Minuten allein sein, denn als das junge Mädchen nun wirklich ging, sprang sie auf und trat an das Fenster. Dort blieb sie unbeweglich stehen und blickte hinaus, den Kommenden entgegen.

(Fortsetzung folgt.)


Der „heilige Herr“ zu Offenbach.

Die Geschichte eines Abenteurers. 0 Von C. Wellnow.


In schöner landschaftlicher Lage, am Ufer des breiten Mainflusses erhebt sich in dem gewerbereichen Offenbach ein altes Schloß, das, in edlem Renaissancestil errichtet, noch heute das Auge des kunstsinnigen Beschauers entzückt. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges wurde auch dieser Prachtbau, wie so viele andere, zu einer halben Ruine. Die Fürsten von Isenburg verließen ihn, um in Birstein ihre Residenz aufzuschlagen. Lange Zeit hindurch stand das Schloß öde und verlassen da, bis es gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts für kurze Zeit zum Schauplatz einer glanzvollen, aber höchst eigenartigen Hofhaltung wurde.

Aus dem fernen Osten, von Polen her, kam im Jahre 1786 ein vornehmer Herr nach Offenbach, um mit Erlaubnis des damals regierenden Fürsten Wolfgang Ernst des Zweiten von Isenburg-Birstein in dem alten Schlosse Wohnung zu nehmen. Schon die Art und Weise, in welcher der Fremde seinen Einzug in das Land hielt, war geeignet, die Einwohner in Staunen zu versetzen und deren Neugierde zu reizen. Ein berittener Herold, umringt von einer Schar von Pagen in grünen goldgestickten Uniformen, eröffnete den Zug; darauf folgte eine Abteilung der bewaffneten Leibgarde des Fremden, schmucke Ulanen und Husaren; nun erst kam eine lange Reihe von Wagen, in welchen die Hofleute, Damen und Kinder saßen, und achtzig Soldaten bildeten den Schluß des vornehmen Hofzuges. Mit neugierigen Blicken beobachtete die tausendköpfige Zuschauermenge das bunte schillernde Schauspiel und bewunderte den fremden Herrn, der in einem der Wagen saß; er war in ein rotes Gewand gekleidet, trug eine hohe Pelzmütze und einen Hermelinkragen, während auf seiner Brust ein Brillantenstern leuchtete. Der würdige Mann, dem sein Gefolge mit der größten Ehrfurcht begegnete, war ein schneeweißer durch die Last der Jahre gebeugter Greis. Nicht mindere Bewunderung erregte die Tochter des Fremden, ein schon älteres Fräulein, das noch nicht alle Reize der orientalischen Schönheit eingebüßt hatte, in deren vollem Antlitz ein dunkles Äugenpaar glühte und auf deren himmelblauem Seidenkleide ein reicher Schmuck von Diamanten und Perlen funkelte.

„Baron Frank“ hieß der Fremde und seine Tochter nannte man Fräulein Eva. Der alte Herr mußte über große Reichtümer verfügen; denn er lebte auf großem Fuße, umgab sich mit fürstlicher Pracht und unterhielt einen Hof, der an Männern, Frauen und Kindern mehrere hundert Köpfe zählte. Blickte man durch das Thor in das Innere des Schlosses hinein, so sah man, daß die Treppen mit weißen goldverbrämten Teppichen ausgelegt waren; aber es war niemand erlaubt, die Gemächer zu betreten, Bewaffnete in der bunten polnischen Nationaltracht bewachten den Zugang. Die Offenbacher hatten selten Gelegenheit, den alten Herrn zu sehen, denn er verließ das Schloß nur dann, wenn er in geschlossenem Wagen, von einer glänzenden Eskorte umgeben, nach dem nahen Bürgel fuhr, um dort in der katholischen Kirche die Messe zu hören. Fräulein Eva trat dagegen in nähere Berührung mit den Einwohnern Offenbachs, denn sie pflegte freigebig reichliche Gaben an die Armen der Stadt und der Umgegend zu verteilen. Wenn man bedenkt, daß auch die Kaufleute durch den Zuzug so vieler Fremden, die flott lebten und ihre Bedürfnisse bar bezahlten, gute Geschäfte machten, so wird man leicht begreifen, daß man mit den Fremden zufrieden war und ihnen die eigenartige, abgesonderte Stellung, die sie inmitten der Bevölkerung einnahmen, nachsah. Da sie in der Stadt nichts, was gegen die Gesetze des Landes verstieß, unternahmen, ließ auch die Behörde den fremden Baron innerhalb seines Schlosses nach Belieben schalten und walten, ohne in dasselbe einzudringen.

So begann das Geheimnisvolle um den alten Prachtbau der Fürsten zu Isenburg seine eigenartigen Reize zu spinnen. Wer war dieser Baron Frank? Woher war er gekommen und warum hielt er sich in Offenbach mit einem so großen Gefolge auf? Im Volksmund hieß er der „Polackenfürst“, denn seine Untergebenen trugen zumeist die polnische Nationaltracht und sprachen polnisch. Es verlautete wohl, daß alle diese Leute getaufte polnische Juden seien, und man versicherte, der alte Frank sei das Haupt einer neuen, unter den Juden entstandenen Sekte. Aber diese Erklärung genügte nicht den biederen Bürgern, die in ihrem absonderlichen, so steinreichen Gaste etwas Höheres erblicken wollten. Die Leute aus seinem Gefolge waren ja gute Katholiken, besuchten die Kirche, gingen zur Beichte und nahmen das Abendmahl. Sollten das Sektierer sein? Nein, ein anderes Geheimnis mußten sie zu bewahren suchen; denn befragt um die Herkunft ihres Herrn und des mildthätigen Fräuleins Eva, gaben sie ausweichende Antworten oder ließen rätselhafte Andeutungen fallen. Zweifellos war dieser Baron, dem schier unermeßliche Geldmittel zur Verfügung standen, ein Mann sehr hoher Abkunft, der zu irgend einem regierenden Hofe in nahen Beziehungen stand, und die Phantasie begann, einmal angeregt, weiter ihre bunten Fäden zu spinnen: in Fräulein Eva sah man nur einen Schützling des Alten und munkelte, sie sei in Wirklichkeit eine russische Prinzessin, eine verfolgte Kaiserstochter.

Am 10. Dezember 1791 verbreitete sich in der Stadt die Kunde, daß der alte „Polackenfürst“ seine Augen zur ewigen Ruhe geschlossen habe, drei Tage darauf wurde er mit großem Pomp begraben. Ein katholischer Geistlicher hielt an dem Sarge die Trauerandacht. Die Wände des großen Saales, in dem die Leiche aufgebahrt wurde, hatte man mit kostbarem Sammet ausschlagen lassen; der Sarg selbst war mit weißem Atlas ausgekleidet, mit kostbaren Spitzen und goldenen Quasten geschmückt. In ihm lag der Verblichene in dem weiten rotseidenen Gewande, im Hermelinkragen und mit dem großen Brillantenstern auf der Brust. In den gefalteten Händen stak ein goldenes, mit Brillanten besetztes Kreuz und rings um die Bahre standen Kandelaber mit brennenden Lichtern. Am oberen Ende des Sarges knieten die Kinder des Toten, Fräulein Eva und zwei Söhne, umringt von Pagen, die weiß gekleidet waren. Zu Füßen des Toten betete ein katholischer Geistlicher und der Sargdeckel war mit vergoldeten königlichen Kronen geschmückt!

Unter zahlreicher Beteiligung der Bevölkerung wurde die Leiche auf dem Friedhof der Stadt beigesetzt. Den Trauerzug eröffnete eine hundertköpfige Schar von Frauen und Kindern, die alle, in weiße Gewänder gekleidet, weiße Bänder in ihr Haar geflochten hatten und brennende Lichter trugen. Hinter ihnen schritt [247] eine Gruppe von Männern in bunter polnischer Tracht mit weißen Armbinden, den polnischen Zeichen der Trauer. Hierauf folgte eine Musikkapelle. Nun kam die Leiche selbst, welche von den Getreuen in offenem Sarge zur letzten Ruhe getragen wurde. Rechts neben ihr schritten Fräulein Eva und die beiden Söhne Franks, links begleitete den Toten ein polnischer Magnat, Fürst Martin Lubomirski, mit dem St. Annenorden am Halsbande. Als auf dem Friedhofe der Sarg in die Gruft versenkt wurde, erhob die Schar der Getreuen ein herzzerreißendes Klagegeschrei und dann warf jeder der Leidtragenden eine Handvoll Erde auf das Grab des Patriarchen.

Die Anhänger Franks blieben auch nach dem Tode des Polackenfürsten in Offenbach. Die Söhne traten nicht hervor, dagegen war Fräulein Eva das Haupt der eigenartigen Siedelung. Anfangs wurde der alte Glanz, mit dem sich Baron Frank umgeben hatte, beibehalten, aber nach und nach schienen die großen Hilfsquellen der Fremden zu versiegen. Die Erben Franks begannen Schulden über Schulden zu machen, und in Offenbach und Umgegend fanden sich immerfort gutmütige Gläubiger, die ihr schwer erworbenes Geld den Fremden liehen. Sie hatten keine Ahnung, daß sie einer Bande von Schmarotzern Mittel zum Fortsetzen ihres nichtsnutzigen Lebens boten.

Wenn die guten Offenbacher Kauf- und Geldleute damals in Polen Erkundigungen über den Baron Frank hätten einziehen wollen, so hätten sie erfahren, daß dort eine große Schar bethörter Juden müde geworden war, die Dummen weiter zu spielen und auf dem Altar des falschen Messias zu opfern, aber Polen lag weit von Offenbach. Die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert war überdies so stürmisch, daß man in der gewerbfleißigen Stadt die nötige kaufmännische Vorsicht außer acht ließ. Fräulein Eva konnte somit das Hofleben ihres seligen Herrn Vaters weiter führen, und als alle Stränge rissen, war ihr der Zufall hold und stärkte in unerwarteter Weise ihren Kredit.

Im Jahre 1800 stand die „Firma Frank“ vor offenkundigem Bankerott, die Gläubiger hatten ihre Geduld verloren und wollten endlich Geld sehen. Die Herrschaften Eva von Frank, Roch von Frank und Josef von Frank ließen am 17. Januar 1800 eine Erklärung an den Straßenecken Offenbachs anschlagen, durch die sie die Gefahr abzuwenden hofften. Sie teilten darin mit, daß einer der Brüder, Roch von Frank, infolge einer Aufforderung am 1. Juli 1800 eine Reise, die sechs Monate dauern dürfte, nach Petersburg unternehmen werde, um Geld zu holen. Bis dahin sollten sich die größeren Gläubiger gedulden. Dagegen wurden kleinere Gläubiger, wie Viktualienhändler, Fleischer und Bäcker, aufgefordert, ihr Guthaben sofort zu erheben. Zum Schluß wurde den böswilligen Verleumdern, die über die Familie Frank ehrenrührige Gerüchte verbreiteten, gerichtliche Klage angedroht.

Bevor Herr Roch von Frank mit barem Gelde zurückkommen konnte, brachen über Offenbach Schreckenstage des Krieges herein. Die Franzosen rückten damals siegreich in Süddeutschland vor und der Zufall wollte es, daß die polnische Legion, die in französischen Diensten stand und die Wiederherstellung des polnischen Reichs von Frankreich her erhoffte, vor Offenbach erschien und die Stadt einnahm. Fräulein Eva wußte nun ihre Landsleute zu bestimmen, daß Offenbach nicht geplündert wurde. Als Dank für diese Vermittlung genoß sie bei den Bürgern von neuem Kredit und suchte diesen noch dadurch zu stärken, daß sie weitere Andeutungen über ihre Verbindungen mit europäischen Fürstenhöfen verbreitete. Da meldeten sich selbst hervorragende Bankhäuser aus Frankfurt a. M. bei dem Fräulein und boten ihm bereitwillig ihre guten Dienste an, die um so lieber angenommen wurden, als der Bruder vorderhand ohne Geld zurückgekehrt war.

Jahre vergingen. Fräulein Eva erhielt von Zeit zu Zeit Geldsendungen aus Polen und zahlte in Gold die Zinsen von ihren Schulden, aber die Summe derselben war doch ins Unermeßliche gewachsen. Der Krach stand wiederum bevor, als sich wiederum etwas Unerwartetes ereignete. Kaiser Alexander I. von Rußland kam im November 1813 nach der Schlacht bei Leipzig nach Frankfurt a. M. und besuchte die Anhänger Franks in Offenbach, wo er feierlich empfangen wurde; ja bald darauf traf er noch einmal mit Fräulein Eva in Homburg zusammen! Diese Thatsache wurde nun weidlich ausgenutzt, um die bereits verbreiteten Gerüchte von der fürstlichen Abkunft des Fräuleins von neuem zu beleben.

Die Schuldenlast war inzwischen zu groß geworden; sie belief sich auf mindestens Hunderttausende, wenn nicht Millionen Gulden. Die Gerichte mischten sich ein und schon stand die Zwangsvollstreckung der vorgefundenen geringfügigen Habseligkeit der alten Dame bevor, als sie am 7. September 1816 von allen Nöten dieser Welt erlöst wurde. Die Gläubiger hatten das Nachsehen, aber viele von ihnen wollten durchaus nicht glauben, daß sie von einer gewöhnlichen Abenteurerin ausgebeutelt worden waren; hartnäckig erhielt sich das Gerücht von ihrer hohen Abkunft und lange hindurch lebte sie in der Erinnerung der Offenbacher als Eva Romanowna aus dem russischen Kaisergeschlechte fort.

Die Geschichtsforschung war später imstande, den Schleier des Geheimnisses, das den alten Baron Frank und seine Tochter umgeben hatte, teilweise zu lüften. Bereits im Jahre 1865 und 1866 sind in der „Gartenlaube“ Artikel unter den Titeln „Ein heiliger Herr“ und „Zwei fürstliche Geheimnisse neuerer Zeit“ erschienen, die in manchen Punkten wahre Thatsachen enthüllten. Wenn aber damals Jakob Frank von dem Vorwurf, ein Abenteurer wie Cagliostro oder Graf St. Germain zu sein, freigesprochen wurde, so war das ein Irrtum. Erst in der Neuzeit ist es einem jüdisch-polnischen Geschichtsforscher, Alexander Kraushaar in Warschau, gelungen, wichtige Schriften und Aktenstücke zu entdecken, deren Inhalt auf die Lebensgeschichte Jakob Franks und seiner Tochter klares Licht wirft. Das Ergebnis dieser Studien hat Kraushaar in dem zweibändigen, polnisch geschriebenen Werke „Frank und die polnischen Frankisten“ (Krakau, Gebethner u. Co.) niedergelegt. Auf Grund dieses Werkes wollen wir nachstehend ein Bild des geheimen Treibens jener rätselhaften Menschen entwerfen, die den deutschen Boden zum Schauplatz der letzten Akte ihrer Thätigkeit erwählt und so lange die Neugierde weiter Kreise erregt hatten.

*  *  *

In Korolówka, einem kleinen Flecken in Podolien, erblickte der fragwürdige Held im Jahre 1726 das Licht der Welt. Seine Wiege stand somit auf einem Boden, der sich selten eines längeren Friedens erfreute. Stets wurde die Bevölkerung jener polnisch-türkischen Grenzgebiete durch Einfälle der Bekenner des Propheten, durch Aufstände der Kosaken oder blutige Erhebungen der Bauern beunruhigt. Unstet war das Leben der Bedrängten, die auf der Flucht vor dem Feinde gar oft Haus und Hof verlassen mußten, und der unruhige Lebenswandel ließ gar viele der jungen Leute zu Abenteurern werden. Leib hieß der Vater des nachmaligen Baron Frank; er war Pächter einer Schenke und soll dabei auch die Stelle eines Rabbiners versehen haben. So wurde Frank als Knabe Jakob Leibkowitsch genannt. Seine Großmutter stand in dem Rufe einer geschickten Wahrsagerin; sie beschützte den kleinen Jakob vor allerlei Behexung und ermahnte die Eltern, das Kind wohl zu behüten, da durch den Knaben etwas Neues und Großes der Welt offenbart werden sollte. Jakobs Vater wechselte indessen mehrmals seinen Wohnsitz; der Junge lernte wenig bei diesem Wanderleben und wurde zu einem Taugenichts, der sich mit bösen Bubenstreichen die Zeit vertrieb. Später kehrte er dem Kaufmannsladen, in den er gesteckt wurde, den Rücken und ging als Juwelenhändler auf Wanderschaft in ferne Länder. Er machte dabei gute Geschäfte und führte ein ausgelassenes Leben. Geschäfte führten den jungen unternehmenden Lebemann auch nach Smyrna, in welcher Stadt er nun Dinge kennenlernen sollte, die ihn in seine spätere Lebensbahn drängten.

