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Die Gartenlaube (1896)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[277]

Nr. 17.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Fata Morgana.

Roman von E. Werner.

     (16. Fortsetzung.)

Es war im Anfange des Juli und in Kronsberg stand die Saison in voller Blüte. Hofrat Bertram hatte recht, wenn er behauptete, diesmal komme alle Welt nach Kronsberg. Der Badeort war überfüllt, keine einzige Wohnung mehr verfügbar und die große Kurpromenade bot ein ungemein glänzendes und belebtes Bild.

Der Hof war schon seit einigen Wochen hier und ihm folgte ein ganzer Schweif von vornehmen und reichen Familien, die Kurliste wies die glänzendsten und bekanntesten Namen auf, kurz Kronsberg machte seinem Range als aufblühender Weltkurort alle Ehre und Lady Marwood hatte keine Veranlassung mehr, über ihre „Verbannung“ zu klagen.

Sie hatte sich denn auch sofort zum Mittelpunkt der tonangebenden Kreise gemacht, in denen die schöne geistvolle Frau eine der ersten Rollen spielte. Man sprach sehr viel von der Gemahlin des englischen Lords, aber nicht immer Günstiges. Die offenkundige Trennung von ihrem Gatten, die rücksichtslose Art, mit der sie sich über jede Form hinwegsetzte, die ihr unbequem war, der Schwarm von Verehrern, der sie stets umgab, das alles gab Anlaß genug zu Klatschereien. Man flüsterte viel über sie, deutete allerlei an und beugte sich trotzdem vor ihr. Eine Frau von ihrem Range und ihrem Reichtum durfte sich eben erlauben, was man einer anderen nicht verziehen hätte, und sie erlaubte sich nahezu alles.

Lady Marwood hatte die blendendsten Toiletten, die schönsten Equipagen, in ihrer Villa fand sich immer eine Schar von Gästen


Der Turnkünstler.
Nach einer Originalzeichnung von Th. Kleehaas.

[278] zusammen und der Luxus, den sie entfaltete, war das Gespräch von ganz Kronsberg. Wo sie sich nur mit ihrer orientalischen Dienerschaft zeigte, war sie der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, und sie zeigte sich überall. Sie stürmte förmlich von einem Vergnügen, einer Zerstreuung in die andere, ohne sich an den Einspruch und die Warnungen ihres Arztes zu kehren.

Bertram lernte jetzt den ganzen Eigenwillen seiner vornehmen Patientin kennen, die sich auch seiner Autorität nicht beugte. Was die erzwungene Ruhe und Einsamkeit in den ersten Wochen ihres Aufenthaltes ihr gewonnen hatte, das ging freilich verloren in dem Strudel dieses Lebens, aber danach fragte Zenaide nicht.

Zerstreuung und Abwechslung gab es jetzt allerdings genug in Kronsberg; der Kurvorstand war vollständig auf der Höhe seiner Aufgabe und fühlte die Verpflichtung, den verwöhnten Gästen der Hauptsaison möglichst viel Unterhaltung zu bieten, und das geschah denn auch. Man führte so ziemlich dasselbe Leben wie im Winter in den Hauptstädten, nur daß es sich hier auf dem mächtigen Hintergrunde der Alpen abspielte.

Augenblicklich stand ein Ereignis im Vordergrunde des allgemeinen Interesses, die Vermählung Sonnecks, die in diesen Tagen stattfinden sollte. Der berühmte Afrikaforscher war gleichfalls eine vielgenannte und vielgesuchte Persönlichkeit, aber er zog sich ganz im Gegensatz zu Lady Marwood so viel als möglich zurück, seine Verlobung und seine noch nicht ganz befestigte Gesundheit gaben ihm den besten Vorwand dazu. Er hatte allerdings vielfache Beziehungen zum Hofe. Der Fürst verkehrte sehr gern mit ihm und hatte ihn erst kürzlich bei diesem Zusammentreffen in Kronsberg durch die Verleihung des Adels ausgezeichnet.

Von Fräulein von Bernried wußte man nicht viel mehr, als daß sie noch sehr jung sei und bei ihrem Großvater, dem alten menschenscheuen Sonderling, da oben in Burgheim lebe; sie hatte sich ja noch nie öffentlich mit ihrem Bräutigam gezeigt. Eigentlich wunderte man sich darüber, daß die Wahl Sonnecks gerade auf dies junge und, wie es hieß, sehr einfach und einsam erzogene Mädchen gefallen war; ihm hätten ganz andere Partien offen gestanden, obwohl er die Mittagshöhe des Lebens längst überschritten hatte. Er war eben Lothar Sonneck, und mehr als eine Dame der Gesellschaft wäre gern bereit gewesen, den berühmten Namen zu tragen. –

Es war ein schöner, sonnenheller Julitag, der für die Vermählung festgesetzt war. Der standesamtliche Akt sollte am Vormittage stattfinden und dann um ein Uhr die kirchliche Trauung folgen, nach katholischem Ritus, da Elsa wie ihre Eltern dieser Kirche angehörten. Sonneck befand sich noch in seiner alten Wohnung in der Bertramschen Villa und wartete auf den Wagen, der ihn nach Burgheim zu seiner Braut bringen sollte. Der Mann sah heute aus, als habe er einen Verjüngungstrank genossen. Seine Haltung war aufrecht, die Bewegungen leicht und elastisch, man sah ihm keine Spur des Leidens mehr an und sein ganzes Wesen war wie verklärt und durchleuchtet von Glück. Er sprach mit Ehrwald, der erst gestern abend aus Berlin eingetroffen war und ihm bei der bevorstehenden Civiltrauung als Zeuge dienen sollte.

„Ich begreife Dich diesmal wirklich nicht, Reinhart,“ sagte er in vorwurfsvollem Tone. „Erst im letzten Augenblick einzutreffen! Ich hätte Dich so gern noch ein paar Tage an meiner Seite gehabt, ehe ich nach Burgheim übersiedle.“

„Ich schrieb es Dir ja, daß die Verhandlungen in Berlin sich endlos in die Länge zogen,“ entgegnete Reinhart. „Ich glaubte schon, es würde mir gar nicht möglich sein, überhaupt zu kommen, aber Du erließest ja einen förmlichen Ukas und beschiedest mich diktatorisch nach Kronsberg zu dem heutigen Tage. Du hättest es mir nie verziehen, wenn ich ausgeblieben wäre.“

„Nein, wahrhaftig nicht, und es wäre auch unverzeihlich gewesen. Ein seltener Zufall fügt es, daß Du gerade jetzt in Europa und in Deutschland bist, und Du solltest mir fehlen an dem glücklichsten Tag meines Lebens? Schäme Dich, Reinhart!“

„Nun, Du siehst es ja, ich bin hier,“ sagte Ehrwald mit einem flüchtigen Lächeln. „Zanke nicht mit mir, Lothar, ich konnte wirklich nicht früher kommen.“

Lothar sah ihn einige Sekunden ernst und prüfend an, dann trat er zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter.

„Reinhart – was fehlt Dir?“

„Mir? Nichts! Was soll mir denn fehlen?“

„Das frage ich eben. Seit wann hast Du Geheimnisse vor mir? Dich hat irgend etwas fortgetrieben! Erst versprichst Du, bis zu meiner Hochzeit hier zu bleiben, und meldest Dich für Juli in Berlin an und dann brichst Du urplötzlich dahin auf und läßt Dich durch keine Bitten halten –“

„Ich sagte Dir ja, daß der Minister wünschte, die Sache beschleunigt zu sehen, daß mir selbst daran lag –“

„Ja, das sagtest Du – also werde ich es wohl glauben müssen.“

Der forschend ernste Blick schien Ehrwald zu peinigen, er wandte sich mit einer ungeduldigen Bewegung ab und trat an das Fenster, während er antwortete: „Nun, Freude habe ich von dem Aufenthalte in Berlin sicher nicht gehabt. Ich habe mehr als einmal die Geduld verloren bei diesen unfruchtbaren und unerquicklichen Verhandlungen. Wenn ich von den Herren am grünen Tisch, die keine Ahnung von afrikanischen Dingen haben, jeden meiner Schritte kontrollieren lassen, jede Maßregel, die ich zu treffen für gut finde, erst ihrer weisen Zustimmung unterbreiten soll, so danke ich für die mir zugedachte Ehre! Ich trage die volle Verantwortlichkeit, also muß ich auch die volle Selbständigkeit haben. Entweder man gesteht mir das zu oder ich werfe ihnen all ihre Anerbietungen vor die Füße – das habe ich ihnen offen herausgesagt, und dahin wird es wahrscheinlich kommen: ich stehe auf dem Punkte, abzubrechen!“

Er sprach in voller Gereiztheit, Sonneck schüttelte mit leiser Mißbilligung den Kopf.

„Mußt Du denn immer ein ‚Entweder – oder‘ stellen! Ich habe es beinahe gefürchtet, daß die Sache daran scheitern wird: Du bist viel zu stürmisch und leidenschaftlich für solche Verhandlungen. Uebrigens hast Du recht, wenn Du Dir nicht die Hände binden lassen willst. Eine Natur wie die Deinige erträgt das am wenigsten und Dir stehen andere Wege genug offen. Du kennst ja meine Beziehungen zum hiesigen Hofe.“

„Gewiß, Du hast ja auch kürzlich den Adel erhalten, ich habe Dir noch nicht einmal meinen Glückwunsch gesagt.“

Lothar zuckte ruhig die Achseln.

„Man hat mir eine Auszeichnung, eine Anerkennung meiner Leistungen gewähren wollen, und da blieb jetzt, wo ich zurücktrete, kaum ein anderer Weg übrig. Auf die Sache selbst lege ich so wenig Gewicht wie Du. Also ich war vorgestern im Schlosse und da war hauptsächlich von Dir die Rede. Der Fürst interessiert sich ungemein für Dich und will Dich auf jeden Fall kennenlernen. Du brauchst nur zu wollen und man kommt Dir hier in jeder Weise entgegen. Ich muß noch ausführlich mit Dir darüber sprechen.“

„Aber doch nicht heute! Du bist sicher nicht in der Stimmung, solche Dinge zu erörtern.“

„Nein, heute nicht,“ sagte Sonneck mit aufleuchtenden Augen. „Da mußt Du es schon ertragen, wenn der Freund hinter den Bräutigam zurücktritt. Wer hätte gedacht, daß ich Dir auf diesem Wege vorangehen würde. Vielleicht folgst Du mir doch, früher oder später.“

„Nein!“

Das Wort klang in so herber Bestimmtheit, daß Lothar einen Moment lang stutzte, dann aber lächelte er. „Du Ehefeind! Nun, einstweilen hast Du bei meiner Hochzeit den Brautführer zu machen. Du hörst ja, daß Helmreich seit dem letzten Anfall seiner Krankheit das Zimmer nicht mehr verläßt, für ihn ist die Fahrt zur Kirche ausgeschlossen, also fällt das Amt Dir zu.“

„Da Du es ausdrücklich wünschest –“

„Gewiß wünsche ich es, Du stehst mir doch von allen am nächsten! Aber was ist das für ein Ton, Reinhart? Gesteh’ es nur, Du bist eifersüchtig.“

„Ich?“ fuhr Reinhart jäh und heftig auf. „Was fällt Dir ein?“

„Jawohl, eifersüchtig, im Grunde hast Du mir meine Verlobung nie verziehen. Du willst eben überall Alleinherrscher sein, auch bei mir, und bist es ja auch so lange gewesen. Jetzt aber wirst Du Dich doch wohl entschließen müssen, zu teilen, die Hälfte des Reiches gehört fortan meiner Elsa, merke Dir das!“

Es lag ein beinahe übermütiger Scherz in den Worten des sonst so ernsten Mannes. Ehrwald verteidigte sich nicht gegen den Vorwurf, er sah den Freund mit einem rätselhaften Ausdruck an und plötzlich warf er sich mit leidenschaftlicher Heftigkeit an seine Brust. „Vergieb, Lothar! Du weißt es ja, daß ich Dir Dein Glück trotzalledem gönne aus vollem Herzen, daß ich Dich lieb habe, grenzenlos lieb.“

„Mein lieber Junge!“ sagte Lothar leise; er gebrauchte unwillkürlich die Anrede, die ihm einst seinem jungen Schützlinge [279] gegenüber geläufig war. „Ja, das weiß ich und da braucht es nicht dieser stürmischen Abbitte. Wenn auch jetzt meine Ehe und später die Trennung zwischen uns tritt, wir bleiben doch, was wir uns stets gewesen sind, in alter Treue.“

„In alter Treue!“ wiederholte Reinhart sich aufrichtend.

„Da fährt der Wagen vor! Komin, Lothar zu Deiner Trauung!“

Und den Arm um die Schulter des Freundes legend, geleitete er ihn hinaus. –

Die alte gotische Pfarrkiche von Kronsberg war in den Mittagsstunden dicht gefüllt. Die Trauung sollte ja in aller Stille und nur vor wenigen Zeugen stattfinden, aber man hatte Tag und Stunde in Erfahrung gebracht und nun war fast die ganze Kurgesellschaft erschienen. Der berühmte Afrikaforscher stand nun einmal im Vordergrunde des allgemeinen Interesses, man wollte ihn als Bräutigam sehen, wollte vor allen Dingen die Braut sehen, die bisher so merkwürdig unsichtbar geblieben war. Ueberdies wußte man, daß Reinhart Ehrwald zur Hochzeit seines Freundes eintreffen werde. Er war wohl im Frühjahr einige Wochen lang hier gewesen, als Kronsberg noch ganz verödet lag, aber von der jetzigen Gesellschaft kannte ihn niemand. Um so mehr hatte man von ihm gehört und Sonneck hatte recht: wenn man in ihm den Forscher ehrte, so umgab seinen jüngeren Gefährten der ganze Nimbus des Afrikahelden. Kurz, die Erwartung der Versammlung, die meist aus sehr weltlichen Gründen in der Kirche erschien, war aufs höchste gespannt, und die Feier, die sich nur im engsten Kreise vollziehen sollte, gestaltete sich auf diese Weise fast zu einem öffentlichen Akt.

Jetzt setzte die Orgel ein, und von einem Adjutanten des Fürsten als dessen Vertreter geleitet, trat der Bräutigam ein. Die Aufmerksamkeit teilte sich zwischen ihm und Lady Marwood, die wie gewöhnlich in blendender Toilette erschien. Auch die wohlbekannte Gestalt des Hofrats Bertram gewahrte man in dem kleinen Kreise, der sich vor dem Altar versammelte, und jetzt richteten sich alle Blicke auf die Sakristei, in deren Thür die weiß umschleierte Gestalt der Braut am Arme Ehrwalds sichtbar wurde.

Ein Flüstern der Ueberraschung ging durch die ganze Versammlung, als das Paar aus dem dämmernden Raum in das helle Sonnenlicht trat, das die Kirche erfüllte. Man hatte erwartet, ein hübsches, einfaches Mädchen zu sehen, schüchtern und befangen, ganz demütige Hingabe an den künftigen Gatten, und jetzt sah man diese Erscheinung!

Elsa von Bernried nahm sich heute im Brautgewande freilich anders aus als in der klösterlich einfachen Tracht, zu welcher der Wille des Großvaters sie bisher verurteilt hatte. Die hohe schlanke Gestalt in dem weißen Atlaskleide, dessen lange Schleppe rauschend nachfolgte, hatte trotz aller mädchenhaften Zartheit etwas Königliches, und aus den duftigen Falten des Schleiers hob sich das Antlitz, zwar sehr ernst, viel zu ernst für eine junge Braut, aber das war ja eine Schönheit, die eben erst aus der Knospe erblühte. Der Kranz lag in den blonden Flechten, auf denen ein leichter rötlicher Schimmer ruhte, und sie gleißten auf wie Gold, als der Sonnenstrahl sie traf. Die Augen waren groß und voll aufgeschlagen, ohne Scheu und Befangenheit, herrliche tiefblaue Augen – ja freilich, da hatte Sonneck recht mit seiner Wahl!

Wenn der Anblick der Braut eine Ueberraschung war für die sämtlichen Zuschauer, so entsprach der Brautführer dagegen ganz dem Bilde, das man sich von ihm gemacht hatte. So mußte der Mann aussehen, der dort auf dem heißen Boden Afrikas Erfolg auf Erfolg errungen, von dessen Energie und Kühnheit man Dinge gehört hatte, die an das Märchenhafte grenzten. Die hohe kraftvolle Erscheinung, das tiefgebräunte Antlitz mit den dunklen blitzenden Augen, das stolze Selbstbewußtsein, das sich in der Haltung ausprägte und ihr etwas Gebieterisches gab, das alles deckte sich völlig mit der Gestalt, die man aus so vielen Berichten und Erzählungen kannte.

