Die Gartenlaube (1896)/Heft 39

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1896
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[649]

Nr. 39.   1896.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.


Die Geschwister.

Roman von Philipp Wengerhoff.

     (1. Fortsetzung.)

2.

Wie hübsch und behaglich es am Abend wieder bei Geheimrats aussah! Der Erkersalon, das rote Boudoir und das Speisezimmer waren erleuchtet. Die große Lampe brannte über dem Eßtische, der mit dem gemalten Tafelservice, dem glänzenden Krystall und Silber und dem geschmackvoll geordneten Bouquet aus Herbstlaub, Astern und Vogelbeeren einen gar einladenden Anblick bot, und vor den Kamin hatte man schon einen Korb mit Tannenzapfen gestellt, um im rechten Augenblick ein helles Flackerfeuer zu entzünden. Lisbeth legte noch die Servietten in eine zierliche Form und plauderte dabei mit der Schwester, die, sich im Schaukelstuhl wiegend, wieder die Zuschauerin bei der häuslichen Arbeit abgab.

„Wo steckt denn Mama eigentlich, Liesel?“

„In der Küche.“

„Aber was thut sie da nur immer? Es ist doch wirklich, als ob wir, wie den Diener, auch die Köchin geborgt hätten. Ich begreife euch nicht. Ihr beide habt wirklich entsetzlich plebejische Neigungen.“

„So unüberwindlich wäre diese Neigung wohl nicht, aber wenn eine billige Köchin ein feines Souper liefern soll, da braucht es Nachhilfe. So ist es ja mit allem andern auch, überall stehen wir eben vor der Notwendigkeit.“

Elfriede wollte etwas erwidern, da wurde die Thür geöffnet und die Frau Geheimrätin trat ein.

„Ach, Lisbeth, Du bist flink dabei gewesen, aber ich bin auch fertig. Das Aufgeben und Tranchieren mag Hanne besorgen, ich muß mich nun abkühlen. Das Herdfeuer erhitzt zu sehr, und schließlich sehen es die Gäste einem noch an, daß man selbst Kochfrau gespielt hat.“

„Wäre das so schlimm, Mama?“

Die zuckte die Achseln. „In meiner Stellung – allerdings. Umstände bestimmen die Sache. Als eines Kanzlisten Frau würde ich mich wahrscheinlich zur Frau Kollegin mit dieser Arbeit brüsten.“

„Das letztere,“ meinte Lisbeth, „wäre ja wohl nicht nötig. Aber, daß wir es so ängstlich verbergen müssen, was unser eigentlicher Frauenberuf ist, das kann ich nun auch nicht begreifen. In erster Reihe bist Du doch Hausfrau, und Papas amtliche Stellung kann doch erst in zweiter Linie in Frage kommen.“

„Wir wollen dieses Thema lassen,“ gab die Mutter zurück. „Du bist nicht so beschränkten Geistes, daß Du das Gegenteil von dem, was Du eben behauptest, nicht wüßtest. Es ist nur der Widerspruchsgeist in Dir, der sich immer gegen die gesellschaftliche Ordnung wendet. Kann denn eine Gattin diese Pflichten trennen? Glaubst Du, daß Papa überhaupt in dieses hohe Amt gekommen wäre, wenn ich nicht von Anfang an mit ganzer Kraft danach gestrebt hätte, unser äußeres Auftreten dieser Stellung entsprechend einzurichten? Die Frau

Großvaters Uhr.
Nach dem Gemälde von C. Cej.

[650] fördert den Mann oder sie hindert ihn, ein Anderes giebt’s nicht bei solchem engen Zusammenleben. Ich kann mir wohl das Zeugnis geben, daß ich das erstere gethan.“

„Unterschreibe ich,“ sagte der Geheimrat, der, ins Zimmer tretend, die letzten Worte gehört hatte. „Aber was habt ihr mir? Es klang fast wie eine Kammerdebatte!“

„Ach,“ meinte seine Frau, die offenbar nicht angenehm durch sein Dazwischentreten berührt war, „Lisbeth lehnte sich nur wieder einmal gegen gebotene Rücksichten auf.“

