Die Gartenlaube (1896)/Heft 30

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 30.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

     (6. Fortsetzung.)

Während sich der alte Simmerauer und sein Sohn wieder der Arbeit zuwandten, erschien Mutter Katherl unter der Hausthür, und an ihr vorüber stürmten die beiden Kinder ins Freie; trotz der ärmlichen Kleidung, die sie trugen, sahen sie reinlich aus, so gründlich gewaschen! Dem Buben waren die feuchten Haare mit der Bürste glatt an den Kopf gestrichen, und dem Dirnlein stand ein kurzes, fingerdickes Zöpfchen steif vom Nacken weg. In den Händchen hielten sie große Butterbrote, welche rings um den ganzen Laib geschnitten, aber zur Hälfte schon in den kleinen Mäulchen verschwunden waren. Während das Bürschlein sich jubelnd auf die Erde kauerte, um eine der weißen Eisscheiben loszubrechen und als „Zuckerl“ auf das Butterbrot zu legen – ein Vorhaben, welches Mutter Katherl durch einen Jammerschrei noch rechtzeitig verhinderte – hängte sich das Dirnlein an die blaue Leinwandhose des Großvaters.

„Ahnlvater! Heut’ nacht hat mir was ’träumt!“ sagte das Kind. „Ganz was Schön’s!“

„Geh!“ Michel beugte sich nieder und wischte dem Dirnlein mit seiner zitternden Hand die Brotkrumen von den Wangen. „Ja was denn, Zenzerl? Geh, verzähl’ mir’s!“

„Feiertag is g’wesen, und eine schöne Musi haben wir g’hört…“

„Ja was D’ sagst! Und wo is denn die Musi g’wesen? Drunt’ im Wirtshaus, gelt?“

Zenzerl schüttelte das blonde Köpfchen und konnte nicht gleich sprechen, denn sie hatte von ihrem Butterbrot ein großes Stück abgebissen, und das mußte sie erst kauen. „Na!“ sagte sie und


Photographie im Verlag von Braun, Clément & Cie. in Dornach.
Am Strand.
Nach dem Gemälde von G. Haquette.

[502] schluckte. „G’sehen hab’ ich’s net, die Musi! Aber g’hört hab’ ich s’! Und allweil hab’ ich in d’ Höh ’naufschauen müssen … ja … weil s’ in die Lüft’ droben g’wesen is, die Musi.“

„Aber so was! In die Lüft’ droben?“ staunte Michel. „Du, Zenzerl, paß auf … allweil mein’ ich, da hast die lieben Engerln singen hören!“ Das Dirnlein machte ein ernstes Gesichtchen und besann sich. „Na! G’sungen haben s’ net! Trumpeten haben s’ blasen! … Können denn die lieben Engerln Trumpeten blasen, sag’?“

Beim Hackstock verstummten die Beilschläge, und Vroni blickte über die Schulter nach dem Kinde.

„Aber g’wiß!“ beteuerte der Simmerauer. „Alle Instramenter können s’ blasen! Und Harpfen zupfen, ja, und Zithern schlagen! Aber geh, verzähl’, wie is’ denn nachher weiter g’wesen?“

„So viel schön is’ g’wesen, Ahnlvater! Soooo viel schön! Und zur Kirchen hat man g’läut’, und der Pepperl hat sein neu’s Höserl anziehen dürfen und ich mein rot’s Röckerl, mein rot’s! Und auf Mittag hat’s Dampfnudeln ’geben, hat mir ’träumt, ja! … Gelt, Ahnlvater, so ein schöner Traum muß eintreffen?“

„Ja, mein Herzerl, ja! Sei nur schön brav! Da könnt’s schon möglich sein, daß am Sonntag ein bißl was eintrifft …“ lächelnd kniff der Simmerauer das Dirnlein in das kleine runde Kinn, „… mit die Dampfnudeln, ja!“

„Und d’ Engerln müssen blasen dazu!“

„’s sell weiß ich net, mein Kindl! Allweil’, weißt, sind d’ Engerln net aufg’legt zum Trumpetenblasen. Aber jetzt sei schön z’frieden … und Du, Pepperl, da komm her! Jetzt spazierts halt miteinander schön ’nüber in’ Purtschellerwald …“

„In’ Wald ’nüber? Na!“ fiel das Bürschlein dem Großvater in die Rede und strich die fetten Fingerchen, aus denen das Butterbrot verschwunden war, ein paarmal über das Höschen hin und her. „In’ Wald ’nüber mag ich nimmer!“

„Ja warum denn net?“

„Weil er gar so viel grantig is!“

„Was? Grantig? Der Wald?“ fragte Michel, den bei diesem Kinderwort eine dunkle Sorge zu beschleichen schien.

„Ja! Gestern hat er g’schrieen! Ganz laut hat er g’schrieen! Du! Da bin ich erschrocken!“

„Aber geh, Du Dapperl!“ Dem Alten versagte fast die Stimme. „Der Wald! Der kann ja doch net schreien!“

„Aber ja. Ganz ein groß Maul hat er aufg’rissen, im Boden drin! Und g’schrieen hat er! Huhuu hat er g’schrieen, wie der Holimann! Den Wald, den mag ich nimmer, na!“

Michel wußte kein Wort zu sagen, und dieses Schweigen schien Zenzerl als einen Zweifel zu deuten, denn sie bestätigte allen Ernstes: „Ja, Ahnlvater! So hat er’s g’macht!“ Sie sperrte das kleine rosige Mäulchen auf, so weit sie konnte – und dann lachte sie. „Aber ich hab’ mich gar net g’forchten, na! Bloß der Pepperl! Der is g’laufen, was er laufen hat können! Weißt, der thut sich halt noch fürchten, weil er so ein gar kleins Büberl is!“ Freilich, der Pepperl war ja doch um ganze zehn Monate jünger als sie! „Ich hab’ mir halt ’denkt, daß er Hunger hat, der Wald, weil er sein Schnaberl gar so weit aufreißen thut!“

Der Simmerauer hatte die Arme um die beiden Blondköpfe gelegt und tauschte einen scheuen Blick mit Mutter Katherl, welche leise zu ihm sagte: „Gelt, Vater! Allweil hab’ ich’s schon g’meint: der Wald is nimmer sicher! Laß mir nur ja die Kinder nimmer in’ Wald ’nein!“

„Na! Na! Nur kein Schrittl nimmer in’ Wald ’nein!“

„Ahnlvater,“ fragte das Bürschlein, „dürfen wir net lieber die Zickizotterln hüten auf der Wiesen droben? Schau nur, so viel schön thut d’ Sonn da droben scheinen!“

„Ja, mein Schatzerl, ja! … Geh, Katherl, laß ihnen die Zickizotterln aus ’m Stall! Ich muß ja zur Arbeit schauen.“

Mit lautem Jubel rannten die Kinder der Großmutter voran und verschwanden in der Stallthüre. Lachend und kreischend kamen sie wieder zum Vorschein, jedes mit einer Ziege am Strick, und das ging nun über den Hof und hulterdiwultri über die Wiese hinauf – bald zerrten die Kinder die beiden bockenden Ziegen hinter sich her, bald wieder schleiften die trippelnden Tiere ihre Hüter durch die Bodenfurchen und über die Maulwurfshügel, daß die zwei lustigen Knirpslein unter Lachen und Jauchzen einen Purzelbaum um den anderen schlugen.

Während von der sonnigen Wiesenhöhe die Stimmchen der Kinder verschwommen herunterklangen, nahm die Arbeit im Hof des Simmerauer unter sparsamen Worten ihren treibenden Gang.

Mutter Katherl schleppte die Ruten, welche Vroni geputzt hatte, durch den Garten zum Verhau. Hier waren Michel und Mathes bei der Arbeit; der Alte hielt die hohen Pfosten fest, auf die der Bursche, welcher oben auf der Böschung stand, mit der Holzkeule losdrosch. Als die Balken eingeschlagen waren, kam Mathes herunter, und nun begannen sie die Ruten durcheinanderzuflechten und die Hohlräume dahinter mit Steinen auszufüllen.

So lange die Mutter in der Nähe stand, schwiegen die beiden; kaum aber war sie gegangen, um neue Ruten zu holen, so kam aus dem bedrückten Herzen des Alten mit langsamen Worten immer wieder eine Sorge heraus, die der Junge mit seinem ruhigen Trost auch immer wieder zu beschwichtigen wußte. Um den Vater von diesem nagenden Kummer abzulenken, begann Mathes über allerlei fernliegende Dinge zu sprechen. Und einmal, als er eine Weile geschwiegen hatte, fragte er unvermittelt: „Du, Vater?“

„Ja?“

„Was ich lang’ schon fragen hab’ wollen … neulich am Abend, wie ich beim Wagner drunten war und unsere Axten neu stielen hab’ lassen, da sind ein paar Bauern in der Werkstatt g’wesen … ja … und da haben s’ so g’red’t miteinander … vom Purtscheller …“ Mathes mußte schlucken und konnte nicht weiter reden.

„Vom Herrn Purtscheller? Was denn?“

„Daß … daß er sich schlecht Wirtschaften thät und z’viel brauchen … und daß der Purtschellerhof lang’ nimmer stünd’ wie sonst. Is da was d’ran, Vater?“

„Ah na! ’s sell glaub’ ich doch net! Weißt ja doch, wie d’ Leut’ sind! Allweil reden s’ mehr, als wie s’ verantwortigen können! So ein g’wachsener und g’scheiter Mensch wie der Herr Purtscheller wird ja doch sein’ Verstand bei einander haben und sein nobels Sach’ auch schön in der Ordnung halten. Weißt, ich hab’ selber schon ein bißl was reden hören … aber allweil hab’ ich mich g’ärgert drüber. Die unguten Leut’ sind ihm halt neidisch um sein Glück, weißt!“ Michel bog eine Rute über das Knie, um sie geschmeidiger zu machen. „Aber ich vergunn’s ihm! Ja! Schon der Linerl z’lieb!“ Er begann die Rute einzuflechten. „Freilich, brauchen thut er viel! Ein grausam’s Geld! Ja! Das hat er mir selber g’sagt. Aber ich kann mir doch net denken, daß ein verstandsamer Mensch tiefer aus ’m Haferl schöpft, als der Boden is … oder es müßt’ einer gleich so ein närrischer Lüftikus sein wie der Daxen-Schorschl! Na, na, so was glaub’ ich doch net vom Herrn Purtscheller!“ Michel griff nach einer neuen Rute. „Na, na! Dem sein Haus und Hof steht fest … unter dem lauft der Boden net davon! … Eins freilich, eins will mir gar net g’fallen …“

„Was?“

„Daß er so viel gachzornig is, wie seine Dienstleut’ verzählen … und daß er den ärgsten Unmut allweil an der Linerl auslaßt. Na! Das g’fallt mir gar net! Hast ihn ja neulich reden hören! Krank, meint er allweil, krank wär’ ’s Linerl! Ja, mein! Kümmern thut sie sich halt! Die hat so ein Blümerlg’müt, so ein feins, weißt … und vertragt halt solchene Schimpfereien net. Und allweil schlechter schaut s’ aus … thätst es schier gar nimmer erkennen, ja!“

Mathes gab keine Antwort. Während er eine störrische Rute hinter den Pfosten preßte, fielen ihm ein paar rote Tropfen von der Hand. Das gewahrte der Simmerauer. „Hast Dich g’rissen?“

„Ja! Ein bißl! Da an der Ruten!“ Mathes schleuderte das Blut von der Hand, fuhr mit der Zunge über die Wunde und arbeitete weiter.

Immer höher stieg die Sonne, und eine Stnnde nach der anderen verrann. Um zehn Uhr ging Mutter Katherl ins Haus und holte den Milchkrug. Das erste Glas reichte sie der Tochter. Und dazu fragte sie: „Madl? Warum bist denn gar so stad heut’? Was hast denn?“

„Ich? Warum? Was soll ich denn haben? Nix!“ Vroni griff nach dem Glas und leerte es bis auf den letzten Tropfen. „Vergelt’s Gott!“ Lächelnd nickte sie der Mutter zu und nahm die Arbeit wieder auf.

Als Katherl in den Garten zu den Männern ging, fuhr plötzlich, mitten in dieser schweigsamen, sonnigen Luftstille, ein sausender Windstoß über die Simmerau.

„Was is denn jetzt das?“ fragte Michel. „Wo kommt denn der Wind so gahlings her?“

Alle blickten sie zu dem klaren, blauen Himmel auf, an dem [503] nicht ein einziges Wölklein schwamm. Und nun hörten sie über die Wiesen her, aus der Gegend des Purtschellerwaldes, ein klapperndes Rauschen, als wäre irgendwo ein riesiger Haufen Schindeln auseinandergefallen. Und im gleichen Augenblick tönten von der sonnigen Höhe herunter die schreienden Stimmchen der Kinder: „Da schau! Der Wald! O jegerl! Der Wald lauft davon!“

Mathes kletterte über den Verhau hinauf, Michel machte humpelnd einen Umweg, um die Böschung zu ersteigen, und Vroni kam aus dem Hof gerannt, während Mutter Katherl, die Milch verschüttend, ihrem Manne nachlief und im ersten Schreck das Gesicht bekreuzte. Sie spähten nach dem Gehölz hinüber, und während ein zweiter Windstoß ihnen das Haar und die Kleider zauste, sahen sie, daß ein großes Stück des Waldes in gleitender Bewegung war. Die grünen Wipfel schwankten durcheinander, als wären all die hundert Bäume betrunken. Aber die Ferne ließ diesen Vorgang klein und beinahe harmlos erscheinen. Und plötzlich war die grüne, laufende Waldscholle verschwunden, und an ihrer Stelle dehnte sich ein brauner Fleck – als hätte eine unsichtbare Riesenfaust dieses Stück Wald wie ein Spielzeug in eine braune Holzschachtel eingestrichen und den Deckel zugeklappt.

Wieder tönte jenes prasselnde Rauschen und endete in einem dumpfen, nachdröhnenden Schlag, wie er beim Sturz einer schweren Lawine zu hören ist. Dann war Stille.

Die vier Menschen standen mit erblaßten Gesichtern. Ihre ersten Blicke galten dem Haus und zugleich den Kindern – aber das kleine Haus lag ruhig in der Sonne, und die beiden Kinder standen sorglos auf der Wiese dort oben und schwatzten mit ihren hellen, dünnen Stimmchen.

Michel sprach das erste Wort: „Den Wald hat er schreien lassen, die unschuldigen Kinder hat er g’warnt … und da soll mir noch einer sagen, daß er auf seine Leut’ net Obacht giebt, der da droben!“ Er faßte die Hand seines zitternden Weibes und streichelte sie. „Thu Dich net sorgen, Mutterl! Der da droben hilft uns schon! … Komm, gehn wir wieder an d’ Arbeit!“ Hand in Hand stiegen die beiden Alten über die Böschung hinunter.

Mathes stand noch immer auf dem gleichen Fleck und starrte gegen den Wald hinüber. Dann atmete er tief auf. „Vroni!“ sagte er und deutete mit dem Rutenmesser, das er in der Hand hielt, „da is ein schöner Brocken Purtschellergut ins Wasser ’nunterg’rutscht! … Das druckt ihr wieder ein’ Kummer auf d’ Seel!“

Vroni nickte. „Ja, Mathes! Sie erbarmt mich! … Komm!“

Wortlos kehrten sie in den Hof zurück. Hier nahm der Simmerauer gerade ein Bündel Ruten auf die Schulter, während Mutter Katherl das Milchglas suchte – sie wußte nicht mehr, wo sie es im Schreck hingestellt hatte.