Freilich, auch Ehrwalds Züge waren ernst, beinahe finster, sie schienen wie aus Erz gegossen; nicht die leiseste Regung zeigte sich darin, als er die Braut mit ritterlichem Anstande zum Altar führte, aber unwillkürlich drängte sich jedem der Gedanke auf, daß eigentlich dies Paar zusammengehörte in seiner Kraft und Schönheit. Das gab sich deutlich genug in dem Flüstern und den Blicken der Damen kund, und zum erstenmal sah man mit kritischen Augen auf den Mann mit den grauen Haaren, der da am Altar seine junge Braut erwartete.

Elsa sah und hörte von dem allen nichts, ihr Auge und Ohr nahm nur mechanisch die Eindrücke auf, ohne daß sie ihr klar zum Bewußtsein kamen. Die dicht gefüllte Kirche, die hohen gotischen Pfeiler mit ihren dunklen Wölbungen, die breiten goldigen Streifen des Sonnenlichtes, das durch die Fenster hereinflutete, das alles glitt undeutlich, schattenhaft an ihr vorüber, und die Orgeltöne, die so mächtig durch die Hallen brausten, schienen aus weiter Ferne zu kommen. Es lag wie ein Schleier auf ihrer Seele, der das alles so unwirklich erscheinen ließ, sie fühlte nur eins, die dunkle geheimnisvolle Gewalt, die von dem Manne an ihrer Seite ausging, die rätselhafte Angst vor seiner Nähe, und der kurze Weg schien sich endlos auszudehnen.

Jetzt trat Sonneck ihr entgegen und empfing ihre Hand aus der des Freundes; jetzt führte er sie die Stufen zum Altar hinauf und sie knieten nieder. Wie im Traume hörte Elsa die Worte des Priesters, fühlte sie, daß ihre und Lothars Hand zusammengefügt wurden, und dann war das bindende Ja gesprochen und sie waren vereint für das Leben.

„Mein Weib!“ flüsterte Lothar leise, aber mit vollster Innigkeit. Zenaide schloß die junge Frau in die Arme. Der Adjutant und die anderen Herren traten glückwünschend heran – und dann klang die Stimme des Mannes, der als der letzte von allen zu ihr trat: „Gnädige Frau, erlauben Sie auch mir, Ihnen meinen Glückwunsch zu Ihrer Vermählung auszusprechen.“

Die Stimme war kalt und unbewegt wie das Antlitz Ehrwalds. Er beugte sich nieder und drückte seine Lippen auf den Handschuh der jungen Frau, aber als er sich jetzt emporrichtete, traf sein Blick den ihrigen und es war ihr, als flammte plötzlich ein jähes, grelles Licht auf, das sie schmerzte. Nur einen Augenblick lang, dann war es erloschen und nur ein dumpfes Wehegefühl blieb zurück. Dann reichte der Gatte ihr den Arm und führte sie hinaus und der Wagen trug die Neuvermählten nach Burgheim.




Es war am Abend desselben Tages, die Villa, die Lady Marwood bewohnte, strahlte im vollen Lichtglanz, denn es war der wöchentliche große Empfangstag. In Burgheim hatte nach der Trauung nur ein kurzes Frühstück stattgefunden und Zenaide, die natürlich die Zeit bis zum Abend „ausfüllen“ mußte, hatte mit einer größeren Gesellschaft einen Ausflug in die Berge unternommen, dem sich auf ihre Einladung auch Ehrwald anschloß. Von einer ganzen Schar ihrer getreuen Ritter und gewohnten Begleiter umgeben, war sie davongesprengt und erst kurz vor Beginn der Empfangsstunde wieder angelangt, so daß ihr kaum Zeit blieb, das Reitkleid mit der Gesellschaftsrobe zu vertauschen.

Die Gesellschaft war zahlreich und glänzend, es gehörte zum guten Ton, bei Lady Marwood vorgestellt zu sein und dort empfangen zu werden. Was man auch über sie flüstern und klatschen mochte, sie behauptete unbestritten ihre Stellung an der Spitze der tonangebenden Kreise. Was nur von bedeutenden und interessanten Persönlichkeiten in der Kurgesellschaft auftauchte, das war auch hier zu finden und das gab dem Verkehr natürlich einen besonderen Reiz.

Auch heute hatte man das ganz unerwartete Vergnügen, den „Wüstenhelden“, den man in der Kirche nur gesehen hatte, kennenzulernen. Er war, wie man erfuhr, ein alter Bekannter von Mylady und hatte in Kairo viel in ihrem Vaterhause verkehrt. Das war nun wieder etwas Neues und Interessantes, dessen man sich sofort bemächtigte. Ehrwald wurde von allen Seiten umdrängt und ausgezeichnet und bildete neben der schönen Herrin des Hauses den Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft.

Man fand ihn sehr liebenswürdig und er schien auch in der That heute in besonders guter Laune zu sein, denn er, der sich sonst einem fremden Kreise gegenüber sehr ablehnend verhielt und durchaus nicht dem ersten besten seine Unterhaltung gönnte, war heute zugänglich für jeden. Er hatte schon am Nachmittag während des Rittes eine beinahe stürmische Heiterkeit gezeigt und jetzt wetteiferte er mit Lady Marwood an sprühender Lebendigkeit.

In einem der Seitengemächer stand Hofrat Bertram im Gespräch mit zwei jungen Herren, die zu dem gewöhnlichen Hofstaat Zenaidens gehörten, vornehme, elegante Müßiggänger, die nach Kronsberg gekommen waren, weil der Ort in der Mode war, und sich nun bemühten, die Zeit hier totzuschlagen. Sie waren natürlich auch heute mittag in der Kirche gewesen und versuchten nun, von dem Arzte noch allerlei Einzelheiten über das neue Ehepaar [280] zu erfahren, um das morgen auf der Brunnenpromenade weitererzählen zu können.

„Ja, wir waren grenzenlos überrascht, alle Welt war es!“ sagte der jüngere, indem er wohlgefällig sein zierliches Schnurrbärtchen drehte. „Diese junge Frau ist ja eine Schönheit, die in der Gesellschaft Sensation machen wird. Wer hätte gedacht, daß der alte Sonderling da oben einen solchen Schatz hütet? Sie haben es freilich gewußt, Herr Hofrat, Sie sind ja Hausarzt dort, aber Sie verrieten schnöderweise nie etwas davon!“

„Dazu hatte ich nicht die mindeste Veranlassung, Herr von Verden,“ war die ruhige Antwort. „Professor Helmreich hütete in der That seine Enkelin eifersüchtig vor fremden Augen und Burgheim war unzugänglich für Besuche.“

„Ja, das haben wir erfahren,“ fiel der andere Herr ein. „Wir gerieten kürzlich ganz zufällig dorthin und wollten durch das Gitterthor nur einen Blick auf das Haus werfen, als ein riesiger Hund mit wütendem Gebell herbeistürzte und eine so drohende Haltung einnahm, daß wir schleunigst den Rückweg antraten.“

Bertram lächelte etwas spöttisch, er wußte sehr gut, daß nur die Neugier die beiden Herren dorthin geführt hatte.

„Ja, Burgheim ist gut bewacht,“ meinte er. „Ich hätte Ihnen auch nicht raten wollen, den Eintritt zu versuchen, Herr Baron. ‚Wotan‘ versteht keinen Spaß in solchen Dingen. Jedenfalls ist der Schatz jetzt gehoben, Sonneck hat ihn sich gesichert.“

„Der Beneidenswerte!“ rief der Baron mit einem Pathos, das mit seiner stutzerhaften Erscheinung nicht recht im Einklang stand. „Nun, hoffentlich verbirgt er ihn nicht vor der Welt wie dieser unvernünftige Großvater. Er wird seine junge Frau doch in die Gesellschaft einführen?“

„Das glaube ich kaum, er hat wenig Neigung für das, was man die große Welt nennt, und für diesen Sommer habe ich ihm überhaupt die Zurückgezogenheit noch zur Pflicht gemacht, damit er sich völlig erholt.“

Der Herr Baron sah sehr enttäuscht aus bei dieser Nachricht, doch Verden sagte tröstend: „Nun, bei Lady Marwood wird man ihn und seine Frau jedenfalls sehen, sie scheinen eng befreundet zu sein. Mylady zieht ja wie ein Magnet alles an, was interessant ist. Dieser Afrikaner, dieser Ehrwald, hat sich noch nirgends gezeigt, aber hier findet man ihn natürlich. Das war eine Ueberraschung, als sich der Wüstenheld urplötzlich als ein Kronsberger Kind zu erkennen gab!“

„Das wissen Sie bereits?“ fragte der Hofrat. „Ich habe es selbst erst heute morgen erfahren, als er sich auf dem Standesamt als Zeuge nennen mußte.“

„Wir wissen alles!“ erklärte der Baron selbstgefällig. „Kronsberg kann sich Glück wünschen zu diesem berühmten Sohne; das habe ich ihm auch bereits gesagt, aber er lachte und meinte, die Kronsberger hätten sich dieser Ehre sehr unwürdig gezeigt, sie hätten ihn früher in Acht und Bann gethan, seiner wilden Streiche wegen.“

„Nun, eine Probe seiner Wildheit haben wir heute nachmittag bei dem Ritt erhalten,“ fiel Verden ein. „Es war ja vorauszusetzen, daß ein Mann wie Ehrwald verwegen reitet, aber die tollkühnen Wagestücke, die er da vollführte, überstiegen doch alle Begriffe. Als er den steilen Abhang in die Schlucht hinabjagte, schrie alles auf vor Schrecken und es sah auch wahrhaftig aus, als wollte er sich den Hals brechen. Aber er lachte und spottete über unser Entsetzen und kam auch glücklich und unversehrt wieder zum Vorschein.“

Bertram schwieg, auch ihm war die so seltsam überreizte Stimmung Ehrwalds während des ganzen Tages aufgefallen. Das Gespräch wurde aber jetzt unterbrochen, da der Gegenstand desselben herantrat. Er suchte offenbar den Hofrat, doch die beiden jungen Herren bemächtigten sich schleunigst seiner. Sie überschütteten ihn mit Komplimenten und wollten den „kühnen Pionier der Kultur in Afrika“ in ein eingehendes Gespräch über diese Kulturmission verwickeln. Ehrwald schien jedoch nicht aufgelegt dazu, um seine Lippen zuckte ein unverhehlter Spott, als er antwortete: „Sie sind sehr liebenswürdig, meine Herren, aber leider muß ich diesmal auf die interessante Unterhaltung verzichten. Lady Marwood bittet Sie nach dem Salon. Es soll musiziert werden, und da scheint man auf Sie zu rechnen.“

Das war etwas anderes – ein Befehl von Mylady! Die beiden Herren stoben förmlich davon; Reinhart zuckte verächtlich die Achseln, als er ihnen nachblickte.

„Und mit solchem Volk muß man nun seine Zeit verlieren!“ sagte er halblaut. „Sie merken es nicht einmal, daß man sich über sie lustig macht. Ich begreife Lady Marwood nicht, daß sie diese faden geschniegelten Burschen um sich duldet, das war doch sonst ihr Geschmack nicht.“

„Er ist es wohl auch jetzt nicht,“ bemerkte Bertram. „Aber sie hat nun einmal das Bedürfnis, sich mit einem möglichst zahlreichen Hofstaat zu umgeben, und da darf man nicht so wählerisch sein. Man kann nicht lauter Berühmtheiten um sich haben wie ‚den kühnen Pionier der Kultur in Afrika‘.“

„Aergern Sie mich auch noch damit!“ fuhr Ehrwald auf. „Dies verwünschte Schlagwort habe ich heute schon mindestens ein Dutzend Mal gehört, man scheint es förmlich auswendig gelernt zu haben. Die Afrikaforschung ist ja jetzt leider Mode geworden und wir sind die Opfer dieser Modenarrheit, wo wir uns nur zeigen.“

„Warum denn so grimmig?“ lachte der Hofrat. „Sonst lachten Sie doch höchstens über solche Dinge und jetzt sind Sie förmlich wütend über die Huldigungen, mit denen man Sie von allen Seiten umgiebt. Sie scheinen heute überhaupt in einer merkwürdigen Stimmung zu sein; Verden hat es mir erzählt, wie Sie die ganze Gesellschaft in Angst und Schrecken gejagt haben mit Ihren tollen Reiterstücken.“

„Ja, die Herren bilden sich ein, reiten zu können, wenn sie stutzerhaft im Sattel sitzen und auf glattem Wege galoppieren,“ spottete Reinhart. „Ich habe ihnen einen anderen Begriff davon beigebracht.“

„Und sich beinahe den Hals dabei gebrochen! Ueber den jähen Abhang in die Schlucht hinunter zu jagen, das ist ja heller Wahnsinn! Wenn Sie nicht Ihr altes unerhörtes Glück vor dem Sturze bewahrt hätte –“

„So hätte auch nicht viel daran gelegen!“ ergänzte Ehrwald, indem er sich in einen Sessel warf und sich das Haar von der erhitzten Stirn strich. „Mir wäre es recht gewesen!“

Der Arzt stutzte und sah ihn forschend an. Das Zimmer war während der letzten Minuten leer geworden, denn drüben erhob sich jetzt die Tenorstimme Verdens, der ein Duett mit einer jungen Dame sang. Das zog die übrigen Gäste gleichfalls nach dem Salon und die beiden Herren blieben allein.

„Ich glaube, Lady Marwood hat Sie angesteckt mit ihrer nervösen Ueberreiztheit,“ hob Bertram wieder an, indem er sich ebenfalls niederließ. „Und Sie haben doch, Gott sei Dank, keine ‚Nerven‘.“

„Nein, wenigstens in Ihrem Sinne nicht. Uebrigens ist die Stimmung von Lady Marwood allem Anschein nach ausgezeichnet, sie strahlt ja von Heiterkeit und Liebenswürdigkeit.“

„Jawohl, das Morphium hat wieder seine Schuldigkeit gethan, sie greift immer wieder dazu, trotz meines strengen Verbotes. Sie weiß, daß es Gift für sie ist, ich habe ihr keinen Zweifel darüber gelassen; aber sie stürmt mit offenen Augen zum Abgrund.“

„Nehmen Sie die Sache so ernst?“ fragte Reinhart, der jetzt aufmerksam wurde. „Sie versprachen sich ja damals bei meiner Abreise den besten Erfolg von Ihrer Behandlung.“

„Weil ich hoffte, sie würde sich meinen Vorschriften fügen, die hauptsächlich auf Ruhe und Zurückgezogenheit hinausliefen, und sie that das ja auch anfangs; aber seit die Hochsaison begonnen hat, stürzt sie sich wieder in den Strudel aller möglichen Zerstreuungen. Was war das heute wieder für ein Tag! Äm Morgen auf der Brunnenpromenade läßt Mylady sich von aller Welt den Hof machen; dann fährt sie stundenlang von einem Besuche zum andern, ist heute mittag bei der Trauung Sonnecks, und als wir von Burgheim aufbrechen, wirft sie sich aufs Pferd und jagt mit einem ganzen Gefolge von Kavalieren in die Berge. Bei der Rückkehr hat sie wieder großen Empfang und nachts ist dann natürlich von Schlaf keine Rede. Da werden die stärksten Betäubungsmittel gebraucht, um nur ein paar Stunden Ruhe zu schaffen – geht das noch ein halbes Jahr lang so fort, dann ist das Ende da, und welches Ende!“

Ehrwald hörte in steigender Betroffenheit zu, er hatte sich auch täuschen lassen durch die strahlende Erscheinung der schönen Frau, die nur Uebermut und Lebenslust zu atmen schien, und hastig fragte er: „Haben Sie denn wirklich keine Macht, da einzugreifen? Ihre ärztliche Autorität –“

„Versagt in diesem Fall ganz. Ich habe ihr rückhaltlos gezeigt, wohin dies Leben führt, ich bin grausam aufrichtig gewesen, aber da hilft weder Warnen noch Drohen. Sie giebt mir ähnliche Antworten wie Sie vorhin! Was liegt daran! Je eher, desto besser! Aber was bei Ihnen eine augenblickliche Verstimmung ist, aus der Ihre energische Natur sich schon in der nächsten Stunde wieder

[281]

Zur rechten Stunde.
Nach einem Gemälde von L. Blume-Siebert.