Hier hatte im siebzehnten Jahrhundert ein jüdischer Sektierer Namens Sabbataï Zewi gewirkt, der den Talmud verwarf und sich vor dem leichtgläubigen Volke für einen Auserwählten Gottes und für den erwarteten Messias und König ausgab, der das jüdische Reich wieder errichten sollte. Er fand eine große Schar von Anhängern, die ihm königliche Ehren erwiesen. Das jüdische Volk von Smyrna sank vor ihm auf die Kniee und küßte den Saum seines Gewandes. Man brachte ihm reiche Geschenke dar und der Pseudo-Messias wandelte durch die Straßen der Stadt, umringt von einer Schar gelehrter Rabbiner, Propheten und Prophetinnen, und schwang in seiner Rechten ein goldnes Königsscepter. Bedrängt von den Türken, hatte dieser Prophet, um sich zu retten, sich zum Islam bekannt. Er wurde trotzdem hingerichtet und galt in den Augen der ihn überlebenden Getreuen als Märtyrer. Der notgedrungene Glaubenswechsel brachte seinem Ansehen keine Einbuße; durch Nachfolger wurde seine mystische Lehre weiter gepflegt und verbreitet.

Mit diesen Sabbatianern, die, nebenbei gesagt, sich durch eine verwerfliche Lockerung der Sitten berüchtigt machten, wurde [248] Jakob Leibkowitsch in Smyrna bekannt. Die von Handelsgeschäften freien Stunden verbrachte er in Unterhaltung mit den Schriftgelehrten, und siehe da, er, der kaum lesen und nicht einmal schreiben konnte, setzte die weisen Männer durch seinen Mutterwitz in Staunen; er wußte so viele dunkle Stellen der Schriften zu erklären, auf so schwierige Fragen treffende Antworten zu erteilen, daß die Smyrnaer Juden ihn bald den „klugen Jakob“ nannten. Der junge Jakob vertiefte sich mehr und mehr in das Studium der kabbalistischen Bücher, fand Geschmack an theologischen Streitreden und entdeckte in sich den Beruf, gleich Sabbataï die Juden von dem Irrtum, in dem sie befangen seien, zu befreien und einer besseren Lehre zuzuführen. Ob er damals aus innerster Ueberzeugung handelte, einzig und allein in den mystischen Dienst der kabbalistischen Lehre sich stellte, ohne irgend welche Absicht, persönlichen Nutzen zu erlangen, oder sich bereits in jener Zeit mit weltlichen Plänen befaßte, ist heute schwer zu entscheiden. Bemerkenswert ist allerdings eine seiner Aeußerungen, die er damals in Smyrna fallen ließ. Er forderte einmal die Kabbalisten Issachar und Mardochaï auf, ihm zu erklären, warum wohl Sabbataï, der doch eigentlich unsterblich hätte sein müssen, vom Tode ereilt wurde. Die Weisen antworteten ihm, Sabbataï sei erschienen, um alles, was es auf der Welt giebt, auszukosten, weshalb er auch die Bitternis des Todes habe kosten müssen! Darauf der kluge Jakob: „Die Antwort ist gut, aber wenn jener gekommen war, um alles auszukosten, warum genoß er nicht die Wonne des Herrschens?“

Vor der Hand konnte jedoch der junge Schüler der Sabbatianer der Menge Leichtgläubiger nicht gebieten; er mußte zunächst die Zauberkünste der Geheimwissenschaften kennenlernen und wurde in dieselben durch seine eifrigen Freunde, die Rabbiner Mardochaï und Nachmann, eingeführt. Diese verheirateten ihn auch im Jahre 1752 mit der vierzehnjährigen Chana (Anna), einer schönen aber mittellosen Tochter eines Kaufmanns in Nikopolis. Am Hochzeitstage enthüllten ihm die Weisen, daß in Salonichi ein neuer Messias, Namens Barochia, unter den Sektierern lebe. Dorthin wandte sich Jakob Leibkowitsch. Er traf hier mit der Sekte der „Donmäh“ zusammen und besuchte bei ihnen sozusagen die Hochschule der Heuchelei und Verschlagenheit; denn diese Leute bekannten sich äußerlich zum Mohammedanismus, im stillen aber folgten sie den Lehren Sabbataïs und begingen im geheimen bedenkliche Ausschweifungen. Die Fremden, die sich in jener Stadt aufhielten und aus verschiedenen Ländern Europas stammten, wurden insgesamt nach dem im Orient bestehenden Brauch „Franken“ genannt, und seit der Zeit seines Aufenthalts in Salonichi nannte sich Leibkowitsch Jakob Frank.

Während er das Treiben der Donmäh beobachtete, reifte in ihm der Entschluß, ihren Messias Barochia zu stürzen und an dessen Stelle zu treten. Er schickte also seine Frau in ihr Vaterhaus zurück und trat eine Wanderung durch verschiedene Städte der europäischen Türkei an. Ein echter und rechter Prophet in dem fernen Orient mit seinen an Märchen und Wundern gewöhnten Bewohnern muß nicht nur wahrsagen, sondern auch mit Geistern verkehren und allerlei Zauber ausüben können. Jakob Frank versäumte nicht, diese Eigenschaften zu bethätigen. Er sah Geister und erzählte dem Volke von seinen Visionen und den geheimnisvollen Stimmen, die er im Wachen und im Traume vernommen haben wollte. Ob er alle diese Dinge erlog oder wirklich an Visionen und Gehörshallucinationen litt, mag dahingestellt bleiben. Wahnsinn und Prophetentum pflegen gar oft Hand in Hand zu gehen. In der That litt in jener Zeit der neue Messias an verschiedenen Krankheiten; einmal verlor er die Sprache und lag scheintot wie ein Sterbender da. Vielleicht zählte Frank zu der Gruppe nervös belasteter Menschen, bei welchen das Genie so leicht auf Abwege gerät.

Trotz aller Beredsamkeit und Beharrlichkeit in der einmal angenommenen Rolle hatte der kluge Jakob in der Türkei kein Glück; man brachte ihm keine Geschenke, kniete nicht vor ihm nieder wie vor Sabbataï – im Gegenteil, die türkischen Juden verfolgten ihn und wollten ihn steinigen. Da gaben ihm seine Freunde den Rat, nach Polen zu gehen, wo die Masse des jüdischen Volkes sich für die Lehren eines neuen Propheten empfänglicher zeigen würde. Frank zögerte lange, bis ihm, nach seiner Angabe, Elias und Jesus Christus erschienen und ihm befahlen, nach Polen seine Schritte zu wenden.

Es würde zu weit führen, auf den Inhalt der verworrenen Glaubenslehre des Sektierers einzugehen; für uns ist sie völlig belanglos; es sei nur erwähnt, daß sie äußerlich einige Anklänge an das Christentum hatte lind auch eine mystische Dreieinigkeit Gottes annahm. Infolgedessen wurde Frank von den christlichen Landesbehörden in Polen, ja selbst von der Geistlichkeit nicht unfreundlich behandelt und zum Teil gefördert, während die rechtgläubigen Juden oder Talmudisten ihn aufs heftigste bekämpften, und zwar sowohl mit Worten als mit Thaten. Der heftige Kampf schwankte lange hin und her und der Sektierer mußte sich von Polen wieder nach der Türkei flüchten. Als er auch hier von den Talmudisten sich bedroht sah, suchte er Schutz bei den Türken, indem er sich zum Glauben Mohammeds bekannte. Natürlich war dieser Uebertritt nur scheinbar, nur ein Mittel zu dem Zweck, den Frank unablässig im Auge behielt; er folgte in diesem heuchlerischen Thun dem Beispiel der Sabbatianer.

Im Jahre 1758 überschritt er zum zweitenmal die polnische Grenze und diesmal gelang es ihm, eine größere Schar von Anhängern zu werben, die ihrem Führer in blinder Ergebenheit gehorchten. Schon damals umringte sich der Sektierer mit auserwählten „Brüdern“ und „Schwestern“, mit denen er geheime Sitzungen hatte und allerlei dunkle Ceremonien aufführte. Er verfügte bereits über Leib und Seele dieser Bethörten und konnte im kleinen die „Wonne des Herrschens“ genießen. Vor der Welt mußte allerdings diese seine Herrschaft geheim gehalten werden und erst später wurde es offenbar, wie damals Jakob Frank niedrige Leidenschaften befriedigte und sich unter seinen Getreuen in der Rolle eines Zauberers gefiel, während er die Oeffentlichkeit damit überraschte, daß er die Juden aufforderte, sich taufen zu lassen, da die christliche Religion die beste sei! Durch diesen Schachzug stärkte er seine Stellung in Polen.

War es nicht für ein Land, in dem so viele Juden wohnten, von hoher sozialpolitischer Bedeutung, wenn unter ihnen, die bis dahin durch die Kluft des Rassen- und Glaubensunterschieds von den andern Einwohnern getrennt waren, der Wunsch rege wurde, durch Uebertritt zum Christentum diese Kluft zu überbrücken? Frank fand als Vorkämpfer dieser neuen Bewegung vielfache und eifrige Unterstützung, sowohl in den regierenden wie in den kirchlich-katholischen Kreisen. Die rechtgläubigen Juden waren seine Feinde, er konnte sie nunmehr mit Hilfe der Christen bekämpfen. Der Aufruf an die Juden, sich taufen zu lassen, verhallte nicht ungehört und im Laufe der Jahre fanden viele dieser Massenbekehrungen statt; aber die jüdischen Christen in Polen gingen damals nicht ohne weiteres in der Gesellschaft auf. Ein gemeinsames Band weltlicher Interessen hielt sie fest zusammen, sie bildeten sozusagen einen neuen Stand im polnischen Reiche und Frank blieb nach wie vor der Führer der Bekehrten, die man Frankisten nannte. Ein aufrichtiger Christ war Frank nicht geworden, wenn er auch samt seinen Anhängern in die Kirche ging und vor der Welt nach den Geboten der katholischen Religion lebte. Er hatte sich mit einer Schar auserwählter Jünger umgeben und man behauptete, daß er mit diesen allerlei mystische Sitzungen abhalte. Als diese Gerüchte sich mehrten, schritt die Behörde ein, ordnete eine Untersuchung an und die Folge war, daß Frank zu Gefängnisstrafe verurteilt wurde, die er in der Festung von Czenstochau absitzen sollte. Das verlieh ihm in den Augen der zahlreich gewordenen polnischen Frankisten erst recht den Glorienschein eines Märtyrers, und man erzählte viel von den Leiden, die er in jener Klosterfestung habe erdulden müssen.

Dreizehn Jahre wurde Frank in Czenstochau festgehalten, aber er litt keine Not; er befand sich dort vielmehr in einem „fidelen Gefängnis!“ Um jene Zeit war die in den schwedisch-polnischen Kriegen durch ihren heldenmütigen Widerstand so berühmt gewordene Festung Czenstochau mit dem wunderthätigen Bilde der Jungfrau Maria in militärischer Hinsicht ganz und gar vernachlässigt. Die Garnison setzte sich aus 80 Fußsoldaten zusammen, lauter alten Invaliden, denen man hier im ruhigen Dienste sozusagen ein Gnadenbrot gewährte. Ein Geistlicher war der Kommandant dieser Schar, die einen wenig kriegerischen Eindruck machte; denn wie Zeitgenossen erzählen, standen jene greisen Soldaten am Festungsthore, indem sie in der einen Hand das Gewehr hielten, mit der anderen aber ihren Hut den Wallfahrern entgegenstreckten, um Almosen zu empfangen. Unter solchen Verhältnissen war es den Frankisten nicht schwierig, für ihren Meister besondere Vergünstigungen zu erwirken; es ließ sich dort gar vieles für Geld und gute Worte erreichen. So konnte Frank im Rayon der

[249]

Ankündigung des Stierkampfes.
Nach dem Gemälde von G. J. Franke.

[250] Festung nach Belieben umherspazieren; seine Frau Chana und seine Tochter, das Fräulein Eva, erhielten die Erlaubnis, bei ihm zu leben, ja mit der Zeit sammelte sich um ihn eine kleine Schar der treuesten Frankisten. So durfte der „Herr“, wie die Jünger den Meister nannten, sich wiederum die Wonne des Herrschens erlauben, war wieder von Schwestern und Brüdern umgeben, die er in der stillen Abgeschiedenheit zur vollsten sklavischen Unterwürfigkeit erzog, – durch Sendboten konnte er auch mit den durch die polnischen Lande zerstreuten Anhängern der Sekte in reger Verbindung bleiben.

In der Abgeschiedenheit, zu der Frank verurteilt war, hatte er Muße, seine Lehre zu vertiefen; er selbst konnte nicht schreiben, aber einige seiner Jünger notierten die Worte des „Herrn“, der oft in einer blumigen Sprache im Geschmacke des Orients sich gefiel. In den Aussprüchen, deren Aufzeichnungen sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben, finden sich einige schöne Betrachtungen, edle Lehrsätze, die zum moralischen Lebenswandel auffordern, und auch viel Unverständliches, Mystisches, daneben aber begegnet man sehr oft Aussagen, die in schroffstem Widerspruch zu den guten Offenbarungen stehen und geradezu verwerflich sind.

Mit der Annahme des Christentums, so etwa lehrte der Prophet, war die höchste Stufe der Vollkommenheit nicht erreicht; diese könnten nur diejenigen erlangen, die ihm, dem Meister, blindlings folgten und seinen Befehlen und Wünschen rückhaltlos sich fügten. Das höchste Glück, das er ihnen als Lohn versprach, war teils himmlischer, teils irdischer Natur; in letzterer Hinsicht verkündete er der Schar seiner Auserwählten, daß sie Reichtum und Macht erwerben würden, die er ihnen in überschwenglicher Weise ausmalte.

Die getauften Frankisten hatten im Gegensatz zu den ihrem Glauben treu gebliebenen polnischen Juden beachtenswerte soziale und politische Vorteile errungen. Das verdankten sie ihrem Führer Frank, und es war durchaus nicht wunderbar, daß auch diejenigen, die dem Meister fern standen, ihn mehr oder weniger hochschätzten und sich ihm auch erkenntlich erwiesen, indem sie Beiträge zur Bestreitung seiner Bedürfnisse sowie der frankistischen Agitation zahlten. So kam Frank in die Lage, seine männliche und weibliche Leibgarde zu kleiden und zu ernähren. Auch in den Dörfern in der Nähe von Czenstochau ließen sich Frankisten nieder, die ihren „Herrn“ eifrig besuchten.

In der Nähe von Czenstochau liegt Olschtyn, ein Name, der vermutlich aus dem deutschen Hohlstein entstanden ist; in der Umgegend befinden sich zahlreiche Höhlen mit schönen Stalaktiten. Frank versäumte nicht, die geheimnisvolle, von Fabeln und Sagen umwobene Höhlenwelt für seine Zwecke zu verwerten. Der Prophet erzählte von einem mächtigen Geist, der dort sieben unermeßliche Schätze hütete. Der Schatz sollte sich nach seiner Aussage auf zehn Milliarden Dukaten belaufen und es sollte einmal die Zeit kommen, da die treuen Gläubigen den Riesenschatz würden heben dürfen. Vorderhand dienten die Höhlen zur Begräbnisstätte der Frankisten und in einer derselben wurde auch Chana, die Frau des Propheten, die der Tod in Czenstochau ereilte, beigesetzt. Mit den Verheißungen des großen Schatzes wanderten Sendlinge des Propheten durch das Polenland und sammelten Beiträge in klingender Münze bei den Getreuen.

Während seiner Haft begann Frank für die Zukunft seiner Tochter, die damals zu einem hübschen Mädchen sich entwickelt hatte, zu sorgen. Sie sollte die Erbin seines Einflusses sein und er schuf für sie eine ähnliche Garde von Brüdern und Schwestern wie die, mit der er sich selbst umgeben hatte. Seit jenen Tagen spielt der Kultus der „Jungfrau“, wie Eva fortan in dem engeren Zirkel der Sektierer genannt wurde, in der Umgebung Franks eine besondere Rolle.

Am 19. August 1772 wurde Czenstochau durch russische Truppen besetzt und General Bibikow schenkte dem Propheten die heißersehnte Freiheit.

Während Frank in der Haft von Czenstochau gehalten wurde, führten die Besten und Gebildetsten der Frankisten einen ernsten Kampf um Gleichberechtigung mit der eingeborenen Bevölkerung, in der sie in vollem Ernst und mit gutem Willen aufgehen wollten. Mit ihnen konnte der freigelassene „Herr“ nichts mehr anfangen, diese ehrlichen Leute hatten ihren eigenen Weg eingeschlagen, sich aus den Lehren des Propheten nur das Gute angeeignet und wiesen alle Heuchelei und Verwerflichkeit von sich zurück. Frank, der selbst aus der ungebildeten Masse des Volkes durch Mutterwitz sich zu seiner besonderen Stellung emporgeschwungen hatte, sah wohl ein, daß er nur die Masse der Unwissenden und Abergläubischen durch seine Redensarten blenden und ausbeuten konnte. Das mußte ihm aber um so besser gelingen, je mehr er sich selber mit äußerem Glanz umgab. Es schien ihm, daß seine zur Schönheit erblühte Tochter seine Zwecke am besten fördern könnte; die Verehrung der Jungfrau mußte seiner mystischen Lehre einen besonderen Reiz verleihen, und so beschloß er denn, Fräulein Eva, die in der Czenstochauer Feste doch nur ein Naturkind geblieben war, auszubilden; sie sollte fremde Sprachen und feines Benehmen lernen, und zu diesem Zwecke zog der Freigelassene nach Brünn, wo er unter den mährischen Juden viele Sabbatianer wußte.