Niemand sprach. Sie alle waren von banger Sorge bedrückt, doch keines wagte von ihr zu reden. Kaum daß sie manchmal mit einem scheu verstohlenen Blick die Mauern des Hauses streiften. Denn seit Wochen war es immer so gewesen: wenn irgendwo auf dem Hang des laufenden Berges ein großer „Brocken“ in Bewegung geraten war, dann hatten sie es auch in der Simmerau zu spüren bekommen. Daran dachten sie alle und deshalb verloren sie den Kopf nicht, als es kam. Im Innern der Erde ein matter, plumpsender Hall – dann rann ein Zittern durch den Grund, auf dem sie standen.

„Mutter!“ stammelte der Simmerauer, umklammerte den Arm seines Weibes und schrie im gleichen Atemzug: „Jesus Maria! Die Kuh is unter Dach!“

Vroni und Mathes warfen die Werkzeuge weg und rannten zur Stallthür.

„Bleib draußen!“ keuchte Mathes, stieß die Schwester mit der Faust von der Thüre zurück und sprang in den matt erhellten Raum. Brüllend zerrte die Kuh an der Kette, und so konnte Mathes die Ringe nicht lösen. Von der niederen Decke fiel ihm Mörtel auf den Kopf, während er mit Anspannung aller Kraft den eisernen Bolzen, an dem die Kette hing, aus dem Futterbarren riß. Schnaubend, mit gestrecktem Schweif und die klirrende Kette schleifend, galoppierte das befreite Tier zum Stall hinaus, rannte gegen den Brunnen an, daß der Schwengel brach, und tollte in bockenden Sprüngen über die Wiese.

Mathes taumelte, als er über die Schwelle ins Freie sprang – denn wieder zitterte der Boden. Krachend zersplitterte ein Riegel des den Grund durchziehenden Balkenrostes, und während sich die beiden Stümpfe aus dem Boden hoben, kam die ganze Erde rings um das Haus her in träge Bewegung. Ein paar schwere Steine rollten vom Schindeldach der Scheune herunter, und gackernd flogen überall die Hühner auf.

„Kinder! Da her! Zu mir her!“ kreischte Michel mit bleichen Lippen. Als Mathes und Vroni bei ihm standen, wurde er ruhiger und in diesem Augenblick des Schweigens konnte man hören, daß die Kleinen auf der Wiese droben lustig sangen.

Mutter Katherl preßte die verschlungenen Hände an den Mund.

„Jesus Maria! Jesus Maria!“

„Macht nix! Na, Mutterl, macht nix!“ stammelte der Simmerauer. „Es is ja net ’s erste Mal! Gleich wird’s wieder aus sein! Nur net verzagen! Und ’naufschreien halt … ’naufschreien, daß er uns hören muß!“ Er faltete die Hände, hob sie über den Kopf empor und schrie: „Allgütiger Du im Himmel droben! Thu net auslassen, sag’ ich … nur jetzt net auslassen um Gott’swillen …“ Zähren erstickten die Stimme des Greises.

Ein zweiter Balken des Rostes sprang und bäumte sich knirschend, aus dem Garten scholl ein schwerer, dumpfer Klatsch, Schlamm und Wasser spritzte in dicken Strahlen von der Böschung über den Hofraum – dann war alles wieder ruhig, nur ein paar losgewordene Schindeln glitten noch mit leisem Rascheln über das Scheunendach herunter.

„Allweil steht’s noch, unser Häusl. Er hat schon wieder g’holfen, ja! Auf den is halt Verlaß!“ sagte Michel mit erloschener Stimme und wischte sich den Schlamm ab, der ihm ins Gesicht gespritzt war. „Wenn mit’ drin ein Loch is, freilich, da muß was ’nunterfallen … das kann er selber net anders machen! Aber oben halt er fest! Na, da laßt er net aus!“

Während Vroni die Mutter, der vor Aufregung, Schreck und Sorge völlig übel war, zu einem Holzblock führte, wollte Mathes in den Garten eilen, um bei der Böschung nachzusehen. Aber Michel hielt ihn am Aermel fest. „Z’erst ein Vergeltsgott sagen, Mathes! Er hat’s verdient um uns!“ Mit lauten Stimmen sprachen sie ein Vaterunser und den Glauben an Gott.

„So! Und jetzt speggalieren wir halt, wie’s ausschaut! Viel, mein’ ich, is net passiert! Und Du, Vronerl, sei so gut, lauf ’nauf und schau, was die klein’ Hascherln machen!“

„Die singen ja, Vater!“ sagte Vroni, und man merkte es an ihrer Stimme, daß ihr das Herz bis an den Hals heraufschlug. „Hörst es net?“

Der Simmerauer lauschte; und obwohl sein Gesicht so weiß wie Kalk und seine Augen voll Wasser waren, glitt ihm doch ein Lächeln über den farblosen Mund. „Da schau einer an! Die singen! Ja! Die singen! … Gott sei Dank! Die haben wieder gar nix g’merkt!“

Während Michel mit Vroni und Mathes unter langsamen Worten im Hof umherging, um den Schaden zu besehen, den der Erdrutsch angerichtet hatte, las Mutter Katherl die Scherben des Milchkruges auf, den sie im Schreck hatte fallen lassen.

„Jetzt is der auch hin! Der schöne Krug!“ seufzte sie, und ein paar Zähren tropften ihr in die Schürze, in welche sie die Scherben einsammelte, als wäre noch Wert an diesen Trümmern.

Das erregte Gackern der Hühner begann allmählich zu verstummen, und über dem Rande der Böschung erschien die Kuh mit der baumelnden Kette. Sie brummte ihren tiefsten Ton, sah mit den Glotzaugen verwundert über Haus und Garten nieder und ließ in wiedergefundener Seelenruhe die zottige Schweifquaste pendeln.

Im Hofe fand der Simmerauer den halben Balkenrost aus den Fugen getrieben und verschoben; neben den zwei zersplitterten Balken waren ein paar andere krumm gebogen und fast geknickt.

„Macht nix! Wenn wir fleißig dazuschauen, haben wir den Schaden in zwei, drei Tag’ wieder gut g’macht. Gelt, Kinder, helfen wir halt wieder ordentlich z’samm’!“

„Ja, Vater!“ sagte Vroni, während Mathes schweigend nickte.

Nun gingen sie hinter das Haus und zur Böschung. Da sah es noch schlimmer aus. Ein Wust von Erde und Felsbrocken war über den Garten niedergebrochen und hatte den schweren Verhau zu Boden gedrückt wie ein Kartenblatt.

„Müssen wir halt ein’ andern machen! Zeit haben wir ja! Acht Tag’, mein’ ich, giebt er jetzt doch wieder ein’ Fried’, der Berg!“ Als Michel die Bruchstelle näher untersuchte, gewahrte er neben dem Haufen des niedergebrochenen Schuttes einen schmalen, frischen Erdstreif, der sich wie ein Band am Fuße der unversehrt gebliebenen Böschung entlang zog. Diese Entdeckung brachte den Alten nun doch aus seiner vertrauenden Ruhe und ging ihm ans Herz. Mit den gespreizten Fingern der zitternden Hand maß er

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Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0504.jpg

Copyright 1895 by Franz Hanfstaengl in München.
Der junge Dürer kommt zu Wohlgemuth in die Lehre.
Nach dem Gemälde von F. Bayerlein.

[505] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [506] die Breite des Bandes und sagte mit schwankender Stimme: „Ein’ halben Schuh sitzen wir wieder tiefer drunt’!“

Schwer atmend richtete er sich auf und fuhr sich mit den Fingern ins Gesicht, als hätte er Haare über den Augen liegen.

„Mathes! Da müssen mir uns tummeln, daß wir den Verhau wieder in d’ Höh’ bringen. Sonst rutscht uns noch ein fester Brocken über ’n Garten ’rein! Ich mein’, wir fangen gleich an! Geh, Madl, sei so gut und hol’ mir d’ Axt!“

„Ja, Vater!“ Vroni eilte gegen den Hof zurück, doch mit ersticktem Schrei verhielt sie den Fuß und starrte erschrocken auf die Rückwand des Hauses.

Michel und Mathes blickten auf. „Was is denn, Madl?“

„Vaterl! Da schau! Unser Haus!“

Die beiden kamen gelaufen, und nun sahen sie, daß neben Vronis Kammerfenster ein schräg verlaufender Riß die Mauer von der Erde bis über die Fensterhöhe durchzog. Mathes nickte wortlos vor sich hin, während der Simmerauer wie versteinert dastand.

Der Alte hatte sich in den vergangenen Minuten nur um Hof und Garten gesorgt – daß aber auch das Haus, das all diese letzten, bösen Wochen glücklich überdauerte, bei diesem leichten, nur wenige Sekunden währenden Erdrutsch einen ernstlichen Schaden davongetragen haben könnte, daran hatte er in seinem Glauben und Vertrauen noch gar nicht gedacht. Und da traf ihn jetzt die schlimme Entdeckung um so härter.

Er streckte die zitternden Hände nach der Mauer und tastete an den Rändern des entzweigerissenen Mörtels umher, während ihm schwere Thränen über die zuckenden Wangen kollerten. Dann sah er zu seinem Buben auf: „Da schau, Mathes! Da hast jetzt Deine Mäus!“

„Aber geh! Wegen dem bißl Riß da! Deswegen brauchst Dich noch lang net sorgen!“ sagte Mathes und legte dem Vater den Arm um die Schulter. „Ich glaub’ überhaupt gar net, daß das jetzt grad’ g’schehen is! So was passiert ja in alte Häuser gar oft, daß ein Riß durch d’ Mauer aufgeht …“

„Net so laut,“ fiel Vroni flüsternd ein, „damit’s d’ Mutter net hört!“

„Mein, erfahren muß sie’s ja doch!“ sagte der Simmerauer, aber auch er dämpfte unwillkürlich die Stimme. „Kannst ja heut’ in der Nacht nimmer schlafen in Deiner Kammer! Mußt Dich ja in d’ Stuben ’nüberlegen. Das kann doch net g’schehen, ohne daß d’ Mutter was merkt davon.“ Wieder starrte er die Mauer an, atmete schwer und fragte: „Was hast g’meint, Mathes?“

„Daß der Riß gar kein neuer net is! Der kann schon lang in der Mauer drin g’steckt sein und hat dem Häusl gar nix g’schadt. Und jetzt, freilich, bei dem bißl Rumpler hat halt auswendig der Mörtel auch nach’geben!“ Mathes trat zur Mauer und begann den Riß genau zu untersuchen. „Es is schon so! Ein alter Riß! Ja, Vater, da kannst Dich verlassen d’rauf! Als Maurer muß ich doch so was verstehen!“

„Ja, ja! Als Maurer mußt Du’s wissen! Da muß ich’s glauben!“ Michel wandte sich zu Vroni. „Was sagst, Madl … so ein Glück, daß der Mathes d’ Maurerei g’lernt hat … jetzt kann er uns helfen. Denn ich, meiner Seel’, ich wüßt’ mir jetzt kein’ Rat net! Und g’schehen muß doch was! Gleich auf der Stell’! So kann man doch die arme Mauer net stehn lassen! … Was meinst denn, Bub’?“

Mathes hatte seine Meinung schon fertig: der schlechte Mörtel wird abgeschlagen, mit eisernen Schlaudern wird der „alte Riß“ zusammengezogen und über alles wird dann ein neuer Verputz gelegt. „Das mach’ ich Dir so fein, Vater, als ob in der Mauer gar nie ein Riß net g’wesen wär’!“

„Ja, ja! Vergelt’s Gott, mein lieber Bub’!“ nickte Michel. „Aber der Fleck, freilich, der bleibt! So schön und sauber schaut sich d’ Mauer nimmer an wie sonst!“

„Aber na, Vater! Da thu ich Dir die ganze Wandseiten überweißen – und bis der Kalch auf’trücknet is, merkst kein Fleckl nimmer! Wie der Schnee muß sich d’ Mauer anschauen!“

„So? Meinst?“

„Ja, Vater!“ Mathes zog den Maßstab hervor, den er in der Messertasche trug, und nahm an der Mauer die Maße ab. „Vier eiserne Schlauderbänder brauchen wir, anderthalb Meter, und vier g’sunde Schrauben dazu, jede ein’ halben Meter lang, mit feste Muttern.“

„Mit feste Muttern, ja!“ wiederholte der Simmerauer. „Fangen wir nur gleich an! ’s Häusl is d’ Hauptsach’, weißt! Da muß der Hof und der Garten z’ruckstehn. Fangen wir gleich an … ich rühr’ derweil ein’ Kalch ein … Du, Mathes, packst d’ Mauer an … und ’s Madl lauft in d’ Schmieden und laßt die Schlaudern machen! Hast Dir ’s Maß ordentlich g’merkt, Vronerl?“

„G’nau, Vater!“

„So lauf, Madl, lauf, was D’ laufen kannst!“

Vroni rannte gegen den Hof; aber schon nach einigen Sprüngen hielt sie wieder inne und, das Gesicht von heißer Röte übergossen, blickte sie ratlos auf den Vater. Der Simmerauer meinte diesen Blick zu verstehen. „Gelt, ja? Grad’ hab’ ich mir’s selber ’denkt. Ein stark’s Madl bist freilich … aber so viel Eisen kannst doch net ’raufschleppen über den ganzen Berg!“

Vroni schwieg und senkte die Augen. Da sagte Mathes: „Ja, Vater, laß mich ’nunter! Es is besser, sie bleibt daheim!“ Als er an Vroni vorüberging, legte er die Hand auf ihre Schulter und flüsterte: „Hast recht! Denk’ an unser’ Schwester!“

Vroni furchte die Brauen und es schien ihr ein trotziges Wort auf der Zunge zu liegen; doch als ihre Augen dem ernsten Blick des Bruders begegneten, nickte sie und schwieg.

Ohne Hut und Joppe, barfuß, eilte Mathes davon, während ihm der Vater nachrief: „Vergiß net … recht feste Muttern! Wenn d’ Mutter net gut is, taugt ja die ganze Schrauben nix!“ Nach dieser Mahnung fiel dem Alten gleich wieder eine neue Sorge aufs Herz. „Mar’und Josef! Zu so einer wichtigen Arbeit g’höret halt jetzt ein richtiger Schmied! Aber auf so ein’ Lüftikus, wie der Daxen-Schorschl, auf so ein’ is ja kein Verlaß! Mar’ und Josef! Was der am End’ für Schlaudern macht! Daß jede gleich wieder reißt beim ersten Druckerl!“

„Sorg’ Dich net, Vater!“ sagte Vroni mit seltsam erregter Stimme. „Soviel hab’ ich gestern g’merkt … sein’ Sach’ versteht er, der Schorschl, wenn er mag.“

„Wenn er mag! Ja! Aber mögen thut er net oft! Und wer weiß, ob er daheim is! Leicht hockt er wieder im Wirtshaus und bichelt! Oder is sonstwo auf der lüftigen Fahrt … der liebe Gott mag wissen, wo!“

„Ja, kannst recht haben!“ sagte Vroni hart. Und sie dachte wohl an die Sorge ihres Vaters, als sie leise hinzufügte: „Aber hoffen will ich’s net!“ Dann richtete sie sich auf. „Sei so gut und weis’ mir d’ Arbeit zu! Wo fangen wir denn an?“

„Komm, hilf mir die Kalchgrub’ aufdecken … wenn s’ net schon verschütt’ is!“

Als sie durch den Hof gingen, blickte Michel über das Gehänge hinunter und rief: „Schau nur an! Den halben Berg is er schon drunten!“ Der väterliche Stolz hauchte dem Alten ein bißchen Farbe über das bleiche, erschöpfte Gesicht. „Ja, mein Mathes! Der is halt gut schicken, wenn’s pressiert! Auf den is halt Verlaß! … Vronerl! So ein’ solltest einmal kriegen!“

Sie standen vor der Kalkgrube. Und während Vroni sich schweigend bückte und mit Anstrengung eine der verquollenen und von der Erde zusammengepreßten Bohlen zu lockern suchte, blickte Michel noch immer seinem Buben nach und nickte um so fröhlicher vor sich hin, je längere Sprünge Mathes dort unten machte. –

Wer gemächlichen Schrittes ging, hatte von der Simmerau bis ins Dorf hinunter eine gute halbe Stunde zu marschieren.