[282] aufrafft, das ist bei ihr bitterer Ernst. Es stirbt sich nur nicht so leicht, wie sie glaubt, und dann droht bei dieser furchtbaren Nervenüberreizung das schlimmste – der Wahnsinn oder der Selbstmord!“

„Um Gotteswillen, Doktor!“ sagte Reinhart erbleichend, „das ist ja eine entsetzliche Prophezeiung!“

„Die sich aber leider erfüllen wird, wenn nicht noch in letzter Stunde eine rettende Hand eingreift. Ich habe Sonneck bestimmt, seinen Einfluß geltend zu machen, und er hat es auch redlich gethan, aber es war umsonst, sie hört auch auf ihn nicht mehr – und da habe ich an Sie gedacht!“

„An mich?“ fuhr Reinhart betreten, beinahe unwillig auf. „Wie kommen Sie darauf?“

Der Arzt rückte seinen Sessel um einen Schritt näher und dämpfte die Stimme, als er fortfuhr: „Nun, ich bin ja damals bei dem Duell mit Marwood Ihr Sekundant gewesen und es ist mir schließlich kein Geheimnis geblieben, was die Veranlassung dazu war. Der Lord sah in Ihnen das größte Hindernis seiner Bewerbung, und wohl mit Recht. Man sprach ja auch bereits in der Gesellschaft von Kairo über die Vorliebe des Fräuleins von Osmar für Sie. Was später dazwischengetreten ist, werden Sie wohl am besten wissen, aber ich bin der Meinung, daß Sie der einzige Mensch sind, der jetzt noch Einfluß auf Lady Marwood hat.“

Ehrwald hatte die Arme verschränkt und sah finster zu Boden, endlich sagte er halblaut: „Sie sind im Irrtum, Bertram – das ist vorbei – längst vorbei!“

„Das käme doch auf die Probe an. Sie sollten die Frau nur einmal sehen, wie ich sie leider öfter sehe, wenn ihr die Maske vom Gesicht fällt, wenn sie erschöpft zusammenbricht und mit all den Leiden kämpft, die bereits der Anfang vom Ende sind. Es ist doch ein Jammer, daß dies schöne, reichbegabte Geschöpf rettungslos dem Untergange verfallen soll. Ehe ich das zulasse, wollte ich wenigstens noch das Letzte versuchen und Sie zur Hilfe aufrufen – jetzt thun Sie, was Sie wollen!“

Reinhart gab keine Antwort, aber auch der Hofrat brach ab und sagte, zu seinem alten jovialen Ton zurückkehrend: „Ja, es ist eine Gottesgabe, wenn man das Talent hat, das Leben leicht zu nehmen. Ich habe es von jeher gehabt und meinen Jungen werde ich das anerziehen. Doch was ist denn das für ein Aufstand da im Salon? Ah so, Mylady geht selbst an den Flügel! Kommen Sie, Ehrwald! Das dürfen wir nicht versäumen. Sie läßt sich nur äußerst selten herab dazu, aber Sonneck sagt, sie spiele meisterhaft.“

Im Salon war in der That alles in Bewegung geraten. Zenaide hatte den stürmischen Bitten nachgegeben und war an den Flügel getreten, und sofort schloß sich ein dichter Kreis um sie. Alles drängte heran, und dann trat atemlose Stille ein.

Lady Marwood spielte allerdings meisterhaft, nicht wie eine Salondame, sondern wie eine Künstlerin, und es war auch nichts Eingelerntes, was sie ihren Zuhörern gab, sondern freie Phantasien. Da wogte ein berauschendes Meer von Tönen auf, aber es war ein sturmbewegtes Meer. Das jagte und stürmte dahin im jähen Wechsel, jetzt schien es zu jubeln und aufzujauchzen in glühender Lust und dann wieder klagte es in düsterer Schwermut, es hielt die Zuhörer wie in einem dämonischen Bann.

In der Nähe des Flügels gab sich eine leichte Bewegung kund. Herr von Verden und der Baron machten artig dem eben herantretenden Ehrwald Platz, er stand jetzt in unmittelbarer Nähe. Zenaide war aufmerksam geworden, ein flüchtiger Blick fiel nach jener Seite hinüber, aber sie spielte weiter.

Wieder brauste es auf unter ihren Händen, voll Glut und Leidenschaft, doch jetzt rang sich etwas daraus empor, das kein Lied, eigentlich auch keine Melodie war, eine seltsame, fremdartige Weise, die unendlich einförmig und unendlich schwermütig immer nur dieselben Töne wiederholte. Erst tauchte sie nur in einzelnen verlorenen Klängen auf und ging wieder unter, dann wurde sie immer klarer, immer deutlicher und endlich herrschte sie allein und wehte hinüber zu den erstaunten Zuhörern wie eine Sprache aus einer ganz anderen Welt.

Nur Zwei gab es, die diese Sprache verstanden, die jene Weise kannten, und als sie jetzt wieder ertönte, nach langer, langer Zeit, da versank den beiden der lichtstrahlende Salon mit all den Menschen, die ihn erfüllten, und statt dessen tauchte ein anderes Bild auf: die schimmernde Flut eines mächtigen Stromes im letzten Abglanz des scheidenden Tages. Drüben am jenseitigen Ufer ragten die Palmen und ein langer Zug von Kamelen schritt langsam dahin, scharf und dunkel sich abhebend von dem lichten Abendhimmel, während auf die ferne Wüste weiche graue Dämmerung niedersank. Und vom Bord des Schiffes, das leise auf jener schimmernden Flut dahinzog, erklang die uralte Weise, einförmig und schwermütig, wie sie schon vor Jahrtausenden hier erklungen war.

Sie wehte herüber in den Palmengarten, wo ein junges glückliches Wesen mit dunklen, sehnsüchtigen Augen das Haupt an die Brust des geliebten Mannes lehnte, und wo dieser Mann sich niederbeugte, um das Wort auszusprechen, das sie einen sollte für das Leben. Leise und fern verklang das Lied, aber aus jener weichen, träumerischen Dämmerung schien es heranzuschweben, wovon die beiden träumten, das große, das grenzenlose Glück, und ihnen zu nahen mit seinen leuchtenden Schwingen.

Die Weise brach plötzlich ab, wie mit einem schneidenden Mißlaut, grelle, wilde Töne fluteten darüber hin, so daß die Zuhörer fast erschraken, und mit einem rauschenden Fortissimo schloß das Spiel.

Lady Marwood erhob sich und man umringte sie von allen Seiten mit lauter Bewunderung. Man fand diese Art zu spielen originell, geistreich, blendend und fand nicht Worte genug, um sein Entzücken und seine Begeisterung auszusprechen. Zenaide lächelte, aber es zuckte dabei wie herber Spott um ihre Lippen. Bildeten sich denn diese Menschen wirklich ein, man habe für sie gespielt? Der Eine, dem es galt, sprach kein Wort der Bewunderung und machte auch keinen Versuch, sich zu nahen, er verharrte noch immer an seinem Platze, aber er fuhr wie aus einem Traum auf, als Hofrat Bertram, der hinter ihm stand, halblaut sagte: „Ihr Spiel ist wie sie selbst nervös und krankhaft überreizt. Was war das wieder für ein jähes Abbrechen und für ein wilder Schluß! So etwas versteht man ja gar nicht!“

„Nein, Sie können es auch nicht verstehen,“ versetzte Reinhart ernst, „aber Sie haben recht“ er brach plötzlich ab, und dem mahnenden Blick des Arztes begegnend, setzte er leise hinzu: „Ich will es versuchen!“

(Fortsetzung folgt.)


Allerlei Recorde.

Von Richard March.


Unsere Zeit steht im Zeichen der Geschwindigkeit! Auf allen Gebieten herrscht ein rastloser fieberhafter Thätigkeitsdrang: man begnügt sich nicht mehr mit der Güte der Leistung an sich, sie soll auch in möglichst kurzer Zeit vollbracht sein. Der Wettbewerb, auf welchem ja auch aller gesunder Fortschritt beruht, ist dadurch ins krankhafte gesteigert worden: wir hasten und jagen, wo unsere Vorfahren gemächlichen Schrittes auf das gesteckte Ziel losgingen. Zu Lande sucht eine Eisenbahngesellschaft die andere in der Schnelligkeit ihrer Züge zu überbieten und zu Wasser eilen die Dampfer um die Wette. Der Verkehr gestaltet sich zu einem Wettrennen, und der gilt als Sieger, der in kürzester Zeit das ferne Ziel erreicht. Dieselbe fieberhafte Hast regiert in der Industrie: Scharfsinn und Maschinenkraft werden aufgeboten, um allerlei Dinge, die unsere Bedürfnisse befriedigen sollen, in kürzester Zeit zu erzeugen. Ein ähnlicher hastiger Zug macht sich selbst in den Vergnügungen und der Erholung der modernen Menschen bemerkbar. Leibesübungen und Bewegungsspiele haben in weitesten Kreisen den Charakter des Sports angenommen. Im Laufen und Springen, im Rudern und Schwimmen, im Radfahren und Marschieren sucht einer den andern zu übertreffen; als Meister gilt auch hier, wer in kürzester Zeit die größte Leistung zustande gebracht hat. Eine solche Leistung wird seit einiger Zeit bei uns mit dem englischen Worte „Record“ bezeichnet, und man sucht nicht nur in Wettspielen Recorde zu schaffen. Das Verlangen, in der Geschwindigkeit als Meister zu gelten, hat die verschiedensten Kreise wie eine Sucht ergriffen. Neben den sportlichen giebt es heute noch allerlei andere Recorde, die zusammengenommen einen bezeichnenden Charakterzug unserer Epoche bilden.

[283] Höchst eigenartig sind zunächst die beruflichen Recorde. Einen solchen wollten z. B. im Jahre 1891 die Londoner Friseure schaffen. Zwei Jahre später folgten ihnen die Wiener Haarkünstler, und es gelang ihnen als beste Leistung zu erzielen, daß ein Damenkopf in einer Stunde völlig frisiert wurde. Aber die Wiener wurden schon am 16. Dezember 1894 von den Pariser Kollegen geschlagen. Die selben haben nämlich am genannten Tage in der Salle du Grand Orient ein Schaufrisieren veranstaltet, wobei meist blonde Damenköpfe gekämmt, gebürstet, pomadisiert, gekräuselt, gewellt und gelockt wurden. Die Künstler keuchten und schwitzten und die Damen, die sich für 50 Franken verpflichtet hatten, zu lächeln, auch, wenn ihnen in der Hast Haare ausgerissen würden, saßen hold und lieblich als Opferlämmer unbeweglich da. Nach 45 Minuten war die erste fertig frisiert und die Wiener „beste Zeit“, wie der Record auch genannt wird, erschien somit um volle 15 Minuten geschlagen.

Die Küche wurde gleichfalls schon zum Schauplatz eines derartigen Ringens nach der „Meisterschaft“. In einem Berliner Restaurant erbot sich im August des Jahres 1891 ein ehemaliger Koch des Fürsten Bismarck, in einem Zeitraum von 6 Minuten ein Huhn zu schlachten, zu rupfen, auszunehmen und gebraten auf den Tisch zu setzen. Das gelang dem Meister der Kochkunst vollständig, aber schon nach zwei Jahren wurde dieser Record von dem Küchenchef eines Berliner Restaurants um 54½ Sekunden geschlagen.

Die Zunft der Schuhmacher kann gleichfalls mit ähnlichen Meisterstücken der Geschwindigkeit dienen und ein New Yorker Schuhmacher war imstande, selbst das schadhafteste Schuhwerk binnen 10 Minuten wieder gebrauchsfähig zu machen. In der Schneiderwelt hat der vor einigen Jahren von dem berühmten Worth in Paris aufgestellte Record - eine Damensoireetoilette prachtvollster Art binnen 12 Stunden fertig zu stellen, eine lebhafte Bewegung hervorgerufen. Er ist aber bereits auf 5 Stunden herabgedrückt worden, so daß die Pariser Modedamen, „schon unter den Händen des Friseurs, noch den Anzug bestellen können, den sie am Abend bei irgend einem Feste tragen wollen.“ Einem sächsischen Schneider gelang es, auf dem Gebiete der Anfertigung von Herrenkleidern einen nicht minder erstaunlichen Record zu machen: während einer dreistündigen Eisenbahnfahrt nähte der Tausendkünstler einen Frack fix und fertig!

Nicht nur in der Geschwindigkeit, sondern auch in der Ausdauer wollen sich die Menschen als Meister zeigen und wählen sich dabei mitunter recht absonderliche Ziele. So galt lange Zeit der Klavierspieler W. S. Waterbury, der zehn Stunden lang ununterbrochen die Tasten schlagen konnte, als unübertrefflich in dieser Spezialität – aber schon wenige Monate später konnte man einen „Dauerklavierspiel-Record“ von 18 Stunden 57 Minuten verzeichnen. So lange hat nämlich Miß Adar Melville in Huberts Museum zu New York unausgesetzt gespielt, während ihr Partner nach 18 Stunden 52½ Minuten erschöpft aufhören mußte. Seine Finger waren hoch angeschwollen und die Nägel schwarz mit Blut unterlaufen. Miß Melville hatte die Vorsicht gebraucht, die eine oder die andere Hand, die gerade wenige Augenblicke unbeschäftigt war, in lauwarmes, mit Spiritus versetztes Wasser zu tauchen.

Die Recorde der Handwerker kann man immerhin gelten lassen. Dem Handwerker soll es nicht verwehrt sein, eine besondere Geschicklichkeit, die er sich erworben hat, zu zeigen. Unter Umständen kann sein Beispiel auf andere anregend und nutzbringend wirken. Schnelle Arbeiter werden in allen Zweigen gern gesucht und es giebt im Leben Lagen genug, in denen die möglichst schnelle Ausführung einer Bestellung dringend gewünscht und gut bezahlt wird. Der „Dauerklavierspiel-Record“, den ein englischer Pianist Namens Bird neuestens auf 40 und der Mailänder „Tastenschlager“ Camillo Baudio auf 48 Stunden „erhöht“ hat, ist aber eine jener Verirrungen, in die der menschliche Ehrgeiz leider so häufig verfällt. Beschränkte Ruhmsucht, eitle Renommage stecken sich gar oft recht bedauerliche Ziele. Ihnen haben wir auch eine Anzahl unsinniger oder geradezu verwerflicher Recorde zu verdanken.

So hat z. B. in Wien ein Recordwassertrinken stattgefunden. Es zeigte sich dabei, daß ein Mensch in einer Stunde 7 Liter Wasser hinter die Binde gießen konnte. In München veranstaltete man ein Wettessen von Leberknödeln und binnen einer Stunde konnte der Sieger 32 Stück vertilgen. Wie es heißt, waren die beteiligten Kreise durch die Geringfügigkeit der Leistung sehr enttäuscht, da man auf ein Verzehren von 4 bis 5 Dutzend gerechnet hatte. Ein drittes Beispiel dieser traurigen Art sei noch erwähnt. Vor einigen Jahren hatte Lord Carlington gewettet, binnen acht Tagen 1000 Stück Havannacigarren zu verrauchen, und als dies glückte, war sogleich ein Mann zur Stelle, der diese Aufgabe in vier Tagen lösen wollte und dadurch, daß ihm dies gelang, einen Rauchrecord schuf, der unumstößlich schien. Doch siehe da, ein Sachse, der einem Dresdener Rauchklub angehörte, rechnete sich aus, daß jener Recordmacher in einer Stunde „bloß“ etwa 14 Stück Cigarren verdampft hatte, und flugs erbot er sich, in diesem Zeitraume 25 Glimmstengel in Asche zu verwandeln. Man zweifelte an der Ausführung dieses Vorhabens, aber der Mann hatte seine Aufgabe bereits in 45 Minuten gelöst und rauchte danach in aller Lust noch 6 Cigarren.

Das Aufstellen solcher Recorde, zu denen auch das Wetttrinken von Spirituosen gezählt werden muß, kann nicht scharf genug verdammt werden. Es handelt sich da um ein Beginnen, das nicht nur sinnlos, sondern geradezu für Leben und Gesundheit gefährlich ist. Es giebt leider immer unerfahrene und nicht gerade geistreiche Menschen, die sich zu solchen Kunststücken verführen lassen. Ihnen sollte es dringend zu Gemüte geführt werden, daß der „Ruhm“, den sie zu erwerben glauben, ein sehr fragwürdiger ist. Wenn die Welt von ihrer „Leistung“ spricht, so geschieht es darum, weil sie den Fluch der Lächerlichkeit auf sich geladen haben. Vom Erhabenen zum Lächerlichen giebt es ja nur einen Schritt und der Ehrgeiz pflegt ihn nur zu leicht zu machen. Aber die närrisch Veranlagten waren seit jeher ruhmsüchtig. Wohl ihnen, wenn sie dabei nicht in den Größenwahn verfallen, dem wir gleichfalls Recorde zu verdanken haben. Da zeigt ein Mann sein Meisterstück, indem er 28 Tage lang auf einem Punkte unbeweglich stehen bleibt wie eine Statue und täglich nur eine Stunde ausruht. Ein anderer wieder hungert wochenlang. Das sind Leistungen, die nur Menschen zu vollbringen pflegen, deren Nervensystem gestört ist, die mitunter schon in Irrenheilanstalten behandelt wurden. Die Schöpfer solcher Recorde sind nicht bewundernswert, sondern bedauernswert im vollsten Sinne des Wortes.