Auf zwei Wagen, in Begleitung von 18 Personen, langte Frank in der mährischen Hauptstadt an, wo ihm die Behörden anfangs mit Mißtrauen begegneten. Da er sich aber gut aufführte, alles, was er brauchte, bar bezahlte, ließ man ihn gewähren. Befragt über seine Vermögensverhältnisse, gab er den Behörden die lügnerische Auskunft, daß er in Polen dreißig Meilen hinter Czernowitz große Rindviehherden und in Smyrna Güter besitze. In Wirklichkeit lebte der „Herr“ von den überaus reichlichen milden Gaben seiner Anhänger. In der Petersburger Gasse richtete er ein vornehmes Haus ein, für die „Jungfrau“ besorgte er einen sechsspännigen Landauer und ein Reitpferd, aus seinen Anhängern aber bildete er damals zum erstenmal eine Leibgarde, die in Husaren-, Ulanen- und Kosakenuniformen paradierte, und seine Jünger folgten ihm, als er ihnen erklärte, sie müßten jetzt militärische Waffenübungen vornehmen. Fräulein Eva hatte eine Gouvernante, die sie im Französischen und im Klavierspiel unterrichtete, sie ritt wie eine Amazone an der Spitze der väterlichen Husaren und begann die Rolle einer Hellseherin zu spielen. Dieses Auftreten öffnete der Familie Frank die ersten Häuser Brünns, und als man ihn und seine Tochter zu Gesellschaften einlud, folgte er dem Rufe. Vor seinen Jüngern entschuldigte er sich aber: „Gott will es, daß ich in Gesellschaften gehe – das ist zwar für mich eine tiefe Erniedrigung, aber ich muß seinem Willen gehorchen.“

All das genügte jedoch nicht dem Ehrgeiz des alten Frank; er ging nach Wien, um dort in Beziehungen zum kaiserlichen Hofe zu treten. Fräulein Eva begleitete ihren Vater, und da sie im sechsspännigen Wagen, umringt von Ulanen und Kosaken, durch die Straßen der Kaiserstadt dahinfuhr, machte sie nicht geringes Aufsehen. Für Frank lagen in jener Zeit die Verhältnisse am Hofe insofern günstig, als Kaiser Josef II. gerade mit der Frage der Judenemancipation sich befaßte; es war darum dem Führer der getauften Juden Polens nicht schwierig, eine Audienz sowohl bei dem Kaiser wie bei seiner Mutter Maria Theresia zu erlangen. Fräulein Eva nahm an derselben gleichfalls teil und die leidenschaftliche Orientalin soll auf den verwitweten Kaiser einen tieferen Eindruck gemacht haben. Vater Frank wußte diese Gelegenheit auszunutzen; da er nun mit seiner Tochter öfter beim Kaiser, namentlich im Lager, erschien, glaubten seine Anhänger, daß er wirklich als eine höher stehende Persönlichkeit behandelt und ausgezeichnet werde. Nun lebte der Prophet bald in Brünn, bald wieder in Wien und sein Ansehen bei den slavischen Juden wuchs immer mehr; denn sehr häufig kamen für ihn „Fässer voll Goldes“ an, Abgaben, welche die Dummheit dem Schwindler zahlte und die ihm unter bewaffneter Eskorte seiner Miliz zugeführt wurden. Diese Einnahmen waren jedoch unsicher, manchmal blieben die Geldsendungen aus und dann mußte Frank Schulden machen. In Brünn kam er auch auf den Einfall, den Gläubigen in Polen ein Universalheilmittel, das unter dem Namen „goldene Tropfen“ bekannt wurde, zu senden. Zur Bereitung dieses Geheimmittels richtete er ein besonderes Laboratorium ein, was natürlich den Dunst, der ihn bereits umgab, vermehrte und sein Ansehen bei der abergläubischen Menge noch steigerte. Trotzalledem geriet er in immer größere Geldverlegenheit und beschloß endlich, Kaiser Josef um Hilfe anzugehen. Er ließ sich zur Ader, um elender vor dem Herrscher zu erscheinen. Josef gab ihm aber den praktischen Rat, die vielen Diener zu entlassen und einfach zu leben. Einige Zeit darauf mußte auch Frank zu diesem Mittel greifen; er schickte sein Gefolge fort, bezahlte in Brünn seine Verbindlichkeiten und zog nach Wien, wo er sich in einfache Verhältnisse fügte. Aber diese „Entbehrung“ währte nicht lange; nach einigen Wochen bereits war er im Besitz so großer Geldmittel, daß er von neuem nahe an hundert Ulanen und Husaren equipieren konnte, mit denen er sich nach Süddeutschland wandte. Er ging zuerst nach Frankfurt am Main und von hier sandte er eine Deputation an Wolfgang Ernst II., Fürsten zu [251] Isenburg-Birstein, mit der Bitte, sich in Offenbach niederlassen zu dürfen. Der tolerante Fürst, der in den Frankisten harmlose Sektierer vermutete, gab die Erlaubnis und räumte Frank, der sich seit seinem Wiener Aufenthalte Baron Frank nannte, das verlassene Schloß ein. Dort sollte der Fremde so lange wohnen, bis er ein passendes Haus in der Stadt gefunden hätte.

Wie Jakob Frank vor der Welt in Offeubach auftrat, haben wir bereits in der Einleitung dieses Artikels erzählt. Waren die Frankisten unter sich, so galt der „Herr“ als König und Messias.

Er fühlte wohl, daß es mit seinen Kräften zur Neige ging, und war bestrebt, für den Fall seines Ablebens seine Tochter Eva zur Erbin seines Einflusses einzusetzen. Der Sohn des einfachen Pächters einer Schenke gab sich jetzt vor seinen Getreuen für den Sohn eines mächtigen Königs am Schwarzen Meere aus und log den Leichtgläubigen vor, daß auch Fräulein Eva eine Königstochter wäre. Diese Märchen sickerten wohl aus dem Offenbacher Schlosse in die Stadt selbst; sie gaben sicher den Anlaß dazu, daß auch die Offenbacher an die fürstliche Abkunft der Eva Frank zu glauben anfingen.

So lange Frank lebte, übte seine Persönlichkeit einen bestrickenden Einfluß auf die bethörten Massen. Er sprach zu seinen Jüngern: „Ihr müsset alle Fesseln von Recht und Sitte brechen und mir folgen Schritt für Schritt!“ Seine Anhänger thaten es, und die ihm am nächsten standen, fanden mit der Zeit Wohlgefallen an dem parasitischen Leben ihres Herrn und Meisters; als Mitschuldige an dem unerhörten Schwindel wurden sie zu gefügigen Werkzeugen seines Willens und zu schlauen Sendboten an die tributpflichtigen Volksmassen.

Frank hatte sein Ziel erreicht; er, der den niedrigsten Leidenschaften ergeben war, durfte in der Wonne des Herrschens schwelgen; er hatte eine Schar von Menschen bethört, über deren Leib und Seele er verfügte. Als aber auch er die Bitternis des Todes ausgekostet hatte, vermochte Jungfrau Eva den Schwindel nicht weiter fortzuführen. Das Franksche Haus brach zusammen und nichts half es der Jungfrau mehr, daß sie sich nach frecher Schwindlerart gegen das Ende ihres Lebens Eva Romanowna zu nennen anfing.

Warum aber wurde den Frankisten die Ehre eines Besuchs von seiten des Kaisers von Rußland zu teil? Wie leichtgläubig und kurzsichtig waren diejenigen, die da glaubten, der Kaiser habe eine seiner Verwandten besucht! Der Beweggrund, der den Herrscher nach Offenbach führte, liegt klar auf der Hand. Alexander I. beschloß nach dem Siege über Napoleon, das revolutionierte Europa im christlichen Sinne zu reformieren; er vergaß dabei die Juden nicht, die in seinem eigenen Reiche so zahlreich vertreten waren, und er wollte sie, wie dies auch seine späteren Regiernngshandlungen beweisen, dem Christentum zuführen. Da er nun hörte, daß in Offenbach eine Kolonie getaufter Juden sich befand, wollte er dieselben näher kennenlernen und als ernster Regent forschte er Eva Frank später in Homburg aus. Für die Familie Frank verlief diese Berührung mit dem Kaiser des mächtigen Reiches, abgesehen von der nur kurzen nochmaligen Hebung ihres Kredits, ohne den erwünschten Erfolg. Bald darauf erfolgte ja der Krach.

Unbegreiflich erscheint es auf den ersten Blick, daß es Frank möglich war, so lange sein wahres Wesen vor der Welt zu verheimlichen. Zwei Umstände kamen ihm in dieser Hinsicht zu Hilfe. Zunächst war er vorsichtig in der Wahl seiner Jünger; er nahm nur diejenigen in seine engere Gemeinde auf, von denen es ihm nach längerer Beobachtung gefiel, vorzugeben, daß er über ihren Häuptern ein Licht erblicke. Wer aber in den engsten Kreis der Vertrauten aufgenommen werden sollte, mußte eine Reihe lästiger Ceremonien durchmachen, mußte tagelang in einem auf dem Boden gezeichneten Kreise stehen bleiben, stundenlang auf einen Punkt hinschauen, allerlei wahnwitzige Befehle des „Herrn“ ausführen und Handlungen vollbringen, deren er sich vor der Welt schämen müßte. In dieser Vorbereitnngszeit verlor der Jünger allen selbständigen Willen und wurde zum blinden Werkzeug des Meisters. Später fesselte ihn das Bewußtsein, Mitschuldiger zu sein, an die heuchlerische Gemeinde. Zweitens kam es Frank zu statten, daß er in unruhigen, gärenden Zeiten lebte. Während seines Aufenthaltes im Osten ging das Polenreich zu Grunde und in Europa keimten überall neue Ideen, die französische Revolution verbreitete ihre Schrecken und dann seufzte Europa unter den durch Napoleon entfesselten Kriegen. In solchen Zeitläuften konnten dunkle Existenzen leichter ihr Dasein fristen und Frank war klug genug, seine Beute fern von dem Plünderungsgebiete zu verprassen und vor den Behörden den Schein eines frommen, gottesfürchtigen Mannes zu bewahren. „In trübem Wasser fischt man gut,“ sprach er zu seinen Jüngern und trüb sah es zur Zeit seiner Wirksamkeit in Europa aus. Nachdem Ruhe und Frieden in die Länder eingekehrt waren, schlug für die Frankisten die letzte Stunde. Die Sektierer verschwanden, ohne Nachfolger zu hinterlassen. Jahrzehnte hindurch hatten Betrüger wie Betrogene allen Grund, über die Geheimnisse, die der Hof des Meisters geborgen hatte, das tiefste Schweigen zu beobachten. Erst in der neuesten Zeit wurden, wie erwähnt, schriftliche Aufzeichnungen der Getreuen des Meisters ans Tageslicht gezogen und enthüllten uns in dem Pseudopropheten einen argen Schwindler, der in schamloser Weise den Leichtsinn und die Aberglänbigkeit seiner Mitmenschen ausbeutete, um seine niedrigen Leidenschaften zu befriedigen und seiner Lust am Herrschen zu frönen.




Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Eine neue Accumulatorenbahn.

In allen Großstädten werden elektrische Straßenbahnen eingeführt. Wie groß aber auch ihre Vorzüge gegenüber den Bahnen mit Pferdebetrieb sein mögen, ganz und gar befriedigen sie die Menschen nicht. Augenblicklich werden zumeist Bahnen mit oberirdischer Stromzuführung gebaut und man empfindet das Gewirr der Drähte, das die Straßen durchzieht, als einen Uebelstand. Eifrig ist man darum bestrebt, andere Systeme der elektrischen Straßenbahnen zu vervollkommnen, um die vorhandenen durch bessere zu ersetzen.

Vortreffliche Erfahrungen hat man auf diesem Gebiete mit der unterirdischen Stromzuführung gemacht. Besonders gerühmt wird in dieser Hinsicht die von der Firma Siemens und Halske gebaute Budapester Bahn. Diese Systeme sind jedoch verhältnismäßig theuer und haben auch technische Uebelstände im Gefolge, so daß sie die Straßenbahnen mit oberirdischer Stromzuleitung nicht verdrängen können. Aus ähnlichen Gründen ist auch die Einführung von Bahnen mit Accumulatorenbetrieb erschwert, obwohl sie seit langer Zeit als Ideal einer elektrischen Bahn gelten. Wir haben die Accumulatoren, in denen elektrische Energie aufgespeichert und für beliebige Zeit aufbewahrt werden kann, bereits ausführlich in der „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1895, S. 90) besprochen. Stellt man eine entsprechende Zahl solcher Kraftkasten in einen Wagen ein und verbindet sie mit dem Betriebsmechanismus – dem sogenannten Motor –, dann rollt das Fahrzeug vermöge seiner inneren Kraft selbständig dahin. Es bedarf keiner Stromzuleitung und keiner Stromrückleitung.

Bis vor etwa zwei Jahren waren aber die Accumulatoren zu wenig haltbar und zu schwer, um zu praktischen Ergebnissen führen zu können. Die erste große Accumulatorenbahn, die inzwischen günstige Resultate ergeben hat, befindet sich zu Paris. In Deutschland wurden im vergangenen Jahre von der „Accumulatoren-Aktiengesellschaft“ in Hagen und Berlin Versuche angestellt, deren Ergebnisse aber noch nicht allen Wünschen entsprechen. Die Frage des Accumulatorenbetriebes wird gelöst sein, wenn es gelingt, so widerstandsfähige Accumulatoren herzustellen, daß sie durch die Bewegung des Fahrzeuges, in dem sie sich befinden, nicht leiden. Daß sie ferner nicht zu schwer in ihrem Aufbau und dennoch fähig sind, eine starke Ladung, welche für längere Zeit genügt, in sich aufzunehmen. Nur so kann sich der Accumulatorenbetrieb zu einem wirtschaftlichen gestalten. Es scheint, als wenn der letzte Teil dieser Bedingungen durch den Accumulator erfüllt wird, welchen augenblicklich die „Neuen Berliner Elektrizitätswerke“ zum Antrieb eines Fahrzeuges verwenden, das auf der Charlottenburger Bahnstrecke „Westend bis zum sogenannten Knie“ bei Berlin versuchsweise in Thätigkeit ist. Die Strecke ist außerordentlich günstig gewählt. Sie hat fast keine Krümmungen, und ihre größte Steigung verhält sich auf einem 500 Meter langen Teile nur wie 1 zu 28. Sodann muß ganz besonders hervorgehoben werden, daß sich die Geleise in einem durchaus tadellosen Zustande befinden und mit einer Vorsicht gebaut sind, wie man es sonst nur bei Lokomotivbahnen findet.

Der Wagen ist für 28 Personen eingerichtet und hat bei vollkommener Besetzung ein Gewicht von 12 Tonnen. Auf Grund der Polizeivorschrift bewegt er sich mit einer Geschwindigkeit von 12 Kilometern in der Stunde, die aber – wie bei allen elektrischen Bahnen – sehr beträchtlich überschritten werden kann. Der Betriebsmechanismus entspricht im allgemeinen den bei diesen Systemen bekannten Einrichtungen. Ein Elektromotor mit einer Leistung von 30 Pferdekräften befindet sich unter dem Fahrzeuge und überträgt seine Bewegung auf die Laufräder. Die Bewegungsenergie entfalten 2 Batterien von je 62 Zellen der neuen Accumulatorenart, welche, wie gebräuchlich, unter den Sitzplätzen aufgestellt sind. Sie speisen außerdem noch 4 Glühlampen von je 16 Normalkerzen und 2 Scheinwerfer, die vorn und hinten am Wagen angebracht sind und die Fahrstrecke zur nächtlichen Stunde weithin mit hellem Licht überfluten können. Eine vortreffliche Eigenschaft der hier zur [252] Verwendung gelangenden Accumulatoren besteht darin, daß sie während der Speisung im Fahrzeuge verbleiben und nicht wie bei früheren Systemen ausgewechielt werden müssen. Es ist nur nötig, nach Erschöpfung sie mit dem Speisekabel eines Elektrizitätswerks zu verbinden.

Accumulatorenbahnwagen.