Doch Mathes brauchte keine zehn Minuten. Freilich, als er aus dem letzten Wäldchen auf die Thalwiesen heraustrat, war er so atemlos, daß er ein paar Augenblicke rasten mußte.

Gerade gegenüber, auf dem andern Ufer des Baches, lag der stolze Purtschellerhof, an dem die Dorfstraße vorüberführte.

Mathes hing, solange er rastete, mit spähenden Augen an dem stattlichen Haus. Dann schüttelte er den Kopf, trocknete mit dem Handrücken die nasse Stirn und wandte sich ab.

Er folgte der Straße nicht, obwohl sie der nächste Weg zur Schmiede gewesen wäre, sondern schwang sich über die Gartenzäune und eilte hinter den Häusern an den Hecken entlang. Schließlich fand er einen Fußpfad, der in der Nähe der Schmiede auf den Marktplatz mündete, und schon wollte er auf die Straße treten, doch erschrocken fuhr er zurück und verbarg sich hinter den halbentlaubten Büschen.

Draußen auf der Straße ging die Purtschellerin vorüber, mit ihrem Bübchen plaudernd, das sie auf den Armen trug.

Mathes regte sich nicht und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Nur einmal bewegte er kaum merklich den Kopf, um in dem Gebüsch eine Lücke zu finden, die ihm besseren Ausblick bot. [507] Da sah er ganz deutlich ihr Gesicht – und als läge ein drückender Stein auf seiner Brust, so schwer und beklommen atmete er! Er hörte auch, wie sie mit ihrem Kinde plauderte, herzlich, doch mit einer müden, verschleierten Stimme.

Nun war sie vorüber und der Klang ihrer Worte erlosch immer mehr. Mit jähem Schritt, als hielt’ es ihn nicht länger im Versteck, trat Mathes auf die Straße hinaus. „Karlin’!“ rief er mit heiserer Stimme und erblaßte doch, als sie hastig das Gesicht wandte.

Sie war schon ein gutes Stück von ihm entfernt; dennoch erkannte sie ihn gleich. „Mathes! Du! Ja grüß Dich Gott!“ Sie streckte die Hand und wollte zurückkommen.

Da rief er mit überstürzten Worten: „Na, ich hab’ net Zeit! … Bloß sagen will ich Dir, daß der Purtscheller im Wald droben nachschauen soll! Der Berg hat ein bißl was umg’worfen! Das hab’ ich Dir sagen müssen! … B’hüt Dich Gott wieder! B’hüt Dich Gott, Linerl!“

„Aber Mathes! … Mathes!“

Er hörte nicht und eilte mit langen Schritten davon.

Karlin’ schüttelte verwundert den Kopf, und während sie ihm sinnend nachblickte, schien sie nicht zu fühlen, daß ihr das Kind mit zausenden Händchen die Zöpfe fast von der Stirne riß.

(Fortsetzung folgt.)


Das neue Goethe-Schiller-Archiv in Weimar.

An der Stätte des gemeinsamen Wirkens unserer beiden größten deutschen Dichter, in Weimar, ist am 28. Juni d. J. das neu errichtete Goethe-Schiller-Archiv seiner Bestimmung übergeben worden.

Das Gebäude – ein einfach vornehmer Massivbau im Renaissancestil der Goethezeit, der an das kleine Trianonschloß in Versailles erinnert – erhebt sich im Osten der Stadt in malerischer freier Lage am Ilmabhang, am Wege nach Jena und Tiefurt und in unmittelbarer Nähe des Residenzschlosses. Sein hell leuchtendes hohes Gemäuer von einheimischem Gestein – Kalktuff und Sandstein – spiegelt sich freundlich im grünlichen Gewässer der unten vorüberrauschenden Ilm.

Als am 15. April 1885 der letzte Enkel Goethes, Walther, starb, ging durch dessen testamentarische Bestimmung der gesamte schriftliche Nachlaß des Dichters in den Besitz der regierenden Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar über. Bis dahin waren diese Schätze der öffentlichen Benutzung fast völlig entzogen gewesen; die Großherzogin beschloß, das kostbare Erbe für die deutsche Nation und die Welt fruchtbar zu machen; sie machte es zum Inhalt eines Archivs, das zunächst im Großherzoglichen Schlosse Aufstellung fand, berief einen hervorragenden Goetheforscher zu dessen Verwaltung und traf Verfügungen, welche die literarische Ausnutzung der Schätze regelten. Dem Beispiel des letzten Goethe folgten 1889 der Enkel und Urenkel Schillers, Ludw. und Alex. von Gleichen-Rußwurm, indem sie das zu Greifenstein ob Bonland bestehende Schiller-Archiv der Großherzogin zur Vereinigung mit dem Goethe-Archiv überwiesen. So wurde das für letzteres geplante Gebäude zur Aufnahme auch dieser Stiftung, der andere verwandten Charakters folgten, eingerichtet.

Das neue Goethe-Schiller-Archiv in Weimar.
Nach einer Aufnahme von Hofphotograph Louis Held in Weimar.

Sein Aufbau erfolgte seit 1893 unter der umsichtigen Leitung des Architekten O. Minckert aus Weimar und nach den eigenen Angaben der kunstsinnigen Bauherrin. Um vollständige Feuersicherheit für den kostbaren Inhalt zu erzielen, wurden für Mauern, Dach und Decken des Gebäudes nur Stein und Eisen verwendet. Geheizt werden sämtliche Arbeits- und Diensträume durch eine Wasserdunstheizung, während die Archivsäle Wasserdunstluftheizung erhalten haben. Die eigentlichen Archivräume des ersten Stocks sind der Stadt und der Ilm zugekehrt. Es sind drei große, helle, 8 Meter hohe Säle mit ringsumlaufender eiserner Galerie. Der Mittelsaal ist zur Aufnahme der Handschriften bestimmt, in den Seitensälen haben einstweilen die Büchersammlungen der „Goethegesellschaft“ und des Archivs Aufnahme gefunden.

Außer dem im Eingang bezeichneten handschriftlichen Nachlaß von Deutschlands größten Dichtern, Schiller und Goethe, deren Standbilder auf dem Denkmal in Weimar einen gemeinsamen Lorbeerkranz halten, besitzt das Archiv aus der gleichen glanzvollen Zeitepoche auch den handschriftlichen Nachlaß Herders und Wielands. Auch sonst hat das Gocthe-Schiller-Archiv durch wertvolle Schenkungen von Litteraturfreunden, sowie durch gelegentlichen Ankauf von Nachlässen und Handschriften einzelner Dichter bedeutende Bereicherung erfahren; so besitzt es z. B. die Nachlässe von Ed. Mörike, K. Immermann, Otto Ludwig und Fr. Hebbel, ferner Handschriftliches von Anastasius Grün, Lenau, Rückert, Gottfried Keller, E. Geibel, B. Auerbach, Th. Storm, Paul Heyse u. a. Auch Reuters handschriftlicher Nachlaß, den die Schillerstiftung verwaltet, ist hier aufbewahrt. Es steht somit zu hoffen, daß das Weimarische Goethe-Schiller-Archiv sich mit der Zeit zu einem allgemeinen Archiv für neudeutsche Litteratur gestalten wird.

Die Einweihung des Archivs fand nachmittags drei Uhr in Gegenwart des Hofes und eines eingeladenen Publikums im Mittelsaal des ersten Stockes statt. Unter den Teilnehmern befand sich eine Reihe namhafter Schriftsteller und Gelehrter, so Paul Heyse, Ernst v. Wildenbruch, Kuno Fischer. Der Kaiser hatte den Chef seines Civilkabinetts, Herrn von Lukanus, hergesandt. Nachdem ein auf der hohen Rundgalerie aufgestellter Chor den Schlußsatz von Beethovens Neunter Symphonie mit dem Text von Schillers Lied „An die Freude“ vorgetragen hatte, hielt der Direktor des Archivs, Geheimer Hofrat Suphan, die Begrüßungsrede, indem er in geistvoller Weise auf die Bedeutung und die kostbaren Schätze des neu erstandenen Archivs hinwies und eine kurze Geschichte seiner Entstehung gab. Von neuen in Aussicht stehenden Schenkungen konnte er u. a. Freiligraths Nachlaß und Westermanns literarisches Archiv erwähnen. Auf diese Rede folgten verschiedene Ansprachen seitens der Vorstände mehrerer literarischer Gesellschaften. Geheimer Hofrat Ruland aus Weimar sprach im Namen der Goethegesellschaft, welche dem Archiv eine Goethe- und eine Schillerbüste (von K. Rumpf in Frankfurt a. M.) gestiftet hatte. Professor Erich Schmidt aus Berlin überreichte im Namen einer Anzahl Goethefreunde ein kostbares Geschenk: Goethes Originalbriefe an Frau von Stein; sieben Folianten. Sie waren bisher auf Schloß Kochberg in Verwahrung. Im Namen der Schillerstiftung legte Rob. Waldmüller-Duboc aus Dresden unter Glückwünschen eine Urkunde nieder. Für die Deutsche Shakespearegesellschaft, die eine Gedenktafel gestiftet hatte, sprach deren Vorstandsmitglied Oechelhäuser. Die Frau Großherzogin von Sachsen erwidete eine jede der an sie gerichteten Ansprachen mit huldvollen Worten. Der Schlußchor aus Schumanns Faustmusik beschloß die einstündige erhebende Feier, worauf der Hof Cercle hielt. – Eine zur Feier des Tages an Ort und Stelle veranstaltete kleine Ausstellung von Handschriften gewährte einen sehr interessanten Einblick in die wertvollen Schätze des Archivs. Dr. K. Markscheffel.     

[508]

Die Marskanäle.

Ein Beitrag zur Frage über die Bewohnbarkeit der Planeten.
Von Dr. H. J. Klein.


Die Frage, ob jenseit unserer Erde auf anderen Planeten lebende und vernunftbegabte Wesen vorhanden sind, ist seit jeher von zahllosen Menschen aufgeworfen und aus den verschiedensten Gründen bald bejahend bald verneinend beantwortet worden.

Die Einen glauben, unsere Erde habe allein den Vorzug, ein Wohnplatz vernünftiger Wesen zu sein, und sie führen dafür Gründe an, welche aus der Lage unseres Planeten im Sonnensystem hergenommen sind und wonach sich in der That eine bevorzugte Stellung der Erde im Weltall ergiebt. Diese letztere ist nämlich nicht so nahe bei der Sonne, daß deren Glut der Entwicklung organischen Lebens hemmend entgegentreten kann, wie solches z. B. auf dem Planeten Merkur aller Wahrscheinlichkeit nach der Fall ist; anderseits befindet sich wiederum die Sonne nicht so weit von uns ab wie etwa vom Planeten Saturn, dem sie kaum mehr als ein Prozent der Wärme und des Lichts spendet, welche die Erde thatsächlich empfängt. Dazu kommt, daß letztere auch in der Stellung ihrer Achse und der Dauer ihrer Umdrehung Zustände aufweist, die das Gedeihen organischen Lebens in hohem Grade begünstigen, und schließlich besitzt unser Planet eine ziemlich dichte Atmosphäre und erhebliche Wassermengen, wie solche ganz bestimmt auf mehreren anderen Weltkörpern nicht vorhanden sind. Das sind in der That Vorzüge unserer Erde, die vereinigt bei keinem andern Planeten angetroffen werden.

Dagegen stützen sich die, welche die Bewohntheit auch der übrigen Planeten behaupten, darauf, daß ein besonderer Grund, weshalb die Erde allein den Vorzug, denkende Wesen zu beherbergen, besitzen solle, gar nicht aufzuweisen sei. Sie sagen, daß von der gesamten Wärme, welche die Sonne ununterbrochen aussendet, der Erde nur der zwanzigmillionste Teil von einem einzigen Prozent zu teil wird, also die ganze ausgestrahlte Sonnenwärme fast nutzlos in den Raum verstrahlen würde, wenn die Erleuchtung und Erwärmung der Erde ihre einzige Aufgabe wäre. Diese Wärme, sagen sie weiter, ist zum Gedeihen der Organismen unbedingt nötig, daher sei anzunehmen, daß es auch außerhalb der Erde organische Wesen giebt, denen sie zu gute kommt. Ferner weisen sie darauf hin, daß es ungereimt wäre, anzunehmen, alle jene Milliarden von Weltkörpern seien nur als tote, öde Kugeln vorhanden, vielmehr sei es der Weisheit des Schöpfers angemessen, auch in andern Teilen des Weltraumes vernunftbegabte Wesen in zahlreichen Welten erschaffen und angesiedelt zu haben.

Einer der bedeutendsten neueren Astronomen, Simon Newcomb, hat sich in der Frage nach der Mehrheit bewohnter Welten dahin ausgesprochen, daß nur eine verhältnismäßig sehr geringe Anzahl von Planeten mit vernünftigen Wesen bevölkert sei, darunter könnten freilich auch solche sein, welche uns Menschen in geistiger Beziehung weit überragten. Indessen beschränkt Newcomb diese Wahrscheinlichkeit insofern wieder, als er die Bewohntheit solcher Weltkörper nur während einer gewissen Periode ihrer Existenz zuläßt. Unsere Erde, die als solche sich gewiß seit mehr als 10 Millionen Jahren in ihrer Bahn bewegt, wird verhältnismäßig erst in der jüngeren Zeit von Menschen bewohnt und vor allem datiert die Civilisation erst von gestern. Wenn also ein denkendes Wesen in Zwischenzeiten von etwa 10 000 Jahren die Erde seit deren Beginn besucht hätte, um sich darauf nach Genossen umzusehen, so würde es tausendmal nichts dergleichen gefunden haben, ehe es ein einziges Mal Menschen antraf. „In ähnlicher Weise,“ sagt Newcomb, „müssen wir annehmen, daß dieselben Enttäuschungen Den erwarten würden, der jetzt eine ähnliche Entdeckungsreise von Planet zu Planet und von System zu System unternehmen könnte, bis er viele tausend Planeten untersucht hätte.“

Einer der größten Denker des vorigen Jahrhunderts, der berühmte Mathematiker Lambert, kam dagegen zu dem Schlusse, daß kein Teil des Weltraumes öde und unbewohnt sei. Er sprach die Ueberzeugung aus, daß, wenn die Welt ein Ausdruck oder eine fortdauernde Wirkung der göttlichen Vollkommenheit sei, an jeder Stelle derselben Leben und Wirksamkeit, Gedanken und Triebe vorhanden sein müßten; deshalb trug er kein Bedenken, jedes Sonnensystem so sehr mit bewohnten Weltkörpern anzufüllen, wie die vortreffliche Ordnung, die sich in ihrem Laufe zeigt, nur immer zuläßt. „Auf unserer Erde,“ sagt er, „die wir seit der Erfindung der Vergrößerungsgläser auch in den kleinsten Teilen betrachten können, finden wir alles so voller Einwohner, daß wir nicht länger mehr zweifeln können, die Belebung aller Teile der Welt als eine Absicht der Schöpfung anzusehen, die keine Ausnahme erleidet. Um die Beschaffenheit der Einwohner jedes Weltkörpers bin ich nicht besorgt, weil ich überhaupt annehmen kann, daß jeder derselben für die Stelle, wo er sich befindet, eingerichtet sein wird. Was wir auf der Erde finden, richtet sich ohne Ausnahme nach diesem Gesetze. Wer würde an die Bewohnbarkeit des Wassers denken, wenn die Fische und andere Wassertiere uns nicht von Kindheit auf bekannt wären?“

Auch der große Mathematiker Gauß war der Meinung, daß lebende Wesen zu beherbergen nicht das ausschließliche Privilegium der Erde sei; er meinte, die Natur habe mehr Mittel, als der arme Mensch ahnen könne; im übrigen hielt er die Frage nach der Bewohntheit der Weltkörper nicht für wissenschaftlich lösbar, da wir durch Beobachtung keine bestimmten Thatsachen ermitteln könnten. Wirklich ist der Astronom trotz aller Fortschritte der Optik noch nicht imstande, selbst auf dem uns nächsten Weltkörper, dem Monde, Gegenstände, von der Größe etwa eines Hauses, zu erkennen. Indessen ist dies für die Frage nach der Bewohnbarkeit des Mondes auch durchaus nicht erforderlich, denn aus vielen Gründen ist mit absoluter Sicherheit zu schließen, daß der Mond, wenigstens in seinem heutigen Zustande, nicht Wohnplatz menschenähnlicher Wesen sein kann. Was aber beim Monde nicht gelingt, kann von der Beobachtung der außerordentlich viel weiter entfernten Planeten durchaus nicht erwartet werden. Nur allgemeine Aufschlüsse über die Beschaffenheit ihrer Oberflächen sind mittels der mächtigsten Ferngläser bei einigen Planeten zu erhalten, und vor allem ist es in dieser Beziehung der Planet Mars, welcher zu den dankbarsten Objekten für den beobachtenden Astronomen gehört. Was man in dieser Beziehung gefunden hat, ist früher bereits an dieser Stelle mitgeteilt worden. (Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1891, Seite 395.)