Eine Leistung, die der Allgemeinheit dient, ist sicher der schönste Record, ja noch mehr als dieses ist sie eine That, die vielleicht nicht immer Lorbeerkränze einbringt, stets aber ihrem Urheber den herrlichsten Lohn, innere Befriedigung, gewährt.



 An meinen Zeisig.

Du kleiner Liebling, den mit süßem Schauer
Einst jeder Strahl des Himmelslichts durchdrungen,
Nun ist die Harfe deiner Brust zersprungen,
Und still das sonst so liederreiche Bauer.

5
Trotz deiner Erdentage kurzer Dauer

Hat dich das Alter, armer Schelm, bezwungen,
Und zehrend nur noch von Erinnerungen
Verträumst du deine Zeit in stummer Trauer.

Ein Daseinsfristen nur ist noch dein Leben,

10
Ein lustlos unfreiwillig Körnerpicken,

Ein flugentwöhntes, müdes Schwingenheben.

Wohin nun bald dein Seelchen mag entschweben,
Weiß Gott allein; denn übers Grab zu blicken,
Ist eines Menschen Auge nicht gegeben.
 Otto Braun.


[284]

Abessinien und seine Geschichte.

Von C. Falkenhorst.0 Mit Abbildungen von Richard Mahn.

Als vor einem Jahrzehnt die „Teilung von Afrika“ stattfand, trat auch Italien in die Reihe der Kolonialmächte und hißte seine Flagge auf der Insel Massaua im Süden des Roten Meeres. Der Küstenstrich, den es unter seinen Schutz stellte, war nicht besonders verlockend, eine öde Gegend erstreckt sich hier, berüchtigt durch das heiße fiebererzeugende Klima, bewohnt von wilden räuberischen Stämmen. Aber Massaua ist der Ausfuhrhafen Abessiniens und auf dieses Hinterland der öden Küste hatten die Italiener im stillen ihr Auge geworfen. Die blaue Gebirgsmauer, die im Norden von Massaua sich auftürmt, war das Ziel ihrer Wünsche und sie wußten wohl, daß jenes Hochland unter den sonnverbrannten Ländern Afrikas eine der wenigen kostbaren Perlen bildet.

Abessinien war ja seit lange kein unerforschtes Land. Zahlreiche Forschungsreisende hatten es durchquert und über seine Natur und Bevölkerung genauere Kunde nach Europa gebracht – und wie farbenprächtig waren diese Schilderungen!

Auf steilen Pfaden zieht der Reisende von der Küste landeinwärts, und kaum hat er siebzig Kilometer zurückgelegt, so befindet er sich bereits in einer Hohe von 2000 m über dem Meeresspiegel; ein Bergland dehnt sich vor ihm aus, das an Großartigkeit der Eindrücke einzig in seiner Art sein dürfte und an Umfang die Schweiz etwa zehnmal übertrifft. Wohl fehlen ihm die Gletscher, aber auf seinen höchsten Zinnen erglänzt häufig der Schnee. Vulkanische Kräfte haben in grauer Vorzeit diese Bergrücken emporgehoben, dann nagten an ihnen Wind und Wetter und verliehen dem Hochland im Laufe von Jahrtausenden die wildromantischen Charakterzüge, die es heute aufweist. Malerisch sind in der That die Landschaften Abessiniens. Tiefe Schluchten durchziehen das Gebirge, dazwischen ragen gewaltige Felsmassen wie Pfeilerreihen, Domkuppen oder Pyramiden empor, oft gestalten sie sich zu Tafelbergen, die, schwer zugänglich, mitunter nur mit Hilfe von Leitern erstiegen werden können. Das sind die „Amben“, die manchmal so weit sich ausdehnen, daß sie Dörfern, Ackerfeldern und Weiden für zahlreiche Herden genügenden Raum bieten, das sind die natürlichen Festungen dieses Landes, auf deren Höhen die Einwohner gern ihre Burgen errichten. Es giebt wohl in Abessinien dürre, wasserarme Strecken, aber in höheren Regionen, wo reichliche Regen fallen, fehlt es nicht an schäumenden Bächen, die in Wasserfällen in die finsteren Schluchten stürzen, und aus den Thälern und Hochebenen blinken blaue Seen zum Himmel empor. Der berühmteste und größte von ihnen ist der Tanasee, der den Grund eines Riesenkraters ausfüllt und etwa achtmal so groß ist wie unser Bodensee. Wo Wasser rauschen, da ist die Erde fruchtbar und die Berge Abessiniens kleiden sich mit reichem Pflanzenschmuck. Wer da bergauf bergab, über steile Grate und tiefe Thäler wandert, der schaut die Flora fast aller Zonen der Erde. Er sieht in heißen Gründen Palmen und Bananen, die Kinder der Tropen, und findet alpine Pflanzen auf den Zinnen des Hochlands. Dazwischen grünen auf Uebergangshöhen der Kaffeestrauch und der wilde Oelbaum, eigenartige, kandelaberförmige Euphorbien strecken ihre Aeste aus, Sykomoren beschatten menschliche Wohnungen, neben dem Tabak reift die Weinrebe, Akazien und Tamarisken schließen sich zu Wäldern zusammen, neben Bohnen und Erbsen wogen im Winde die Aehren unserer nordischen Getreidearten und über den Weizen- und Gerstefeldern erstrecken sich Alpenmatten mit köstlicher Weide für einen starken Pferdeschlag, der hier gezogen wird, für große Herden der Sangarinder, für wollige Schafe und muntere Ziegen. Auch fehlt es nicht an Wild und Geflügel in Wald und Sumpf; neben der leichtfüßigen Antilope schreitet hier mächtigen Schrittes der Elefant einher, in den Gewässern schnaubt das plumpe Nilpferd und durch die Nächte tönt das markerschütternde Gebrüll des Löwen.

Am köstlichsten ist aber in diesem Hochlande das Klima. Frische kühle Lüfte wehen um die Bergspitzen; hier spürt man wenig von der entnervenden Fieberglut der tropischen Tiefebene; hier könnten wohl selbst Europäer als Ackerbauer sich niederlassen und hinter dem Pfluge gehen.

Mit solchen Vorzügen von der Natur ausgestattet, ist Abessinien zweifellos ein Land, das sich kolonisieren ließe.

Ras Mangascha und sein Adjutant.

Aber dieses Hochland war nicht herrenlos, als die Italiener ihm nahten. Ein Volk, eigenartig wie die Natur Abessiniens, hält es besetzt; obwohl dunkelhäutig, ragt es doch hoch über alle Negerstämme Afrikas empor; von Ackerbau und Viehzucht sich nährend, ist es im Besitz einer alten Kultur, bekennt das Christentum seit anderthalbtausend Jahren, und wohlerfahren in den Künsten des Gebirgskrieges, wußte es stets seine Freiheit und Unabhängigkeit zu wahren. Wie hoch auch die Wogen der Völkerwanderungen im Laufe der Geschichte über Nordostafrika sich ergießen mochten, sie zerschellten doch an den Felsen Abessiniens. Diese eiserne Zähigkeit im Widerstand gegen alle Angriffe von Heiden und namentlich Mohammedanern hat seit jeher dem abessinischen Volke die Sympathien Europas gesichert; wir achten diese heldenmütigen schwarzen Christen und legen für die Beurteilung der Zustände in ihrem Lande einen besonderen Maßstab an. Wenn auf diesen Bergen und in diesen Thälern gar vieles recht kunterbunt ausschaut, so ist das zu entschuldigen, denn der Lauf der Weltgeschichte hat Abessinien von der Kulturwelt getrennt und es gewissermaßen zum Stillstand, der ja im Leben immer einen Rückschritt bedeutet, gezwungen.

[285] Eine Sage leitet den Ursprung des abessinischen Herrschergeschlechtes von weit her. Makeda, eine äthiopische Fürstin, in dem 1. „Buch der Könige“ der Bibel als Königin von Saba erwähnt, soll Salomo einen Sohn Namens Menelik geboren haben. Er ist nun nach der Volksüberlieferung der Stammherr der Könige Aethiopiens. In Wirklichkeit dürfte jedoch das äthiopische Reich älter sein. Wie die Forschung der Neuzeit annimmt, wanderten semitische Stämme, Verwandte der Araber, in grauer Vorzeit über das Rote Meer, ergriffen Besitz von Abessinien, vermischten sich hier mit der eingeborenen Bevölkerung und legten Grund zu dem Aethiopischen Reiche, das nach der Hauptstadt Aksum auch Aksumitisches Reich genannt wurde. Rege Beziehungen verbanden es mit dem alten Aegypten und später mit der in Alexandrien aufgeblühten griechischen Kultur. Von der Nilmündung drang im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung das Christentum nach Abessinien vor und allmählich wandten sich der neuen Lehre das Herrscherhaus wie das Volk zu. Leider sind über die nachfolgenden Schicksale des christlich gewordenen Kaisers fast gar keine geschichtlich verbürgten Nachrichten erhalten, und sein Zusammenhang mit den Kulturländern wurde völlig abgeschnitten, als die mohammedanische Flut über Nordafrika sich ergoß. Im Abendlande erhielt sich nur eine dunkle Kunde, daß jenseit der Wüste Sahara ein christlicher König unter dem Titel Priester Johannes ein Land beherrsche und mit den Moslems in ewiger Fehde lebe. Als nun in Portugal das große Zeitalter der Entdeckungen anbrach, bildete dieses sagenhafte Reich eines der fernen Ziele, die den Weltentdeckern vorschwebten; man wollte den Priester Johannes aufsuchen und mit ihm gemeinsam den Halbmond bekämpfen. Aber erst spät wurde vom Abendlande her mit ihm Fühlung gewonnen, als die Portugiesen im Verlaufe ihrer Indienfahrten die Küste von Nordostafrika besetzten.

König Menelik von Schoa auf seinem Throne.
Nach einer Abbildung in der „Illustrazione italiana“.

Der damalige christliche Herrscher Abessiniens befand sich in einer schlimmen Notlage; hart wurde er von verschiedenen Seiten bedrängt. Von Süden her überfielen die kriegerischen heidnischen Gallavölker sein Land und von Norden und Westen unternahmen die Moslems ihre Verheerungszüge. In Trümmern lag bereits Aksum, die alte Krönungsstadt des Reiches, und das Ansehen des Herrschers im Innern war gesunken. Jeder der Gouverneure schaltete und waltete nach eigenem Ermessen in seiner Provinz, fühlte sich als ein selbständiger Fürst und der Negus Negesti, der König der Könige von Aethiopien, war nur ein Schattenkaiser. Der Bedrängte bat die europäische Christenheit, ihm Hilfe zu leisten. In der That erschienen um das Jahr 1540 unter Führung von Christoph da Gama 450 portugiesische Musketiere mit einigen Geschützen in den Hochländern Abessiniens, und mit ihrem Beistand gelang es, den Feind zurückzudrängen. Seit jener Zeit wurde Abessinien wiederholt von Europäern aufgesucht. Vor allem war man bestrebt, das abessinische Christentum neu zu beleben; denn in der Abgeschiedenheit hatte sich dort die Lehre des Evangeliums nicht fortentwickelt wie im Abendlande. Das Licht der abessinischen Kirche brannte recht trübe, der Gottesdienst war mehr zur Aeußerlichkeit herabgesunken und heidnischer Aberglauben machte sich im Volke breit. Missionare kamen also nach Aethiopien, aber sie fanden kein Gehör. Jahrhundertelang hatten die Abessinier ihre Kirche vor dem Ansturm des Heidentums und des Halbmonds mit Waffen in der Hand zu verteidigen gewußt; kein Wunder, daß sie ihnen lieb geworden, ans Herz gewachsen war, daß sie sich von ihr um keinen Preis trennen wollten. So blieb die Berührung mit dem Abendlande in kultureller Hinsicht völlig fruchtlos.

Die jüngere und jüngste Geschichte Abessiniens bewegte sich weiter in den alten Bahnen. Immerfort seufzte das Volk unter den trostlosen Zuständen, die es sich selbst bereitete oder die ihm feindliche Einfälle brachten. Der Krieg nach allen Seiten hin hörte hier nimmer auf. Die Gallavölker im Süden sind stets unruhige gefährliche Nachbarn geblieben und unaufhörlich tobten die Grenzkämpfe mit den Mohammedanern. Von Zeit zu Zeit gelang es wohl dem einen oder dem andern Kaiser, sich Ansehen zu verschaffen, aber die Macht der Unterkönige erstarkte immer mehr und schließlich zerfiel das Reich in eine Anzahl von Fürstentümern.

Erst im neunzehnten Jahrhundert gewann der Gedanke der Wiedervereinigung des alten Reiches an Lebendigkeit und wurde durch thatkräftige Häuptlinge wiederholt verwirklicht. Zunächst erhob sich im Jahre 1855 der Ras oder Häuptling von West-Amhara, beugte die andern unter seine Herrschaft und ließ sich im Jahre 1855 zum Negus Negesti krönen, wobei er den Herrschernamen Theodor II. annahm. Anfangs schien er von guten Absichten beseelt zu sein, suchte europäische Handwerker im Lande anzusiedeln und dasselbe wirtschaftlich zu heben. Um seine Macht zu behaupten, sah er sich jedoch genötigt, ein Heer, das 150000 Köpfe stark war, in Bereitschaft gegen verdächtige Häuptlinge zu halten. Diese Soldateska ernährte sich auch im Frieden von Raub und Plünderung und verheerte Abessinien derart, daß die befürchteten Aufstände erst recht ausbrachen. Kaiser Theodor erstickte sie in Strömen von Blut und nun wurde er durch seine Grausamkeit berüchtigt. Als er vollends eine Anzahl von Europäern, die in seinem Machtbereich sich aufhielten, wider alles Völkerrecht ins Gefängnis warf, sandte England im Jahre 1868 eine Expedition unter Lord Napier nach Abessinien.

Die Engländer trugen den Sieg davon, und zwar mit einer Schnelligkeit, die in Anbetracht der schwierigen Terrainverhältnisse geradezu erstaunlich war. Aber nicht allein ihre besseren Waffen sicherten ihnen den Erfolg; es gelang ihnen vielmehr, unter den Abessiniern einen Bundesgenossen zu gewinnen, der ihnen die [286] größten Dienste erwies. In der nördlichsten der abessinischen Landschaften, in Tigre, herrschte damals ein Statthalter Namens Kassai, der aus einem vornehmen Geschlechte stammte und in Theodor einen Usurpator sah. Dieser zu jener Zeit noch junge Mann trug sich mit hohen Plänen, er wollte die Kaiserwürde an sich reißen und verband sich mit den Engländern. Kassai gewährte Lord Napier freien Durchzug durch sein Gebiet, beschützte die englischen Telegraphenleitungen und versorgte das englische Heer mit Lebensmitteln. Als nun Kaiser Theodor auf den Trümmern seiner Felsenburg Magdala sich durch einen Pistolenschuß entleibt hatte und die siegreichen Engländer abzogen, belohnten sie Kassai in wahrhaft königlicher Weise. Sie schenkten ihm einen Teil der für die Expedition bestimmten Ausrüstung, namentlich Gewehre, Geschütze und Munition.

Nach dem Abzug der Engländer begann in Abessinien ein neuer Streit um die Kaiserwürde. Außer Kassai traten Gobesieh von Lasta und Menelik von Schoa in die Schranken. Kassais Heer war der Zahl nach das schwächste, aber dank seiner Ausrüstung den beiden anderen überlegen. Zunächst entbrannte der Kampf zwischen Kassai und Gobesieh; vor Adua, in derselben Gegend, wo jetzt die Italiener ihre schwere Niederlage erlitten haben, kam es am 14. Juli 1871 zur entscheidenden Schlacht. Kassai schlug mit 12000 Mann das fünfmal so starke Heer Gobesiehs und nahm seinen Rivalen gefangen, der nun, geblendet und in silberne Ketten gelegt, auf der Amba Salama als Staatsgefangener gehalten wurde. Der siegreiche Kassai ließ sich aber am 21. Januar 1872 in der alten Kaiserstadt Aksum zum Negus Negesti krönen und nannte sich von nun an Johannes.