„Aber Mama, das that ich doch nicht!“ sagte diese und setzte, zu dein Vater gewendet, hinzu: „Ich meinte nur, da Mama doch solch’ eine musterhafte Hausfrau, so unermüdlich fleißig, so praktisch, so außerordentlich geschickt ist, warum wir dieser Eigenschaften nie vor anderen erwähnen dürfen?“

„Nun,“ sagte der Geheimrat mit einem leichten Lächeln, „wenn Du Deiner vortrefflichen Mutter große Vorzüge so gebührend zu schätzen weißt, dann ordne Dich auch ihrer besseren Erkenntnis unter und nimm an, daß es so richtig ist, wie sie es zu haben wünscht.“ Damit trat er ins Nebenzimmer.

Lisbeth seufzte leise, dann wandte sie sich an die Mutter:

„Es ist noch eine halbe Stunde, bis unsere Gäste kommen, und es ist alles besorgt, da möchte ich noch auf einen Augenblick fortgehen – es ist heute Taute Römers Geburtstag.“

Man sah es der Geheimrätin wohl an, daß ihr ein Verbot auf den Lippen schwebte, aber sie mochte finden, daß sie um des lieben Friedens willen schweigen müßte; so neigte sie stumm den Kopf, leichtfüßig eilte Lisbeth über den Vorplatz, die Treppe hinunter und zum Hause hinaus.

Neben dem an einem mit hübschen Parkanlagen geschmückten Platze gelegenen Gebäude der Provinzial-Steuerdirektion zog sich ein schmales Gäßchen hin, welches man zur Abkürzung des Weges nach der nächsten Straße benutzen konnte, und trotzdem es dunkel und wenig belebt war, lief Lisbeth, ihr Tuch fester um die Schultern ziehend, eilig hindurch und trat nach wenigen Minuten Gehens in ein großes, kahl und einfach aussehendes Haus, das an der Mittelfront die Bezeichnung „Volksschule“ trug.

Beim Oeffnen der Eingangspforte ertönte eine dünne, schrille Glocke, und auf dieses Signal wurde auch gleich von innen die Zimmerthür, die direkt auf den Hausflur führte, geöffnet und eine ältere, weißhaarige, freundliche Frau leuchtete mit einer hellbrennenden Lampe der Eintretenden entgegen.

„Ach, Lieschen, Du bist’s? Willkommen, Kind! Ich fürchtete schon, nach Deinem schriftlichen Gruße von heute morgen, daß ich Dein liebes Gesichtchen an diesem Tage nicht mehr sehen würde.“

„Nein, Tantchen, das ließe ich mir nicht nehmen, und wenn’s auch nur ein paar Minuten sein können.“

Sie traten ein und Lisbeth freute sich an der Blumenfülle, die zu Ehren dieses Festes auf Fensterbrett und Tischen Platz gefunden hatte und welche das hohe und geräumige, aber sonst aufs einfachste ausgestattete Zimmer sehr anmutig schmückte.

Wie heimatlich es ihr entgegen wehte ihre schönsten Kindheitserinnerungen verbanden sich mit diesem Raum, und ein zarter Hauch, wie aus jenen sonnigen Tagen hinüber gerettet, lag für ihr Empfinden hier über allem.

Gertrud, die Pflegetochter des Volksschullehrers Römer, war schon ihre liebste Gefährtin gewesen, als sie beide noch kaum die Kunst des Gehens und Stehens gekannt. Drüben in dem großen Hause hatten ihre Eltern gewohnt. Die Frau Assessor war aber schon damals so viel mit Standesrücksichten beschäftigt gewesen, daß sie für ihr Töchterchen wenig Zeit übrig hatte und das kleine Lieschen herzlich gern der Frau Römer überließ, die sich für das früh verwaiste Kind ihrer Schwester auch keine liebere Gesellschaft wünschte. Ihr eigener Sohn, Arnold, der einige Jahre älter als die kleinen Mädchen war, hielt es erst mit seiner männlichen Würde für unvereinbar, deren Spiele mitzumachen, um dann doch von Jahr zu Jahr immer fester ihnen anzuhängen. Wie köstlich hatten die drei Kinder miteinander gespielt und wie bald war der Altersunterschied vergessen, als die Mädchen lesen gelernt und sie nun zusammen in Robinsons Abenteuern schwelgten, ja diese auf dem weiten Dachboden des Hauses in der großartigsten Weise in Scene setzten!