Besonders sind es die sogenannten Kanäle auf dem Mars, die zuerst Schiaparelli gesehen hat, welche allgemeines Interesse erregt haben, da sie Erscheinungen sind, die ebenso unerwartet wie unerklärlich dem Beobachter entgegentraten. Zur möglichst genauen Untersuchung dieser Marskanäle hatte der Amerikaner Percival Lowell vor mehreren Jahren auf einem hohen Berge in Arizona, wo die Luft für astronomische Untersuchungen sehr geeignet ist, eine besondere Sternwarte errichtet. Seine Untersuchungen waren von großem Erfolge gekrönt, denn er hat mehrere hundert solcher Marskanäle beobachtet und ihr Verhalten in den verschiedenen Jahreszeiten des Mars genau studiert. Als Ergebnis seiner Untersuchungen hat er nun kürzlich eine Karte des Mars in Mercators Projektion entworfen. Dieselbe wird in verkleinertem Maßstabe von unserer Fig. 1 wiedergegeben, und zwar ist oben Nord, unten Süd. Zur Vergleichung ist in Fig. 2 die Erdoberfläche dargestellt, wie sie, abgesehen von Bewölkung, ein Beobachter auf dem Mars, der mit den nämlichen Instrumenten wie wir ausgerüstet wäre, gemäß seinen allmählichen Wahrnehmungen in Mercators Projektion darstellen würde. Die irdischen Festländer würden dem Beobachter hell erscheinen, noch heller die Polargegenden, während die Meere dunkel wären, und zwar in verschiedenem Grade. Von den tiefen Meeresbuchten und Landseen würden nur die größeren in ziemlich verschwommener Weise zu erkennen sein, so das Rote Meer, der Persische Meerbusen, der Busen von Kalifornien, der Baikalsee, der Aralsee, das Kaspische Meer und die großen nordamerikanischen Seen. Von den Gebirgen würde man nur schwache Andeutungen wahrnehmen, hauptsächlich durch Helligkeitsabweichung gegen die Umgebung, dagegen würden die ausgedehnten Waldregionen Südamerikas sich als eine grünliche Färbung der Fläche darstellen. Von unseren Flußsystemen, selbst von jenem des Amazonenstromes, würde ein Beobachter auf dem Mars schlechterdings keine Spur zu erkennen vermögen.

[509] Nun vergleiche man mit dieser Erdkarte die neue Karte der Marsoberfläche. Welch ein Unterschied! Zwischen einigen dunklen Flecken mit jenen weichen, verschwommenen Umrissen, welche die Gestade der Meere auf der Erdkarte zeigen, sehen wir auf dem Mars ein höchst kompliziertes System von geraden Linien, welche Dreiecke und Vielecke miteinander bilden, ein geradezu geometrisches Netz. Und thatsächlich sind diese Linien – die berühmten „Kanäle“ – schnurgerade, wie längs des Lineals gezogen, viele darunter doppelt, einander parallel laufend wie die Schienen einer Eisenbahn. Man muß sich immer wieder daran erinnern, daß diese schnurgeraden scharfen Linien wirklich auf dem Mars zu sehen sind, wenn auch nicht alle zugleich, schon weil der Mars sich um seine Achse dreht und in nahezu 24½ Stunden uns alle Teile seiner Oberfläche nacheinander zuwendet. Auf keinem andern Planeten, ebensowenig wie auf der Erde, findet man Naturgebilde, welche auch nur im entferntesten diesem komplizierten Netze von schnurgeraden einander durchkreuzenden Kanälen zu vergleichen wären. Die dunklen großen Flecke sind, wie erwähnt, Wassermassen, Meere, und von ihnen gehen die Kanäle aus und durchziehen alle Teile des hellen Festlandes. Wo sich mehrere Kanäle treffen, sieht man meist einen runden dunklen Fleck, eine kleine seeartige Erweiterung. Merkwürdig ist, daß diese Kanäle auch in den größeren Meeresbecken sichtbar sind. Dies ist nicht immer der Fall, sondern nur zu gewissen Zeiten, wodurch bewiesen wird, daß jene Meere nur seichte Wasserbecken sein können, die im Laufe des Marsjahres sogar periodisch zu einer Art Sumpf zusammenschrumpfen.

Fig. 1. Karte des Mars in Mercators Projektion nach Lowell.

Ueberhaupt zeigt schon ein vergleichender Blick auf die Erd- und Marskarte, daß auf dem Mars verhältnismäßig nur wenig Wasser vorhanden ist, von jenen gewaltigen Oceanen, wie bei uns das Stille Weltmeer oder das Atlantische Meer, kann dort absolut keine Rede sein. Ein durchgreifender Unterschied zwischen der Erde und dem Mars ist danach vor allem der, daß auf dem Mars im allgemeinen Mangel an Wasser herrscht, und wenn man dies weiß und beachtet, scheint damit sogleich das Verständnis des seltsamen Kanalnetzes eröffnet. In der That, wer ersähe nicht aus der Karte, daß dieses Kanalnetz so angelegt erscheint, als wenn es dem trockenen Innern des zusammenhängenden Festlandes das belebende Naß zuführen sollte? Unter dieser Voraussetzung können wir die Kanäle in ihrer Anordnung begreifen, andernfalls ist es unmöglich, sie zu deuten. Sehen wir nun zu, was die beiden genauesten Kenner des Mars, Schiaparelli und Lowell, über die Meere und das Kanalsystem desselben ermittelt haben. Sie sind darin einig, daß die Kanäle, deren Durchmesser von 30 bis zu 200 Kilometern wechselt und die eine Länge von 500 bis 2000 Kilometern und darüber besitzen, ein wirkliches hydrographisches System bilden, welches dem Durchgang von Wassermassen dient und im Kreislauf der Jahreszeiten auf dem Mars eine wichtige Rolle spielt. Auf diesem Planeten ist das Wasser, wie bereits erwähnt, ziemlich knapp bemessen und die wechselnden Erscheinungen an seiner Oberfläche hängen von dem Schmelzen des Schnees in seinen Polargegenden ab. Sobald die große Schneeschmelze im Frühjahr beginnt, zeigt sich die weiße Schneezone an ihrem äußeren Rande von einer dunklen Borde umsäumt, welche mit dem zurückweichenden Eise gleichen Schritt hält. So sah es Lowell bei seinen Beobachtungen im Jahre 1894 und das Gleiche hat Schiaparelli wahrgenommen.

Fig. 2. Die Erde vom Mars aus gesehen, in Mercators Projektion dargestellt.

In dem Maße als die Jahreszeit (auf der südlichen Hälfte des Mars) fortschritt und die Eiszone kleiner wurde, sah Lowell auch den dunkeln Gürtel schmaler werden, dagegen erschienen dunkle Streifen auf der fast hellen Fläche, offenbar Ströme von Schmelzwasser, und gegen den Aequator des Mars hin wurden immer mehr Kanäle sichtbar; endlich wuchsen sie so sehr an, daß sie das ganze Festland in zahlreiche Inseln zerschnitten. Nachdem die Eiszone völlig verschwunden, der Schnee daselbst also geschmolzen ist, verschwinden auch die zeitweiligen Meeresbecken, indem die dunklen, blaugrünen Flächen erblassen und orangegelb werden. Die Oberfläche des Mars bietet dann einen eintönigen Anblick. Die Frage, wo das Wasser jetzt hingekommen ist, beantwortet Lowell dahin, daß die blaugrünen Flächen mit Vegetation bedeckt waren, für welche schon eine verhältnismäßig geringe Wassermenge ausreicht, deren An- oder Abwesenheit unmittelbar für uns nicht wahrnehmbar ist, sondern nur ihre indirekte Wirkung in der Vegetation, welche sie [510] hervorrief. Die Meeresbecken auf dem Mars, sagt er, beherbergen keineswegs mehr gewaltige, tiefe Wassermassen wie die irdischen, sind aber auch noch nicht ausgetrocknet wie die auf dem Monde, sondern sie dienen nur als wenig tiefe Behälter für das Wasser, welches noch auf der Marsoberfläche sich findet. Kurz gefaßt, kann man sich die Sache so vorstellen, daß im Frühling auf jeder Marshemisphäre eine bedeutende Ueberschwemmung infolge der Schneeschmelze eintritt und daß die Wasser sich gegen den Aequator hin ausbreiten, wo sie durch die Kanäle tief in das Innere der trockenen Festlandmassen geleitet werden. Darüber kann gegenwärtig kein Zweifel mehr herrschen.

Aber die Kanäle selbst, woher stammen sie? Schiaparelli sagt: „Das von ihnen gebildete Netzwerk war wahrscheinlich von Ursprung her bedingt durch die geologische Beschaffenheit des Planeten und wurde im Lauf der Zeit durch das Wasser langsam ausgearbeitet. Man braucht nicht anzunehmen, daß die Kanäle das Werk intelligenter Wesen sind, und trotz des fast geometrischen Aussehens ihres ganzen Systems bin ich jetzt zu dem Glauben geneigt, daß sie hervorgebracht wurden durch die Entwicklung des Planeten, wie wir auf der Erde den englischen Kanal haben, oder jenen von Mozambique.“ Trotz des großen Gewichts, welches jedem Ausspruche Schiaparellis zukommt, muß ich doch sagen, daß dieser Vergleich sehr hinkt. Die Aehnlichkeit des englisch-französischen Kanals oder der Straße von Mozambique mit einem der zahlreichen schmalen, scharfen und völlig geraden Marskanäle ist, wie schon der Anblick der beiden Karten (auf Seite 509) lehrt, gleich Null. Lowell tritt dieser Meinung daher auch entgegen und erklärt die Kanäle durchaus für künstlichen Ursprungs. „Ihr Aussehen allein,“ sagt er, „genügt schon vollständig, um alle Hypothesen, welche sie als Risse der Oberfläche bezeichnen, sogleich hinfällig werden zu lassen. Dagegen ist ihre eigentümliche Anlage im höchsten Grade geeignet, zu tiefem Nachdenken anzuregen. Die ganze Anordnung hat durchaus das Aussehen, als wenn sie nach einem bestimmten und sehr zweckmäßigen Plane getroffen worden wäre. Durch das System der Kanallinien wird die Oberfläche des Mars in ein Netzwerk von Dreiecken zerlegt, welches sogleich die Vermutung einer Absicht erweckt. Wo sich mehrere Kanäle treffen, zeigt sich stets ein dunkler Fleck, und es scheint, daß eine überaus große Menge von kleinsten Punkten dieser Art vorhanden ist.“ Dazu kommt, daß mehrere Beispiele aufgefunden sind, in welchen sich zwei Kanäle vollkommen genau unter rechten Winkeln kreuzen. Der erste Fall dieser Art wurde von Schiaparelli in der Landschaft, welche den Namen Hellas erhalten hat, beobachtet, den zweiten entdeckte der Mitbeobachter von Lowell in der Marslandschaft Oenotria, gerade als diese Insel sich von ihrer dunklen Umgebung abzuheben begann. Diese Fälle sind höchst bezeichnend: auf keinem einzigen andern Planeten, die Erde eingeschlossen, zeigt sich etwas Aehnliches. Wenn man aber, wie Schiaparelli gethan hat, darauf hinweist, daß in der Natur doch sonst auch sehr regelmäßige Gestalten vorkommen, wie z. B. der Regenbogen, die Krystalle, ja die Blumenblätter, so fühlt jeder sofort, daß derartige Vergleiche nicht statthaft sind. Man betrachte die Karte der Erde und die des Mars und man wird eher geneigt sein, die fast geometrische Anordnung der Kanäle für Phantasiegebilde zu halten, als ihnen eine natürliche Entstehungsweise beizulegen. Wer vorurteilslos dieses Kanalnetz in seiner Anordnung betrachtet, wird sagen, daß Naturgebilde so niemals aussehen!

Fig. 3. Vermutliche Umrisse der irdischen Meere, nachdem die oceanischen Wassermassen bis über die Hälfte zurückgegangen sind.