Ein schweres Gewölk zog indessen über Abessinien herauf. Aegypten, das im Sudan so große Gebiete erobert hatte, wollte seine Herrschaft über Abessinien ausdehnen; aus gelegentlichen Grenzscharmützeln entwickelte sich zuletzt ein großer Krieg. Für Abessinien galt dieser Krieg als ein heiliger, das Kreuz und der Halbmond stritten wieder einmal um die Herrschaft und der Rival des Kaisers Johannes, der Negus Menelik von Schoa, wagte nicht, sich den Mohammedanern anzuschließen. Johannes bot indessen alle seine Mannen auf und trat den Aegyptern bei Gura entgegen. Am 7. März 1876 wurde hier die größte Schlacht geschlagen, die Abessinien jemals gesehen. Zwanzig ägyptische Bataillone wurden bis Abend niedergemetzelt und insgesamt deckten 50000 Tote das Schlachtfeld. Der Sieg war vollkommen und der Ruhm des jungen Kaisers befestigte sein Ansehen im Innern. Nur der südlichste Teil des Reiches, die Provinz Schoa, in der Menelik herrschte, blieb noch unabhängig. Im Jahre 1879 zog nun Kaiser Johannes gegen diesen mächtigen Rivalen. Schon standen sich die Heere gegenüber, aber es kam nicht zur Schlacht, denn Menelik zeigte seine Unterwerfung an. Und in der That erschien er vor versammeltem Hofe in demütiger Haltung mit einem schweren Block auf dem Halse. Als aber der Negus Negesti seinen Gegner in einer solchen Erniedrigung erblickte, sprang er auf und befahl dem General Ras Alula, den Block abzunehmen, worauf er Menelik umarmte und unter einem Strom von Thränen seine eigene Krone bringen ließ, mit der er ihn zum König von Schoa krönte. Das war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte Abessiniens, zum erstenmal seit Jahrhunderten war das Reich wieder unter einem Oberhaupte vereint!

Ansicht von Adua.

Die günstigen Folgen dieser Wandlung blieben nicht aus; die Zustände im Innern wurden sicherer, die Mohammedaner aus dem Lande verwiesen oder genötigt, die Taufe anzunehmen. Nach außen hatte man gleichfalls namhafte Erfolge zu verzeichnen. Menelik von Schoa erwarb im Einverständnis mit Johannes die Landschaften Kaffa, Enarea, Gurage und Harrar, während im Westen der Zusammenbruch der ägyptischen Herrschaft im Sudan die Interessen Abessiniens förderte. Auf die Dauer sollte jedoch dem Lande der Frieden nicht beschieden werden. Im Bewußtsein seiner wachsenden Kraft streckte Abessinien seine Hand nach Massaua aus, um diesen seinen natürlichen Ausfuhrhafen den Aegyptern zu entreißen. Als Italien ihm aber zuvorkam, gelangten jene Wirren zum Ausbruch, deren Abschluß noch heute unabsehbar ist. König Johannes hatte anfangs einen schwierigen Stand, denn an Stelle der Aegypter wurden die Mahdisten zu Herren des Sudans und überzogen auf ihrem Siegeszuge auch Abessinien mit Krieg. Johannes bestand diesen Kampf auf zwei Fronten mit vollen Ehren. Seine Heerführer schlugen die Italiener bei Dogali, und wenn sie sich später vor den italienischen Ersatztruppen zurückziehen mußten, so geschah es, weil Johannes mit der Hauptmacht seines Heeres den Derwischen entgegentrat. Es war wiederum der 7. März im Jahre 1889, als Johannes bei Metamneh in der Landschaft Kalabat die mörderische Schlacht gegen die Derwische eröffnete. Die Abessinier siegten, aber Johannes fiel im Kampfe für das Kreuz und für die Unabhängigkeit seines Landes. Der Kaiserthron Abessiniens war wieder verwaist; rasch aber wußte Menelik von Schoa die Oberherrschaft an sich zu reißen und die einzelnen Ras zur Huldigung zu zwingen. Zu Antoto ließ er sich als Negus Negesti krönen. Anfangs suchte er mit den Italienern Frieden zu halten und schloß mit ihnen Verträge ab, bis die junge Kolonialmacht sich hinreißen ließ, Tigre, die nördlichste Provinz des abessinischen Hochlandes, zu besetzen. Der Gouverneur dieser Landschaft, Ras Mangascha, mußte fliehen, aber es gelang ihm, Menelik und die andern Ras zum Kriege gegen Italien aufzureizen. Die Kriegskunst der Abessinier zeigte sich auch diesmal dem Gegner überlegen und der Feldzug fand vorläufig am 1. März d. J. durch die große Schlacht bei Adua einen für Italien ungünstigen Abschluß.

Die letzten Ereignisse haben wohl gezeigt, daß man am grünen Tisch in Europa die Abessinier mit Unrecht gering geschätzt hat. Gewiß ist Abessinien ein Land, in dem man überall auf Zeichen des Verfalls stößt. Die alte Herrlichkeit des Reiches ist geschwunden. Was ist heute Aksum, die alte Krönungsstadt der Kaiser von Aethiopien? Einst wirkten hier griechische Baumeister, die aus Aegypten gekommen waren und die Stadt mit Palästen, Denkmälern und Obelisken schmückten, fast alle diese Bauten liegen heute in Trümmern. Einst erhob sich hier die berühmte Krönungskirche, ein reiches Gotteshaus, das von Gold und Silber funkelte; aber seitdem Sultan Mohammed Granje von Adal das Heiligtum im Jahre 1535 geplündert hatte, ist von der ehemaligen Pracht nichts weiter übrig geblieben als die nackten notdürftig ausgebesserten Wände. Unter Sykomoren versteckt, stehen jetzt in Aksum einige hundert ärmliche Hütten, in denen zumeist Priester und Mönche wohnen. Um sie schart sich eine zweifelhafte Gesellschaft, denn Aksum ist ein Asyl, ein heiliger Ort, in dem selbst Uebelthäter unbehelligt bleiben müssen, und so mancher Bandit findet hier Schutz im Schatten der Trümmer alter Herrlichkeit.

Und was ist heute Gondar, die nächstberühmte Residenzstadt der abessinischen Machthaber? Schaut man aus der Ferne, von benachbarten Hügeln auf ihr Panorama hinab, so glaubt man zu träumen; denn da tauchen Burgen und Schlösser auf, man erblickt [287] krenelierte Mauern und weiter versteckt zwischen buschigen Bäumen Paläste und Kirchen. In einer vorübergehenden Blüteepoche des Reiches unter Kaiser Fasilidas im 17. Jahrhundert wurden jene Bauten errichtet und damals soll Gondar an 50000 Einwohner gezählt haben. Nähert man sich aber der Stadt, so bemerkt man, daß jene Bauwerke nur noch Ruinen sind, und die Stadt selbst besteht aus ärmlichen Hütten, in denen kaum 5000 Menschen wohnen. Unsere Abbildung S. 289 zeigt die Ruinen des kaiserlichen Schlosses in Gondar nebst einigen Skulpturen, die es schmücken, nach einer Zeichnung, die in dem trefflichen Werke von G. Rohlfs über „Abessinien“ (Leipzig, F. A. Brockhaus) enthalten ist.

Verfallen sind diese alten Residenzstädte und die Kaiser von Aethiopien haben keine festen Wohnsitze mehr. Sie ziehen mit ihrem Heerlager von Ort zu Ort, denn sie sind gezwungen, Landstriche auf- oder heimzusuchen, die ihren großen kriegerischen Anhang zu ernähren vermögen. Die ewigen Kriege mit äußeren Feinden und die ewigen Fehden unter den Ras ließen keinen größeren Wohlstand aufkommen, und so konnten auch an Stelle der alten keine neuen Städte aufblühen.

Was in Abessinien den stolzen Namen einer Stadt trägt, das ist in Wirklichkeit armselig genug. Fassen wir Adua, die vielgenannte Hauptstadt der umstrittenen Landschaft Tigre, ins Auge. Malerisch ist sie inmitten der Berge gelegen, besitzt einige Kirchen und europäisch gebaute Häuser, aber es ist nur ein Städtchen mit etwa zwei bis drei tausend Einwohnern, das sich durch keinen Wohlstand, geschweige denn Reichtum auszeichnet.

Ja, heruntergekommen ist der Abessinier. In dem schönen Hochlande werden wenig Produkte erzeugt, die einen nutzbringenden Handel schaffen könnten. Der Sohn der Berge erbaut nur, was er gerade braucht, um nicht zu verhungern. Vorräte speichert er nicht auf. Die abessinischen Handwerker ragen über ihre Standesgenossen bei den benachbarten Stämmen nicht besonders hervor. Aus Eisen verstehen sie Waffen zu schmieden und aus Häuten fertigen sie schöne Schilde, die sie mit Silber belegen und mit Mähnen wilder Tiere verzieren. Aus Leder verstehen sie auch Wassergefäße (vergl. die Anfangsvignette) zu nähen und stellen allerlei Thongefäße her. In letzter Zeit werden immer mehr europäische Waren eingeführt und auch europäische Handwerker sind hier und da im Dienste der Könige thätig. Die Großen des Landes umgeben sich wohl mit orientalischem Pomp. Sie sitzen auf kunstvoll gearbeiteten Thronsesseln, auf denen der Löwe, das Wappentier Abessiniens, nicht fehlt; sie tragen kostbare Gewänder und ihre Garde schreitet einher mit prächtigen Tierfellen geschmückt, ihre Offiziere führen mit Silber ausgelegte Schilde – aber die Masse des Volkes weiß wenig von diesem Luxus. Aus dürftigen Stoffen ist die malerische Tracht des einfachen Mannes gefertigt: die weite Hose und ein Umschlagetuch. Im Gegensatz zu dem Mohammedaner geht der christliche Abessinier barfuß und hält den Kopf unbekleidet; jeder aber trägt eine blaue Schnur, das Abzeichen äthiopischer Christen, um den Hals. Das Volk hat auch keine geistigen Interessen; groß, sehr groß ist die Zahl der Priester, der Mönche und Nonnen, aber es bedarf keiner besonderen Vorbildung, um in den Rang der Geistlichen treten zu dürfen, und der ganze Gottesdienst beruht auf Aeußerlichkeiten. Die Priester in weißen Jacken, mit einem Tuch über dem Haupt, leben zumeist von Almosen und erfreuen sich nicht immer eines besonderen Ansehens. Ihr Oberhaupt heißt Abuna und wird von dem Patriarchen von Alexandrien ernannt. Einst verweigerte dieser Abuna dem Usurpator Theodor den Segen; da trat der Kaiser vor den Oberpriester, streckte gegen ihn den Revolver aus und sprach: „Lieber Vater, bitte, gieb mir Deinen Segen!“ Und der Abuna segnete den Kaiser.

Trotz dieser Zerfahrenheit der inneren Zustände, trotz des Niedergangs von Ackerbau und Viehzucht, trotz des Verfalls des Handwerks ist Abessinien dennoch in den letzten Jahrzehnten dem Ausland gegenüber stärker geworden. Hat es doch im Süden weite Länderstrecken sich tributpflichtig gemacht, steht es doch geeint da, und es hat vom Ausland, von Europa so manches gelernt und empfangen. Alle Feldzüge, die bisher Engländer, Aegypter, Italiener gegen dieses Hochlandsvolk unternommen haben, endeten damit, daß die Waffenkammer Abessiniens mit Gewehren und Geschützen bereichert wurde. Besser denn je ist heute das abessinische Heer ausgerüstet, und seine Führer haben von den Europäern recht viel zu lernen verstanden. Der Verkehr mit Europäern hat auch die Großen des Landes gebildet, und wenn der Orientale schon an sich in den schlauen Winkelzügen der Diplomatie ein Meister zu sein pflegt, so verstehen die heutigen Herrscher Abessiniens noch außerdem ihre Diplomatie den europäischen Gebräuchen mehr und mehr anzupassen.

So lehrt uns die jüngste Geschichte der „afrikanischen Schweiz“, daß die Unterwerfung jenes freien Gebirgsvolkes ein überaus schwieriges Unterfangen ist. Wohl ist im Interesse der Kultur in Afrika dringend zu wünschen, daß Abessinien von einer europäischen Macht erobert werde. Ob diese Eroberung aber mit Gewalt, mit blutigen Waffen geschehen solle, das ist eine Frage, über die mit Recht gestritten werden kann. Es giebt auch friedliche Eroberungen. Wünschenswert ist es sicher, daß der Geist der europäischen Civilisation in das von ewigen Kriegen so schwer heimgesuchte Land eindringe, daß Abessinien, das im Kriegshandwerk so viel gelernt hat, nunmehr in den Künsten des Friedens von Europa gründlicher unterrichtet werde. Es hat bereits genug Kriegskaiser gehabt, wünschen wir ihm einen Friedenskaiser! Hoffen wir, daß es Italien durch weise Mäßigung gelingen möge, in diesem Sinne seine Herrschaft über Abessinien auszudehnen! Dann werden die guten Erfolge nicht ausbleiben, dann wird für Aethiopien eine neue Glanzzeit anbrechen und sein Handel und Wandel der europäischen Macht, die es geistig beschirmt und in der Kultur fördert, zu Nutzen gereichen.




Teckel auf Reisen.

Eine Hundegeschichte von0 Hans Arnold.

„Darf er mit?“

Mit diesen Worten stürzte Karl, der älteste Sohn des Landgerichtsrats Bergmann, fast täglich nach der Schule ins Zimmer, völlig die eisige Gleichgültigkeit verleugnend, mit der ein Sekundaner sonst naturgemäß die Vorgänge des täglichen Lebens anzusehen pflegt. Karl war im ganzen abgestorben für „Gefühlsduselei“, für die Vorzüge der Damenwelt und für den Glauben an die Menschheit im allgemeinen; aber zwei Dinge erweckten doch noch einen leisen Wiederhall in dem ausgebrannten Krater seines Herzens, erstens Chokoladenpralinees – selbstverständlich nicht mit weichlichem Fondant, sondern mit männlich bitterer Mandelfüllung, und zweitens Männe – derjenige, auf den die oben erwähnte Frage: „Darf er mit?“ sich bezog.

Männe war ein Teckel – oder besser der Teckel – ein entzückendes Geschöpf, besonders schön gezeichnet, seelenvoll, klüger als die meisten Menschen, und geschickt – über alle Worte geschickt! Männe sprang sogar, was unter tausend Teckeln kaum einer zustande bringt, er sprang über Schirme, Stöcke, Tennisrackets, ja, er sprang wie eine graziöse Cirkusdame über breite Papptafeln, mit einem Worte – Manne war unvergleichlich!

Von dem Tage an, wo er als drei Wochen altes Teckelbaby in einer blauen Glanzpapierdüte, die mit einem rosa Schleifchen gebunden war, seinen Einzug in das Haus und in die Familie gehalten hatte, war Männe zum erklärten Liebling von jung und alt geworden. Nachdem er sich durch das entsetzliche Stadium der ersten Monate durchgefressen hatte – im wahrsten Sinne des Wortes, denn es gab kein Heiligtum im Hause, von des Vaters Schlafschuhen bis zum Tigerfellteppich im Boudoir der Mutter, was der jugendliche Verbrecher in Hundegestalt nicht auf- oder wenigstens angefressen hätte – nachdem also diese Zeit überwunden war und Männe den Sturm von Verwünschungen und Klapsen überdauert hatte, die von früh bis spät auf seinen geschmeidigen Rücken niedersausten, konnte seine Erziehung für beendet und Männe als ein Musterteckel in jeder Richtung betrachtet werden.

Männe war augenblicklich etwas über ein Jahr alt – also, da das Hundealter, mit sieben multipliziert, dem betreffenden Menschenalter entsprechen soll, ein siebenjähriger Schlingel, voll Uebermut und Beweglichkeit, zu jedem dummen Streich auf zehn Meilen in der Runde aufgelegt, unvernünftig, fidel und sympathisch. Sein Erdenwallen war bisher in der ungestörtesten Behaglichkeit [288] verflossen; er ging mit spazieren, er hatte ein weiches Kissen, er bekam alle Koteletteknochen und man nahm ihm sofort vor der Stadt den Maulkorb ab – kurz, Männe hatte es ausgezeichnet!

Da, im zweiten Sommer seiner bewußten Existenz, trat ein Ereignis ein, oder warf doch seinen Schatten voraus, das Männe und seine Besitzer, den oben erwähnten Sekundaner Karl und dessen um sechs Jahre jüngeren Bruder Ludwig, in fieberhafte Aufregung versetzte.

Landgerichtsrats wollten nämlich die Ferien benutzen, um eine gemeinsame Reise zu machen. Der Ausführung derartiger Pläne pflegen ja immer mehr oder weniger stürmische Debatten im Familienkreise voranzugehen; das Ziegeltragen zum Luftschlösserbau setzt zunächst alle Hände in Bewegung; das Kunstwerk wächst, immer höher, immer schwindelnder; dann fängt es an zu wackeln, ein paar besonders kühne Türmchen und Erker fallen um, die oberste Etage wird abgetragen und aus Aladins Zauberpalast mit den vierundzwanzig Fenstern und dem Vogel Rock-Ei wird im günstigsten Falle – und das war der bei Landgerichtsrats eingetretene – eine Pension in einem Nordseebad.