Wie die Versuche in Charlottenburg gelehrt haben, genügt eine Ladung für einen Betrieb von 16 bis 18 Stunden; also für zwei Tage. Bisher wurden mit dieser Energie täglich 21 Doppelfahrten von je 5,1 Kilometern Länge ausgeführt und somit eine Strecke von 107 Kilometern zurückgelegt. Man sieht aus dem Vorstehenden, wie außerordentlich bequem sich die Speisung gestalten würde, wenn sehr viele Fahrzeuge in Betrieb gestellt werden sollten. Es wäre, beispielsweise in Berlin, dann nur nötig, einen Kabelstrang von den Berliner Elektrizitätswerken nach der Station abzuzweigen. In wenigen Stunden würden dann die Accumulatoren befähigt sein, kraftstrotzend ihren Dienst zu thun. – Ueber die Einrichtung der neuen Accumulatoren ist wenig zu sagen; sie entsprechen im allgemeinen dem Fauretypus. Eine jede Zelle setzt sich aus 10 Bleiplatten von 3 Millimetern Dicke zusammen. Um die Füllmasse gut halten zu können, hat man den Platten die Gitterform gegeben. Die 124 Zellen, welche in die Wagen eingestellt sind, stellen noch immerhin das respektable Gewicht von 3360 Kilogramm dar. Ob sich die Batterie bei längeren Versuchen thatsächlich als widerstandsfähig zeigen wird, kann natürlich erst ein längerer Betrieb lehren. Das aber muß dem neuen Unternehmen zugegeben werden, daß die Ruhe, mit der sich der Wagen bewegt, und die Sicherheit, mit der er im Augenblicke den Regulierungsvorrichtungen folgt, bisher von keinem anderen System erreicht worden sind. Franz Bendt.     



Der Klageschrei.

Eine türkische Geschichte von Rudolf Lindau.

     (Schluß.)

Eines Tages endlich konnte Nassuch Haga seinem Bruder Mitteilungen machen, die möglicherweise auf die Spur des Flüchtigen hindeuteten. Im Süden von Anatolien, am Hofe des mächtigen Bey von Karaman, war ein Jüngling entdeckt worden, der in allem der genauen Beschreibung, die von Murad gegeben worden war, entsprach. Auch der Zeitpunkt, zu dem der junge Mann in die Dienste des Bey getreten, war mit Murads Flucht aus Stambul in Uebereinstimmung zu bringen. Zu ernsten Bedenken jedoch gab die Mitteilung Veranlassung: der neue Diener des Bey, den dieser sehr liebgewonnen zu haben scheine, so daß er ihn bereits zu seinem Geheimschreiber ernannt habe, verstehe zwar jedes Wort, das ihm gesagt werde, aber er sei stumm und nicht ein Laut wäre bisher über seine Lippen gekommen. Er mache sich ausschließlich durch Zeichen oder durch Schrift verständlich. Uebrigens verkehre er nicht mit dem Hofgesinde und habe nur Augen und Ohren für seinen Herrn, den Bey.

Ali Bey machte dem Sultan getreuliche Meldung von dem Vorstehenden und bat schließlich um einen Urlaub, den er zu einer Reise nach Karaman benutzen würde, um Murad, falls er sich dort aufhalten sollte, nach Stambul zurückzuführen. Der Sultan, der nichts unversucht lassen wollte, um seiner geliebten Tochter die Gesundheit wiederzugeben, billigte Alis Vorhaben und versah ihn nicht nur mit reichlichen Geldmitteln, sondern auch mit einem Schreiben an den Bey, das dem Abgesandten des Sultans ehrerbietige Aufnahme am Hofe seines Vasallen sicherte. Von dem Zweck der Reise Alis war in dem Schreiben nicht die Rede.

Sobald Ali Bey in Karaman angelangt war und sich als ein Abgesandter des Sultans zu erkennen gegeben hatte, wurde er vom Bey in feierlicher Audienz empfangen. Unter den Hofbeamten des Fürsten, die dabei zugegen waren, befand sich Murad. Ali Bey erkannte seinen jungen Freund und blickte ihn lange und bedeutsam an. Aber Murads Augen gaben darauf keine Antwort; sein Blick schweifte gleichgültig im Saale umher, als hätte er Ali Bey niemals zuvor gesehen.

Nachdem der Fürst und Ali sich förmlich begrüßt und einige Worte über gleichgültige Dinge gewechselt hatten, sagte der Abgesandte des Sultans: „In dem prächtigen Hofstaate Eurer Hoheit fällt mir besonders jener Jüngling mit dem weißen Antlitz und den hellen Haaren auf. Er ist von großer Anmut des Leibes und ist wohl hier eingewandert, denn die Eingeborenen von Süd-Anatolien sind gewöhnlich von dunklerer Hautfarbe.“

„Ihr habt das Richtige getroffen,“ antwortete der Fürst. „Mein Diener Ibrahim ist erst vor kurzem nach Karaman gekommen. Er hat mir sogleich gefallen und Vertrauen eingeflößt, und ich habe deshalb seiner Bitte entsprochen, nicht nach seiner Abkunft zu forschen. Ein flüchtiger Verbrecher kann er unmöglich sein. Ich vermute, er stammt aus einer vornehmen Familie, und der Schleier, der augenblicklich seine Vergangenheit verhüllt, wird wohl später einmal gelüftet werden.“

„Habt Ihr an seiner Sprache nicht erkennen können, aus welchem Teile des Reichs er kommt?“

„Der Arme ist stumm,“ antwortete der Fürst, und dann wiederholte er alles, was Ali Bey schon durch seinen Bruder über den geheimnisvollen Diener am Hofe des Bey in Erfahrung gebracht hatte.

Ali Bey hörte aufmerksam zu. „Der Jüngling flößt mir große Teilnahme ein,“ sagte er, als der Fürst gesprochen hatte. „Der Fall, daß ein Mensch hören, aber nicht sprechen kann, ist selten. Ich habe mich mit Heilkunde beschäftigt und möchte meine Kunst an Ibrahim versuchen. Ich verspreche Eurer Hoheit, daß Eurem Diener kein Leid zugefügt werden soll – und vielleicht könnte ich ihm die Sprache wiedergeben, wenn er sie früher besessen hat. Wollt Ihr mir gestatten, ihn in Behandlung zu nehmen?“

„Das erlaube ich gern,“ antwortete der Bey, „und sollte es Euch gelingen, Ibrahim die Gabe der Rede zu verleihen, so würde ich Euch dankbar sein, denn ich habe ihn in mein Herz geschlossen.“

„So bitte ich Euch anzuordnen, daß Ibrahim sich heute abend eine Stunde nach Sonnenuntergang in mein Zimmer begebe.“

Zur anberaumten Zeit fand sich Murad in den Gemächern ein, die der Bey dem Abgesandten des Sultans während seines Aufenthaltes in Karaman als Wohnung angewiesen hatte. Ali Bey ging dem Eintretenden mit freundlicher Vertraulichkeit entgegen; aber der verharrte, nachdem er seinen früheren Genossen mit vollkommener Höflichkeit begrüßt hatte, in der strengen Zurückhaltung, die er einem gänzlich Fremden gegenüber angenommen haben würde, und alle Bemühungen des klugen und gutmütigen Zwerges, die frühere Vertraulichkeit wiederherzustellen, blieben erfolglos. Murad ließ Alis wiederholte Fragen, weshalb er Stambul verlassen habe, unbeantwortet; er schien die Aufklärungen, die sein ehemaliger Vertrauter ihm geben wollte, kaum zu vernehmen, seinen Rat, sich nicht dem Ingrimm des erzürnten Sultans auszusetzen, gänzlich zu überhören, und nur als Ali ihn aufforderte und zuletzt eindringlich bat, mit ihm nach Stambul zurückzukehren, wo die Prinzessin, die verlassene Gemahlin, seiner harre, gab er ein

[253]

Baumkänguruhs.
Nach dem Leben gezeichnet von W. Kuhnert.

[254] Lebenszeichen von sich, indem er langsam mit kaltem finstern Ernst das Haupt in den Nacken zurückbeugte. Die ruhige, jeder Uebereilung und Aufregung bare Gebärde sprach bestimmter, als Worte es gekonnt hätten, von dem festen Entschlusse Murads, den Bitten und Mahnungen Alis nicht nachzugeben.

Der Abgesandte des Sultans setzte seine Bemühungen, Murad zur Nachgiebigkeit zu bewegen, noch zwei Tage fort – erfolglos! Dann entschloß er sich schweren Herzens, unverrichteter Sache nach Stambul zurückzukehren, und verabschiedete sich vom Bey, der ihn, in seinem Innern beunruhigt über den geheimnisvollen Besuch, reichlich beschenkt entließ.

Ali Bey eilte, von zwei Dienern gefolgt, auf schnellen Pferden nach Stambul zurück und wurde sogleich nach seiner Ankunft vom Sultan empfangen. Dieser nahm den Bericht des Zwerges mit verhaltenem Ingrimm entgegen.

„Der hartnäckige Rebell soll mit seinem Leben für seinen Ungehorsam büßen,“ sagte er. „Du kehrst nach Karaman zurück und bringst ihn als Gefangenen nach Stambul. Der Bey wird den Befehl von mir erhalten, Dir dabei behilflich zu sein.“

Mit großer Klugheit und Vorsicht gelang es Ali, den Sultan auf andere Gedanken zu bringen. Er sprach mit anscheinender Entrüstung von Murad, für den keine Strafe zu hart wäre. Ali hatte, so mußte man nach seinen Reden annehmen, nur das Wohl der erlauchten Prinzessin Scheriffeh im Auge, und der Sultan sagte darauf nach einigem Bedenken, er werde später noch einmal auf die Angelegenheit zurückkommen. Damit wurde der Zwerg entlassen.

Scheriffeh Sultana war von dem Zweck der Reise Alis nach Karaman unterrichtet worden und hatte während seiner Abwesenheit in Hoffen und Bangen gelebt. Als sie nun vom Sultan erfuhr, Ali Bey sei unverrichteter Sache nach Stambul zurückgekehrt, brach sie in Thränen aus; aber sobald sie die Einzelheiten der Zusammenkünfte mit Murad vernommen hatte, warf sie sich vor ihrem Vater auf die Kniee und flehte ihn an, er möchte ihr gestatten, nach Karaman zu gehen.

Der Sultan wies dies Vorhaben zunächst zurück; schließlich konnte er aber dem rührenden Flehen der geliebten Tochter nicht mehr widerstehen und gab seine Zustimmung zu dem Unternehmen. Da Scheriffeh jedoch nicht als Sultana reisen konnte, so willigte der Großherr auch darein, daß die Prinzessin, als Knabe verkleidet und von einer schwarzen Sklavin begleitet, die ebenfalls Mannskleider anzulegen haben würde, unter dem Schutze des getreuen Ali und zweier zuverlässiger Haremswächter die Reise antreten sollte. Scheriffeh war dem Sultan so dankbar für die ihr erteilte Erlaubnis und zeigte solch’ fieberhafte Hast, sich auf den Weg zu machen, daß der Sultan die dazu nötigen Vorbereitungen sofort anordnete und Scheriffeh mit ihrem Gefolge bereits am nächsten Tage Stambul verlassen konnte.

Nach schneller Reise, deren Beschwerlichkeiten die verwöhnte Prinzessin mit bewunderungswürdiger Stärke ertragen hatte, langte die kleine Karawane wohlbehalten vor Karaman an, wo sie in einem außerhalb der Stadt gelegenen wenig besuchten Han (Herberge) Halt machte. – Während der Reise hatte die Prinzessin mit Ali Bey verabredet, wie sie sich in unauffälliger Weise Zulaß zu dem Hofe des Bey verschaffen wollte. Die Prinzessin sollte unter dem Namen Sadyk Effendi dem Bey ein Schreiben Alis überbringen, das sie als einen jungen Mann aus guter Familie vorstellte, der sein Glück an einem auswärtigen Hofe zu versuchen beabsichtigte und deshalb eine Anstellung im Dienste des Bey von Karaman erwünschte. Ali bat den Fürsten, dies in Gnaden gewähren zu wollen. – Es war kaum zu bezweifeln, daß der Bey diesem Gesuche Folge geben würde. – Während Scheriffehs Anwesenheit am Hofe sollte keiner aus ihrem Gefolge nach Karaman kommen, Ali vielmehr, auch wenn Wochen darüber vergehen würden, warten, bis ihm neue Befehle der Sultana zugingen. Zunächst wollte sie ihre eigenen Kräfte allein versuchen, um zu dem von ihr angestrebten Ziele zu gelangen.

Der Bey empfing den falschen Sadyk leutselig, denn er vermutete, daß die Ankunft des bleichen schönen Knaben wohl mit der noch immer unaufgeklärten Reise Alis am Hofe von Karaman zusammenhinge. Er wies dem Angekommenen deshalb die freundliche Wohnung eines hohen Hofbeamten an und beauftragte ihn mit leichten Beschäftigungen, die ihn nötigten, sich häufig und lange in der Nähe des Fürsten aufzuhalten. Auf diese Weise traf die Prinzessin täglich stundenlang mit dem Lieblingsdiener des Bey, Murad, zusammen. Dieser konnte Scheriffeh unter ihrer Verkleidung nicht erkennen, denn er hatte sie niemals unverschleiert erblickt; aber er faßte eine große Zuneigung zu dem stillen Knaben und suchte dessen Gesellschaft auf, während er sich von allen andern Mitgliedern des Hofstaates zurückgezogen hielt. Scheriffeh erkannte die Gefühle Murads, und ihre Freude darüber war unbeschreiblich, aber das Unglück hatte sie weise und geduldig über ihre Jahre gemacht, und sie zeigte sich zunächst nur bemüht, Murads Wohlwollen für sie zu vergrößern und zu befestigen. Wenn sie mit ihm allein war, so wurde sie gesprächig: sie erzählte von Stambul, dessen schönste Punkte sie kannte, namentlich auch von der Seraïspitze, von dem blauen Bosporus, dem freundlichen Himmel, und wie schön das Leben darunter sei; dann begann sie vorsichtig vom Sultan und dessen Hof und Harem zu sprechen und daß die Rede in Konstantinopel ging, es herrsche im Palast große Traurigkeit, weil die Lieblingstochter des Großherrn, die Prinzessin Scheriffeh, sich zu Tode gräme, von ihrem Gemahl verlassen worden zu sein.

Murad hörte aufmerksam zu, aber er gab in keiner Weise zu erkennen, daß er tieferen Anteil an den Mitteilungen seines jungen Freundes nehme.

Eines Tages, als die beiden im Schloßpark lustwandelten, sagte Scheriffeh: „Verzeiht mir, Effendim, wenn ich eine Frage an Euch richte. Das Wohlwollen, das Ihr mir bezeigt, und die Dankbarkeit und Verehrung, die Ihr mir einflößt, mögen mir zur Entschuldigung dienen … Seid Ihr stumm geboren, oder habt Ihr durch einen beklagenswerten Unglücksfall die Sprache verloren?“

Murad zog ein kleines Heft, das er stets bei sich führte, aus dem Gürtel und schrieb darauf: „Durch einen Unglücksfall“.

Und als Scheriffeh weitere Fragen darüber an ihn richtete, antwortete er in seiner Weise: „Verlaßt diesen Gegenstand, falls Ihr unser Zusammensein, dessen ich mich erfreue, nicht trüben wollt.“

Scheriffeh seufzte tief und sagte leise: „Ich wollte Euch nicht kränken, noch beunruhigen: verzeiht die Weise, in der ich meine Teilnahme an Eurem Schicksal zu erkennen gegeben habe. Ich werde Euch gehorchen.“

Fortan vermied die Prinzessin, auf die verpönte Frage zurückzukommen; sie bemühte sich dagegen, in jeder Art, die sie nur erdenken konnte, Murad ihre Verehrung und Anhänglichkeit zu zeigen, und dies, gepaart mit Scheriffehs unwiderstehlicher Lieblichkeit, gewann ihr in kurzer Zeit die innige Zuneigung des Stummen, so daß die beiden bald unzertrennlich erschienen, da man sie von früh bis spät vertraulich beisammen sah.

Dem Bey konnte dies nicht entgehen, und er schien seine Freude an dem guten Einvernehmen zwischen seinen Lieblingen zu haben; als aber Scheriffeh ihn eines Tages um die Erlaubnis bat, einen Ausflug mit Murad unternehmen zu dürfen, der die beiden drei Tage lang von Karaman fernhalten würde, verweigerte er, dazu seine Zustimmung zu geben. Die ungerechtfertigte Besorgnis stieg nämlich in ihm auf, Murad und Sadyk beabsichtigten, ihn heimlich zu verlassen. Einen Grund, weshalb sie dies thun sollten, konnte er nicht erfinden, aber der Gedanke war nun einmal in seinem Herzen und ließ sich nicht daraus verscheuchen. Scheriffehs Bitten, die immer dringender wurden, bestärkten ihn nur noch darin.