Später fiel ein Schatten für Lisbeth auf dieses Kinderglück; sie mußte sich die erst so bereitwillig gestatteten Besuche bei ihren Freunden allmählich erbetteln, dann erkämpfen. Die Frau Regierungsrat fand, daß der Umgang mit den Kindern des Volksschullehrers nicht passend für ihre Tochter sei, und die Frau Geheime Oberfinanzrätin gar hielt es für unmöglich, einen weiteren Zusammenhang zwischen jenem Hause und dem ihren zu dulden. Aber so nachgiebig und fügsam Lisbeth in allem anderen ihren Eltern gegenüber war, hier fand die kindliche Unterordnung ihre Grenze, und obwohl diesem Freundschaftsverhältnisse niemals eine Berechtigung zugestanden wurde, hielt die Mutter es schließlich doch für geraten, dasselbe um des häuslichen Friedens willen zu ignorieren, auch als Gertrud Arnolds glückliche Frau geworden und Lisbeth ihre liebste Vertraute geblieben war.

„Lege das Tuch ab, Lieschen, Du könntest Dich sonst auf dem Rückweg erkälten, und ich habe so viel auf dem Herzen, was Du mir tragen helfen mußt.“

„Das klingt ja ganz trübe, Tantchen!“

„Es sind auch Sorgen ins Haus gekommen, Kind, und Dir kann ich es ja sagen: es beängstigt mich ordentlich, daß das neue Lebensjahr so beginnt.“

Lisbeth sah sie erschreckt und fragend an.

„Ist denn Gertrud nicht hier? Ich glaubte sie doch bestimmt hier zu finden!“

„Die Kinder waren zu Tische bei uns, nun ging Arnold aufs Bureau und Gertrud auf ein Stündchen nach Hause, um sich ein wenig zu ruhen, und es ist mir auch lieb so, damit wir allein miteinander reden können.“

„Nun?“ fragte Lisbeth voll Erwartung.

„Nun – Arnold ist avanciert, und diese Nachricht brachte er mir als Geburtstagsgeschenk. Aber mit der Beförderung ist leider auch eine Versetzung verbunden. Er kommt an die Oberpostdirektion nach D., und wenn ich auch darauf gefaßt war, unsere Kinder nicht immer hier zu haben – jetzt gerade ist es doch gar zu ungelegen.“

Lisbeth war ganz erblaßt.

„Arnold versetzt? In welcher Eigenschaft denn?“ fragte sie mit leisem Beben in der Stimme.

„Er ist Revisionsbeamter geworden zunächst Kassenkontrolleur, hat aber die Anwartschaft, in einem Jahre Postinspektor zu sein, und meint dann, in weiteren zwei Jahren als Rat angestellt zu werden. Es ist eine große Auszeichnung bei seiner Jugend, und Du kannst glauben, daß es mich sehr beglückt, ihn, der doch nur aus Rücksicht für uns das Studium aufgab, sein Leben nicht in subalterner Stellung hinbringen zu sehen. Ich würde natürlich gern unseren Verlust ruhig tragen und ihm das Scheiden nicht schwer machen aber jetzt gerade, Lieschen! Gertrud erklärte sofort, sie ginge unter allen Umständen mit. Sie wollte lieber in einer Kammer wohnen, als sich von ihrem Manne trennen – und recht hat sie ja auch. Wir gehen dem Winter entgegen, kann sie jetzt nicht mit, so wird es Frühling, bis sie die Reise wagen könnte, und das hielte sie gar nicht aus.“

„Ja, das trifft freilich ungünstig zusammen,“ sagte Lisbeth nachdenklich. „Die Anstrengungen des Umzugs sind zu viel für Gertrud. Wie wird sich da abhelfen lassen?“