Die letzte Zeit vor der Reise hatte naturgemäß den Stempel gestörten Behagens getragen, den die Ausrüstung für solchen Massenausflug unvermeidlich an sich trägt, und die Hausfrau versicherte bei jeder neuen, damit zusammenhängenden Schwierigkeit oder Ausgabe: „Na, an die Zeit vor der Reise werde ich denken!“ was sich der Mensch bekanntlich nur in Bezug auf unangenehme Zustände fest vorzunehmen pflegt.

Nachdem aber die Wasch- und Schneiderzeit glücklich überstanden, nachdem der stille, aber verzweifelte Kampf mit Karl um einen weißen Tennisanzug, den seine Seele stürmisch verlangte, ausgetobt hatte und durch das Wort „Unsinn!“ kurz und vernichtend entschieden worden war, begann die Vorfreude, die ja meist ebensoviel und mehr wert ist als die Freude selbst.

Die Eltern dachten an die Nordsee und an ihre Naturschönheiten; die Mutter wiegte sich noch mit besonderm Behagen in den Gedanken, daß sich die Inhaberin der „Pension Paula“ nun mal vier Wochen lang für sie den Kopf zerbrechen durfte, was auf den Mittagstisch kommen sollte, und daß der Schreckensruf: „Der Fleischer ist da!“, von dem die Hausfrau behauptete, er könnte einem Kalbe auch nicht viel fataler sein als ihr, für die nächste Zeit von erquicklichem Meeresrauschen übertönt werden sollte.

Die Jungen, oder vielmehr – wir bitten Karl sehr um Entschuldigung! – der Jüngling und der Junge, freuten sich auf Muschelsammeln, auf Segelfahrten und Seehundsjagden, die durch den Umstand, daß keiner von ihnen je ein Schießgewehr in die Hand nehmen durfte, noch den Reiz besonderer Schwierigkeit haben würden – kurz, alles befand sich in erwartungsfrohester Stimmung.

Alles – nur Einer nicht und dieser Eine war Männe. Die Frage: „Darf er mit?“, die noch nicht ganz verneinend entschieden und, wie erwähnt, für Karl zum Leitmotiv der täglichen Unterhaltungen geworden war, hatte sich in Männes braungeflecktem Busen zuerst als leises Unbehagen, dann als eine mit jeder Stunde wachsende Seelenangst eingenistet, die das Gegenteil von angenehm für ihn war. Wer denken konnte, daß Männe nichts von dem merkte, was im Hause vorging, wer ihn auch nur ansehen konnte, ohne zu gewahren, daß er von der Nase bis zur Schwanzspitze vor Unruhe und Besorgnis zitterte, der hatte eben kein Verständnis für Männe und that besser, sich gar nicht um ihn zu kümmern!

Männe ahnte Furchtbares. Ihm dämmerte es, daß er für die Zeit, wo die Familie – seine Familie – auf Sommerfrische an die See ging, zu Hause bleiben, und zwar – o verschärfter Jammer! – zu Portiers in Pension gegeben werden sollte! Portiers besaßen außer anderen unleugbaren Vorzügen einen Emil und einen Bruno, welche Männe nicht umsonst mit herzlichstem Abscheu betrachtete; denn diese Buben hatten ihm schon mal eine Kasserolle an den Schwanz gebunden, sie zeigten ihm die Zunge und gingen selten oder nie an ihm vorbei, ohne mit den Füßen in aufreizender Weise vor ihm herum zu trampeln oder sonst gesellige Scherze von zweifelhaftem Wert mit ihm zu treiben. Gar nicht zu erwähnen, daß sie ihn öfters durch den trügerischen Ruf: „Such Katz’!“ zu atem- und erfolglosen Treibjagden auf die kohlschwarze Erbfeindin seines Seelenfriedens ermunterten und unter höhnischem Gelächter beobachteten, wie Männe sich dann, angegriffen und blamiert, auf sein Kissen zu einer beleidigten Kugel zusammenrollte.

Und zu denen sollte Männe in Pension gegeben werden – es war hart!

Von dem Augenblick an, da die Koffer bei Landgerichtsrats vom Boden geholt und somit die Reisepläne in ein gewissermaßen greifbares Stadium getreten waren, hatte sich Männe aus einem springenden, flotten, scharf bellenden, vor Lebenslust und Gefräßigkeit strotzenden Teckel in ein tief unglückliches, sich vor beständiger Angst platt am Boden windendes, appetitloses Krokodil verwandelt, welches seine Anwesenheit nur durch ein sanftes, bescheidenes Schwanzklopfen auf den Boden zu verraten wagte.

Jeder ermutigende Zuruf der Seinigen von: „Na, Männe!“ bis zu der tröstlichen Versicherung der Kinder: „Wir bringen dir auch was Schönes mit!“ nahm der Angeredete mit dumpfer Ergebung und häufigem sich Verkriechen unter dem Sofa entgegen, wobei er noch öfter die beleidigende Frage: „Ob er wohl was davon versteht?“ in Kauf nehmen mußte. Kurz, Männe lebte nach dem Wahlspruch des bekannten Verses:

„O Isis und Osiris, o wüßtet Ihr, wie mir is!
Osiris und o Isis, ich bin in einer Krisis!“

Die Kinder erklärten schließlich, vom Jammer über diesen Seelenzustand ihres krummbeinigen Gefährten zerrissen, es dürfte überhaupt in Gegenwart des Männe nicht mehr von der Reise gesprochen werden, und suchten ihn durch die trügerische Versicherung: „Wir reisen ja gar nicht, Männe, wir bleiben alle bei dir!“ zu sanguinischen Hoffnungen zu verleiten. Die Gespräche bei Tisch, so oft sie sich um die Reisezukunft und die Wahl des Seebades bewegten, was naturgemäß fast täglich der Fall war, wurden daher beständig durch angstvolle Zwischenrufe „Der Männe ist hier!“ oder „Nicht vor dem Männe!“ unterbrochen und die Eltern nebenbei unaufhörlich auf besonders reizvolle und interessante Stellungen des Teckels aufmerksam gemacht: „Ach, wie er daliegt! Er sieht so traurig aus! Er seufzt – er legt sich das Pfötchen unter den Kopf“ – bis der Vater sich, zu Tode gelangweilt durch die ewigen Dachsunterhaltungen, zu dem drakonischen Ausspruch hinreißen ließ: „Wer Männe bemerkt, wird hinausgeworfen!“ und die darin enthaltene Verheißung sogar schon zweimal zur Ausführung gebracht hatte.

In dieser Gemütsverfassung war denn der Tag vor der Abreise herangekommen. Der Abend vorher hatte noch einen letzten Sturm erlebt, den die Söhne des Hauses, von einem guten Bekannten und Teckelgönner offen – von der Mutter heimlich unterstützt, Männes halber gewagt hatten, und der durch die Erkundigung eingeleitet worden war, ob Männe sich schon einen Lodenpaletot bestellt und schon Eisenbahnfieber habe.

Der Vater erwiderte kurz: „Nein, Männe bleibt hier! Er wird zu Portiers in Pension gegeben! Es wird mir ja selbst nicht leicht,“ setzte der brave Hausherr mit bewegter Stimme hinzu und klopfte das glänzende Fell des schmerzlich aufgeregten Männe.

„Eben!“ wagte die Mutter bei dieser unerwartet weichen Regung des Familienoberhauptes zu bemerken. „Nehmen wir ihn doch mit!“

„Ach ja, Vater – nehmen wir ihn mit!“ kreischte Ludwig in den höchsten Tönen, und auch Karl ließ ein flehendes Brummen seines „noch wie neuen“ Basses hören. – Der Vater schob den Stuhl zurück – ein gefürchtetes Symptom.

„Schön – nehmt ihn mit!“ sagte er mit unheimlicher Ruhe, „aber dann laßt mich hier! Ihr wißt, daß in der Pension Paula Hunden ebenso wie Kindern unter einem Jahr statutenmäßig der Zutritt verboten ist – wir haben da gemietet, also wollt Ihr für den Männe in einem andern Hotel die Beletage nehmen – meinetwegen! Bezahlt das Hundebillet – macht, was Ihr wollt – die Reise kostet ja so wie so nichts! Ich bleibe ganz gern zu Hause – dem Männe mag ja die Erholung nötiger sein als mir!“

Angesichts dieser mit tödlicher Bitterkeit hervorgestoßenen Erklärung, die nur dadurch etwas von ihrer ergreifenden Wirkung verlor, daß sich im Hause alles um den Vater drehte und nur in Kleinigkeiten, die man kaum mit der Lupe sah, etwas gegen seinen Willen geschah – wie gesagt, angesichts dieser Wendung schwieg alles beschämt.

Der gute Freund des Hauses empfahl sich, da ihm die allseitige Stimmung keinen Abend „zum Totlachen“ zu verheißen schien, die Eltern lehnten, mit Bädeker und Landkarten in den Händen, in zwei verschiedenen Sofaecken und Männe, in dessen umdüsterter Seele sich während der berichteten Unterhaltung ein leiser Hoffnungsschimmer geregt hatte, kroch als geistig und moralisch vernichtetes Geschöpf unters Sofa, wo er den Rest seiner

[289]

1. Abessinischer Priester. 2. Die Kirche in Aksum. 3. Ansicht von Aksum. 4. Die Obelisken von Aksum. 5. Kaiserliches Schloß in Gondar – Proben vom Skulpturenschmuck desselben.

Bilder aus Abessinien.
Nach Photographien gezeichnet von R. Mahn.

[290] Tage verleben zu wollen schien. Karl und Ludwig, durch die verbindliche Wendung des Vaters: „Ihr könnt jetzt für ein paar Stunden spurlos verschwinden!“ ermutigt, zogen sich in das Zimmer des ältesten Bruders zurück. Sie schwelgten in dem für die Kindheit und Jugend entzückenden, für das reifere Alter tief verstimmenden Bewußtsein, daß es sich nicht lohnte, zu Bett zu gehen, da man, der verschiedenen Dampferverbindungen wegen, nachts um halb drei Uhr abfahren mußte.

Die Brüder saßen friedlich – nicht der tägliche Zustand! – nebeneinander auf dem Schlafsofa an der Mittelwand, unter der Dekoration von verschiedenen Mützen, die Karls Aufrücken von der Sexta bis zur Untersekunda in den Farben des Regenbogens versinnbildlichten, bis die rote Mütze der Obersekunda nebst drei Kotillonorden die Höhe des bisher Erreichten und Erlebten anzudeuten hatte. Karl brach zuerst das gedankenvolle Schweigen. „Er darf nicht mit!“ sagte er düster.

Ludwig schüttelte betrübt den Kopf – er fühlte, wie ihm der Jammer schon in der Kehle saß, und sprach nicht mehr, um nicht in ein Wehmutsgeheul auszubrechen.

„Wenn er es sich nur nicht zu sehr zu Herzen nimmt!“ fuhr Karl mit auch bereits etwas bebender Stimme fort, „wenn er die ganze Zeit nicht frißt – wenn er verhungert!“

„Ach, hör’ doch auf!“ flehte Ludwig mit den Gurgeltönen mühsam bekämpften Schluchzens.

„Wenn er verhungert – ausstopfen lasse ich ihn aber nicht!“ fügte Karl mit dem letzten Rest seiner männlichen Energie hinzu, „das finde ich gräßlich!“

Aber dieser Gedanke war zu viel für Ludwigs Fassung.

„Stille bist Du!“ brach er los, und indem er, seiner Rührung sich schämend, mit beiden kleinen Fäusten auf den Bruder losdrosch, brüllte er geradezu vor Jammer: „Ich lass’ ihn nicht hier – und ich lass’ ihn nicht hier – er frißt nicht bei Portiers, und das kann er ja gar nicht vier Wochen aushalten!“

Das Resultat dieser Unterhaltung war, daß Karl sämtliche Taschen seines Portemonnaies umdrehte und darin zwei Zehnpfennigstücke, ein gepreßtes Vergißmeinnicht und ein Fünfzigpfennigstück fand – für seine gewöhnlichen Geldumstände noch ein ganz solider Befund. Ludwig erfreute sich dagegen durch den Besitz einer thönernen Sparbüchse von geizigem Charakter, die nichts wieder hergab, was ihr schiefes Maul einmal verschlungen hatte, eines beträchtlichen moralischen und pekuniären Uebergewichts über seinen Bruder. Ein Fußtritt gegen die Hüterin des Kapitals und sie lag klirrend in Scherben – was aber über ihren Inhalt beschlossen wurde, das werden wir im Verlauf dieser wahren Geschichte erfahren.

Der nächste Tag dämmerte herauf. Die sehr überwacht dreinschauende Familie fand sich in der angenehm schaurigen Morgenkühle zusammen, die letzten Gegenstände wurden noch in die Koffer gesteckt. Die Köchin, hocherfreut, ihre Herrschaft auf vier Wochen los zu werden, hatte mit dem Rest der vorhandenen Kaffeebohnen einen heißen, starken Göttertrank gebraut und entließ die Abreisenden mit viel Gefühl, indem sie sich mit dem Schürzenzipfel wenigstens über ein Auge fuhr, um doch etwas zu thun.

Der Vater war nach der Bahn vorausgegangen, um für sich und die Seinigen in dem stark überfüllten Ferienzuge Plätze zu suchen – der Rest der Familie folgte mit dem Gepäck.

Dieses letztere hatte sich übrigens noch um einen großen, geheimnisvoll aussehenden Spankorb vermehrt, der mit Zeitungspapier verbunden war und von Ludwig getragen wurde. Auf die halb zerstreute Frage der Mutter: „Was hast Du denn da?“ hatte der glückliche Besitzer etwas Unverständliches gemurmelt, und da im selben Augenblick der Droschkenkutscher erschien und wie ein Stoßvogel über den Koffern schwebte, gingen Ludwig und sein Spankorb in der allgemeinen Aufregung unter und man fuhr in die Morgenkühle hinaus.

Im letzten Augenblick auf dem Bahnhof hatten sich die Jünglinge noch einmal „verkrümelt“ und wurden vom Vater unter einigen Kraftwendungen gesucht, bis sie sich endlich in etwas verstörtem und verlegenem Zustande einfanden und mit ihren Lieben in ein Coupé gestopft wurden. Daselbst befanden sich schon verschiedene Mitreisende, da es keiner der bekannten Zellenkäfige, sondern ein „Abteil“ mit Wandelgängen und lauschigen Plätzen war, was den Eindruck des Inhaftiertseins wohlthuend abschwächte.

Die Coupégenossen der Familie Bergmann bestanden zunächst aus einem Ehepaar, welches sich schon auf dem Perron dadurch auffällig gemacht hatte, daß es das ganze Menschengewühl, das Expedieren der Koffer und sonstige trennende Lebensverhältnisse Arm in Arm durchlebt hatte. Im Augenblick des Einsteigens mußte ja der Herr, der in seinem Aeußern etwas von einem Geistlichen hatte, seine Lebensgefährtin loslassen – aber kaum saßen beide, als er ihr von neuem den Arm bot, so daß sie die Eisenbahnfahrt in eingehaktem Zustande zurücklegten.

Die Jungen hatten mit ihrem Spankorb ihre Plätze dem Ehepaar gegenüber gefunden. Beide, Mann und Frau, sahen unendlich gutmütig aus und nickten unserem Freund Ludwig liebevoll zu, der sich nach Jungenart dadurch unsäglich blamiert vorkam und sofort zum Fenster hinausguckte. Bald aber wendete er, ebenso wie Karl, seine Blicke wieder auf das unentwegt eingehakte Paar und beide betrachteten dies Naturschauspiel mit so unbegrenzter Belustigung und Neugier, daß der Vater sie in eine andere Ecke des Wagens verwies.

Dort blieb ihnen nur der Trost, daß sie den ihnen so wohlwollend gesinnten Ehemann mit dem Namen „der eingehakte Pastor“ bedachten und mit fieberhafter Aufregung aufpaßten, ob er sich etwa aushaken werde, was er aber nicht that.

Die Platzveränderung sollte sich als folgenschwer erweisen.

Der ganze Sitz, dem gegenüber Karl und Ludwig sich niedergelassen hatten, war von einem Herrn eingenommen, der sich beim Nahen der landgerichtsrätlichen Familie durch ein dumpfes Knurren als ungesellige Natur zu erkennen gegeben hatte.