„Was führst Du im Schilde?“ herrschte er sie mißtrauisch an. „Der Wunsch eines Zusammenseins mit Deinem Freunde Ibrahim kann es nicht sein, da Euch das auch hier im ergiebigsten Maße gewährt ist, und das Vergnügen, das Du Dir von einem Ausflug in die unwirtlichen Gegenden des Taurus versprechen magst, ist zu gering, als daß es Dein Flehen erklärte. Ich vermute, Du hast Arges vor.“

„O, Herr, ich habe nichts Arges vor; glaubt mir!“

„Ich glaube Dir nicht, und ich erteile Dir die erbetene Erlaubnis nicht, es sei denn, daß Du mir den wahren Grund Deines Gesuches offenbarst.“

Da sagte Scheriffeh nach längerem Zaudern: „Darf ich Euch bitten, das, was ich Euch nur anvertrauen will, vor allen, namentlich aber vor Ibrahim, geheim zu halten?“

„Die Bitte sei Dir gewährt.“

„Wohlan, mich schmerzt das Gebrechen meines Freundes; ich will versuchen, ihm die Sprache wiederzugeben, und ich hoffe zuversichtlich, es wird mir gelingen.“

Der Bey erinnerte sich sogleich, daß auch Ali, der Abgesandte des Sultans, den Versuch gemacht hatte, seinen Diener zum Sprechen zu bringen, und der Gedanke kam ihm, daß dieser Ibrahim, [255] über dessen Vergangenheit ein undurchdringlicher Schleier lag, aus geheimnisvollen Gründen der Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit des Sultans sei. Der Umstand, daß Sadyk, der Empfohlene Alis, mit demselben Ansinnen an ihn herantrat wie der Abgesandte des Großherrn, machte den Bey nachdenklich und geneigt, dem Ansinnen Scheriffehs Folge zu geben. „Vielleicht,“ so dachte er, „ist auch der junge schöne Knabe, gerade so wie der häßliche alte Zwerg, ein Abgesandter des Großherrn.“ – Da der Bey aber den Grund seiner Sinnesänderung nicht zu erkennen geben und das geheime Spiel, das an seinem Hofe getrieben wurde, unbeargwohnt beobachten wollte, so sagte er nun: „So sei Deine Bitte gewährt, und möge Dir Dein Vorhaben gelingen! Aber wisse, daß Du Dich eines Verbrechens schuldig machen würdest, solltest Du versuchen, den Bey von Karaman, in dessen Diensten Du stehst, zu hintergehen. Dafür würde ich Dich streng bestrafen.“ – Er blickte Scheriffeh, obgleich er in seinem Herzen keinen Groll gegen sie hegte, fest und finster an, so daß sie die ängstlichen Augen zu Boden schlug, und sagte: „Kehrst Du in drei Tagen nach Karaman zurück, ohne meinen Diener Ibrahim von seinem Gebrechen geheilt zu haben, so sollst Du für Deine Verwegenheit durch zwanzig Schläge auf jede Fußsohle gezüchtigt werden. – Beharrst Du bei Deiner Bitte?“

„Mit Eurer gnädigen Erlaubnis, ich beharre dabei,“ gab Scheriffeh leise zur Antwort.

„So zieh’ mit Allah, der Deinem Vorhaben günstig sei!“

Murad war sichtlich angenehm überrascht, als Scheriffeh ihm mitteilte, sie habe vom Bey die Erlaubnis erbeten und erhalten, einen dreitägigen Ausflug mit ihm machen zu dürfen. „Es ist jetzt, zur Frühlingszeit, in den Bergen und Wäldern so schön,“ sagte sie, „da wollen wir lustwandeln.“

Der Stumme gab durch ein freundliches Zeichen seine Zustimmung zu erkennen. – Nun wurden die Diener, die der Fürst den Freunden zur Verfügung gestellt hatte, beauftragt, zwei Maultiere mit Zelten und Mundvorräten zu beladen und zwei Reitpferde in Bereitschaft zu halten. Auf diesen ritten Murad und Scheriffeh am nächsten Morgen zu früher Stunde aus Karaman hinaus und wandten sich dem nahen Gebirge zu. Die Herzen gingen ihnen auf, als sie unter blauem Himmel und milde leuchtender Sonne durch das blühende grüne Land zogen, das ihnen Lebensfreude entgegenduftete. – Scheriffehs bleiche Wangen hatten sich gerötet und ihre dunkeln Augen strahlten, es war die lieblichste Erscheinung, die man sehen konnte. Murads Augen streiften sie mit bewundernder Freude.

Gegen Mittag erreichte die kleine Karawane ein dunkles Gehölz. Murad und Scheriffeh ließen sich im Schatten eines mächtigen Baumes nieder und nahmen dort ein schmackhaftes Mahl ein. Die Unterhaltung zwischen den beiden Freunden war keine lebhafte, denn Scheriffehs Herz war beunruhigt und sie konnte nicht viel reden, während Murad gar nicht sprach; doch traten niemals schwere Pausen ein. Murad wies auf einen Baum, einen Vogel, den Himmel, und seine Augen sagten: „Wie schon ist es hier!“ – Und Scheriffeh antwortete darauf: „Ja, es ist schön – wunderschön!“ Oftmals begegneten sich die Blicke der beiden, und es waren die Blicke von Menschen, die sich sehr lieb haben. – Einmal lehnte sich Scheriffeh gegen den Baumstamm, an dem sie saßen, zurück, und die dunkeln Augen in die Ferne gerichtet, sang sie mit silberreiner, sehnsüchtiger Stimme eine alte Volksweise, eines von den Keremliedern:

„Getrennt von seinem Lieb zu sein,
Ist unerträglich bittere Pein.
Weh dem, der sie erduldet!
 Schön Asli, kehre wieder!“

„Der größte ist der Liebe Schmerz.
Zerrissen ist mein junges Herz.
O kehr’ zurück, mein Leben!
 Schön Asli, kehre wieder!“

Murad blickte Scheriffeh aufmerksam an, während sie sang. Als sie geendet hatte, schlug er die Augen zu Boden und verblieb lange Zeit in Nachsinnen versunken.

Scheriffeh klopfte das Herz. Sie wollte sich zu erkennen geben, sprechen, den geliebten Gemahl um Verzeihung bitten; – aber sie fand nicht den Mut dazu. „Heute abend vor den Zelten, wenn er mich nicht sehen kann und ich mich weniger vor ihm fürchte – dann werde ich sprechen,“ sagte sie sich. Aber als die Nacht gekommen, war ihr Mut nicht größer geworden, und mit stummem Abschied von Murad zog sie sich traurig in ihr Zelt zurück.

Der zweite Tag verging wie der erste. Murad und Scheriffeh wanderten Hand in Hand wie zwei Freunde durch dunkle Wälder und über grüne Hügel – aber Scheriffeh war beinahe ebenso stumm geworden wie ihr Begleiter. Von Zeit zu Zeit seufzte sie tief. Dann sah Murad sie fragend an; sie fand keine Worte, die stille Frage zu beantworten. Die Brust war ihr wie zugeschnürt. – „Wie klein und fein doch Sadyks Hand ist,“ dachte Murad, und er hätte sie küssen mögen, so lieblich erschien sie ihm – aber er lächelte nur still vor sich hin ob des sonderbaren Gedankens, die Hand des Knaben zu liebkosen. Er fühlte sich unbeschreiblich wohl in dessen Nähe. Er wußte nicht warum.

Die Nacht verbrachte Scheriffeh, ohne Ruhe finden zu können. Morgen mußte die Rückreise nach Karaman angetreten werden, morgen mußte sie sprechen, wenn sie nicht die schwer erlangte Gelegenheit, sich mit Murad zu versöhnen, ungenutzt vorüber gehen lassen wollte. – „Was soll ich thun? Wie soll ich sprechen?“ fragte sie sich immer und immer wieder; aber sie fand keine Antwort.

Am Morgen stiegen die beiden zu Pferde, um den Rückweg nach Karaman schneller zurücklegen zu können. Gegen Mittag rasteten sie zur Mahlzeit. Als sie diese eingenommen und die Diener sich zurückgezogen hatten, erhob sich Scheriffeh plötzlich, kniete vor Murad nieder und sagte leise: „Ich bin Euer unglückliches Gemahl. O, Murad, verzeiht mir!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. Murad war schnell aufgestanden und einen Schritt zurückgewichen. Nun wandte er sich ab und näherte sich langsam der Stelle, wo die Diener neben den Tieren lagerten. Er war bleich geworden und an seinem Herzen nagte brennender Schmerz, aber sein trotziger Stolz war stärker als alles. Noch konnte er die Kränkung nicht verzeihen, die ihn so tief verletzt hatte. Nie hätte er sich Aehnlichem wieder aussetzen wollen, und darum hatte er Vater und Mutter und seine Gemahlin verlassen, „für immer!“ – das war seine Absicht gewesen und blieb es noch. Es war ihm leicht geworden, Stambul zu fliehen, jetzt wurde es ihm innerlich schwer, Scheriffeh den Rücken zu kehren. – „Es muß sein!“ sagte er vor sich hin. Er preßte die Zähne zusammen, und sein schönes Antlitz, das kurz vorher noch in Freude geleuchtet hatte, nahm einen finstern Ausdruck an, so daß die Diener, als er an sie herantrat, erschrocken aufsprangen und sich beeilten, alles zur Weiterreise vorzubereiten.

Murad und Scheriffeh ritten stumm nebeneinander her. Der Mut des armen Mädchens war gebrochen. Sie wagte es nicht, noch ein Wort an ihren Begleiter zu richten. Alle ihre Hoffnungen waren vernichtet. Sie wünschte sich den Tod. – Die beiden langten zu später Stunde in Karaman an und trennten sich voneinander, ohne daß Murad Scheriffeh eines Blickes gewürdigt hätte. Aber er verbrachte eine schlaflose Nacht.

Am nächsten Morgen begab sich Scheriffeh zum Bey und berichtete in kurzen, verzweifelten Worten von dem gänzlichen Mißerfolg ihrer Aufgabe.

„So sei der verdienten Strafe gewärtig,“ sagte der Bey mit finsterer Miene. In seinem Herzen hatte er nie die Absicht gehegt, Sadyk züchtigen zu lassen; aber der Knabe sollte geängstigt werden, zur Strafe, gegen den Wunsch seines Herrn gehandelt zu haben, und sodann, weil der Bey annahm, die Furcht vor der Züchtigung könnte Sadyk zur Offenbarung seines Geheimnisses treiben. Er ließ deshalb, nachdem dieser ihn verlassen hatte, den am meisten gefürchteten Beamten seines Hofes, Chosref, den Nachrichter, zu sich bescheiden und sagte ihm, Sadyk sei verurteilt worden, zwanzig Schläge auf die Fußsohlen zu empfangen. Alles sei dazu vorzubereiten. – „Nun habe acht, was ich Dir im geheimen sage,“ fuhr der Bey fort. „Wenn Sadyk auf dem Richtplatz erschienen ist, so legst Du harte Hand an ihn und drückst ihn unsanft zu Boden. Dann, nachdem er gebunden worden ist, hebst Du den Stock zum Schlage; aber er darf – bei Deinem Leben – Sadyk nicht berühren. Du hast verstanden?“

„Ich habe verstanden.“

„Niemand, wer immer es sei, darf von diesem geheimen Befehl wissen. Sprächest Du davon, so wäre es Dein Tod.“

„Ich werde schweigen.“

Die Nachricht von der Verurteilung Sadyks verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Schloß. Alle bemitleideten den armen Knaben und staunten ob der grausamen Härte des Bey.

[256] Murad, bleich von Angesicht, das Haupt gesenkt, wanderte wie ein unsteter Geist durch die langen Gänge des Palastes und die Wege des Parkes. Als er an den Richtplatz kam, auf dem die Knechte Chosrefs mit den unheimlichen Vorbereitungen zur Vollziehung der Strafe an Sadyk beschäftigt waren, durchrieselte ihn ein Grausen, das ihn erzittern machte. Es war bekannt geworden, Sadyk solle bestraft werden, weil er in leichtfertiger Weise, entgegen einer ernsten Mahnung des Bey, die Heilung Murads unternommen habe, und dieser wußte, daß Scheriffeh um seinetwegen zu leiden haben werde.

Die arme Scheriffeh saß inzwischen in ihrem Zimmer und weinte und weinte. Aber nicht Furcht vor der Züchtigung war es, die ihre Thränen rinnen machte. Daß Murad sie zurückgewiesen, sich von ihr abgewandt hatte – betrübte sie zum Tode. – Vor der Folter, die ihr bevorstand, hätte sie sich leicht retten können. Ein Wort an Ali Bey, der in der Nähe von Karaman ihrer Befehle harrte – und er würde zur Hilfe herbeigeeilt sein! – Aber Scheriffeh hatte nur den einen Gedanken: sie wollte nicht von Murad scheiden; um aber in seiner Nähe bleiben zu können, so lange er ihr nicht verziehen hatte, durfte sie sich nicht zu erkennen geben und mußte im Dienste des Bey verweilen. Im Innersten ihres Herzens war noch ein Hoffnungsschimmer: vielleicht rührten die Schmerzen, die sie nur Murads willen erdulden wollte, sein stolzes Herz! Willkommen war ihr um diesen Preis jede Pein. Der Hoffnungsschimmer war schwach, aber er erleuchtete den Pfad zum Richtplatz und unverzagt, wennschon ein Bild des Jammers, trat sie den schweren Gang dorthin an.

Der Hof war bereits in einem großen Kreise versammelt, als Scheriffeh zwischen zwei Wächtern auf dem Platze erschien, wo sie gezüchtigt werden sollte. Der Bey saß auf einem erhöhten Sessel, ihm zur Rechten und zur Linken standen die hohen Beamten seines Hofstaates; dem stummen Murad war ein Platz dem Bey gegenüber angewiesen worden. Das hatte der Fürst angeordnet, weil er Murad während des erwarteten Vorganges beobachten wollte. Murad war so bleich wie Scheriffeh und hielt die Zähne zusammengepreßt und die Augen zu Boden geschlagen.

Die Verurteilte stand jetzt in der Mitte des Richtplatzes, von vielen mitleidigen Blicken beobachtet. Ihre nackten Füßchen steckten in weiten Schuhen, die leicht abgeworfen werden konnten. Diese Füße waren schön und zierlich und glänzten, als wären sie aus blau geädertem, fein geschliffenem Marmor. Und die Peitsche des Henkers sollte sie zerfleischen!

Chosref trat vor den Bey, verbeugte sich bis zur Erde, hob dann das Haupt und blickte seinen Herrn fragend an.

„Walte Deines Amtes!“ sagte der Fürst mit fester Stimme.

Darauf wandte sich Chosref zu Scheriffeh und legte seine Hand gewaltig auf deren zarte Schulter und drückte sie zu Boden. Scheriffeh knickte zusammen wie eine von schwerem Fuß zertretene Blume. Und in demselben Augenblick drang ein jammervoller Klageschrei über ihre bleichen Lippen.

Er schnitt Murad ins Herz und machte es sterbenswund. Das war derselbe Schrei, der ihn aus Stambul vertrieben hatte. Sein trotziger Stolz schmolz unter dem kläglichen Hauch wie Wachs unter einer spitzen Flamme. – Mit einem Satz war er neben dem Nachrichter und schleuderte ihn beiseite. „Dies ist der Arm einer Sultana!“ rief er. „Hüte Dich, Deine rauhe Hand daran zu legen!“ – Scheriffeh vernahm die Worte, die sie selbst an ihrem Hochzeitsabend gesprochen und seitdem so bitter bereut hatte; nun wußte sie, daß sie ihr endlich verziehen waren! Murad umfaßte ihren zarten Leib mit der Sorgfalt einer ängstlichen Mutter, die das kranke Kind einbetten will, hob die leichte Last auf seinen Arm und trat vor den Bey.

„Dies ist meine Gemahlin,“ sagte er. „Gewährt ihr gastfreundliche Aufnahme in Eurem Harem. Sie ist dessen würdig, wie Ihr erfahren werdet, wenn Ihr mir kurzes Gehör schenken wollt.“

Scheriffeh hatte ihr Antlitz, das nunmehr, außer ihrem Gemahl und ihrem Vater, kein Mann unverschleiert wieder erblicken würde, an Murads Schulter verborgen und weinte leise vor Aufregung und Glück.

Dem Bey war es bei den Worten Murads „Dies ist der Arm einer Sultana“ wie Schuppen von den Augen gefallen. – Wie hatte ihn die Verkleidung, unter der die Prinzessin bei ihm erschienen war, nur einen Augenblick täuschen können? Er war bestürzt.