Die überraschendste Erscheinung, welche die Marskanäle darbieten, ist aber ihre zeitweise Verdoppelung, und zwar scheint sie vorzugsweise einzutreten in den Monaten, welche der großen Ueberschwemmung vorausgehen oder ihr folgen. Schiaparelli schildert diese Erscheinung in seiner neuesten Publikation wie folgt: „Nach einem schnellen Vorgange, der sicherlich höchstens ein paar Tage oder vielleicht nur wenige Stunden dauert und dessen Eigentümlichkeit mit Sicherheit zu bestimmen noch nicht möglich gewesen ist, ändert ein vorhandener Kanal sein Aussehen und man findet ihn nach seiner ganzen Länge umgewandelt in zwei Linien oder gleichmäßige Streifen, welche mit der geometrischen Genauigkeit zweier Eisenbahnschienen einander parallel verlaufen. Diese beiden Linien folgen sehr nahe der Richtung des ursprünglichen Kanals und endigen dort, wo dieser aufhört. Eine von ihnen erscheint oft genau der frühern Linie überlagert, während die andere neu ist; aber in diesem Falle verliert die ursprüngliche Linie die kleinen Unregelmäßigkeiten und Krümmungen, welche sie ursprünglich besessen. Es kommt aber auch vor, daß beide Linien an den entgegengesetzten Seiten des frühern Kanals sich befinden und auf ganz neuem Gebiete liegen. Der Abstand zwischen beiden Linien ist bei den verschiedenen Verdoppelungen, welche beobachtet wurden, verschieden und schwankt zwischen 600 Kilometern und darüber bis zur kleinsten Entfernung, in welcher man zwei Linien an großen Fernrohren noch getrennt sehen kann, nämlich weniger als 50 Kilometern. Die Breite dieser Kanäle kann von der Grenze der Sichtbarkeit, die wir zu 30 Kilometern annehmen können, bis zu über 100 Kilometern schwanken. Die Farbe der beiden Linien wechselt zwischen Schwarz und Hellrötlich, welches kaum von der Farbe der Oberfläche des festen Landes unterschieden werden kann. Der Raum zwischen beiden Linien ist meist gelb, aber in vielen Fällen erscheint er weißlich. Die Verdoppelung ist übrigens nicht notwendig auf die Kanäle beschränkt, sondern strebt sich auch in den Seen auszubilden. Oft sieht man einen derselben in zwei kurze, dunkle, breite, einander parallele Linien umgewandelt und von einer gelben Linie durchquert. In diesen Fällen ist die Verdoppelung natürlich kurz und überschreitet nicht die Grenzen des ursprünglichen Sees. Die Verdoppelung zeigt sich nicht an allen Kanälen zu derselben Zeit, sondern, sobald die Jahreszeit gekommen ist, beginnt sie sich bald hier, bald da in unregelmäßiger Weise oder wenigstens nicht in erkennbarer Ordnung zu bilden. Nachdem sie einige Monate bestanden hat, verblassen die Konturen allmählich und verschwinden bis zu einer spätern für ihre Bildung gleich günstigen Jahreszeit. So kommt es vor, daß in gewissen andern Jahreszeiten wenige gesehen werden oder auch gar keine. In verschiedenen Jahren kann die Verdoppelung desselben Kanals verschiedenes Aussehen zeigen in Bezug auf Breite, Stärke und Anordnung der beiden Streifen, in einigen Fällen kann auch die Richtung der Linien schwanken, indem sie, wenn auch nur um eine kleine Größe, von dem Kanal abweicht, mit dem die Linien direkt verknüpft sind. Aus dieser wichtigen Thatsache erhellt unmittelbar, daß die Verdoppelungen keine festen Bildungen auf der Oberfläche des Mars sein können wie die Kanäle selbst.“

Eine Deutung des Wesens dieser Verdoppelungen zu geben, erklärt sich Schiaparelli außer stande; alles, was in dieser Beziehung von der Zukunft zu hoffen sei, ist nach seiner Meinung, daß sich höchstens herausstellen werde, was die Verdoppelungen nicht sein können, falls nicht aus einer unverhofften Quelle ein Lichtstrahl unsere Vermutungen aufhellt. Lowell hat auch die Verdoppelung der Kanäle beobachtet und seine Karte führt eine Anzahl von Beispielen derselben auf. Er sieht in diesen Verdoppelungen erst recht Anlagen zur Erreichung bestimmter Zwecke, die mit den großen Ueberschwemmungen in Zusammenhang stehen, und betont, daß der offenbare Versuch, solche Zwecke zu erreichen, durchaus nicht charakteristisch für die unbelebte Natur sei, also auch hier die Thätigkeit intelligenter Wesen hervorleuchte. Alles in allem genommen, bin ich durchaus geneigt, der Anschauung Lowells zuzustimmen und in dem System der Marskanäle das erste und bis jetzt einzige Beispiel der Thätigkeit vernünftiger Geschöpfe außerhalb des Bereichs unserer Erde, auf einem fremden Planeten, zu erkennen. Allerdings würden Menschen ein derartiges Kanalnetz, wenigstens mit den heutigen technischen Hilfsmitteln, nicht herstellen können; aber wenn wir einmal annehmen, daß Marsbewohner dieses Netz ausgeführt haben, so dürfen wir unbesorgt den ferneren Schluß ziehen, daß sie diese Riesenarbeit wahrlich nicht zum Vergnügen, sondern nur, von der bittersten [511] Not gezwungen, vollbrachten. Diese Not aber bestand offenbar in dem zunehmenden Mangel an Wasser. Es ist nicht unwissenschaftlich, anzunehmen, daß auf dem Mars ursprünglich mehr Wasser in freier Form vorhanden war als heute, und daß dasselbe im Laufe unzählbarer Jahrtausende allmählich bis zu seiner heutigen geringen Menge abnahm. Gab es nun dort denkende Wesen, die eine gewisse hohe Kulturstufe errungen hatten, so mußten dieselben mit der zunehmenden Wasserabnahme rechnen, und sie haben deshalb nach und nach das gewaltige Kanalnetz angelegt, welches wir gegenwärtig von der Erde aus wahrnehmen. Daß sie dazu erheblich besserer und größerer Hilfsmittel bedurften, als uns Menschen heute auf der Erde zu Gebote stehen, unterliegt keinem Zweifel; anderseits wissen wir aber auch nicht, was die Menschheit dereinst ausführen könnte, wenn die Wasserabnahme der Oceane sie zu gemeinsamer Arbeit nötigen wurde.

Schon oftmals ist die Frage aufgeworfen worden, ob die Menge des freien Wassers an der Erdoberfläche zu allen Zeiten unveränderlich war oder ob sie abnimmt. Man muß zugeben, daß die feste Erdkruste gegenwärtig erhebliche Mengen von Wasser chemisch und mechanisch gebunden hält, die ehedem in freierem Zustande an der Oberfläche sich befanden, allein es ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Aufsaugungsprozeß längst seine Grenze erreicht hat. Sicheres in dieser Beziehung ist zur Zeit nicht ermittelt, wenngleich die Annahme einer stetigen, sehr langsamen Verminderung der freien Wassermassen der Erdoberfläche eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit für sich hat. Ein Blick auf die beiden uns am besten bekannten Weltkörper, den Planeten Mars und den Mond, unterstützt diese Wahrscheinlichkeit. Auf dem Mars sind die Wassermengen bereits sehr zusammengeschrumpft, auf dem Monde fehlen sie sogar vollkommen und wir sehen dort nur noch die Betten ehemaliger Mondmeere in Gestalt großer mehr oder weniger eingetiefter Flächen. Dies deutet darauf hin, daß allerdings ein Planet im Laufe seiner Entwicklung von einem Zustande bedeutenden Wasserreichtums bis zu demjenigen vollkommener Austrocknung an der Oberfläche herabsinken kann, und solches würde demnach auch dereinst bei unserer Erde stattfinden. Dann hätten wir also am Mars das Bild einer sehr späten Zukunft unserer eignen Erde vor uns. Gegenwärtig beträgt die Oberfläche aller irdischen Oceane zusammen etwa 6 800 000 Quadratmeilen und das Wasserquantum derselben wird auf 3 140 000 Kubikmeilen geschätzt, es ist 2½ mal so groß als das Volumen aller Festländer mitsamt ihren Sockeln über dem Boden der Oceane, aber freilich außerordentlich gering im Vergleich zum Volumen des ganzen Erdballs, welches 2 650 000 000 Kubikmeilen umfaßt. Würden die oceanischen Wassermassen abnehmen, so müßte ihr Niveau sinken und die Meeresufer würden zurücktreten. Bei einer Abnahme der oceanischen Wassermassen bis über die Hälfte würde der Zusammenhang der Weltmeere aufgehoben sein und die heutigen Oceane als kleine Seebecken erscheinen, die überall vom Festlande umschlossen wären, wie dies Figur 3 zeigt. Daß alsdann die inneren Teile der ungeheuren irdischen Festlandmasse zu einer völlig trockenen Wüste werden müßten, bedarf keines besonderen Nachweises, sondern ist einleuchtend, und wie es dann mit dem Menschengeschlechte aussehen würde, zeigt ein Blick auf die Lage der heutigen Hauptstädte der Welt. Wahrscheinlich würden diese dann ebenso verödet sein wie gegenwärtig die Umgebungen von Babylon und Ninive.




In letzter Stunde.

Novelle von Victor Blüthgen.


Auf dem Bahnhofe einer mecklenburgischen Landstadt war es; an einem wüsten Winterabend, im Februar. Der Wind fegte ein dichtes Schneetreiben bis in den überdachten Bahnsteig herein, daß die Lichter der Laternen Mühe hatten, ihn zu erleuchten – draußen quirlte es, grau und grauer, bald in undurchdringliche Nacht vernebelnd.

Aus dem Zuge, der soeben weiter gefahren, waren nur wenige Personen gestiegen, um rasch im Durchgang oder in den Restaurationsräumen zu verschwinden. Ein großer, starker Mann im Reisepelz, den Kragen hoch bis über die Pelzmütze aufgeschlagen, blieb als der Einzige, der sich dem Unwetter aussetzte. Er bemühte sich, mit Augen und Ohren zu verfolgen, wie man in einiger Entfernung den Lokalzug rangierte, der in wenigen Minuten auf einer Nebenstrecke abgehen sollte; bis hart an die Ecke des Gebäudes wagte er sich in diesem Bestreben, wobei alles an ihm flog, was nicht ganz eng anschloß.

Jetzt sah er unter der Laterne an der Ecke nach der Uhr und schritt plötzlich entschlossen dem Durchgang zu; darauf stand er am Schalter und verlangte ein Billet zweiter Klasse nach R.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür zum Wartesaal dritter Klasse, man hörte Stimmengewirr, dann kam lachend, ein paar Worte hinter sich rufend, ein Mann heraus – gleich darauf stand auch er am Schalter.

„Laudien,“ sagte er, sich vorbeugend, zu dem Beamten, „wir warten nachher auf Sie.“

„Gut,“ klang es innen.

Der Mann hatte ein breites rotes Gesicht mit einem Zug roher Jovialität drin; das Gesicht war bis auf ein Streifchen Backenbart glatt rasiert; eine Tuchmütze saß zurückgeschoben auf dem Hinterkopf, ein grauer Mantel hing lose um die Schultern. Im Abgehen warf er einen Blick auf den andern im Pelz, stutzte, ging drei Schritte, stand, die Finger gegeneinander reibend: „Das ist – wer ist das? …“ Ehe er auf den Bahnsteig trat, drehte er sich noch einmal um.

Der andere kehrte ihm den Rücken, machte sich mit dem Portemonnaie zu schaffen.

„Donnerwetter … das muß er sein … früher hatte er einen Vollbart …“

Man hörte draußen den Zug vorfahren, und der Mann am Schalter, mit dem braunen, schlanken, energisch geschnittenen Gesicht, das allerdings nur einen Schnurrbart aufwies, beeilte sich sichtlich, aus dem Bereich der Halle zu kommen. Er ging draußen am Zuge hin, öffnete sich ein Coupé zweiter Klasse und stieg ein.

„Wohin?“ fragte ein Schaffner, der herzutrat.

„Nach R.“

Kurz darauf kam der Mann im Mantel eilig den Bahnsteig herauf, winkte dem Schaffner. „Ist einer nach R. eingestiegen? Zweiter Klasse? Ein Mann im Pelz?“ fragte er ihn ins Ohr.

„Jawohl!“

Der Frager verschwand mit ein paar langen Schritten im Wartesaal, aus dem er gekommen. Dort saß eine Anzahl Personen in der Nähe des Buffetts um einen Tisch mit Biergläsern, rauchend und schwatzend, unter ihnen ein Gendarm. „Möbius,“ rief der Ankommende, ohne Mütze und Mantel abzulegen, „kommen Sie rasch mal her, ich habe was für Sie.“

Der Gendarm erhob sich bequem und ging zu ihm. „Was haben Sie denn?“

„Sie kennen doch Zellin ganz genau – den von R., der den jungen Storkow totgeschlagen hat – der euch durch die Lappen gegangen ist …“

„Jawohl – was ist mit dem?“

„Ich will gehangen sein, wenn der nicht im Zuge draußen sitzt, in der zweiten Klasse! Ich habe doch so oft seine Gerste gekauft … er hat keinen Vollbart mehr …“

„Ach, was nicht noch – wo wird der so dumm sein und in die Gegend kommen – seine Frau wirtschaftet ja ganz gut …“

„Himmelsakrament, fahren Sie mit, zweite Klasse nach R.! Einer, der genau so aussieht wie Zellin und nach R. fährt, wer soll denn das sein? Was er hier will, ist ganz egal …“

Die hastig gesprudelten Worte machten Eindruck. Der Gendarm nahm rasch seinen Mantel vom Nagel …

Der Zug wollte sich eben in Bewegung setzen, das Abfahrtssignal schrillte noch, als er draußen ankam.

„Halt, halt, ich will mit!“

„Wohin?“

„Zweiter nach R.“

„Rasch – hier …“

Der Gendarm fiel beinahe auf den andern Fahrgast; die Thür schlug zu, der Zug fuhr.

Der Mann im Pelz war leichenblaß geworden, wandte sich [512] dem Fenster der andern Seite zu und spähte scheinbar angelegentlich in die Nacht hinaus, wo doch, obwohl er sich immerfort bemühte, eine Taustelle an der Scheibe offen zu halten, gewiß nicht das Geringste zu erkennen war. Der Gendarm setzte sich zurecht, beobachtete ihn aus seinem Feldwebelgesicht halb neugierig, halb mit amtlicher Würde. Dazwischen suchte er in seinem Gedächtnis. Seine Miene wurde immer zuversichtlicher.

Eine Weile rührte sich nichts im Coupé, man hörte nur den monotonen Viervierteltakt des Bummelzuges. Endlich sagte der Gendarm: „Verdammt schlechtes Wetter heute, was, Herr Zellin?“

Der Mann im Pelz machte eine Bewegnng – dann wandte er plötzlich sein Gesicht herum, das jetzt ziemlich gefaßt aussah, rückte vom Fenster weg näher und nickte dem Gendarm zu. Ein melancholischer Zug legte sich über seine Augen.

„Sie kennen mich, Möbius, wie ich mich sehr wohl auf Sie besinne, wenngleich wir schon jahrelang einander nicht gesehen haben. Ich weiß auch ganz gut, daß mich noch jemand anderes erkannt hat … und ich kann mir denken, wie es gekommen, daß Sie hier sitzen. Mancher Mensch hat eben kein Glück. Ich bin in Ihrer Hand und weiß, daß Sie mich verhaften wollen; der Steckbrief jagt noch hinter mir her.“

Der Gendarm nickte. „Sie sind auch höllisch unvorsichtig, Herr Zellin. Was thun Sie hier?“

„Manchmal reitet einen der Teufel. Ich komme von Schweden, wo mir’s ganz gut ging, und dachte: auf eine Nacht kannst du dich schon mal nach Hause schmuggeln und deine Frau und deine Kinder sehen. Wenn man so jahrelang fort ist von seiner Familie, kriegt man mal die Sehnsucht wie eine Krankheit; sie verwirrt einem ganz den Kopf. Meine Frau hat heute gerade Geburtstag ... Sie sind doch auch verheiratet?“

„Jawohl, sehr – meine Alte wird warten heute …“

„Ich will Ihnen einen Vorschlag machen … nein, nein, Sie sollen mich nicht etwa laufen lassen, hol’s der Fuchs, ich hab’ mich drein ergeben … aber verhaften Sie mich wenigstens heute nicht! Kommen Sie mit auf das Gut, wir trinken einen guten Tropfen auf das Wohl meiner Frau zusammen und machen ihr irgend etwas weis, was sie beruhigt. Wir kneipen die Nacht durch, ich gehe Ihnen nicht aus den Augen, früh um sechs fahren wir ab. Wenn Sie wollen, auch früher, mit Gespann.“

„Hm!“ sagte der Gendarm, mit einem Blick, der in die innersten Gedanken des Herrn Zellin dringen sollte.

„Meine arme Frau hat dann wenigstens einen glücklichen Geburtstagsabend; sie hat Gram genug ausgestanden – verderben Sie ihr bloß heute den Tag nicht. Sie wird nachher noch Jammer genug haben. Wollen Sie? Wir müssen ja doch heute auf dem Gut nächtigen – bei dem Wetter, was soll sonst werden?“

Er hielt dem Gendarm die Hand hin. „Na gut,“ sagte der und schlug ein. „Aber ich passe höllisch auf!“

Ueber das Gesicht des Herrn Zellin flog etwas wie ein Lampenflackern; er blinzelte, nur eine Sekunde.