Es war ein großer, hagerer Mann Mitte der fünfziger Jahre, mit einer Nase, die aussah, als wenn sich einmal jemand aus Versehen oder Bosheit darauf gesetzt hätte, und mit einem groben Munde, über dem ein grauer Schnurrbart herabhing wie schlecht gekämmte Fransen an einer Theeserviette.

Hatte also der Geist sich diesen Körper gebaut, so mußte es unbedingt ein häßlicher Geist sein. – Schon als unsere Reisenden mit der gebührenden Bescheidenheit des erzogenen Menschen einstiegen, offenbarte sich die betrübende Thatsache, daß die Anmutlosigkeit des alten Herrn sich nicht nur aufs Aeußere erstreckte. Er wachte auf, rieb sich die Augen was schon bei jungen und schönen Leuten kein kleidsamer Augenblick ist – und rief, als er Ludwig erblickte, mit einem so wütenden Entsetzen aus: „Ach, ein Junge!“ als wenn das ein Geschöpf wäre, von dem er wohl in schauerlichen Sagen gelesen hätte, das ihm aber in Wirklichkeit nie zu Gesicht gekommen wäre.

Dann lieferte er den feinen Zug zur Charakteristik unausstehlicher Reisender, daß er seine Gehwerkzeuge wie Schlagbäume vor den Zugang zu den Plätzen seiner augenblicklichen Lebensgefährten einstemmte und erst durch wiederholtes flehentliches Bitten sich so weit rühren ließ, daß er sie einige Centimeter weit beiseite schob.

Hierauf zählte er laut und vorwurfsvoll das Handgepäck mit der Randbemerkung: „Acht Stück Handgepäck – das ist echt!“ eine Wendung, die er zu lieben schien. Das Unterbringen dieser acht Stück oberhalb seines Kopfes schien ihn mit grenzenloser Angst zu erfüllen, er stierte zornig und verschlafen um sich, und sowie eine Tasche oder Schachtel hinauf befördert wurde, schrie er mit so furchtbarer Stimme: „Na na!“ oder „Vorsicht!“ als wenn eine Dampfwalze ins Hutnetz gehoben würde.

Auch machte er jeden, selbst wer nicht die entfernteste Neigung zum Rauchen bezeigte, mit großer Energie darauf aufmerksam, daß hier ein Nichtraucher-Coupé wäre und daß er sich unbedingt beschweren würde, sobald jemand eine Cigarre auch nur in die Hand nähme. Kurz, wenn sich der alte Herr auf der Badereise befand, so konnte man mit Fug und Recht annehmen, daß er sich in einen Kurort begäbe, der gegen Unausstehlichkeit verordnet wird, und ihm von Herzen guten Erfolg wünschen.

Da dem bösen alten Wicht aber niemand den Gefallen that, sich ordnungswidrig zu betragen, da sogar der gefürchtete „Junge“ sich sehr gesittet – für den Kenner unheimlich gesittet! – verhielt, so schlief der Alte, von der Enttäuschung angegriffen, sofort wieder ein und schnarchte während der nächsten Stunden so laut und so gewissermaßen krachend, daß die Mitreisenden von Zeit zu Zeit aus ihren Nickerchen mit dem dumpfen Gefühl emporfuhren, daß ein Centner Steinkohlen auf das Coupé ausgeschüttet würde.

Mit der aufsteigenden Sonne – wenn auch nicht so schön wie sie – erwachte der Schnarchkünstler übrigens, warf dann einen wilden Blick umher, um zu erkunden, ob ihn etwa während seiner Morgenruhe jemand ohne sein Wissen angefallen oder umgebracht habe, und begann dann seine Morgentoilette zu machen. Er bearbeitete zu diesem Zweck die paar Haare, die den Rest seines einst gewiß ansehnlichen Vermögens an Locken bildeten, wütend und [291] krampfhaft mit zwei Bürsten und betrachtete das Resultat dieser Arbeit dann minutenlang in einem Handspiegel.

Sonderbarerweise hatte ihm der Anblick augenscheinlich nicht jede Eßlust verdorben, denn er entnahm einem Frühstückskorbe mehrere belegte Brötchen, die er erst mit der grimmig vor sich hin gemurmelten Bemerkung: „Leberwurst! Echt! Als wenn meine Frau nicht wüßte, daß ich die nicht so gern esse!“ auf- und zuklappte, dann aber mit solcher Energie und solchem Gesichtsausdruck vertilgte, als wenn jede Semmel sein erbitterter Todfeind wäre.

In dem Augenblick begab sich etwas Unerwartetes und Schreckliches.

Ludwigs Spankorb geriet in geheimnisvolle Bewegung; das Papier knisterte und raschelte – und zum allgemeinen Entsetzen, an dem selbst die Wissenden, Schuldigen, die Jungen, tiefsten Anteil nahmen, schob sich ein glatter, dunkelbrauner Kopf durch das Papier, dem der ganze Männe mit aalglatter Gewandtheit folgte.

Der Geruch der Butterbrötchen hatte den unseligen blinden Passagier aus seinem Inkognito hervorgelockt und er wand sich, von dem sichtlich unangenehmen Eindruck, den seine Persönlichkeit hervorbrachte, bewältigt, in tödlicher Verlegenheit am Boden des Coupés.

Der Landgerichtsrat, was nur menschlich war, vergaß bei diesem überraschenden Ereignis sämtliche Forderungen der guten Lebensart und die Anwesenheit von Fremden, er tobte gradezu, beschuldigte seine Frau, um die Hinterlist gewußt zu haben, wollte umkehren, Jungen und Hund auf der nächsten Station aussetzen – kurz, der sonst so wohlgesittete Mann machte einen solchen Mordsspektakel, daß seine Gemahlin sich ihres Gebieters bis zu Thränen schämte und sich nur innerlich mit dem Erfahrungssatz tröstete, daß heftige Gewitter am schnellsten auszutoben pflegen.

Der alte Herr, hocherfreut, endlich eine Gelegenheit zum Zanken zu haben, erhob nun auch ein Zetergeschrei. Er fürchtete sich mit Ostentation vor Männe, als wenn dieser kein bescheidener Dachshund, sondern ein ausgewachsener Tiger wäre.

„Hier ist ein Menschencoupé!“ rief er mit markerschütternder Stimme, „hier ist kein Hundecoupé! Und die Bestie hat nicht mal einen Maulkorb – die soll einen hier wohl zerreißen!“

Alles sprach laut durcheinander, der Vater räsonnierte auf die Jungen, der alte Herr drohte, die Notleine in Bewegung zu setzen, die Mutter entschuldigte und beschuldigte immer abwechselnd sich, ihre Söhne, ihren Hund und ihren Mann. Der „eingehakte Pastor“ und seine Gattin, die natürlich nicht losließ, flehten um Frieden und klopften Männe vierhändig, kurz, die Situation war ganz so, wie man es von einer ungestörten Nachtruhe verlangen kann.

Schließlich hatte sich alles müde und heiser gesprochen, die Mutter stellte sich schlafend, „Pastors“ schliefen wirklich und der Vater guckte zornig bald nach seinen Jungen, bald in den Morgen hinaus. Der alte Herr brummte noch eine Weile in sich hinein, wie ein abziehendes Unwetter, schneuzte sich so donnernd, als wenn er einen Tusch blasen wollte, und gab sich dann zufrieden. Männe schien als vollendete Thatsache vorläufig acceptiert und als Unvermeidliches mit Würde getragen zu werden. Aber – leider muß es zugestanden werden – er benahm sich bei dieser Gelegenheit nicht richtig. Er hätte als geduldeter Eindringling still und bescheiden unter den Sitz kriechen und seine Anwesenheit möglichst vergessen machen müssen, doch hatte er in der Eile und Hast der Abreise kein Frühstück bekommen. Er ertrug es nicht länger, und als eben der allgemeine Skandal etwas beschwichtigt war, beging Männe die Taktlosigkeit, sich vor dem zu seinem Frühstücke zurückgekehrten alten Herrn steil auf die Hinterfüße zu setzen und flehentlich zu bitten.

Der Eigentümer der Butterbrote warf aber dem Unbescheidenen nichts zu wie einen haßerfüllten Blick. „Rufen Sie doch den Hund weg!“ herrschte er den Landgerichtsrat an, „ich kann nichts essen, wenn er mir so jeden Bissen beneidet!“

Der Vater bekam vor Aerger und Blamage fast Nasenbluten, und als der Wagen an der nächsten Station hielt, stieg er zu seiner und der Seinigen Erleichterung aus und begab sich mit den verheißungsvollen Worten an seine Söhne: „Na, laßt uns nur erst dort sein!“ in ein anderes Coupé.

Die Situation gestaltete sich übrigens für die Zurückbleibenden erträglicher als zu erwarten stand. Die Mutter, eifrig um den lieben Frieden bemüht, brachte es über sich, auf die Eigenart des alten Murrkopfs duldsam einzugehen, und warb so lange um seine Gunst, bis er sie durch eine endlose Beschreibung seiner rheumatischen Schmerzen fast bis zur Ohnmacht langweilte. Er zeichnete förmliche Pläne auf, aus denen die Landgerichtsrätin ersehen konnte, wo die Schmerzen jetzt säßen, wo sie vor anderthalb Jahren gesessen hätten, und wo sie später sitzen würden.

Da bekanntlich Leute seines Schlags sich nur gut amüsieren, wenn sie von ihren Leiden oder Gewohnheiten erzählen und jemand finden, der mit einem Schein von Interesse zuhört, so war der alte Querulant besänftigt und betrachtete unsere Hausfrau mit milderen Blicken.

Der Gedanke, diese Reisebekanntschaft während des ganzen Badeaufenthaltes mit sich herumschleifen zu müssen, lastete allerdings wie Blei auf den Nerven der Landgerichtsrätin. Als aber eine Station erreicht war, von der verschiedene Bahnen sich abzweigten, begann der alte Herr mit großer Umständlichkeit seine Gepäckstücke zu sammeln und rücksichtslos über die Köpfe der Mitreisenden heruntersausen zu lassen.

„Hier steige ich aus!“ bemerkte er dann, „ich muß noch zwei Stunden mit dem Dampfer fahren – seekrank werden – hübsches Vergnügen!“ Damit trat er, ehe der Zug völlig still stand, an die noch geschlossene Coupéthür und begann mit größter Wut daran zu rütteln und an die Fenster zu trommeln.

„Lassen Sie mich hinaus, Schaffner – werden Sie wohl gleich aufmachen!“ schrie er zornig. „Hier soll man wohl sitzen bleiben! Das ist echt! Der Kerl macht nicht auf!“

Zum Glück erschien ein Bahnbeamter, der gänzlich ungerührt von dem Toben des alten „Unausstehlius“ die Thür öffnete und ihn heraus ließ, während seine Reisegefährten ein stilles Dankgebet zum Himmel sandten, daß sie ihn los geworden waren.

Sie beobachteten ihn noch, wie er sich in der Ferne wütend mit einem Kofferträger zankte, und sahen ihn dann, von einer jauchzenden Menge geleitet, in den andern Zug steigen, der ihn seinem Ziele zuführte.

Auch unsere Reisenden – es hatte sich herausgestellt, daß die „eingehakten Pastors“ ebenfalls Gäste der Pension Paula zu werden im Begriff standen – waren an dem Endpunkt ihrer Eisenbahnfahrt gelangt. Eine kurze Dampfertour über das Wattenmeer wäre ereignislos verlaufen, hätte nicht Männe für Abwechslung gesorgt. Er, den man vor den Mitreisenden wieder zu verheimlichen bestrebt war, jagte plötzlich unter wahnsinnigem Gebell rund um das Deck, um eine Möwe zu erhaschen, die aber in ironischer Ueberlegenheit dicht an seiner schnüffelnden Nase vorbei strich und die Sache ganz belustigend zu finden schien.

Der Gesellschaftswagen der Pension Paula erwartete die Reisenden an der Landungsbrücke. Männe wurde wieder in den Wagen geschmuggelt, wo er als bebender Knäuel zwischen Ludwigs Füßen saß und innerlich erwog, ob es nicht bei Portiers ebenso hübsch gewesen wäre.

Die Wirtin der Pension Paula lächelte berufsmäßig und hold jedem Aussteigenden entgegen, verzerrte sich aber sichtlich beim Anblick des hausordnungswidrigen Männe und erklärte, sie könnte ihn unmöglich unter irgend einer Voraussetzung als Pensionär aufnehmen, da sie „nervöse Herrschaften“ im Hause habe, die sich nie mit der Anwesenheit eines Hundes einverstanden erklären würden. Der zwecklose Wunsch, daß Männe nie geboren wäre, tauchte flüchtig in der Brust des Landgerichtsrates auf – er stand mit den Seinigen ratlos vor der Thür, während der „eingehakte Pastor“ samt Frau schon längst im Hause verschwunden war.

Da fühlte der Fuhrmann des Hotels ein menschliches Rühren und erklärte sich bereit, den obdachlosen Männe für die Nacht in Quartier zu nehmen. Am Tage konnte er ja mit den Kindern am Strande sein und für seine Leibesnahrung mußte eben irgendwie Rat geschafft werden, da der Fuhrmann ein Junggeselle war und auswärts speiste. – Männe wurde denn mit einem Kofferriemen am Wagen festgeschnallt und von seinem neugewonnenen Pflegevater davongefahren. Sein Geschrei spottete jeder Beschreibung, und bei der absoluten Stille der Insel hörte man dasselbe noch erschallen, als der Tonkünstler selbst längst nicht mehr zu erblicken war.

Karl stand kreideweiß vor Mitgefühl und sah dem Entschwundenen nach, Ludwig machte es gar wie der Zöllner in Bürgers „Lied vom braven Mann“ – „er heulte noch lauter als Strom und Wind“ um seinen Männe, und die Familie hielt im Zustand äußerster Blamiertheit ihren Einzug in die Pension Paula.

Der Vater war zum Glück zu angegriffen von der Reise, um die seinen Jungen zugedachte Strafe sogleich zu vollziehen, und diese ließen schweigend und widerspruchslos alle zoologischen Ehrentitel über sich ergehen, was den Landgerichtsrat rührte und entwaffnete.

(Schluß folgt.)


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Blätter & Blüten.


Karl Immermann. (Mit Bildnis.) Der 24. April dieses Jahres weckt die Erinnerung an einen deutschen Dichter, der an diesem Tage vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickte und dessen litterarisches Schaffen durch ein Werk gekrönt ward, das als eine Perle unserer Erzählungslitteratur von unvergänglichem Wert ist. Karl Immermann, der Sohn eines preußischen Beamten, der zur Zeit von dessen Geburt in Magdeburg angestellt war, gehört zu den deutschen Dichtern, deren Jugend in der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon erstarkte, und zu den energischen Geistern, die gegenüber der Metternichschen Reaktionspolitik mannhaft ihren Charakter bewährten. Er unterbrach 1815 seine juristischen Studien in Halle, um unter Blücher gegen den von Elba zurückgekehrten Korsen zu kämpfen, er nahm teil an den Schlachten bei Ligny und Waterloo und zog mit dem siegreichen Heer in Paris ein. Nach der Rückkehr führte er sein Studium zu Ende und begann in Aschersleben die Laufbahn eines Richters. 1827 wurde er Landgerichtsrat in Düsseldorf, in welcher Stellung er bis zu seinem frühen Tode, den am 25. August 1840 ein tückisches Nervenfieber herbeiführte, verblieb. Die Litteraturgeschichte nennt Immermann neben Heine und Platen als einen der hervorragendsten Dichter jener nachklassischen Zeit, in welcher der Einfluß der romantischen Schule vorherrschte, aber gleichzeitig in einer jüngeren Generation der Drang nach einem lebendigen Erfassen der Gegenwart und einer unmittelbaren Darstellung der Wirklichkeit sich geltend machte. In der kraftvollen Natur Immermanns lag dieser Drang lange Zeit im Kampf mit der Vorliebe für die romantischen Kunstideale, welche die Brüder Schlegel aufgestellt hatten. Aber schon in seiner Tragödie „Das Trauerspiel in Tirol“, deren Held Andreas Hofer ist, offenbarte sich der starke Wirklichkeitssinn, der ihn spater dem Zeitroman zuführte. Und in dem idyllischen Teile des Romans „Münchhausen“, der nach Immermanns Tode selbständig unter dem Titel „Der Oberhof“ erschien, hat er das Schönste geschaffen, was der poetische Realismus in jener Zeit des „Vormärz“ überhaupt erstehen sah. Die Dramen, die Immermann nach dem Muster spanischer Vorbilder schrieb, die phantastischen Märchendichtungen „Tulifäntchen“ und „Merlin“ und so vieles andere, in dem der Dichter sein reiches Talent bethätigt hat, üben heute nicht mehr eine ganz unmittelbare poetische Wirkung aus; die kerndeutschen Gestalten, die er für seine „Oberhof“-Idylle dem westfälischen Volksleben entnahm, der alte Hofschulze, der an knorrigem Wuchs den Riesen seines Eichenkamps gleicht, die „blonde Lisbeth“, deren Schicksal das eigene späte Liebesglück des Dichters widerspiegelt, wirken dagegen noch heute mit der vollen Frische des Lebens.