„Glaubt mir, Effendim,“ sagte er, „daß es nie in meiner Absicht lag, der erlauchten Frau schimpfliche Schmerzen zuzufügen. Auch ohne Euer Dazwischentreten war ihr jede Folter erspart. So hatte ich angeordnet, und es würde dem Nachrichter das Leben gekostet haben, hätte er meinen Befehlen nicht gehorcht. – Ich bin stolz, meinen Harem zur Verfügung Eurer erlauchten Gemahlin stellen zu dürfen. Geruht, mich zu begleiten.“ – Er raunte einem Diener, der hinter seinem Sessel stand, einen kurzen Befehl zu, worauf sich dieser schnellen Laufes entfernte. Sodann wandte sich der Bey wieder zu Murad und sagte mit höflichem Gruß: „Ich stehe zu Euren Diensten, Effendi.“ – Darauf schlugen die beiden den Weg zum Palast ein, von dem erstaunten Hofstaat in ehrerbietiger Entfernung gefolgt. Nach einigen Minuten erblickten sie eine von zwei laufenden Schwarzen getragene Sänfte, die vor ihnen Halt machte und in die Scheriffeh von Murad niedergesetzt wurde. Dann kehrte die Sänfte nach dem Harem des Bey zurück, während dieser und Murad sich gemessenen Schrittes nach dem Palast begaben. Unterwegs erzählte Murad, ohne auf Einzelheiten einzugehen, dem aufmerksam lauschenden Bey, er habe Stambul bald nach seiner Vermählung mit Scheriffeh, der Tochter des Großherrn, verlassen und es für gut befunden, sich Schweigen aufzuerlegen, um müßige Fragen über seine Vergangenheit leichter unbeantwortet lassen zu können. Er werde nun demnächst seine Gemahlin nach ihrer Heimat zurückführen.

Scheriffeh wurde im Harem des Bey mit der einer Prinzessin zukommenden Ehrerbietung aufgenommen, zahlreiche Sklavinnen und kostbare Gewande wurden zu ihrer Verfügung gestellt, und als sie Murad wenige Stunden später empfing, da war sie die Sultanstochter, die glückliche, von ihrem Auserwählten geliebte Gemahlin.

Ali Bey wurde am nächsten Morgen in den Palast gerufen und empfing dort von Murad, der ihn aufs herzlichste bewillkommnete, eine kurze Mitteilung von den letzten Vorgängen am Hofe des Bey. Die Augen des guten Ali strahlten vor Freude, als er von der Wiedervereinigung des jungen Paares hörte, an dessen Schicksalen er mit väterlicher Zuneigung Anteil genommen hatte. Er entsandte sogleich einen Eilboten nach Konstantinopel, um dem Großherrn zu melden, Scheriffeh Sultana und Murad würden sich ohne weitern Verzug auf den Weg nach Stambul machen. Wenige Tage später erfolgte die angekündigte Abreise, und zwar auf Scheriffehs ausdrücklichen Wunsch, ohne jede Aufsehen erregende Feierlichkeit und ohne das stattliche Gefolge, das der Bey zu ihrer Verfügung gestellt hatte und das den Zug durch Anatolien verlangsamt haben würde.

Das Wiedersehen der glücklichen Tochter erfreute den Großherrn so innig, daß er darüber den Groll, den er eine Zeit lang gegen Murad gehegt hatte, vergaß. Ja, im Innersten seines Herzens regte sich Bewunderung für den Jüngling, der sich so entschlossen gezeigt hatte, seinem Stolz und seiner Würde alles zu opfern, was Menschen glücklich zu machen pflegt. Nach einer Unterredung mit Murad, in der dieser den Wunsch zu erkennen gegeben hatte, in den Kriegsdienst zu treten, ernannte er ihn zum Offizier. Murad zeigte in seiner neuen Stellung so viel Eifer und Tüchtigkeit, daß er, als einige Zeit darauf der Krieg an der Grenze von neuem entbrannte, mit der Führung einer größeren Heeresabteilung betraut werden konnte. In der ersten Schlacht, an der er teilnahm, gab er Beweise unerschütterlicher Kaltblütigkeit und verwegenen Mutes und trug durch sein persönliches Eingreifen in den Kampf wesentlich zu dem für die Türkei glücklichen Ausgang des Tages bei. Er wurde noch während des Feldzuges zum Pascha ernannt, zu einer der höchsten Stellungen in der Armee befördert und kehrte nach Beendigung des Krieges, der mit einem ehrenvollen Frieden für die Türkei schloß, ruhmbedeckt nach Stambul zurück. Dort wurde er unter dem Namen Gurdschi Murad Pascha (Murad Pascha der Georgier) eine berühmte Persönlichkeit, deren Namen noch heute in der Kriegsgeschichte des osmanischen Reiches glänzt. Die eiserne Strenge, mit der er die Mannszucht unter seinen Truppen aufrecht erhielt, hatte ihm aber viele Feinde gemacht, und nachdem sein mächtiger Beschützer, der Vater Scheriffehs, gestorben war, gelang es jenen, den Georgier aus der Gunst des jungen Sultans zu verdrängen. Darauf legte Murad Pascha sein Amt nieder und zog sich mit seiner Gemahlin, die ihn bis zu ihrem Tode abgöttisch verehrte, nach Karaman zurück, wo er, auf einer großen Meierei, die er erworben hatte, fern von dem Treiben der Hauptstadt hochbetagt starb. Scheriffeh Sultana war ihm um mehrere Jahre im Tode vorangegangen.




[257]

Im Seemannshaus zu Kiel.

Von Georg Hoffmann.0 Mit Abbildungen von H. Haase.

Das am 1. November vorigen Jahres in Kiel eröffnete erste Seemannshaus der deutschen Reichsmarine ist über Erwarten schnell aus der Sphäre frommer Wünsche herausgetreten und zur fertigen Thatsache geworden. Denn der Gedanke, derartige gesellschaftliche Heimstätten für die Unteroffiziere und Mannschaften unserer Marine einzurichten, wurde erst im Herbst 1894 vom Korvettenkapitän Harms, dem rastlosen Begründer zahlreicher Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen auf den Torpedodepots der Seefestung Friedrichsort, angeregt und von dem Prinzen und der Prinzessin Heinrich von Preußen mit lebhaftem Interesse aufgegriffen; unter ihrer Führung konnte der alsbald gebildete konstituierende Ausschuß im Mai vorigen Jahres die ersten, das Werk praktisch angreifenden Beschlüsse fassen. Korvettenkapitän Harms wurde nach England entsandt, um dort das Wesen der Seemannshäuser zu studieren; Prinz Heinrich kaufte, noch ehe eine sichere finanzielle Grundlage für das Kieler Unternehmen geschaffen war, auf seinen Namen das soeben von dem Oberlandesgericht der Provinz Schleswig-Holstein verlassene Gebäude, und mit Hilfe der reichlich gespendeten Privatmittel wurde es, ohne irgendwelche Unterstützung durch Reich und Staat, binnen wenigen Monaten zum gastlichen Gesellschaftshaus umgewandelt, in welchem Maate und Matrosen sich immer heimischer fühlen, je öfter sie darin Einkehr halten.

Wer etwa glauben möchte, daß die Schnelligkeit, mit welcher der Gedanke, das Haus herzustellen, in die That umgesetzt wurde, der Solidität und Vollständigkeit seiner Einrichtungen Abbruch gethan habe, der dürfte sich beim Besuche der Anstalt angenehm überrascht sehen. Vor Zeiten der alten holsteinischen Adelsfamilie von Bülow-Bothkamp gehörig, ist das Haus eins jener würdigen, Jahrhunderte alten und doch noch heute in sich festgefügten Gebäude Kiels, in denen der Adel des Landes Wohnung zu nehmen pflegte, wenn Geschäfte oder Lustbarkeiten ihn von seinen Gütern in die Holstenstadt riefen. Von solchem Alter zeugen noch heute das starke, kompakte Gemäuer und der trotz wiederholt erfahrener Abänderungen erhalten gebliebene altmodische Grundtypus der inneren Baueinrichtung. Von den Zwecken freilich, denen das äußerlich unauffällig in die Häuserzeile der Flämischen Straße eingereihte Gebäude als Heimstätte des obersten Gerichtshofs der Provinz während der letzten Jahre gewidmet gewesen, ist nichts mehr zu spüren; der Aktenstaub der Gerichtsstuben ist gründlich ausgekehrt worden; blank und sauber, hell und luftig, praktisch und bequem mutet den Besucher alles an; und wo vor zwei Jahren noch in tiefem Ernst gerechtet wurde und gerichtet, da mischt sich heute das Klappern der Bierseidel und Billardbälle in das Plaudern und Lachen der dienstfreien Blaujacken.

In kaum drei Minuten erreichen wir von den Landungsbrücken der Marine aus das im Hafenrayon der Stadt gelegene Seemannshaus, dessen Straßenfront von keinem Eingang durchbrochen wird. Vielmehr treten wir seitlich durch die Pforte einer kurzen, starken Hofmauer und gelangen mit wenigen Schritten durch neu angepflanzte Boskette hindurch an die links zum Portal emporführenden wenigen Stufen und über dieselben auf den Vorflur des Hauses. Hier gewinnen wir sofort den günstigsten Eindruck von dem guten Geschmack, mit dem sämtliche Räume sowohl nach der praktischen wie nach der dekorativen Seite hin ausgestattet worden sind. Gefällig gemusterte Mettlacher Fliesen bedecken den Estrich; die Decke ist mit zartfarbigem Blumen- und Blättergerank, in den vier Ecken mit bunten Marinestücken ausgemalt; aus der Mitte hängt ein aus Eisen und blankem Kupfer hergestellter dreiarmiger Kandelaber herab, dessen Lampen den Raum mit tadellosem, im ganzen Gebäude verwendetem Gasglühlicht taghell erleuchten. Zur Linken unterbricht eine von innen zugesetzte und daher unpassierbare Thür die einfach aber geschmackvoll mit Oelfarbe gestrichene Wand; zur Rechten blicken wir durch ein kleines Auslugfenster in den Bureauverschlag des Kastellans, bei welchem wir unsere Ankunft melden.

Dahinter führt die breite Treppe, mit ihrem altmodischen, dunklen Geländer eins jener Erbstücke aus vergangener Zeit, zum ersten Stockwerk empor. Geradeaus aber lesen wir an der Wand in wappenartig umrissenem Felde den Willkommensgruß:

Auf dem Meer
Geht’s stürmisch her.
Ruh’ drum aus
Im Seemannshaus!

[258] Durch einen breiten Korridorgang des Erdgeschosses gelangen wir an eine Flügelthür und treten durch diese mitten in den Trubel des ersten Kieler Seemannsheims. Der elf Meter tiefe und sieben Meter breite Restaurationssaal der Mannschaften ist bis auf den letzten Platz besetzt. Auf geschmackvoll geformten, hellfarbigen Wiener Stühlen, einen den ganzen Fußboden deckenden Linoleumteppich unter den Füßen, sitzen die vergnügten Blaujacken um die blitzblank gescheuerten, unpolierten Eichentische; hier eine Gruppe vom Panzerschiff „Brandenburg“, dort eine andere vom Kreuzer „Kaiserin Augusta“; an diesem Tisch ein halbes Dutzend Rekruten von der „Sachsen“, denen sich ein paar Bekannte von der Torpedoabteilung beigesellt haben, an jenem, ringsherum dicht gedrängt in zweifacher Reihe, eine Schar Bootsgäste vom Wachtschiff „Pelikan“, denen ein „alter Kerl“ vom Artillerieschulschiff „Mars“ seine Seegeschichten zum besten giebt. Ganz besonders behagliche Plätze aber haben sich die heute rechtzeitig erschienenen Leute vom Aviso „Pfeil“ und vom Torpedoschulschiff „Blücher“ erobert, dort hinten an den drei hohen, mit rotbraunen Jutegardinen verhängten, durch blanke Pfeilerspiegel voneinander getrennten Fenstern, wo man durch Rücken an Rücken aneinandergefügte lederbezogene Sofas drei urgemütliche Nischen herstellte, von denen aus sich bei Tage der Straßenverkehr draußen vortrefflich überblicken läßt. Gleich links vom Eingang erweisen zwei Obermatrosen dem mächtigen Kachelofen eine besondere Aufmerksamkeit, deren Grund wir beim Nähertreten schnell erkennen. Denn die bekannte blaue Delfter Arbeit nachahmend, hat hier ein erfinderischer Malersmann die einzelnen Kacheln mit Schiffstypen, Leuchttürmen und humoristischen Scenen aus dem Seemannsleben – hier ein Matrose mit dem Sonntagsschatz am Arm, dort einige Blaujacken am Biertisch – geschmückt.

Die beiden scheinen bei bester Laune und lassen manch kräftigen Seemannswitz vom Stapel, der noch auf zwei Tische Entfernung ringsum allgemeines Gelächter hervorruft. Nur der junge Rekrut von der Werftdivision, der dort an dem auf besondere Anregung des Prinzen Heinrich in die Längswand eingelassenen alten Kamin lehnt, bleibt unerschütterlich ernst. Er scheint überhaupt eine nachdenkliche Natur zu sein, die am liebsten mit sich allein lebt. Schon eine Viertelstunde steht er am selben Platze, mit der Hand in der Tasche die lose darin aufbewahrten Nickel betastend. Wird’s reichen? Mal sehen! Jedenfalls rafft sich der Melancholiker jetzt auf, und zwischen den frohen Kameraden umherschleichend, besieht er sich hüben und drüben an den in graubraunen Oelfarben schablonierten Wänden die wohlgelungenen Porträts des Prinzen und der Prinzessin Heinrich. Dann schaut er eine Weile bewundernd die beiden fünfarmigen Lampenkronen an, die dem belebten Bilde im Saal eine Fülle von Licht verleihen, und studiert schließlich die über allen Thüren lesbaren, auf das Schifferleben bezüglichen ernsten und heiteren Reime. Da heißt’s an der einen Wand:

Deutsches Haus und deutsches Land,
Schirm es Gott mit starker Hand!

oder an der andern:

Nordost is de Schippersfru er Trost,
Nordwest is de Schippers er Best.

und an einer dritten:

Nord und Süd, de Welt is wit,
Ost und West, to Hus is’t Best.

Hochdeutsche und plattdeutsche Verse wechseln über den Thüren, und hochdeutsche Rede und „plattdütscher Snack“ schwirren in dem angenehm durchwärmten, gut ventilierten und trotz sechzig bis hundert „Volldampfvoraus-Cigarren“ nur leicht vom Rauch verschleierten Raum durcheinander. Dazwischen wird manch gutes und billiges Glas Gerstensaft – Branntwein wird nicht verschenkt – mit Verständnis geleert, um hinterm Büffett von neuem gefüllt zu werden; zwei, drei und mehrere Male, je nach der Größe des Durstes und des – Portemonnaies. Denn absolut frei – natürlich ohne in Roheiten zu verfallen – sollen sich statutengemäß die „Kulis“, wie die nicht chargierten Blaujacken in der Marinestadt gemeiniglich benannt werden, im Seemannshaus bewegen dürfen; keinerlei militärischer Zwang noch irgendwelche genierliche Rücksichtnahme auf etwaige Vorgesetzte stört die Gemütlichkeit. Dabei hat niemand nötig, auch nur einen Pfennig zu verausgaben; aber was verzehrt wird, muß selbstverständlich bar bezahlt werden, und das wird selbst den weniger Bemittelten um so leichter, als alle Preise für Speise und Trank so niedrig wie möglich angesetzt sind. Daß gleichwohl alles drüben in der mit einem riesigen Kochherd ausgestatteten Küche unter Leitung der Gattin des Hausverwalters tadellos hergestellt und in reichlichen Quantitäten verabreicht wird, davon können wir uns schnell auf einem Gang rechts durch die Flügelthür in das ähnlich wie der Hauptsaal ausgestattete Speisezimmer überzeugen. Dort entdecken wir zwischen zahlreichen anderen emsig kauenden Gästen auch unseren Melancholiker wieder, vor sich einen für fünfzig Pfennig erstandenen Chimborazo von Eisbein, Sauerkraut und Erbsenmus, dessen er sich auch getrösten dürfte, selbst wenn ihm nicht nur noch ein letztes Jahr, sondern die ganze dreijährige Dienstzeit mit achtzehn Monaten Ostasien bevorstände. Und in der That! er tröstet sich auch. Denn nach beendetem Mahle wandert er gesättigt und stillvergnügt ein Zimmer weiter, um sich an dem dort zu freier Verfügung stehenden amerikanischen Billard die wünschenswerte Nachtischbewegung zu verschaffen und mit zwei pommerschen Landsleuten vom Seebataillon die Dessertcigarre auszuspielen.