„Das ist mir ganz klar, Lieschen: ich muß auch mit, zunächst hier den Umzug, dann dort die Einrichtung besorgen, und dann mein Trudchen und ihr Baby pflegen, denn hoffentlich tritt mein Enkelchen nicht eher an, als bis wir alles zum Empfang bereit haben. Das ginge schon aber hier mein lieber Alter – wir sind seit dreißig Jahren nicht getrennt gewesen, wie wird er mich vermissen!“

„Nun, Tantchen, da springe ich alle Tage ein Stündchen heran und spreche ihm von Dir und seinen Kindern.“

„Gutes Kind, das ist Dir auch zugedacht. Du warst ja immer unsere liebe zweite Tochter also tritt eben Dein altes Amt wieder an und sorge nur dafür, daß mein guter Mann nicht zu schwer unter der dreifachen Trennung leidet. Für sein leibliches Wohl sorgt ja unsere alte Dore.“

Lisbeth lächelte sie zärtlich an und schlang die Arme um ihre Schulter.

„Mein Mütterchen,“ sagte sie innig, „sei unbesorgt, ich werde ihn schon guter Dinge erhalten. Wir stehen ja auch vor Beginn der Wintersaison: an den meisten Abenden sind die Eltern mit Elfriede in Gesellschaft, und der Fünfundzwanzigjährigen mutet man es gar nicht mehr zu, die Soireen und sonstigen Tanzgelegenheiten alle mitzumachen. Da kann ich oft genug hier sein, dem Onkel seine Pfeife stopfen, ihm die Zeitung vorlesen und mit ihm von [651] euch plaudern. Ich freue mich ordentlich darauf. Nicht wahr - ihr geht bald?“ schloß sie mit bebenden Lippen und ihre Augen wiederholten angstvoll die Frage.

„Natürlich, Lieschen, in den allernächsten Tagen. Es wird noch tüchtig zu thun geben bis dorthin. Aber mußt Du schon gehen?“ fragte sie, als Lisbeth aufstand und das Tuch um die Schultern schlang. „Mochtest Du nicht Gertrud abwarten? Sie muß bald hier sein.“

„Wir haben Besuch zum Abendbrot,“ entschuldigte sich jene, „Regierungsrat von Walden hat sich angemeldet, und Mama wird mich schon jetzt vermissen.“

„So geh, mein Kind – und ‚Walden’ sagst Du? Ist das eine neue Bekanntschaft?“

„Er arbeitet auf der Direktion unter Papa und ist erst im Frühling hierher versetzt worden. In der ersten Zeit ist er nur ganz offiziell in unserem Hause gewesen, jetzt kommt er öfter. Mir ist er nicht sympathisch, ich weiß daher auch wenig von ihm.“

„Walden – Walden - ach ja – das ist ja wohl der Regierungsrat, dessen Frau Eichberg einmal erwähnte. Er ist in der Kaltwasserheilanstalt, welche Hermine im Frühling besuchte, mit dieser dort zusammengetroffen, und sie haben dann viel miteinander musiziert, so daß er sie auch hier gleich aufsuchte. Frau Eichberg war von ihm sehr eingenommen: er soll von sehr angenehmen Umgangsformen sein und ist steinreich.“

„Ach so!“ erwiderte Lisbeth mit einer gewissen Ueberraschung. Nun wußte sie, weshalb sich der Beamte einer so großen Bevorzugung bei ihrer Mutter erfreute. Ohne ein weiteres Wort darüber nahm sie Abschied von der alten Freundin und eilte heim.

Sie kam wirklich zu spät, denn die Gäste waren bereits eingetroffen, und man wartete nur auf sie, um zu Tische zu gehen. Um den Kamin im Salon saßen Vater und Mutter, Referendar Groß und Leo in lebhafter Unterhaltung, während am anderen Ende des Gemachs Elfriede, im Schaukelstuhl ruhend, sich von einem Herrn, mit dem sie ebenfalls im muntersten Gespräch begriffen schien, langsam auf und nieder wiegen ließ. Ihr Antlitz war dabei lebhaft gerötet und ihr Mund lachte ihn an, während in ihren Augen ein Ausdruck von kühl berechneter Koketterie lag, wie Lisbeth ihn noch nie auf diesem jungen Gesicht gesehen hatte.