„Nun sagen Sie bloß, Herr Zellin, wie haben Sie den Menschen totschlagen können! So ’n Mann wie Sie!“

„Gewollt hab’ ich’s ja nicht; ich habe ihn bloß so unglücklich getroffen, nur mit der Faust. Und ich habe wahrhaftig hinterher genug ausgestanden in meinem Gewissen. Die Sache ging so zu: er war ja ein reicher Junge, der einzige Sohn, und sein Vater galt für ’nen halben Thalermillionär. Wir wußten wohl, daß er auf Janekow, das ihm der Alte gekauft, schlecht wirtschaftete, oft verreiste und Geld mit Spiel und anderm Unfug verthat; aber als er kam und mir zwanzigtausend Mark abborgte, hatte ich doch noch keine Ahnung, daß er bankrott war. Er gab mir für das Geld Wechsel, die ich fällig machen konnte, wie ich wollte. Auf einmal höre ich, er ist fertig, der Alte hat das Gut für die Taxe übernommen und will für den Sohn auf die Hälfte accordieren. Ich klage rasch die Wechsel ein, schreibe dem Herrn Sohn meine Meinung – da kommt er, spielt den Gekränkten und schlägt mir vor, ich solle nur in den Accord willigen, für den Ausfall wolle er mir neue Wechsel geben. Ich gebe mich denn, nehme die Wechsel und accordiere. Bald darauf starb der Alte, der Junge erbte. Jetzt will ich die Wechsel bezahlt haben – er lacht mich aus. Wollen sehen, mein Junge, sage ich, zuerst klage ich sie mal ein. Was sagt der Kerl? Ich hätte ja accordiert und mich gegen seinen Vater befriedigt erklärt; wenn ich klagte, würde er mich beim Staatsanwalt denunzieren, daß ich seinen Vater betrogen hätte.“

„So ’n Kerl!“ rief der Gendarm.

„Natürlich klagte ich. Da verreiste er, war nirgends zu finden, ließ aber durch seinen Anwalt erklären, er wolle beschwören, daß die Zehntausend mit dem Accord beglichen wären. Zwei Jahre zog er den Prozeß hin; als er dem Eid am Ende nicht mehr entgehen konnte, blieb er im Termin aus und ich gewann. Da denunzierte er mich richtig und ich kam auf die Anklagebank, weil ich die Sache anfangs zu leicht genommen hatte. Am Ende wurde ich ja freigesprochen, aber denken Sie sich die Scherereien und meine Wut!“

Zellin machte eine Pause, dann fuhr er fort:

„Da war ich mal abends in der Stadt, im Kasino, ging spät in der Nacht ins ,Braune Roß’ zu meinem Fuhrwerk. In der Langen Gasse begegnete mir der Mensch unter einer Laterne, blieb stehen und lachte, daß die ganze Straße schallte. Ich konnte mich nicht halten, hatte wohl auch’n bißchen viel Rotspohn getrunken – kurz, ich schlug ihn mit der Faust gegen den Kopf; wohin ich traf, war mir egal. Er fiel um wie ein Sack. Ich wurde nüchtern, untersuche ihu, kriege eine Todesangst … die Sache war faul. Kein Mensch in der Nähe. Ich lasse anspannen, jage nach Hause. Ich ein Mörder! Denken Sie sich bloß das Gefühl, und die Scene mit meiner Frau! Aber es half doch nichts, ich ordnete das Nötigste, dampfte mit dem Frühzug nach Rostock, von da mit einem Norweger Dampfer weiter … aber da sind wir …“

Der Zug bremste, eine Glocke schallte.

„Seitdem haben Sie Ihre Frau nicht gesehen?“ Der Gendarm erhob sich.

„Doch, einmal, in Stettin. Aber sie stand solche Angst aus, daß ich sagte: Nicht wieder.“

„Aber geschrieben haben Sie sich doch mit ihr?“

„Ja, ab und zu, durch eine Cousine von ihr.“

„Haben Sie kein Gepäck?“

Sie standen jetzt draußen auf dem Bahnsteige.

„Ich habe alles in Stralsund gelassen.“

Es gab hier nur eine Haltestelle: ein kleines Häuschen, die unumgänglichste Beleuchtung. Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen, aber der Wind pfiff grausam kalt weiter. Niemand war außer ihnen auf dem Bahnsteige als der Wärter der Haltestelle, und der hielt seine Aufmerksamkeit dem Zuge zugewendet.

„Kommen Sie rasch,“ sagte Zellin, nahm den Arm des Gendarmen und führte ihn um das Gebäude herum. „Ich kenne den Weg.“

Sie schritten im Schnee einen absteigenden Weg hinunter; das Schneelicht reichte kaum hin, ihn zu bezeichnen. Der Himmel war pechfinster. Die beiden schwiegen, während sie nun über Feld gingen, durch das eisige Sausen. Nur einmal fragte der Gendarm: „Zu Hause bei Ihnen wissen sie wohl, daß Sie kommen?“ – „Nein,“ sagte der Gutsbesitzer. Beide mußten schreien, um einander zu verstehen. – Endlich kamen kahle Bäume rechts und links; ein Hund schlug an, ein halb Dutzend andrer nahm das Gebell auf. Ein Häuschen – ein paar andere, mit dunklen Fenstern; Scheunen, ein Hof: da ist das langgestreckte, zweistöckige, weiße Gutshaus. Eine große Dogge rannte aus einem Winkel, Zellin rief: „Diana!“ und der Hund stutzte, heulte und sprang an seinem Herrn wie toll in die Höhe, daß der Mühe hatte, ihn zu beruhigen. Er drängte vorwärts, den hellen Parterrefenstern zu.

Der Gendarm, an dem jetzt der Hund herumschnüffelte, blieb hart hinter ihm, er hatte durchaus nicht die Absicht, den Herrn Zellin entwischen zu lassen, wie sehr ihm der Mann auch nach seiner Erzählung persönlich leid that. Erst kurz vor dem Hause hielt er sich etwas zurück.

Zellin spähte in die Stube, klopfte an die Scheibe. „Mieke!“ rief er mit rauher, halb erstickter Stimme. „Mieke!“ Und gleich darauf wurde der Flügel aufgerissen.

„Adolf – Adolf – allmächtiger Gott …“

„Ich komme, Dir zum Geburtstag zu gratulieren . . .“ weiter brachte er nichts heraus, die Gatten hingen aneinander wie verwachsen, man hörte das aufgeregte Schluchzen der Frau. Plötzlich hielt Zellin ihren Kopf mit beiden Händen fest und sagte laut: „Ich bringe den Gendarm Möbius mit, aber fürchte nichts für mich, auch wenn ich morgen noch einmal mit ihm abfahre – ich werde frei sein.“ Und dann bog er sich einen Augenblick hart an ihr Ohr und flüsterte hastig hinein: „Frag’ nicht weiter darüber, mit keinem Wort – hörst Du?“

[513]

Verwaist!
Nach dem Gemälde von J. Schmitzberger.

[514] Die Frau schloß das Fenster, ließ die beiden ein. „Entschuldigen Sie, Frau Zellin,“ sagte der Gendarm, „ich muß Ihren Mann nur amtlich morgen melden, es wird sich alles machen. Ich gratuliere auch zum Geburtstag!“ Er sprach das mit einer gewissen plump gutmütigen Vertraulichkeit, die eher Verdacht erweckend als beruhigend wirken mußte.

„Ich danke Ihnen; bitte, kommen Sie nur herein!“

Zellin war schon in der Stube, während der Gendarm und die Frau das Vorzimmerchen durchschritten; er warf Pelz und Mütze auf den ersten besten Stuhl, wie eine bis zur Erschöpfung getragene Last, und ging in mühsam verhaltener Erschütterung auf zwei hübsche halbwüchsige Mädchen zu, die vollkommen verwirrt am Tisch unter dem Licht der Hängelampe standen, hochrot, mit großen fragenden Augen … „Annemieke mein Kind Du – Du – so sieht Dein armer Vater aus – Ditha, meine Kleine – mein Braunköpfchen …“ Er riß sie leidenschaftlich an sich, erst eine nach der andern, dann setzte er sich, jede mit einem Arm an sich gepreßt, sie küssend, den Anblick ihrer Blumengesichter trinkend. Nun ließ er sie los, stützte die Arme auf die Kniee und barg den Kopf hinein; nur aus dem Krampf, der ihn schüttelte, merkte man, daß er aufhörte, sich zu beherrschen.

Seine Frau stand neben ihm, legte ihren Arm um seinen Nacken. Der Gendarm, welcher seinen Mantel im Vorzimmer abgelegt hatte, blieb nahe der Thür – er kam sich sehr überflüssig vor und behalf sich mit seiner Amtspositur. Zellin erhob sich, den Arm der Gattin ablösend und um seine Taille ziehend, dann nahm er ihren Kopf um, preßte sie fest an sich und führte sie durch die Stube. „Nehmen Sie am Tische Platz, Möbius, ich bin gleich fertig, ich muß nur erst meine Frau wieder haben. – Mieke,“ flüsterte er mit heißer Zärtlichkeit zu ihr nieder … und dann wieder einmal: „Meine Mieke … so lange entbehrt …“ Er küßte nur ihr Haar.

Sie schritten auf und ab so. Einmal, beim Fenster, sagte er so leise, daß sie es kaum verstand: „Nur dieser Abend noch vorbei – bete, Mieke!“

„Wie lange sind Sie eigentlich fortgewesen, Herr Zellin?“ fragte der Gendarm, dem bei aller Teilnahme die Sache langweilig wurde.

Frau Zellin fühlte einen heftigen Druck von dem umschlingenden Arm, als wollte er ihr mit einer Warnung die Kehle zuschnüren.

„Ich weiß es selber kaum – eine halbe Ewigkeit, glaube ich –“

Er führte die Gattin an den Tisch vor, unter das Lampenlicht, eine aschblonde Mecklenburgerin von echtestem Typus, stattlich von frauenhafter Fülle und mit jenem Anflug von Phlegma, der vornehm läßt. Jetzt sah sie erregt, verweint und unsicher aus – sie stand vor einer Situation, die sie nicht recht faßte und die sie immer wieder unerwartet einschränkte. Er wird frei sein – kommt einen Tag früher als … da sitzt ein Gendarm … es braucht Vorsicht … was heißt das?

Zellin ließ sie los, breitete die Arme auseinander, holte tief Atem, als befreite er sich von etwas, und sagte: „Ah! … Wir wollen Geburtstag feiern, Mieke. Hast Du Wein im Keller?“

„Ja, noch von früher her.“

„Der muß gut sein. Hast Du jemand bei der Hand, in den Keller zu schicken? Aber laß niemand hier herein, wir wollen unter uns bleiben. Und etwas zu essen könnte auch nicht schaden.“

Sie nickte und ging hinaus.

„Noch ein paar Minuten Geduld, Möbius! Heute sollen Sie mal einen ordentlichen Tropfen trinken. Seien Sie gemütlich, Mann Gottes; mir ist ganz leicht jetzt – was sein muß, das muß sein. Ich mach’ mir keine Sorge mehr. Bis Zwölf ist Freiheit, dann legen Sie mir die Hand auf die Schulter. Meine Kleinen! Was treibt ihr denn? Lernt ihr denn was? Wo habt ihr Schule?“

Er saß wieder zwischen den Mädchen, jedes mit einem Arm umfassend, und sie schmiegten sich willig an ihn.

„Bei Fräulein,“ sagte die kleine Brünette zuthulich.

„Was? Ach so, ihr habt ein Fräulein. Wo ist sie denn?“

„Auf ihrer Stube.“

„Sie will Briefe schreiben,“ fügte die ältere hinzu.

„Das paßt ja –“ er sagte das für sich. „Seht ihr – und der arme Papa hat so lange nichts von euch gehabt … ist weit fort gewesen auf Reisen: wißt ihr, wo Schweden liegt?“ …

Er plauderte mit den Mädchen, erzählte ununterbrochen fort, krampfhaft gesprächig – die Hausfrau deckte, still für sich hin, nur flogen verstohlene, sorgende, fragende Blicke auf den Gatten – einmal, zweimal nahm sie seinen Kopf im Vorbeigehen, preßte ihn an sich: „Du hast Dich nicht viel verändert, Adolf,“ sagte sie, und dabei leuchtete es auf in den lichtblauen Augen. „Du auch nicht,“ nickte er. „Aber die zwei hier.“

„Soll ich das Bett für den Herrn Möbins richten?“ fragte sie, als sie mit den Weinflaschen herein kam.

„Na – wie wär’s?“

„Herr Zellin …“ betonte der Gendarm, hob wichtig die Brauen und die Schultern. O, er paßte auf den Dienst!

„Laß nur, Mieke. Das wird sich später finden. Viel Mühe macht’s ja nicht. Also jetzt …“

Er entkorkte zwei Flaschen und goß ein.

„Dein Wohl, meine tapfere Mieke, und Gott füge es noch gut mit uns beiden! Trink aus!“

„Ihre Gesundheit, Frau Zellin,“ sprach der Gendarm mit seinem tiefsten Baß. Er trank auch aus, langsam, bedächtig, während die Gatten einander umschlungen hielten und küßten. „Das ist, glaube ich, was sehr Gutes, Herr Zellin, soweit ich es verstehe,“ dehnte er schnalzend.

„Ja, das ist noch ein Fünfundsiebziger. – Nun schieß mal los: was macht die Wirtschaft, Mieke?“

Er schenkte wieder voll, während sie berichtete. Es war alles im Stande, sie hatte einen guten Inspektor. Dann kam Möbius dran. „Was machen sie denn bei Ihnen in der Stadt?“ Zellin fragte einzeln durch, was ihn interessierte, bis der Gendarm gesprächiger wurde. Er erzählte breitspurig – Zellin saß auf dem Sofa mit seiner Frau; nach dem Essen holte er Cigarren aus der Tasche; immer wieder schenkte er ein – saß zwischendurch, hielt die Gattin umfaßt, bis die aufstand, um die Kinder ins Bett zu bringen. Dann erhob auch er sich, sagte ihnen Gute Nacht. „Soll Papa nun bei euch bleiben?“ „Ja, Vadding, ich lasse Dich nicht wieder fort,“ rief die Kleine und küßte ihn stürmisch; worauf sie der Mutter nachging. „Ihr Unschuldsengel,“ sagte er resigniert hinter ihnen her. „Na, es wird ja auch werden!“

„Es wird wohl zum Aushalten sein, Herr Zellin. Was werden Sie denn kriegen? Ein paar Jahr Gefängnis. Das glauben sie Ihnen, daß sie den Menschen mit der bloßen Faust nicht gerade haben totschlagen wollen und daß es nichts weiter wie ein Unglück gewesen ist.“

„Wollen’s hoffen,“ nickte der Gutsbesitzer und goß wieder frisch ein. „Prosit – wir wollen drauf eins trinken!“

Die Gläser klangen und Zellin zog die Uhr.

„Noch anderthalb Stunden,“ sagte er und setzte das Glas nieder, „dann haben Sie mich.“

„Ja wie machen wir’s denn nun, Herr Zellin? Bis zum Zuge hier sitzen, das paßt mir nicht, ich bin doch zu müde dazu. Es kann Ihnen doch egal sein, wenn wir mit Fuhrwerk fahren, Pferde und Leute genug sind ja hier. Was meinen Sie?“

„Natürlich – wie Sie denken. Wollen mal sehen, wie es draußen aussieht.“ Er ging das Fenster öffnen, der Gendarm erhob sich vorsichtigerweise auch und trat hinter ihn. Als er den Flügel aufschlug, warf der Wind eine Flockenwolke herein, die sie überschüttete.