Wir aber wenden uns inzwischen vom Hauptsaal zur Linken und gelangen ins Lese- und Spielzimmer, wo wir eine schweigsame Gesellschaft antreffen. In bequemen Wiener Armstühlen sitzend, gruppieren sich hier die Gäste um zwei nebeneinander durch die ganze Länge des Saals sich hinziehende breite Tafeln; die einen sind mit der Lektüre irgend einer der 84 Tageszeitungen beschäftigt, welche im Seemannshaus gehalten werden und in denen jeder sich die gewünschten Nachrichten aus seiner Heimat zusammenlesen kann; die anderen blättern in den illustrierten Journalen; die dritten vertiefen sich in irgend eins der in besonderem Glasschrank aufbewahrten Gesellschafts- und Geduldspiele. Hier spielt eine Gruppe Domino, dort ein Paar das Damenspiel, und dort wieder ein einzelner den „Blitzableiter“, „Grillenlöser“, „Zornbrecher“ und wie die Geduldspiele alle heißen, die zu Dutzenden zur Verfügung [259] stehen. Am Ende der einen Tafel knipsen zwei Altgediente beim „Tiddledy Winks“, einem auch auf den Schiffen beliebten Gesellschaftsspiel, um die Wette, während den olivgrün verhängten Fenstern gegenüber in der dort etablierten überaus gemütlichen Sofaecke ein Schreibersgast von der Kommandantur just seinem Partner und Kollegen ein triumphierendes Schach und Matt bietet.

Stiller noch als im Lesesalon geht’s im anstoßenden Schreibzimmer her. Hier sehen wir eine der zweckmäßigsten Einrichtungen im Seemannshaus, die begreiflicherweise besonders stark benutzt wird. Auf den Schiffen ist es für den einzelnen Mann nicht immer leicht, ein Eckchen zu finden, in welchem er seine Gedanken zwecks Stilisierung eines Briefs in Ruhe sammeln kann, hier aber wird ihm das für eine Seemannsfaust ohnehin schwierige Stück Arbeit so leicht und bequem gemacht wie nur irgend möglich. Im hell erleuchteten Zimmer liegen auf breitem, langem Tisch, den ein Dutzend bequemer Armstühle umgiebt, ebensoviele Schreibmappen mit den übrigen, zur Briefstellerei erforderlichen Utensilien, als da sind Federhalter und Federn, breitfüßige, unumstößliche Tintenfässer, Briefpapier und Couverts, mit dem Reichsadler und dem Herkunftsstempel „Seemannshaus in Kiel“ geschmückt. Da können dann die Eltern daheim oder die Braut gleich sehen, daß der Sohn oder Bräutigam in der sittenverderbenden Seestadt an den Sonntagnachmittagen gut aufgehoben ist. Und das eben war ja der Zweck bei der Gründung des ersten Seemannsheims unserer Marine. Uebrigens sind hier nicht alle mit der Schriftstellerei beschäftigt. Denn dort hinten in der Ecke beim Ofen buchstabieren drei „Mariners“ an dem riesigen, über einen Meter Durchmesser haltenden Erdglobus; der eine mit dem suchenden Finger mitten im Stillen Ocean, der andere mit den Augen in der Gegend von Sansibar, je nach dem Ziel der letztgemachten oder demnächst auszuführenden Reise. Der dritte aber sucht vergeblich in Centralasien sein heimatliches Pommerland, an dessen Fischerstrand er im nächsten Herbst, wann die Dienstzeit vorüber, zurückkehren wird.

Die im Parterre gelegenen Säle und Gemächer, zu denen noch im Souterrain drei höchst komfortable Badestuben mit Wannenbad, Douche, Badeofen etc. gehören, bilden den eigentlich charakteristischen Teil des Kieler Seemannshauses. Da, wie bereits bemerkt, jeder dienstliche Zwang peinlichst vermieden werden soll, so wurden die Klubräume für die Unteroffiziere, von denen der Mannschaften vollständig getrennt, in den ersten Stock gelegt. Eine Reihe wie unten eingerichteter, aber kleinerer, gemütlicher Zimmer, in deren einem uns ein prächtiger, dunkelgrüner Majolika-Kachelofen auffällt und die, mit eigenen Büffetten und eigener Bedienung versehen, durch einen Speisenaufzug direkt mit der Küche verbunden sind, bieten den Maaten und Obermaaten Gelegenheit, sich nach Belieben mit Lesen, Schreiben, Spielen, Essen, Trinken, Plaudern zu beschäftigen; eine willkommene Ergänzung finden die Räume in einem eleganten, mit allem Zubehör ausgestatteten französischen Billardsalon, in welchem Queue und Bälle selten Ruhe haben. Im allgemeinen brauchte man für die Unteroffiziere nicht in gleichem Umfange wie für die Mannschaften Sorge zu tragen, da sie einerseits in Kasernen und auf den Schiffen besondere Aufenthaltsräume, sogenannte „Messen“, haben und anderseits zumeist sich ihrer bekanntschaftlichen Beziehungen zu den eigenen verheirateten Kameraden und zu der Bürgerschaft der Stadt erfreuen. Den Heimatlosen ein Heim! lautet die Devise für das Seemannshaus.

Von dem Billardsalon oder, wenn man will, direkt vom oberen Korridor aus treten wir in den Hauptsaal des Stockwerks ein, in welchem seiner Zeit die Eröffnung des Hauses durch den Prinzen Heinrich stattgefunden hat. Ueber dem Mannschaftsrestaurant gelegen und diesem an Umfang gleich, ist der Raum für allerlei ernste und humoristische Vorträge, Konzerte, Deklamationen und kleinere Aufführungen bestimmt und wird in der Regel nur an den Sonntagen benutzt werden. Heute findet just eine lustige Vorlesung aus Fritz Reuter statt, die auf die Lachmuskeln der vor dem Podium lauschenden Matrosenschaft ihre Wirkung nicht verfehlt. Wie wir uns im Umschauen überzeugen, ist in dieser „Aula“ auf die dekorative Ausstattung noch etwas mehr Gewicht gelegt als in den übrigen Räumen. Die Wände, auf gelbem Grunde mit goldenen Reichsadlern schabloniert, zeigen über den Thüren Sprüche, die auf den Beruf des Seemanns Bezug nehmen; sein Licht erhält der Raum am Tage seitwärts durch drei hohe Fenster und von oben durch die Decke, bei Abend durch vier besonders vornehm ornamentierte Glühlichtkronen. Weit sorgfältiger als in den übrigen Räumen sind hier die in violettem Ton gehaltenen Kacheln des Ofens mit Schiffstypen alter Zeiten, dazwischen mit einem sauber ausgeführten Bilde des Königlichen Schlosses zu Kiel bemalt; kurzum etwas besonders Festliches zeichnet den Saal aus. Hinter ihm sind noch ein paar weiß und gold getäfelte Zimmer jahrhundertalten Stils reserviert, um den Geschäftsführern, Mitgliedern des Aufsichtsrats und der verschiedenen hilfreichen Ausschüsse ruhige Räume zu ungestörter Beratung zu bieten.

Während wir nach Besichtigung des Stockwerks die Hintertreppe hinabsteigen, hören wir von außen lebhaftes Rufen, lautes Sprechen, lustiges Lachen und dazwischen in kurzen Zwischenräumen dumpfes Rollen und plötzliches Poltern. Wir treten durch die Hofthür und finden nicht bloß eine komplette, funkelnagelneue doppelte Kegelbahn, die, solid erbaut und bequem heizbar, unseren Blaujacken auch zur Winterszeit Gelegenheit giebt, sich nach Herzenslust auszutoben, sondern auch noch einen ganz ansehnlichen Biergarten, der, sauber mit Kies bestreut, mit Linden bepflanzt ist. „Jung di! Hinnerk, dat’s fein hier, wat?“ hören wir, an der Straßenpforte angelangt, einen „Kuli“ vom „Kurfürst Friedrich Wilhelm“ zu seinem Landsmann von der „Württemberg“ sagen. „Wat schull dat wol ni fein wesen,“ meint der andere, „kannst man glöwen, Franz, wenn’k tokamen Sünndag keene Wach’ ni heww un ni uppe Back up un dal loopen mut, denn so kam ick säker wedder. Dat Büfstück het mi to fermos smeckt.“

Und wir glauben schon, daß Hinnerk wiederkommt und viele andere mit ihm.


Blätter und Blüten.


Otto Roquette, der Dichter von „Waldmeisters Brautfahrt“, ist am 18. März in Darmstadt, wo er seit Jahren am Polytechnikum als Professor der Litteratur wirkte, einem Schlaganfall erlegen. In ihm hat die Nation einen Dichter von reinstem Streben und edelstem Charakter verloren, mit dessen Namen der dauernde Ruhm verknüpft bleibt, in Zeiten stürmischer politischer Erregung, die selbst die Dichter in ihren Dienst zwang, den heiteren Daseinsmächten, der naiven Freude an der Natur und ihren Gaben in der deutschen Poesie wieder zum Rechte verholfen zu haben. Sein frühlingsduftiges Rhein-, Wein- und Wandermärchen „Waldmeisters Brautfahrt“, das er als Gabe seines Heidelberger Dichterlenzes im Jahre 1851 erscheinen ließ, sowie die frischen volksliedmäßigen Trink- und Wanderlieder seines „Liederbuchs“ haben darin ihre litterarhistorische Bedeutung, und daß diese anmutigen Blüten der Nachromantik jener Tage auch heute noch immer aufs neue ihre herzerfrischende Wirkung ausüben, ist der beste Beweis ihres unmittelbaren poetischen Werts. Der Lebenslauf des Dichters, dem die Litteratur auf dem Gebiete des Lieds, der Novelle, des Dramas und des romantischen Epos noch gar manche sinnige und formvollendete Gabe zu danken gehabt hat, wir erinnern besonders an den „Tag von St. Jakob“ und „Hans Haidekuckuck“, ist erst vor zwei Jahren bei Gelegenheit des siebzigsten Geburtstages Roquettes Gegenstand einer ausführlichen Darstellung in der „Gartenlaube“ gewesen, welche gleichzeitig (Jahrg. 1894, S. 268) auch sein Bildnis veröffentlicht hat. Wie reich des Dichters Leben an geistiger Arbeit, an interessanten Begegnungen mit bedeutenden Zeitgenossen, an unentwegter Bethätigung seiner idealen Gesinnung gewesen, läßt sich, wie aus seinen poetischen Werken auch aus der Lebensbeschreibung entnehmen, die er unter dem Titel „Siebzig Jahre“ zu eben jenem Geburtstag der Nation als Geschenk dargebracht hat.

[260] Einen Mahnruf an Schulbehörden und Eltern veröffentlicht Dr. Röse, von dessen Untersuchungen an den Zähnen der Schulkinder wir kürzlich (Jahrg. 1895, S. 876) berichteten, in dem Sonderabdruck seines Artikels „Die Zahnpflege in den Schulen“ (Hamburg, Voß). Die kleine Schrift ist so vortrefflich, geht dem wahrhaft schreienden Uebelstand der schlechten Mundpflege so energisch zu Leibe und legt die Abhilfe so klar und eindringlich dar, daß wohl eine Mutter, welche sie las, nicht umhin können wird, andere Gewohnheiten in ihrer Kinderstube einzuführen als das einmal tägliche oberflächliche Bürsten und Spülen, womit man glaubt, der Reinlichkeit zu genügen. Aufs einleuchtendste zeigt der Verfasser, daß der böse Zahnfraß, die caries, nur dadurch zustande kommt, daß an schwer zugänglichen Stellen Speisereste liegen bleiben und in Gärung übergehen. Zucker- und stärkehaltige Speisen bilden die größte Gefahr für den Zahnschmelz; hartes Schwarzbrot und kräftige, die Kaumuskeln stark in Bewegung setzende Fleischstücke stärken und erhalten die Zähne, während Kuchen zerstörend wirkt, wo nicht ungewöhnliche Widerstandskraft vorhanden ist oder wo nicht eine sorgfältige Mundpflege die Folgen der Schädlichkeit aufhebt. Da heißt es also einfach, die Mundhöhle gründlich reinigen, damit sie nicht zur Brutstätte von Spaltpilzen wird, die entweder unmittelbar als Krankheitserreger oder doch durch ihre Fäulnis verderblich und verpestend wirken. Die Ergebnisse der Untersuchung in den Schulen sind wahrhaft niederschlagender Natur, Abhilfe thut dringend not, deshalb schlägt Dr. Röse vor, daß die Lehrer, die ja heute schon auf die äußere Reinlichkeit der Kinder achten, in ihren Seminarien über die Wichtigkeit einer geordneten Mundpflege durch allgemein verständliche Schriften belehrt werden, so daß sie später im Anschauungsunterricht sowie im Schulaufsatz dafür wirken können. Die Hauptsache muß dennoch das Haus thun: die feste Gewohnheit geben, welche nach einigen Jahren dem Kinde zur zweiten Natur wird. Mit Zahnbürsten, Zahnstochern und dünnen Fäden, wo die Zahnwände zu dicht stehen, muß nach jedem Essen gründlich gereinigt werden. Die meisten Zahnbürsten sind zu groß; sehr praktische 2½ cm lange und 1 cm breite, bogenförmig den Zähnen entsprechend ausgeschnittene giebt es nach Röses Angabe bereits im Handel zu dem geringen Preis von 4 Mark 80 Pfennig für das Dutzend, sie sind ungemein bequem und handlich. Eine Fülle von guten praktischen Ratschlägen findet sich in der Schrift, welcher dringend die weiteste Verbreitung bei Familien und Schulbehörden zu wünschen ist! Bn.     

Verlassen! (Zu dem Bilde S. 245.) Eine bittere Stunde für die Arme hier im einsamen Kirchenstuhl! Mit eigenen Augen hat sie’s sehen wollen und hätte doch besser gethan, ihre Verzweiflungsthränen in der stillen Kammer daheim zu weinen, denn, wie zerrissen auch ihr Herz sein mag, sie kann sich nicht einmal wirklich betrogen nennen von dem glücklichen Bräutigam da vorn am Altar. Es ist alles ganz „korrekt“ zugegangen, er hat ihr schon vor Monaten gesagt, daß es nun zwischen ihnen ein Ende nehmen müsse, und sie hat auf seine wiederholte Frage: „denn was sollte schließlich daraus werden?“ keine Antwort gewußt. Freilich – die Frage stellte er nicht, als er im vorigen Frühling stürmisch um die Liebe der schönen jungen Putzmacherin warb und sie – sie war viel zu glücklich, um an die Zukunft auch nur zu denken. Die Gegenwart war ja so wonnevoll! … Und nun? Frühling und Sommer sind dahingegangen, im Herbst hat sich der ehrgeizige junge Assessor auf die Pflichten gegen seine Zukunft besonnen und dieser eine ganz vortreffliche Basis verliehen durch die Verlobung mit dem schönen reichen Mädchen, das ihn schon seit ihrem ersten Ball still im Herzen trug. Die blonde Anna ist für ihn eine abgethane Episode; wie sie’s verwindet, „das ist ihre Sache“, „er braucht sich keinen Vorwurf zu machen!“

Nun, bis die Trauung zu Ende ist und das junge Ehepaar Arm in Arm den Kirchengang zurückschreitet, wird der Stuhl hier leer sein. Und die junge Frau erfährt vielleicht niemals, mit welchem Jammer ihr Glück dereinst bezahlt wurde!

Es ist eine leider recht alltägliche Geschichte, die uns der Künstler erzählt, aber durch die einfache Kontrastwirkung weiß er sie ergreifend genug darzustellen. Bn.     

Baumkänguruhs. (Zu dem Bilde S. 253.) Brehm sagt: „Alle Beobachter stimmen darin überein, daß man sich keine merkwürdigere Erscheinung denken kann als ein Baumkänguruh, welches sich lustig auf den Zweigen bewegt und fast alle Kletterkünste zeigt, die in der Klasse der Säugetiere überhaupt beobachtet werden.“ Als ich im vergangenen Sommer zum erstenmal Baumkänguruhs sah – es war im Londoner Zoologischen Garten – da konnte ich meine Augen lange Zeit nicht abwenden von dem seltsamen Anblick, den die hoch oben in den Aesten herumhüpfenden, schweren, großen Tiere mir darboten. Es waren Känguruhs, in der äußeren Erscheinung sehr wenig von den allbekannten Känguruhs verschieden, und doch wirkten sie eigentümlich und fremdartig. Man ist eben gewohnt, Känguruhs auf flacher Erde sich bewegen zu sehen, und würde ebenso erstaunt sein, wenn ein Hase sich die Kronen der Bäume zum Tummelplatz wählte. Dem eifrigen Direktor des Berliner Zoologischen Gartens, Herrn Dr. L. Heck, gelang es, einige dieser seltenen Tiere zu erwerben. Seit längerer Zeit leben sie in einem für diesen Zweck hergerichteten Käfig des neuen Affenhauses, und die Aufmerksamkeit der Besucher teilt sich zwischen ihnen und dem Orang. Es sind im allgemeinen recht langweilige, schläfrige Gesellen, und man muß schon längere Zeit seinen Beobachtungsposten vor dem Käfig festhalten, wenn man sie in Bewegung sehen will. Gegen Abend werden sie munter; dann hüpfen sie von Ast zu Ast und klettern an den Baumstämmen in die Höhe, indem sie mit den Vorderbeinen den Stamm umklammern und mit den Hinterbeinen in der Rinde Halt suchen. Rüben, Kartoffeln und Reis bilden die Hauptbestandteile ihrer Nahrung in der Gefangenschaft. Die Berliner Exemplare haben einen besonderen wissenschaftlichen Wert deswegen, weil sie einer erst vor neun Jahren entdeckten Art, Dendrolagus Bennettianus, angehören, welche das nördliche Queensland in Australien bewohnt.