Er, dem dieses galt, war ein mittelgroßer, hagerer Mann, der eben durch diese schlanke Figur ein gewissermaßen jugendliches Ansehen sich bewahrt hatte. Aber das magere, blasse Gesicht, die wenigen sehr sorgfältig geordneten Haare, der schlaffe Zug um den Mund und die vielen kleinen Fältchen, welche die meistens sehr matt blickenden Augen umkränzten, führten schnell von dieser Täuschung zurück. Jetzt blickten diese Augen freilich nicht matt - ein wahres Entzücken lag darin, Entzücken und ein heißes Begehren, und er hielt es nicht für nötig, sein Empfinden zu verbergen.

In der Thür stehend, sah Lisbeth zuerst auf diese Gruppe und wieder war es ihr, als ob eine kalte Hand sich auf ihr Herz legte.

„Um Gottes willen,“ bebte es angstvoll in ihr, „nur dieses nicht – nur dieses nicht!“ – und als sie wenige Stunden später an das Bett der schlafenden Schwester trat, die mit der Unschuldsmiene eines Kindes sich in die Kissen gedrückt hatte, hauchte sie einen Kuß auf die klare Stirn und gab sich heimlich das Gelübde: ich will dich behüten, ich will dich schützen, mein Liebling, das sind keine Hände, die dich auf den richtigen Weg zum Glück führen können. - -

Im Schlafzimmer des Ehepaares herrschte in eben dieser Zeit noch lebhafte Unterhaltung. Der Herr Geheimrat hatte sich zwar zu Bett gelegt, aber die Abendzeitung, die durch den Besuch zu kurz gekommen war, lag auf dem Nachttisch und mußte jedenfalls heute noch durchgesehen werden. Vorerst hatte er die neuesten Telegramme gelesen und unterbrach seine Lektüre nun, denn daß seine Gattin sich auf die Chaiselongue hingekauert hatte und schweigend vor sich hin sann, war so gegen ihre Gewohnheit, daß es ihm die Ruhe raubte.

„Was sinnst Du, Käthchen?“

„Sag’ einmal, Erich, was hältst Du von Walden?“

„Nun, ich denke, er ist ein ganz angenehmer Gesellschafter.

Mir wäre es freilich lieber, er spielte Skat statt Klavier. Ich finde, er ist ein wenig freigebig mit dieser Kunst - aber ihr seid ja stets sehr entzückt davon. Spielt er denn gut?“

„Ausgezeichnet – völlig künstlerisch: aber das meinte ich nicht. Wie steht er amtlich da? Ist er tüchtig, leistet er etwas, und wie sind seine Personalakten? Meinst Tu, daß er Aussicht hat, Carriere zu machen?“

„Na, das ist solche Sache. Ein gescheiter Mensch ist er ja, ohne Frage. Wenn er auf seine Arbeit sich hätte stützen müssen, dann würde er es sicher zu etwas gebracht haben. Aber ohne den Willen, ohne das Streben danach macht niemand Carriere, auch nicht der klarste Kopf. Nun hat er das Malheur, sehr reich zu sein, und ist sein Leben lang in Berlin gewesen da kommt denn der Dienst in zweiter Linie, erst heißt es immer: leben, genießen! Jetzt scheint er aber wohl davon genug zu haben, sonst wäre er nicht hierher gekommen – vielleicht also, wenn Berlin ihn nicht zu müde gemacht hat, rafft er sich noch auf.“

Die Frau Geheimrätin zog etwas verdrießlich die Stirn kraus. „Den Eindruck von Ruhebedürftigkeit,“ hob sie an, „macht er gar nicht auf mich. Im Gegenteil, ich finde, er hat etwas sehr Frisches, Jugendliches in seinem Wesen. Außerdem ist er doch schon Regierungsrat - er kann sich also gar nicht so lange bei den Studien Zeit gelassen haben, denn - wie alt wird er sein? Mitte - vielleicht Ende der Dreißig.“