Karl Immermann.

An Freunde verwaister und verlassener Kinder. Unser Zeitalter ist eifrig bestrebt, das traurige Los verwaister und verlassener Kinder zu mildern, Gemeinden und Vereine sorgen für deren Verpflegung und Erziehung. In eigenartiger, menschenfreundlicher Weise dient dieser Aufgabe, wie es den Lesern der „Gartenlaube“ aus früheren Mitteilungen bekannt ist, auch die „Gesellschaft der Waisenfreunde“, die ihren Sitz in Leipzig hat und seit ihrer Begründung von uns durch Wort und That unterstützt wurde. Sie will verwaisten Kindern ein Familienheim schaffen, indem sie dieselben bei kinderlosen Ehepaaren unterbringt, die in der Lage sind, die Kleinen ohne Entgelt wie eigene Kinder zu erziehen. Bis Ende 1895 hat die Gesellschaft 78 Kinder in dieser Weise versorgt. Wie aus dem jüngsten Jahresberichte hervorgeht, befinden sich die Kinder wohl, gedeihen vortrefflich und ein großer Teil derselben wurde von den Pflegeeltern adoptiert. Kinderlose Ehepaare, die sich in geordneten finanziellen Verhältnissen befinden und Waisen zur Erziehung übernehmen wollen, haben sich wie bisher bei dem Geschäftsführer der Gesellschaft, Schuldirektor a. D. C. O. Mehner, zu melden, der gegenwärtig in Hartenstein-Stein, Sachsen, seinen Wohnsitz hat. Dieser schlägt dann auf Grund ausgefüllter Fragebogen und nach bester Ueberzeugung die passenden Kinder vor. Die Zahl der Mitglieder der Gesellschaft beträgt gegenwärtig 157; ihr Vermögen ist auf rund 4000 Mark gewachsen. Gern empfehlen wir diesen so edle Zwecke erstrebenden Verein aufs neue der Beachtung unserer Leser. *     

Das Kauen als Heilmittel. Gut gekaut ist halb verdaut – sagt ein altes Sprichwort, und dieses gehört zu den „goldenen“, die eine auf Erfahrung gestützte wahre Erkenntnis enthalten. Mit dem Kauen wird es aber bei der modernen Menschheit immer schlimmer bestellt; mürbe, fein, weich, zerkleinert kommen die Speisen auf den Tisch, und da wird man der „Arbeit“ des Kauens überhoben. Wie sehr wird dadurch die Gesundheit geschädigt! Infolge der mangelhaften Uebung und Benutzung entartet zunächst das Gebiß, die Zähne werden schwach und schlecht – und die zahnarme Menschheit kaut erst recht mangelhaft, verschlingt die weich zubereiteten Gerichte. Die Unterlassung des Kauens bringt aber noch andere Schäden mit sich. Das Kauen regt die Speicheldrüsen an; wer fleißig kaut, der erzeugt viel Speichel, und dieser ist zur Verdauung unbedingt nötig. Ein englischer Arzt, Wright, hat versuchsweise nach jeder Mahlzeit den Speichel nicht verschluckt,sondern ausgespuckt – und siehe da, in kürzester Zeit litt er an Verdauungsbeschwerden, das bekannte Sodbrennen stellte sich bei ihm ein. Die Erklärung dieser Erscheinung ist leicht – der Speichel ist alkalisch, d. h. er hat eine chemische Zusammensetzung, welche der Säure entgegenwirkt, dieselbe aufhebt oder bindet, und der Speichel ist in der Oekonomie des menschlichen Körpers berufen, dafür zu sorgen, daß der Mageninhalt nicht zu sauer wird. Bei unserer heutigen verfeinerten Lebensweise wird aber der Magen nur zu oft übersäuert und die Magensäure ist die Ursache so vieler Beschwerden, die sich als Sodbrennen, Magenschmerzcn und selbst Magenkrämpfe kund geben. Seit langer Zeit sucht man diese Erscheinungen durch Verabreichung von Heilmitteln zu beseitigen, welche die Säure binden, wie z. B. das doppeltkohlensaure Natron. Aber diese Heilmittel haben ihre Schattenseiten, die Salze greifen die Magenschleimhaut an und blähen durch Entwicklung der Kohlensäure den Magen übermäßig auf. Da ist ein Arzt, Dr. J. Bergmann (Worms), auf den Gedanken gekommen, die Uebersäuerung des Magens auf natürlichem Wege zu heilen indem er die darniederliegende Speichelabsonderung zu heben suchte. Er erreichte dies dadurch, daß er die Kranken während und nach der Mahlzeit fleißig kauen ließ. Der Erfolg blieb auch nicht aus. Durch dieses einfache Mittel wurde die Uebersäuerung des Magens behoben. Dr. Bergmann hat für derartige Magenkranke in der Kronenapotheke von S. Radlauer in Berlin besondere Kautabletten herstellen lassen, an denen man lange genug herumkauen kann. – Wir erwähnen jedoch diese Thatsache darum, um auch dem Gesunden die Wichtigkeit des Kauaktes vor Augen zu führen. Gut gekaut ist halb verdaut – das sollte jedermann beherzigen, und die Mütter sollten ihre Kinder zum fleißigen Kauen anhalten; denn es ist nicht nur ein Heilmittel gegen übermäßige Magensäure, sondern auch, was wichtiger erscheint, ein Mittel zur Erhaltung der Gesundheit der Zähne. *     

Zur rechten Stunde. (Zu dem Bilde S. 281.) Oft ist sie schon des Weges daher geschritten, und je öfter der Sohn der Wirtin ihr nachgeschaut hat, um so beglückter hat er empfunden, daß dies blitzsaubere Madel „die Rechte“ ist. Aber wenn er sich ihr näherte, wenn er versuchte, ihr von seiner Liebe zu reden, hat sie nur spöttische Reden geführt, und fast hatte er die Hoffnung aufgegeben, ihr Herz zu gewinnen. Da kam der Frühling ins Land und je reicher die Welt ihre Blütenpracht entfaltete, um so ernster wurde das Mädchen. Und heute ist sie ihm auf den lauschigen Sitz unter dem blühenden Schlehdorn gefolgt; auch im Herzen der Spröden ist es Lenz geworden, wie rings umher in der strahlenden Natur; und der sonnige Tag beut ihm die rechte Stunde für seine Werbung, sein heißes Lieben findet das rechte Wort!


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Eine Anfrage 0 Bekanntlich sammeln viele Vereine allerlei Abfälle, wie Cigarrenabschnitte, Staniolflaschenkapseln etc., zu wohlthätigen Zwecken. Sie scheinen oft in Verlegenheit zu kommen, insofern sie nicht wissen, an wen sie diese Sachen verkaufen sollen, und wenden sich an uns mit der Bitte um Angabe von Käuferadressen. Da nun diese Anfragen aus verschiedenen Gegenden Deutschlands an uns gelangen, möchten wir unsere Leser in Nord und Süd um freundliche Angaben von solchen Adressen bitten. Besten Dank im voraus!

Kolonie Friedrichsburg in Texas. Für Ihre liebenswürdige Einladung zu den Festtagen vom 8. bis 10. Mai, an welchen sie das fünfzigjährige Jubiläum der Gründung von Friedrichsburg feiern werden, danken wir Ihnen freundlichst. Wie schade, daß wir erst über den „großen Teich“ dampfen müßten, um an Ihre Festtafel zu gelangen! Für vielbeschäftigte Redakteure ist eine derartige Festfahrt doch zu weit. Aber im Geiste wollen wir, Ihr schönes Fest mitfeiern und in der alten Heimat der deutschen Brüder im fernen Amerika gedenken! Mit Freuden erkennen wir in Ihrer Einladung einen neuen Beweis, wie die „Gartenlaube nach wie vor eines der geistigen Bänder bildet, welche die Deutschen in allen Zonen als ein einheitliches Volk vereinen. Laßt uns diesseit wie jenseit des Oceans weiter in diesem Sinne wirken! Ein Glückauf! Ihrer Stadt, daß sie in Ehren und Blüte auch das tausendjährige Jubiläum ihrer Gründung feiern möge!


Inhalt: Fata Morgana. Roman von E. Werner (16. Fortsetzung). S. 277. – Der Turnkünstler. Bild. S. 277. – Zur rechten Stunde. Bild. S. 281. – Allerlei Recorde. Von Richard March. S. 282. – Anmeinen Zeisig. Gedicht von Otto Braun. S. 283. – Abessinien und seine Geschichte. Von C. Falkenhorst. S. 284. Mit Abbildungen S. 284, 285, 286 und 289. – Teckel auf Reisen. Eine Hundegeschichte von Hans Arnold. S. 287. – Blätter und Blüten: Karl Immermann. Mit Bildnis. S. 292. – An Freunde verwaister und verlassener Kinder. S. 292. – Das Kauen als Heilmittel. S. 292. – Zur rechten Stunde. S. 292. (Zu dem Bilde S. 281). – Kleiner Briefkasten. S. 292.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 17. 1896.


Ferdinand Gumbert †. Wo immer das deutsche Lied gepflegt wird – in „deutscher Männer Runde“, im Salon oder im Dachkämmerlein, auf der Wanderschaft oder hinterm Becher – überall dort sind in der Zeit ihrer Blüte Lieder des deutschen Komponisten mit Vorliebe gesungen worden, der am 5. April in seiner Vaterstadt Berlin verstorben ist. Melodiöse Frische, volkstümliche Singbarkeit war der große Vorzug der Lieder Ferdinand Gumberts, mit welchem er in verschiedenen, wie dem vielgesungenen „Spielmannslied“ Geibels, eine geschickte Verwendung von Wirkungsmitteln der italienischen Opernmusik verband. Das Berliner Kind war am 21. April 1818 geboren, widmete sich anfangs einige Zeit dem Buchhandel, wandte sich 1839 als Sänger der Bühne zu und war als solcher bis 1842, erst in Sondershausen, dann in Köln in jugendlichen Baritonrollen thätig. 1840 gab Gumbert sein erstes Liederheft heraus, dem bald andere folgten, und zwei Jahre später sagte er auf den Rat Konradin Kreutzers der Bühne Valet, um sich ganz dem musikalischen Schaffen zu widmen. Um 1860 belief sich die Zahl seiner Lieder bereits auf 300, und ein besonders beliebtes und rührsames derselben, „Ich bitt’ euch, liebe Vögelein,“ nahm der damals gefeiertste Tenorist der Pariser Großen Oper, Gustav Roger, in sein Konzertrepertoire auf. Die Wendung des musikalischen Geschmacks, die namentlich Richard Wagner bewirkte, setzte seinem Erfolg die Grenze. Er wandte sich später der Musikkritik zu; auch gab er das Buch heraus: „Musik – Gelesenes und Gesammeltes.“

Das Geschenk der Getreuen in Butzbach an den Fürsten Bismarck zum 81. Geburtstage.

Das Rauchtischchen der Getreuen Bismarcks in Butzbach. Stiller als im vorigen Jahre verfloß diesmal der 1. April im Sachsenwalde. Kein Wunder, denn im verflossenen Frühling feierte der erste Reichskanzler seinen achtzigsten Geburtstag, und es ist ja Brauch und Sitte, daß die vollen Zehner in der Zahl der Lebensjahre durch besondere Feste ausgezeichnet werden. Aber auch am heurigen einundachtzigsten Geburtstage empfing Bismarck eine Fülle von Glückwünschen und Geschenken, zahllose Beweise von Dank und Liebe, und die schönsten darunter waren zweifellos diejenigen, die aus den breiten Schichten des deutschen Volkes kamen. Sehr originell und zugleich ungemein sinnig war die Gabe, mit welcher die Getreuen aus Butzbach, der gewerbefleißigen oberhessischen Stadt, den greisen Fürsten überraschten. Schon im vorigen Jahre hatten sie ihm ein Paar „Geburtstagsstiefeln“ aus dem berühmten Butzbacher Leder verehrt, heute brachten sie ein Rauchtischchen dar, das die obenstehende Abbildung wiedergibt. Aus einem Felsboden streben sieben verschiedene Stämme empor, die mit einem starken Stahlbande umfaßt werden. Eine Rosenranke aus dem Butzbacher Bismarckshaine umschlingt die Stämme, auf deren Wipfeln die kunstvoll gearbeitete Tischplatte ruht. Darauf sehen wir das nötige Rauchzeug: einen Fidibusbehälter in der Form des Butzbacher Wappenturmes; als Feuerzeugbehälter dient eine Nachbildung der vorjährigen „Geburtstagsstiefeln“, während eine Wichsschale mit Auftragbürstchen den Aschenbecher mit Lichthalter darstellt. Blätterförmige Lederornamente vervollständigen den Schmuck der Platte. Sehr gelungen sind die gereimten Widmungen, mit denen einzelne Teile des Rauchtischchens versehen sind. Die sieben Stämme des Tischgestells sollen die sieben deutschen Stämme versinnbildlichen, und dementsprechend trägt das Stahlband, durch das sie zusammengehalten werden, folgende Inschrift:

„Wie man uns, des Waldes Sprossen,
Hier mit starrem Ring umspannt,
Schlang um trutz’ge deutsche Stämme
Deine Kraft ein Eisenband.“

Mit einem köstlichen Vers ist die Wichsschale umrahmt:

„Daß deine ‚Wichse‘ gut
Und lang ihr Glanz sich hält,
Darob ging längst schon auf
Ein Licht der ganzen Welt.“

Ebenso zutreffend ist die Inschrift auf dem Tabaksbeutel, der als eine seidene Schlafmütze am Rauchtischchen herunterhängt:

„An unsre Stärke hat man erst geglaubt,
Seit du die Michelsmütz’ uns zogst vom Haupt.“

Zu bemerken ist noch, daß dieses sinnige Rauchtischchen bis auf die Holzschnitzerei und Gravierung von den Getreuen in Butzbach selbst verfertigt wurde. Und wer sind diese Getreuen? Im Jahre 1895, bei Gelegenheit des 80. Geburtstages des Altreichskanzlers, vereinigte der Realschuldirektor Jäger die Bismarckfreunde in Butzbach und regte an, dem Fürsten zu seinem Geburtstage ein Geschenk zu übersenden. Es fand zu diesem Zwecke eine engere Vereinigung statt, in der außer Lehrern auch Handwerker, wie ein Spengler und ein Maurer, vertreten sind. Diese Getreuen haben die Pläne zu den bisherigen Geburtstagsgeschenken entworfen und für deren Ausführung gesorgt.

Der gedeckte Spielplatz in Würzburg. In dem Artikel „Ballhäuser und Spielhallen“ (vergl. Jahrgang 1894, S. 475 der „Gartenlaube“) haben wir, an Sitten der guten alten Zeit anknüpfend, darauf hingewiesen, wie nützlich sich in unserer Zeit gedeckte Hallen für allerlei Bewegungsspiele erweisen würden, damit diese Geist und Körper erfrischende Beschäftigung nicht zu sehr vom Wetter abhängig bleibe. Wir haben damals „Ballhäuser“, das heißt gedeckte Spielplätze, aus alter Zeit unseren Lesern auch im Bilde vorgeführt, heute können wir ihnen eine solche Spielhalle aus der Neuzeit bieten. Unser Bildchen zeigt den gedeckten Lawn-Tennis-Spielplatz in Würzburg, der während des Winters und mitunter auch am Abend bei künstlicher Beleuchtung eifrig benutzt wird. Die geräumige Halle ist jedoch ursprünglich nicht für Spielzwecke erbaut worden. Es ist ein alter verlassener Bahnhof, dessen Boden nunmehr nicht mit eisernen Schienengeleisen, sondern mit weißen Oelfarbenlinien bedeckt ist, die den Spielplan abgrenzen, während auf dem Perron Radfahrer in ihren Künsten sich üben. Wie die Zeitschrift „Sport im Bild“ mitteilt, besteht der Spielboden aus hartgestampftem Lehm, der von Zeit zu Zeit gefegt und des Staubes wegen begossen werden muß, sonst aber genau die Eigenschaften eines Hartplatzes besitzt. Es dürfte wenige Städte geben, die sich einer solchen Spielhalle erfreuen. Vielleicht wirkt das Beispiel Würzburgs anregend.

Der gedeckte Spielplatz in Würzburg.
Nach einer Photographie gezeichnet von R. E. Kepler.

[292 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]