„Pfui Teufel,“ rief Zellin, rasch wieder schließend. „Eine nette Fahrt wird das werden, wenn’s so bleibt. Na, in anderthalb Stunden kann sich’s ja ändern. Ich wollte sagen: ich verschwöre meine Seligkeit, daß ich Ihnen nicht durchginge, wenn wir nach Zwölf ruhig uns bis zum Frühzug noch ein paar Stunden hinlegten, aber Sie glauben mir doch nicht.“

„Ich muß meine Schuldigkeit thun,“ meinte der Gendarm achselzuckend. „Es geht nicht, Herr Zellin. Mechow, der Getreidehändler, weiß, daß ich Ihnen auf den Hacken bin …“

„Ist gut,“ nickte der Gutsbesitzer zustimmend. „Sagen Sie nur nachher, wenn es soweit ist, wie Sie’s haben wollen …“

Die Hausfrau kehrte zurück.

„Ich habe doch ein Bett zurechtgemacht. Wo will denn der Herr Möbius noch hin diese Nacht? Bleiben Sie lieber hier, es ist so abscheuliches Wetter.“

„Wir werden’s abwarten, Mieke, wir haben eben darüber gesprochen. Vorläufig bleiben wir bis Zwölf auf, wenn er nachher fahren will, wecken wir einen Knecht und lassen anspannen.“

Sie sah unruhig vor sich hin, sah ihren Mann an, schüttelte leise den Kopf und setzte sich dann. Zellin regte wieder krampfhaft lebhaft, wie er früher nie gewesen, Gespräche an, erzählte dem [515] Gendarm die Umstände seiner Flucht mit allen Einzelheiten, seine weiteren Schicksale, wie er im Holzhandel Beschäftigung gefunden, unter falschem Namen, durch einen Verwandten, der drüben lebte … ihre Blicke ruhten immer mit heimlicher Angst auf dem Wiedergefundenen, der in dieser Begleitung heimkehrte, mit einem Geheimnis auf dem Herzen, an das nicht gerührt werden durfte ... War es denn nur wirklich so, daß sie glauben durfte, ihn zu behalten? Ja, wenn er morgen gekommen wäre, und ohne diese Begleitung! So hatte sie es ja erwartet. War er ein Gefangener, dem man nur auf Stunden die Vergünstigung gewährte, sie wiederzusehen?

Das Herz schnürte sich ihr zusammen bei diesem Verdacht, und ihr wurde eiskalt und ganz schwach im Kopfe.

Belog er sie? Um ihr ein paar glückliche Stunden zu schaffen? Aber das konnte nicht ganz stimmen … in seinem ganzen Benehmen war noch etwas anderes angedeutet. Was? – ja was?

Die Viertelstunden schlichen. „Vorläufig bis Zwölf“, hatte er gesagt. Sie tranken – Zellin wurde immer aufgeregter, der Gendarm bekam eine schwere Zunge, wurde müde und weigerte sich am Ende, mehr zu trinken. „Eh,“ rief Zellin überlustig, „ist das alles, was Sie vertragen können? Nur zu, noch mal auf meine Frau …“

„Ich soll mir einen antrinken, Herr Zellin. Das giebt’s nicht,“ sagte der Gendarm, sich stramm machend und mißtrauische Blicke werfend. „Ich halte mein Wort, aber weiter nichts …“

„Meinetwegen ja; ich will auch weiter nichts. Seien Sie kein Frosch, Möbius … ist gut, ich will Sie nicht elenden –“ Der Gendarm hatte sich schwerfällig und sehr ernsthaft erhoben, nun setzte er sich wieder. Und Zellin sah nach dem Regulator an der Wand, der zehn Minuten vor Zwölf zeigte, und seine Wimpern zuckten und er war plötzlich wie geistesabwesend, so starrte er vor sich hin in die Luft und dann wieder auf seine Frau, worauf seine breite Brust schwer Atem holte.

Frau Zellin war seinen Augen gefolgt. Dicht vor Zwölf … und um Zwölf geschieht etwas, aber was? Etwas Großes oder etwas Furchtbares … seine Augen sagen es. Ihr wurde aufs neue eiskalt zu Mut, tot im Kopf und Herzen, als müßte sie ohnmächtig werden.

Zellin spricht auf einmal wieder sehr ruhig, spricht zu ihr, will wissen, was sie für Kutschpferde jetzt hat. Sie muß Auskunft geben, dabei zittern ihre Lippen. Haarklein fragt er sie aus, wie sie aussehen, wie alt sie sind, von wem gekauft. Was sie vorher für welche gehabt – ob der alte Schlitten noch da sei – dann erzählt er von schwedischem Fuhrwerk, von Schneeschuhfahrten im Winter . . .

Der Gendarm beobachtet ihn wie eine Katze die Maus, obwohl es ihn Mühe kostet, die Augen zu spannen. Der Himmel weiß – ihm ist ein Mißtrauen gekommen, das ihn, wo er schon etwas viel getrunken, wie eine fixe Idee gefangen nimmt, immer ausschließlicher beherrscht. Und Zellin sieht es; ein paarmal fängt er diesen Blick des Gendarmen auf, ohne, so scheint es, Notiz davon zu nehmen, dann nickt er ihm verständnisvoll zu und winkt mit dem Kopf zu dem Regulator hinauf. „Geduld, Möbius – übernehmen Sie sich nicht, wir sind gleich soweit.“

Frau Zellin muß das hören. Sie kann sich nicht mehr halten. Totenblaß fährt sie auf. „Was ist, Adolf? Was habt ihr vor?“

„Ruhig, Mieke,“ sagt er, steht plötzlich neben ihr, umfaßt ihren Kopf und hält ihr wie zufällig den Mund zu. „Sorge Dich nicht, es giebt nur eine Ueberraschung … Sie haben doch Ihre Uhr bei sich, Möbius – dort oben ist’s jetzt Zwölf – stimmt das mit Ihrer Kartoffel?“

Der Gendarm zieht seine Uhr und nickt. „Bei mir ist’s schon fünf Minuten drüber. Ja, Herr Zellin, dann kann ich Ihnen nicht helfen – im Namen des Gesetzes: Sie sind verhaftet; ich kann’s nicht ändern, Frau Zellin …“

Er ist aufgestanden, die Hausfrau jäh in die Höhe gefahren, aber der Gatte drückt sie nieder. „Mieke,“ sagt er, schwerer und immer schwerer atmend, und es preßt ihn, daß er aufschreit: „Mieke – ich bin ja frei – jetzt, von jetzt ab ..“ Und er schluchzt aus tiefster Brust und der schreckliche Krampf, der ihn zusammengeschnürt hat, löst sich mit diesem Schluchzen. „Mein Weib, mein liebes armes Weib – meine Mieke …“ Er umschlingt sie, neben ihr knieend, und drückt seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre Augen starren ihn entsetzt an, ihre Gedanken werden ganz verwirrt. „O mein Gott, Adolf, was heißt das, ich begreife ja das alles nicht …“

Er murmelt bloß, was sie nicht versteht, er braucht Zeit, bis er wieder verständlich reden kann. Der Gendarm steht in nächster Nähe, schüttelt den Kopf und sieht um sich, als ob er an Zellins gesundem Verstand zweifelte.

„Ich muß ihn mit fortnehmen, Frau Zellin,“ sagt er, „ich thue meine Pflicht, wenn es auch hart ist. Wir müssen ein Gespann haben, es geht mal nicht anders …“

„Mieke,“ spricht Zellin und hebt den Kopf, und in seinem Gesicht leuchtet alles, „jetzt, gerade um Zwölf, ist alles verjährt – verjährt! Sie können mir nichts mehr anhaben! Bei Gott, wie ich schrieb: es ist so, ich weiß es ganz genau. Jetzt nutzt alles Verhaften nichts mehr. Ich war ja leichtsinnig, daß ich einen Tag früher herfuhr, ich wollte so gern auf Deinen Geburtstag kommen und dachte nicht, daß das Unglück so grausam sein könnte, mir den einzigen Menschen in den Weg zu führen, der alles verderben konnte …“

„Alle Hagel, wenn das wahr ist, dann habe ich mich schön dumm machen lassen, Herr Zellin,“ bricht hier die Ueberraschung des Gendarmen heraus. „Wir wollen’s aber doch erst mal abwarten.“ Und er stemmt einen Arm auf die Hüfte.

„Machen Sie, was Sie wollen, Möbius. Ich lasse anspannen und fahre mit, wenn Sie dafür sind; wir werden mit dem Richter reden und Sie werden sehen, daß ich recht habe. Ich weiß ja die Strfsgesetzbuchparagraphen auswendig wie das Einmaleins: – in zehn Jahren ist die Strafverfolgung verjährt, an dem Tage, wo das Verbrechen begangen ist, und heute war’s, heute vor zehn Jahren, wo mich das grausame Unglück getroffen hat … malen Sie sich bloß aus, Möbius: man will nichts weiter wie einem frechen Menschen seinen Aerger hinter die Ohren schlagen, wie das jedem einmal gelüsten kann, und auf einmal ist man ein Mörder und zehn Jahre flüchtig wie Kain und schleppt außerdem das Grauen bis ans Lebensende mit sich! … Und wenn ich vor Zwölf noch vor den Richter kam, Mieke – wenn mich bloß einer bei ihm meldete und er sagte: Wird morgen vernommen – dann war alles umsonst, jede Handlung des Richters unterbricht die Verjährung! All die Vorsicht, die Angst, die zehnjährige schreckliche Trennung – alles umsonst! … Sie hätten mich ja meinetwegen verhaften können, Möbius – nur der Richter durfte vor Zwölf nichts davon erfahren!“ Er sprudelte das hastig hervor – was er an qualvollen Gedanken bei sich behütet, mußte heraus wie eine verborgene Krankheit, von der man genesen will. Nun hielt er erschöpft inne; so hatte er sich in Aufregung gesprochen, daß ihm der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirne stand.

Der Gendarm hatte mit gerunzelter Stirn zugehört. Ein Vorwurf traf ihn nicht darum, daß er Zellins Bitte nachgegeben; seine Instruktion verlangte nichts, was er versäumt hätte. Ja – im Grunde seines Herzens war er froh darüber, wie sich alles gefügt hatte. Aber die Thatsache war nicht aus der Welt zu schaffen, daß er, der Beamte, sich gründlich hatte nasführen lassen.

„Ich weiß nicht, ob das alles stimmt, Herr Zellin,“ sagte er grob und ärgerlich. „Das mögen sie auf dem Gericht untersuchen. Ich habe meine Pflicht zu thun, und ich muß darauf bestehen …“

„Jawohl, ja doch!“ unterbrach Zellin, sich erhebend. „Sorge, Mieke, daß der Kutscher geweckt wird und anspannt – bei dem Wetter ist die Kutsche besser als der Schlitten, denke ich.“

Auch die Frau stand jetzt auf. Die Hände auf die Brust gepreßt, hatte sie ängstlich dem Gatten während seiner Auseinandersetzung auf den Mund gesehen, nun irrten ihre Blicke von einem der Männer zum andern und plötzlich ergriff sie Zellins Hände: „Adolf,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „bei Deiner Ehre: ist’s wahr, ist’s ganz sicher, daß jetzt alles verjährt ist, daß sie Dich nicht mehr einsperren können? Ich bin auf alles gefaßt.“

„Bei der Todesangst, die ich in diesen Stunden ausgestanden habe, Mieke, es ist so – der beste Advokat, den ich kenne, hat mir’s herausklamüsert.“

*  *  *

Die Männer fuhren in die Stadt, in geschlossener Kutsche vor dem Wettergraus dieser Nacht geborgen. Ein paar Stunden war Zellin in Gewahrsam, dann gab ihn der Richter vorläufig frei, mit einem lächelnden Glückwunsch.

Der arme Zellin war gut beraten gewesen!

Der Gendarm Möbius aber läßt sich gar nicht gern an die Sache erinnern, auch heute noch nicht, wo Jahre darüber vergangen sind. Er – solch ein Pfiffikus!


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Blätter und Blüten.


Der junge Dürer kommt zu Wohlgemuth in die Lehre. (Zu dem Bilde S. 504 und 505.) Albrecht Dürer, der größte deutsche Maler des Reformationszeitalters, war eines Handwerkers Sohn. Aber dieser Handwerker, der Goldschmied Albrecht Dürer, betrieb sein Handwerk als Kunst; er gehörte mit zu denen, welche dem alten Nürnberg des 15. und 16. Jahrhunderts zu jener Blüte des Kunsthandwerks verhalfen, die wir noch heute bewundern. In der Werkstatt des Meisters hatte der Sohn, der seinen Vornamen erbte, schon als Knabe Gelegenheit, den Sinn an schöner Form, die Hand im Zeichnen zu üben. Doch das früh sich regende Talent des gelehrigen Kleinen fand sehr bald kein Genügen am Zeichnen von Ornamenten für Schmuckwerk und Waffenzier; er überraschte Eltern und Gespielen mit Zeichnungen nach lebenden Personen, so in seinem 13. Jahre mit einem Bildnis, das er von sich selbst aus dem Spiegel aufnahm. Dieses Bild ist uns erhalten; es befindet sich in der „Albertina“ in Wien und vermittelt uns einen Einblick in das früheste Werden der Kunst Albrecht Dürers wie die Kenntnis seines Aussehens als Knabe. Mehr noch als die in ihm bethätigte Kunstfertigkeit verblüfft uns darin die wundersam beseelte Charakteristik der Gesichtszüge und deren bereits vorhandene Aehnlichkeit mit den späteren Selbstporträts des zum Manne gereiften Meisters. Ein sanfter milder Ausdruck waltet in ihnen vor; in den Augen liegt Sinnigkeit und ein früher Ernst, der durch das langgetragene Haar noch gehoben wird; die kräftig hervorspringende Nase und die leichtgewölbten geschlossenen Lippen über dem entwickelten Kinn deuten auf Energie und Bewußtheit des Willens. 1486, zwei Jahre nach dieser Kunstprobe, also in seinem 15. Jahre, kam der junge Dürer zu Michael Wohlgemuth, dem zur Zeit angesehensten Nürnberger Maler, in die Lehre. In der Zwischenzeit jedoch hatte er in der Goldschmiedwerkstatt seines Vaters eine regelrechte Lehrzeit durchgemacht, was für seine künstlerische Entwicklung von hoher Bedeutung war. Mit Recht sagt A. v. Eye in seinem schönen Buch über Dürer, daß dessen hohe Fertigkeit im Zeichnen und Modellieren, sein scharfer Blick für Proportion und künstlerische Anordnung, unter der Anleitung des Vaters seine Grundlage erhielt; gehörte doch das freihändige Gravieren in Metall zu den Hauptkunstfertigkeiten des Goldschmieds. Nur ungern scheint sich der Alte entschlossen zu haben, das reiche Talent seines Albrecht einem andern „Handwerk“ zu überlassen.