„O bitte, Liebe, Tu irrst, er ist fünfundvierzig Jahre.“ „So – das sieht man ihm nicht an, durchaus nicht. Auch das spricht also entschieden dagegen, daß er bisher nur dem Genusse gelebt hat. Das glaube ich auch nicht, wir Frauen haben ein sehr feines Gefühl dafür.“

„Nun, Käthchen, ich wollte ihm damit weiter nichts Böses nachsagen. Solche reiche Leute, wenn sie jung und unabhängig sind –“

„Brauchen darum doch nicht im Taumel des Genusses dahinzuleben, und davon kann hier auch gar nicht die Rede sein. Er hat seinen Dienst versehen, hat seine Kunst gepflegt - und sehr gepflegt, das alles spricht für ihn. Aber sage einmal, ist er wirklich reich?“

„Sehr reich, unzweifelhaft! Ich sah noch letzthin seine Steuerveranlagung, er ist jedenfalls der wohlhabendste unter allen hiesigen Beamten.“

„Nun, wenn das in der That alles so stimmt, dann wird er im Amt schon vorwärts kommen,“ sagte beruhigt die Frau Geheimrätin. „Ein kluger Mensch findet sich schon zurecht, und hier, wo ihn so viel weniger das äußere Leben abzieht, wird er sich, wenn man ihn nur darauf hinweist, durch seine Arbeiten schon bemerkbar machen, außerdem, sobald er erst verheiratet ist, auch durch die Repräsentation seines Hauses.“

„Verheiratet!?“ fragte ihr Mann verwundert, „hat er die Absicht, und sprach er Dir davon?“

„Aber, Erich, glaubst Du wirklich, daß Deine oder meine Gesellschaft ihm so verführerisch ist, daß er nun das vierte Mal in drei Wochen den ganzen Abend hier bei uns sitzt?“

Er sah sie starr an, und als ob ihm plötzlich ein Licht aufginge, so schnell richtete er sich in die Höhe.

„Mein Himmel, das ist mir noch gar nicht eingefallen!

Ja, wer kommt denn gleich auf solche Dinge! Und Du meinst, daß er ihr gefällt?“

„Ich habe sie noch gar nicht danach gefragt: dazu ist ja später noch Zeit.“

„Nun,“ sagte nachdenklich der Geheimrat, „er ist allerdings eine sehr gute Partie, eine bessere könnte sie, wenn wir die äußeren Verhältnisse erwägen, gar nicht machen; aber diese dürfen uns in solchem Falle doch nicht allein bestimmen. Ich will mich erst mehr um seinen inneren Menschen kümmern, ehe ich meine Meinung sage, es spricht doch auch viel dagegen, schon der große Altersunterschied: er fünfundvierzig – sie fünfundzwanzig Jahre!“

„Fünfundzwanzig!! – mein Gott, Erich, Du denkst doch nicht, daß es sich um Lisbeth handelt?“

„Nicht um Lisbeth –Frau? Also um unsere Elfe, um das siebzehnjährige Kind? Und da meinst Du, daß die Sache einer Erwägung wert wäre? Für mich nicht, das sage ich Dir, für mich ist sie abgeschlossen, und ich werde bei nächster Gelegenheit ihm das zu verstehen geben.“

„Dann würdest Du sehr unbesonnen handeln, Erich. Einmal hat er uns noch gar nicht gefragt, und dann – war ich denn älter, als ich Dir mein Jawort gab?“

„Aber, das ist doch ein gewaltiger Unterschied, Frauchen. Wir verlobten uns aus heißer, unbezwinglicher Liebe füreinander und waren beide jung genug, um es abzuwarten, bis wir das ferne Ziel des eigenen Herdes erreichten.“

„An und für sich ist das ganz das Gleiche. Ich fühlte mich [652] doch reif genug, um über mein ganzes künftiges Leben zu entscheiden, warum soll sie es denn nicht sein? Daß sie nie die gemeinen Sorgen des Lebens kennenlernen, daß sie ihr Schmetterlingsdasein weiter führen wird, kann doch nur für die Partie sprechen.“