Ueber das Leben der Baumkänguruhs sind nur sehr unvollkommene Nachrichten bekannt. Man weiß nicht einmal recht, was sie in der Freiheit fressen. Wahrscheinlich ernähren sie sich von Früchten, jungen Knospen, vielleicht auch von zarten Zweigen und Blättern. Sie sollen eine bestimmte Baumart mit Vorliebe besteigen, verbringen den Tag still in den höchsten Spitzen der Bäume und steigen in der Nacht häufig auf den Boden herab. Man jagt sie wegen ihres vorzüglichen Fleisches, und zwar mit Dingohunden. Sobald der Hund die Spur eines Baumkänguruhs bis dahin verfolgt hat, wo dasselbe aufgebäumt ist, kann man mit ziemlicher Sicherheit auf eine ergiebige Jagd rechnen; denn gewöhnlich sitzen auf einem Baume mehrere in tiefem Schlaf. Ein Eingeborener steigt dann hinauf, erfaßt den langen Schwanz des Tieres und erschlägt es mit einer Keule oder er jagt es hinunter auf die Erde, wo es von den Hunden gefaßt wird. Auf unserer Abbildung geben namentlich die im Hintergrunde gezeichneten Tiere ein gutes Bild von den eigentümlichen Stellungen, welche diese merkwürdigen Springbeutler einnehmen. P. Matschie.     

Künstlicher Zucker. Aus den Laboratorien der Chemiker sind schon verschiedene süße Stoffe hervorgegangen. Wir brauchen ja nur an das Saccharin zu erinnern, das mit dem Zucker in unserm Haushalte und in der Herstellung von Genußmitteln in Wettbewerb getreten ist. Das Saccharin vermag jedoch den natürlichen Zucker nicht zu ersetzen, denn dieser ist ein Genußmittel und ein Nahrungsmittel zugleich, während das Saccharin dem Körper keine Kraft zuzuführen vermag und nur dem Gaumen mit dem süßen Geschmack schmeichelt. Neuerdings ist es aber dem italienischen Chemiker Pellegrini gelungen, wirklichen Zucker auf chemischem Wege herzustellen. Er brauchte dazu drei Stoffe, Kohlensäure, Wasserdampf und Aethylen, das u. a. auch einen Bestandteil unseres Leuchtgases bildet. Diese Stoffe wurden von Pellegrini unter hohem Druck gegen einen porösen Körper, wie Bimsstein, geleitet; sie vereinigten sich zu einer Flüssigkeit und diese war reiner Rohrzuckersirup. So kann der Süßstoff, den uns die Rübe und das Zuckerrohr liefern, nunmehr auch im chemischen Laboratorium hergestellt werden. *      

Ankündigung des Stierkampfes. (Zu dem Bilde S. 249.) Eine sehr lebensvolle, frisch aus dem spanischen Volksleben herausgegriffene Scene bietet uns G. J. Franke in seinem Bilde, zu dem er in einer andalusischen Stadt Studien gesammelt haben mag. Ein großes Plakat ist soeben an die Mauer angeschlagen worden; auf diesem wird angekündigt, daß der berühmte Stierkämpfer Frascuelo am nächsten Donnerstag auf der Plaza de Toros in der Stierkampfarena erscheinen wird, und diese Benachrichtigung bringt eine gewaltige Erregung bei der gesamten Straßenbevölkerung hervor. Alle Geschäfte werden plötzlich unterbrochen. Der Fischhändler hört auf, auszurufen, der Wasserverkäufer bietet sein frisches Agua nicht mehr an, der Barbier läuft aus seinem Laden, der Weinwirt tritt aus seiner Thür, der Zwiebelbauer stellt seinen Korb ab und alles wendet sich voll Teilnahme der Ankündigung dieses nationalen Schauspieles zu, das den Spaniern das Höchste neben der Messe ist. Nun wird mit Eifer und Erregung das große Ereignis besprochen und eine gewaltige Spannung bemächtigt sich des Volkes – der Markt und die Plätze wimmeln von bunten Volksgestalten und der Name Frascuelos schwirrt umher und ist auf aller Lippen – die Cafés, die Limonadenschenken füllen sich und in den dunkeln Weinwirtsstuben wird viel herber dunkler Wein aus seltsamen Glaskannen mit langem Glasschnabel daran direkt in den Mund gegossen und dazwischen viel und gewichtig über den berühmten Stierkämpfer diskutiert. Ja, man ist in Spanien und der Held der Plaza de Toros ist dem Volke eine wichtigere Person als ein neuer Gouverneur oder Staatsminister – das spricht aus dem Bilde Frankes uns lebhaft entgegen.

Andere Völker, andere Sitten. Wir können Stier- und Hahnkämpfen keinen Geschmack abgewinnen, ja, müssen solche Schaustellungen als Roheit verdammen. Orientalische Barbaren haben die Stiergefechte nach Spanien verpflanzt und sie haben leider nicht nur bei den Spaniern, sondern auch bei den Südfranzosen Anklang gefunden. Seit Jahrhunderten werden jährlich Tausende von Stieren und Pferden in grausamster Weise zerfleischt und Menschenleben aufs Spiel gesetzt. Hoffen wir, daß die fortschreitende Gesittung endlich diesen barbarischen Spielen in Europa ein Ende bereiten werde!

Gefälschte Kiebitzeier. In Wien ist der Verkauf von Kiebitzeiern durch Landesgesetz verboten. Trotzdem werden dort diese Eier im geheimen verkauft und von den Feinschmeckern erst recht teuer bezahlt. Wie nun in der „Zeitschrift für Nahrungsmittel-Untersuchung“ (Wien, Moritz Perles) berichtet wurde, schickte man nach der Kaiserstadt an der Donau aus Galizien einen Posten Kiebitzeier, die sich bei näherer Untersuchung als gefälscht erwiesen. Der Lieferant hatte einen Posten möglichst kleiner Hühnereier ausgesucht und dieselben mit entsprechenden Farbstoffen bemalt. Dieser Vorfall beweist wieder, daß vor der Zunft der Nahrungsmittelfälscher nichts sicher ist, nicht einmal die Kiebitzeier! *      


Inhalt: In die Welt hinaus. Gedicht von Martin Greif. Mit Bild. S. 241. – Fata Morgana. Roman von E. Werner (14. Fortsetzung). S. 242. – Verlassen. Bild. S. 245. – Der „heilige Herr“ zu Offenbach. Die Geschichte eines Abenteurers. Von C. Wellnow. S. 246. – Ankündigung des Stierkampfes. Bild. S. 249. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Eine neue Accumulatorenbahn. Von Franz Bendt. S. 251. Mit Abbildung S. 252. – Der Klageschrei. Eine türkische Geschichte von Rudolf Lindau (Schluß). S. 252. – Baumkänguruhs. Bild. S. 253. – Im Seemannshaus zu Kiel. Von Georg Hoffmann. Mit Abbildungen S. 257, 258 und 259. – Blätter und Blüten: Otto Roquette, der Dichter von „Waldmeisters Brautfahrt“. S. 259. – Ein Mahnruf an Schulbehörden und Eltern. S. 260. – Verlassen! S. 260. (Zu dem Bilde S. 245.) – Baumkänguruhs. Von P. Matschie. S. 260. (Zu dem Bilde S. 253.) – Künstlicher Zucker. S. 260. – Ankündigung des Stierkampfes. S. 260. (Zu dem Bilde S. 249.) – Gefälschte Kiebitzeier. S. 260.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 15. 1896.


Zusammenstoß zwischen Dampfer und Wal. Als der Hamburger Dampfer „Amrum“, Kapitän Mundt, sich am 8. Dezember 1895 auf der Reise von Mexiko nach New York befand und die Höhe der Küste von Florida erreicht hatte, begegnete ihm ein seltenes Abenteuer. Es war gerade Mittag, da erblickte der Wachtposten dicht vor dem Schiffe eine Anzahl dunkler Körper. Er erkannte in denselben sogleich eine Schar von Walfischen, die zu schlafen schienen, denn nur eines dieser Tiere spritzte einen Wasserstrahl aus, wie es die Pottfische im wachen Zustand thun. Die Offiziere saßen noch beim Essen, als plötzlich ein gewaltiger Stoß erfolgte, der das ganze Schiff erzittern ließ. Alles rannte sofort auf Deck, und man sah nun einen etwa 20 m langen Walfisch, mit dem der Dampfer soeben zusammengestoßen war. Der Kiel des Schiffes war dem Wal in die Seite gefahren. Das schwer verwundete Tier spritzte eine hohe Garbe von Blut und Wasser auf, die über die Backbordseite des Schiffes schlug. Dann schwankte der Wal nach der Steuerbordseite. Einen Augenblick sah man seinen Kopf über dem Wasser, und daneben röteten sich die Wellen von Blut. Unmittelbar darauf versank das Tier, um nicht mehr zum Vorschein zu kommen. Der Dampfer hatte keinen Schaden gelitten und setzte seine Fahrt ohne Verzögerung fort. Der Fall ist insofern von Interesse, als er einen neuen Beweis dafür liefert, daß Kollisionen von Schiffen mit Walen in der Regel nur dann zu erfolgen pflegen, wenn letztere gerade ein Schläfchen halten.

Zusammenstoß eines Dampfers mit einem Wal.
Nach einer Originalzeichnung von Fritz Stoltenberg.

Stickapparat.

Ein neuer Stickapparat zur ganz mühelosen Anfertigung von farbigen Plüsch- und Reliefstickereien (in Frankreich erfunden und „La fée du foyer“ genannt) ist jetzt durch Herrn Franz Fech in München, Klenzestraße, als deutsches Fabrikat zu beziehen. Derselbe besteht, wie unsere Abbildung zeigt, aus einer leicht beweglichen Nadelstange, welche auf der in einen Rahmen eingespannten Arbeit hin und wider geführt wird, genau der Aufzeichnung entsprechend. Auf der oberen Seite bilden sich feste Stiche, auf der unteren lose Schlingen, welche nach Art der Smyrnaarbeit fest aneinandergedrängt und nach Abschluß der Stickerei rundlich oder flach geschoren werden. Man erhält so die Wirkung der früher mühsam mit Wolle unterlegten und dann festkordonnierten Früchte- und Blumenreliefs und kann nach persönlichem Geschmack, sowie auch nach den beim Fabrikanten käuflichen, genau vorgezeichneten Mustern die Abschattierung vornehmen. Dem Apparat sind mehrere Nadeln für Mooswolle, Filosellseide und Ternauxwolle beigegeben, je nach der Feinheit oder Stärke der gewünschten Arbeit. Seine Konstruktion ist ganz solid, der Preis mäßig in Anbetracht der Leistung, deren außerordentliche Geschwindigkeit fleißigen Stickerinnen zum großen Vergnügen gereichen wird.

Leuchtgas aus Maikäfern. Trotz aller Sympathie, welche die liebe Jugend für die Maikäfer hat, werden diese schädlichen Insekten von dem Landwirte eifrig verfolgt. Man sucht dann die gesammelten Käfer in irgend welcher Weise nutzbringend zu verwerten. Nur wenige Menschen vertilgen die Maikäfer als Speise, indem sie aus ihnen eine Suppe bereiten oder sie in Zucker schmoren; zumeist werden dieselben an das Geflügel verfüttert oder in Kalkgruben zu Dünger verarbeitet. Eine seltsame Verwertung geschah aber im Jahre 1840, das als Maikäferjahr in Sachsen berüchtigt war, auf dem Amalgamierwerke bei Freiberg i. S. Achtzig Pfund der getöteten Maikäfer wurden in eine Gasretorte gethan und durch Steinkohlenfeuer der trockenen Destillation unterworfen. Sie lieferten 100 Kubikfuß eines schönen, mit hellem Lichte brennenden Leuchtgases, welches sogleich verbraucht wurde. – Das war eine kuriose Leuchtgasquelle; im übrigen möchten wir noch bemerken, daß aus allen tierischen Körpern Leuchtgas sich entwickeln ließe. Man hat berechnet, daß ein fünf Zentner schweres Pferd 22 000 Liter hellleuchtenden Gases liefern könnte. Die Herstellung von Leuchtgas aus solchen Stoffen wäre aber keineswegs billig, und so kommt ihr auch eine praktische Bedeutung nicht zu.

Die größte Eisenbahngesellschalt der Welt dürfte die London and North Western Railway Co. sein. Ihr Kapital beträgt 2 Milliarden 380 Millionen Mk. und ihre stündliche Einnahme 26 000 Mark. Sie beschäftigt ein Personal von 60 000 Köpfen und 2300 Maschinen.

Ein praktisches Haushaltungsbuch gehört zu den Notwendigkeiten für Familienmütter. Unter den dieses Jahr vorliegenden entspricht Meyers Haushaltsbuch (Halberstadt, Meyer) besonders gut den Anforderungen durch praktische Anordnung der Listen für tägliche Ausgaben, wöchentliche Aufstellungen, reichliche Wäschetabellen für ein Jahr, Kalender, Bleistift und weiße Notizblätter. Der hübsche Band mit goldgedrucktem Titel wird sicher jeder Hausfrau Freude machen.


Hauswirtschaftliches.

Bettärmel. Für das Zimmermädchen, welches die Betten macht, sind neben den großen Bettschürzen, welche wohl überall für das Mädchen gehalten werden, sogenannte weiße „Bettärmel“ ebenso wichtig wie die Schürzen, da die Kleiderärmel nicht immer tadellos sauber sind. Aus den Aermeln vertragener Herrenhemden, welche ja meist noch gut sind, wenn auch der Rumpf schon abgenutzt ist, lassen sich rasch solche Bettärmel herstellen, die bis über den Ellenbogen reichen, oben durch den Saum eine Gummischnur erhalten, damit sie fest sitzen, und unten am Handgelenk durch ein buntes Börtchen abgeschlossen werden. Diese Aermel sind übrigens auch für die Hausfrau in der Küche sehr praktisch, wenn sie bereits fertig angezogen ist und kurz vor dem Anrichten an den Speisen noch zu helfen hat; sie bewahren dann die Kleiderärmel vor Ruß oder aufspritzendem Fett. L. H.     

Reinigung verstaubter Gipsfiguren. Wer dies Geschäft vornehmen will, der sei vor allem vor dem Ueberstreichen mit Stärkekleister, das vielfach dafür angewandt wird, gewarnt: das Ergebnis sind keine Figuren von neuer Weiße, sondern total streifigem, nichts weniger als rein erscheinendem Aussehen. Eine große Gipsfigurenfabrik gibt als einfaches und erfolgreiches Reinigungsmittel das folgende Verfahren an, das sich, wenn die Figuren nicht schon vorher durch falsche Reinigungsmethoden verdorben sind, bei wiederholter Erprobung stets bewährt hat. Man kehrt mit einer weichen Bürste die Gipsfigur überall behutsam ab, löst nun in einer Porzellanschale 10 g Zinkweiß in so viel Magermilch (hat man Vollmilch, muß sie gut entfettet werden), daß ein gleichmäßiger Brei entsteht, der nur so weit verdünnt wird, daß man 1 l Magermilch verbraucht. Mit einem Pinsel trägt man diese Lösung ein-, wenn die Figur schon recht staubig war, auch zweimal auf, läßt sie trocknen und bepudert dieselbe darauf mittels eines Baumwollbäuschchens mit Alabastergips. Sie wird danach völlig wie neu aussehen. He.     

Wie behandelt man Gummizüge? Gummizüge bieten manche Bequemlichkeit, weil sie sich als nachgiebig erweisen und sich der Bewegung des Körpers anschmiegen. Aber sie haben einen schlimmen Fehler: sie werden leicht nach einigem Gebrauche weich, verlieren ihre Elastizität und werden klebrig. In vielen Fällen liegt der Grund in mangelhafter Fabrikation des Gummistoffes, dann ist natürlich nichts zu machen. Aber bei gutem Stoff lohnt es sich, folgende Regeln zu beachten: 1. Man schütze die Züge vor der Berührung mit jeder Art von Oel, Butter und Fett! 2. Man vermeide jede Berührung des Gummistoffes mit Erdöl (Petroleum), Benzin, Terpentinöl und dergleichen, stelle also niemals Gummizugstiefel in frisch gewichste (gebohnte) Stuben. Ist dennoch eine Berührung mit dergleichen Stoffen erfolgt, so wasche man die Stellen mit lauer Natronseifenlösung (nicht mit Schmierseife) rasch ab, spüle sorgfältig mehrmals mit reinem Wasser nach und stelle die Sachen zum Trocknen hin. 3. Man bewahre Gummizüge sorgfältig vor höherer Wärme, da sie in derselben dauernd weich und unbrauchbar werden. J.     

[260 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]