Ja, auch die Malerei hatte sich damals in Deutschland noch nicht aus den Banden des zunftmäßigen Handwerks losgelöst. Sie war auch da, wo sie als freie Kunst geübt ward, ein Kunsthandwerk wie die Goldschmiederei, Erzgießerei, Formenschneiderei, Steinhauerei etc. Kunstschulen und Akademien waren dieser Zeit noch fremd; es gab weder Farbenfabriken noch Handlungen mit Malutensilien. Wer Maler werden wollte, trat bei einem Meister als Lehrling ein, lernte bei diesem zunächst die Hilfsleistungen, die Bereitung und das Anreiben der Farben, das Zurichten und Glätten der Holzlafeln, auf denen damals vorherrschend gemalt ward, das Reinigen von Pinseln und Palette, bis er zur kunstgemäßen Anwendung dieser Dinge zugelassen wurde; nach vollendeter Lehrzeit hatte er dann als Gesell auf die Wanderschaft zu gehen und bei anderen Malermeistern Arbeit zu suchen. Auch der Kunstübung selbst haftete viel Handwerksmäßiges an und selbst Meister Michael Wohlgemuth, obwohl in seinem persönlichen Schaffen ein wirklicher Künstler von ernstem Streben, ließ in seiner Werkstatt von zahlreichen Gesellen Votivtafeln und Altarbilder fabrikmäßig nach herkömmlicher Schablone herstellen. Als Albrecht Dürer der Vater hier seinen Knaben einführte und den ergrauten Maler bat, den Sohn als Lehrling anzunehmen, mag dieser freilich beim Betrachten der frühen Talentproben desselben sogleich erkannt haben, daß dieser stille sanfte Knabe mit dem feierlichen Ernste im Blick zu Höherem berufen sei, daß sich ihm hier die beglückende Aufgabe stelle, als Meister der Kunst einen neuen Meister heranzubilden. Und daß er sich dies angelegen sein ließ, das beweist die Anhänglichkeit, welche Dürer, nachdem er selbst zu Ansehen und Ruhm gelangt war, seinem alten Lehrer bethätigt hat und von welcher auch das liebevoll ausgeführte Bildnis zeugt, das er dann von ihm malte. Als Dürer im Alter daran ging, Nachrichten über sein Leben niederzuschreiben, hat er sich über seine Lehrzeit nur kurz dahin geäußert, es habe ihm in derselben Gott Fleiß verliehen, „daß er wohl lernete“, und hinzugefügt, daß er viel von den Gesellen seines Meisters zu leiden gehabt habe. Wir dürfen annehmen, daß nicht nur das vor allem Gemeinen zurückschreckende Wesen des Jünglings den Hohn und Spott ganz anders gearteter Zunftgenossen herausforderte, sondern daß auch die Ausnahmestellung, die dieses Wesen sich beim Meister eroberte, dazu beigetragen hat, ihm die Mißgunst der die Kunst nur als Handwerk betreibenden Gesellen zuzuziehen.

Den bedeutsamen Augenblick, in welchem der junge Dürer in diese Welt des Lernens eintrat, hat F. Bayerlein in unserem Bilde mit Benutzung all dieser Motive lebensvoll dargestellt. Zur Ausführung der Gestalten des die Zeichnungen des jungen Talents teilnahmsvoll prüfenden Wohlgemuth, des kritisch dreinschauenden Vaters und des gespannt das Urteil erharrenden Knaben, konnte er die Bilder benutzen, in denen Dürer selbst die drei Charakterköpfe der Nachwelt überliefert hat. Im Hintergrund zeigt das Bild einen Lehrjungen gewöhnlicheren Schlags beim Farbenreiben und einen jener Gesellen, von denen der jetzt neu eintretende Lehrling dann so grobe Behandlung zu ertragen gehabt hat. Ihm selber aber sehen wir an, daß Roheit und Unbill seinem Streben nichts anhaben und ihn nicht irre machen werden an seiner Mission, die Handfertigkeiten, die er sich auf dem goldenen Boden des Handwerks erworben, in den Dienst einer Kunst zu stellen, die unter dem Einfluß der Renaissance das innigste Empfinden seiner eigenen Seele, die tiefsten Gedanken seines eigenen Geistes in Darstellungen voll Schönheit und Wahrheit zu offenbaren berufeu war. J. P.     

Am Strand. (Zu dem Bilde S. 501.) Es ist zur Zeit der beginnenden Ebbe. Gestern wütete ein arges Wetter draußen auf See, turmhoch gingen die Wogen und gar manches Schiff mag da seinen letzten Kampf gekämpft haben. Jetzt aber ist Frieden in Luft und Wasser. Das ist die günstigste Zeit für den Fischfang; denn die schuppigen Bewohner der blauen Tiefe, die sich während des Sturmes in die dunklen und unbewegteren Gründe zurückgezogen haben, kommen jetzt wieder zu den lichteren Regionen empor, um frischen Sauerstoff einzunehmen. Sie gehen während des Aufsteigens und der damit verbundenen Suche nach Nahrnng sehr leicht in die Netze und an die Angeln. Die Angehörigen unseres Flschermädchens benutzen bei ihrem Gewerbe jedenfalls das Angelzeug, denn das schwermütig dreinschauende junge Wesen hat nicht so ganz von ungefähr die Gerätschaften zum Köderfang mitgenommen und sich an den Strand begeben. Der an einem langen Stiele befestigte Haken dient ihr nämlich dazu, den „Pierer“ oder Sandwurm aus dem trockengelaufenen Ebbestrand herauszuholen. Der „Pierer“, Arenicola piscatorum, ist der begehrteste Fischköder; überall wo es an den europäischen Flachküsten Sand giebt, ist darin das regenwurmartige Tier zu Millionen zu finden; man erkennt seinen Stand an den bindfadenförmigen gewundenen Erdhäufchen, die oft zu vielen Tausenden einen Quadratmeter freigelaufenen Erdreichs bedecken. Unser junges Fischermädchen ist eine Belgierin oder Nordfranzösin, denn an der deutschen, niederländischen und auch dänischen Küste benutzt man zum Fang des „Pierers“ ein gabelartiges Instrument, mit welchem der Wurm ausgegraben und zugleich aufgespießt wird. Der Hakenstock dagegen herrscht an der belgischen und französischen Küste. Das hat seinen guten Grund; die Küstengewässer werden hier nämlich reicher und reicher an Krabben und kleinen Schaltieren. Der Hakenstock dient nun beiden Zwecken zugleich; der begehrte Fischköder, der „Pierer“, wird mit ihm aus dem Sande aufgehakt und blitzschnell in den Segeltuchsack befördert, der unserem Strandmädchen auf der linken Hüfte hängt, aber auch mancher fette Taschenkrebs, mancher Seeigel muß sich den Haken gefallen lassen, um hinterher in die Basttasche zur Rechten unserer Fischerin zu wandern und später eine gute Abendmahlzeit abzugeben. H. P.     

Verwaist! (Zu dem Bilde Seite 513.) Der Pirschgang ist des Jägers größte Kunst und größte Lust. Sich hinsetzen und dem heranziehendcn Bocke die Kugel zuzusenden – das kann jeder, aber den Bock geräuschlos schleichend aufsuchen und dann bei wenig Deckung schußmäßig an den alten schlauen Burschen heran zu weidewerken – das ist des Jägers höchste Befriedigung. Beim Weidewerken hat man alles im Auge und sieht auch manches, was man sonst nicht zu sehen bekommt – da steht auch einmal auf der Waldblöße eine Ricke, umtollt von ihren buntgefleckten Kitzchen; in dir macht sich der Wunsch rege, das reizende Familienidyll ganz in der Nähe zu betrachten, und du pirschst heran. Du verstehst die Sache und bist endlich nur noch zwanzig Schritte von ihnen entfernt, so daß du genau die Zeichnung ihrer Decke unterscheiden kannst – die hellen Tupfen auf braungrauem Grunde und die dunklen treuen Rehaugen. Jetzt, wo du den lieblichen Geschöpfen so nahe bist, möchtest du eins fangen und als alter Praktikus weißt du auch, wie man es macht.

Mit laut gellendem Aufschrei springst du plötzlich hinter dem Busche hervor – die Ricke rennt ins Dickicht und wie vom Blitz erschlagen sind die Kitzchen im langen Grase verschwunden. Rasch eilst du nach der Stelle hin, wo du sie eben noch hast spielen sehen – da liegt eins platt auf die Erde gedrückt, und wenn du es aufhebst, stellt es sich leblos und ist steif, als wäre es vom Starrkrampf befallen. Allein bald erholt es sich von seinem Schreck und auf den gellenden Hilferuf eilt schmälend sofort die Mutter herbei bis unmittelbar vor dich, umkreist dich, „schnellt“ mit den Vorderläufen den Boden und schimpft und tobt so lauge, bis du dem Kitzchen die Freiheit giebst.

Des Jägers Feind ist jeder, der Flinte und Büchse führt und nicht den Weidmannsspruch befolgt:

„Das ist des Jägers Ehrenschild,
Der treu beschützt und hegt sein Wild,
Weidmännisch jagt, wie sich’s gehört,
Den Schöpfer im Geschöpfe ehrt“ –

sein größter Feind aber der Wilderer, der alles niederknallt, was er sieht und was er mit seinem Mordgewehr erreichen kann – ja, der den Hilferuf des Kitzchens nachahmt, um die Ricke heranzulocken und ihr meuchlings das todbringende Geschoß zuzusenden.

Dort, wo solches Raubgesindel sein Unwesen treibt, kann es dem weidewerkenden Jäger begegnen, daß er eine verendende Ricke im Buschwerk findet. Neben ihr stehen die verwaisten, schmachtenden Kitzchen, zupfen trauernd an der kalten Mutter herum und können nicht begreifen, daß sie nicht aufsteht, um ihnen Nahrung zu reichen und mit ihnen durch Hain und Feld zu ziehen. Aber die Ricke steht nicht auf; und ein Glück für die Kleinen ist es, wenn der Jäger sie findet und mit nach Hause nimmt, um sie dort mit Hilfe der Milchflasche zu Spielgenossen der Kinder aufzuziehen. Karl Brandt.     


Inhalt: Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (6. Fortsetznng). S. 501. – Am Strand. Bild. S. 501. – Der junge Dürer kommt zu Wohlgemuth in die Lehre. Bild. S. 504 und 505. – Das neue Goethe-Schiller-Archiv in Weimar. Von Dr. K. Markscheffel. Mit Abbildung. S 507. – Die Marskanäle. Ein Beitrag zur Frage über die Bewohnbarkeit der Planeten. Von Dr. H. J. Klein. S. 508. Mit Abbildungen S. 509 und 510. – In letzter Stunde! Novelle von Victor Blüthgen. S. 511. – Verwaist. Bild. S. 513. – Blätter und Blüten: Der junge Dürer kommt zu Wohlgemuth in die Lehre. S. 516. (Zu dem Bilde S. 504 und 505.) – Am Strand. S. 516. (Zu dem Bilde S. 501.) – Verwaist! Von Karl Brandt. S. 516. (Zu dem Bilde S. 513.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 30. 1896.



Das Lauchstädter Kostümfest. Im Anschluß an die diesjährige Goethe-Versammlung in Weimar, die durch die Einweihung des neuen Goethe-Schiller-Archivs (vgl. diesen Jahrgang der „Gartenlaube“ S. 507) eine ganz besondere Weihe erhalten hat, fand am 2. Juli in dem thüringischen Landstädtchen Lauchstädt eine bedeutungsvolle Feier statt. Die Eisenquelle, die hier seit Ende des 17. Jahrhunderts von Kranken benutzt wird, erfreute sich in der Zeit Karl Augusts eines vortrefflichen Rufes. Die Lage Lauchstädts zwischen Weimar und Halle erwies sich besonders günstig. Seit dem Jahre 1791 gaben die unter Goethes Leitung stehenden Weimarischen Hofschauspieler hier alljährlich im Sommer, zur Badezeit, Vorstellungen. Fern vom Getriebe der großen Welt, nur einer kleinen Gemeinde zur Freude, schritten die herrlichsten Gestalten der Dichtung über die Bretter des unansehnlichen Hauses. Die von Goethe als Euphrosyne gefeierte Schauspielerin Christiane Neumann entzückte hier als Marianne in den „Geschwistern“ den Meister und die Hörer; der Epilog zu Schillers Glocke, das gewaltige Klagelied des Freundes um den zu früh verlorenen Freund, erscholl hier zuerst der Welt. Diese Zeit klassischer Erinnerungen sollte wieder lebendig werden.

Durch die langen herrlichen Alleen des Lauchstädter Kurparkes drängte sich am Nachmittag des 2. Juli eine festliche, buntgeschmückte Menge im Kostüm der damaligen Zeit. So hatte man es strenge bestimmt, und kein profaner „Moderner“ störte den malerischen Eindruck des entzückenden Bildes – nur einige der aus Halle herübergekommenen Studenten wollten mit ihrem „Wichs“ in das Gesamtbild nicht passen. Duftige Frauen- und Mädchengestalten im Empirekostüm, vornehme Hofleute mit sammet- und seidengestickten Röcken, kraftvolle Bürgergestalten, Studenten mit flatternden Haaren, den Säbel umgeschnallt, die Thonpfeife im Munde, wackere Nachkommen der einst berüchtigten „Renommisten“, sie alle stellten ein Bild dar, das den Teilnehmern unvergeßlich bleiben wird. Um 4 Uhr ertönte der Ruf ins Theater. Das alte Gebäude, mehr einem Stall als einem Musentempel ähnlich, füllte sich in kurzem mit der buntbelebten Menge. Der Großherzog Karl Alexander von Sachsen-Weimar nahm auf der ersten Reihe Platz. Drei wuchtige Schläge auf der Bühne verkündeten den Anfang der Vorstellung. Ein von Professor Burdach in Halle gedichteter Prolog ging der Aufführung der „Geschwister“ durch Mitglieder des Weimarischen Hoftheaters voran; es folgte der dritte Akt aus den „Piccolomini“, und ein gleichfalls von Burdach gedichteter Epilog machte den Schluß. Der Vorhang senkte sich, verrauscht waren Spiel und Wort, die trüben Oellampen nur leuchteten noch in dem verlassenen Hause, aus dem die bunte Menge zu anderen Belustigungen geströmt war.

Inzwischen entfaltete sich draußen im Kurgarten ein reges Leben, alles eilte zum lecker bereiteten Mahle, das im Kursaale zugerüstet war. Abends erstrahlte der ganze Park im herrlichsten Lichtschmuck, und zu den Klängen einer fröhlichen Tanzmusik bewegten sich die anmutigen Paare in belebtem Rhythmus. Allmählich verstummte das Jubeln der Menge, tiefer senkten sich die Schatten der Nacht, in ihren Mantel gehüllt verließ Frau Anmut den Tummelplatz der kurzen Freuden, rasches Gefährt entführte die Gäste in die Heimat. Alles war bald wieder wie sonst, hie und da flammte noch ein Licht, leises Rauschen ging durch Busch und Baum, raunend von vergangener Lust und Herrlichkeit. P. W.     

Zweirad und Eisenbahn. Dem Radsport, der in den letzten Jahren immer mehr zu einem Verkehrsmittel für breite Volksschichten sich ausgebildet hat, sollen jetzt auch die Eisenbahnlinien dienstbar gemacht werden, allerdings nicht mehr auf die früher mehrfach versuchte Weise, Dreiräder mit besonders geformten Reifen direkt auf den Schienen laufen zu lassen. Vielmehr handelt sich’s gegenwärtig nur darum, die mit hohen Kosten geschaffenen geradlinigen und gut planierten Bahnstrecken rechts und links von den Schienen dem Rade zu erobern. Durch geringfügige Ergänzungen könnten hier leicht glatte, schmale und stets dienstbereite Wege für das Gummirad geschaffen werden, wie sie selbst die besten Chausseen nur bei gutem Wetter darbieten. – Die Columbia and Maryland Electric Railway will mit dieser Neuerung auf ihrer Bahnstrecke Baltimore–Washington den Anfang machen, indem sie zu beiden Seiten des Geleises einen fünf Fuß breiten ganz glatten Steig nur für Radfahrzwecke anlegt. Sicherlich ließe sich auf solchen Wegen, die weder Unebenheiten noch Wagenverkehr besitzen, die Schnelligkeit der modernen Zweiräder, die schon jetzt 20 bis 25 km die Stunde beträgt, noch etwas steigern und würde alsdann derjenigen der Personenzüge, die in den meisten Ländern auch nur 40 km oder noch weniger beträgt, gar nicht mehr viel nachgeben. Sollte sich diese Neuerung durchführen lassen und von der Neuen in die Alte Welt übergehen, so würde dieselbe zweifellos den Umschwung in unserem Verkehrswesen, den das Fahrrad bereits bewirkt, noch wesentlich verstärken.Bw.     

Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0516.jpg

Bilder vom Lauchstädter Kostümfest.
Nach dem Leben gezeichnet von G. Heil.

[516 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]