„Aber diese Unnatur, Käthchen, bedenke doch nur! Er ist beinahe dreimal so alt als das Kind und hat sein Leben reichlich ausgekostet, während sie demselben erst entgegenträumt. Dieses späte Aufflackern einer Leidenschaft kann den Unterschied nicht ausgleichen, der notwendig in den: Empfinden der beiden entstehen muß.“

„Elfe ist eine sehr kühle, reflektierende Natur, von Leidenschaft ist in ihr nichts vorhanden.“

„Noch nichts, sage: noch nichts! Wehe ihr, wenn die in ihrem Herzen erwacht und sie sich an einen alten Mann gebunden fühlt!“

„Alten Mann – und das von Walden! Aber, Erich, ich bitte Dich, Dein Vorurteil macht Dich blind. Ist das eine Bezeichnung, die auf diesen flotten, schneidigen Kavalier paßt? Ich will nicht gerade sagen, daß solch ein großer Altersunterschied mein Ideal ist, aber zwölf bis fünfzehn Jahre mag der Mann immer älter sein, wir Frauen verblühen ja so schnell.“

Er stöhnte laut und legte sich in die Kissen zurück. „Wenn man Dich so reden hört, man könnte an Deiner Liebe zu unserem Kinde zweifeln!“

„Im Gegenteil, man kann in dieser Sorge um ihre Zukunft nur die wahre Liebe erkennen. Ich möchte sie vor Mühen und Sorgen, vor Einschränkungen und Entbehrungen bewahrt wissen. Kann man einen sichereren Weg dazu wählen, als wenn man sie einem reichen Manne zur Frau giebt? Ich möchte sie auf den Höhen des Lebens sehen, und da er ein gescheiter Mensch ist und sie den notwendigen Ehrgeiz besitzt, so wird sie günstig auf ihn wirken und so die treibende Kraft werden, die ihn vorwärts führt. Ich möchte sie behütet, gehegt, gepflegt und hochgehalten wissen; giebt mir das jugendliche Empfinden eines Menschen von vierundzwanzig Jahren mehr Berechtigung, auf die Erfüllung dieses Wunsches zu rechnen, als die tiefe Liebe eines reifen Mannes?“

Ihr Gatte hatte den Kopf nach der Seite gekehrt und schwieg.

„Ich will Deiner Entschließung nicht zuvorkommen, Erich, und Du weißt es, ich bin die erste, die sich stets derselben unterordnet. Du bist immer ganz und gar der Herr in Deinem Hause gewesen und wirst es auch in diesem Falle sein; aber es ist doch meine Pflicht, bei einer so ernsten Angelegenheit alle Seiten derselben zu betrachten. Sieh, welche Aussichten für ihre Zukunft haben überhaupt die Töchter hochgestellter Beamten, welche kein Vermögen besitzen? Sie erwachsen in einem gewissen Luxus, die häuslichen Einrichtungen, die Gesellschaft verwöhnt sie – was soll ein solches Mädchen machen, wenn es nicht heiratet? Mit der Nähmaschine oder einer der modernen Erwerbsthätigkeiten kann sie sich nicht ernähren, ihr fehlt die Bedürfnislosigkeit und die Energie, die nur in einem Menschen sich entwickelt, der von Anfang an seine Zukunft auf die Arbeit gestellt sieht. Nur in Ausnahmefällen ist das anders. Und die Partien, die sich ihr bieten? In erster Reihe ist es der besitzlose Lieutenant und Referendar, die im Hause ihres Vaters Eingang finden, eine ausgezeichnete Figur bei allen Gesellschaften machen und im übrigen, ebenso wie sie, auf eine reiche Heirat angewiesen sind. Du solltest Dir die Sache zweimal überlegen, Erich! Sieh, nicht nur für Elfe, auch für uns persönlich wäre die Verbindung sehr wünschenswert. Walden hat eine große, prachtvoll möblierte Wohnung, einen vollständigen aufs eleganteste eingerichteten Haushalt. Heutzutage kostet solche Ausstattung ein kleines Vermögen – hast Du dieses für solche Zwecke liegen? In nächster Zeit geht Leo nach Berlin; der Junge war immer Dein Verzug; was wird er Dir dort kosten, nachdem Du ihn daran gewöhnt hast, daß Du ihm keinen Wunsch abschlagen kannst?“

Der Geheimrat hatte sich ihr wieder zugekehrt und hörte ihr gespannt zu und mit einer gewissen Zustimmung in den Mienen.

„Es wird doch nicht gegen ihre Neigung sein?“

„Dann, Erich, wäre ich doch gewiß die erste, die sich dagegen sträubte.“

„Hat Walden sich schon zu Dir ausgesprochen, Käthchen?“

„Behüte – mit keinem Wort hat er daran gerührt. Wer weiß, ob er überhaupt die Absicht hat?“

„Aber das ist doch kaum zu bezweifeln,“ sagte der Geheimrat eifrig, „er ist doch kein Student, der so gedankenlos den Courmacher spielen kann. Ein Mann in seinen Jahren und seiner Stellung würde ja geradezu frivol handeln, wenn er ohne ernste Absichten sich einem Mädchen in der Weise, wie Du sagst, nähern wollte. Nein, das scheint mir doch nach der ganzen Sachlage völlig ausgeschlossen. Und Du hast recht, das übrige können wir ja wohl ruhig abwarten!“ (Fortsetzung folgt.)


Fridtjof Nansen.

Von Professor Dr. Sophus Ruge.

Nansen begrüßt die Heimat.

Nansen ist von seiner dreijährigen Polarreise glücklich zurückgekehrt und am 13. August – vorläufig ohne Schiff, nur von einem treuen Gefährten begleitet – auf einem englischen Fahrzeuge in Vardö gelandet.“ Diese Kunde durchlief mit Blitzesschnelle die ganze Kulturwelt – überall die freudigste Überraschung, in seinem Vaterlande den lautesten, stolzesten Jubel weckend. … Er war nach etwas mehr als drei Jahren in demselben Hafen wieder ans Land gestiegen, wo er sein Heimatland im Beginn seiner Fahrt verlassen hatte.

Die Erwartung und Spannung der wissenschaftlichen Welt wurde überraschend schnell von dem kühnen Forscher durch einen vorläufigen Bericht über den Verlauf der Fahrt befriedigt. Kurz und knapp sind die Thaten und Ergebnisse gezeichnet und beweisen in ihrer Klarheit, daß Nansen trotz der mühsamsten Eiswanderungen und Schlittenfahrten an geistiger Elasticität keine Einbuße erlitten hat. Und über sein Schiff, die vortrefflich bewährte „Fram“, war er ohne Sorge, denn er schrieb: „Die Leitung der Expedition übergab ich Sverdrup und ich habe solches Vertrauen zu seiner Tüchtigkeit als Leiter und seiner Fähigkeit, Schwierigkeiten zu überwinden, daß ich nicht daran zweifle, er werde alle Mann unversehrt heimführen, selbst wenn das Schlimmste geschehen [653] und die ,Fram’ verloren gehen sollte, was ich für unwahrscheinlich halte.“

Nansen und die Mannschaft der „Fram“.
Nach einer Photographie von Joh. v. d. Fehr in Bergen.

Und wie bald ward diese Zuversicht gerechtfertigt! Acht Tage nach Nansen langte am 20. August auch Kapitän Sverdrup mit dem Schiffe und der Mannschaft wohlbehalten in Nordnorwegen wieder an – ein ans Wunderbare grenzender glücklicher Zufall! Und vom Glück ist die Expedition stets begleitet gewesen, sonst wäre der beispiellose Erfolg nicht erzielt. Aber wir wollen damit nicht etwa das Verdienst des Leiters irgendwie schmälern; im Gegenteil steht uns dabei Goethes Ausspruch vor Augen:

„Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Thoren niemals ein;
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein!“

Nansens Verdienst besteht aber ebensowohl in der Kühnheit des Planes als in der Kühnheit der Ausführung, die allen drohenden und erwarteten Gefahren durch geeignete Vorkehrungen zu begegnen weiß und vor keiner Schwierigkeit zurückschreckt. Es steckt in ihm das alte Nordmannenblut, das seine Freude hat am Kampfe mit der eisigen Natur der Polarwelt, wie es in den Tagen Erichs des Roten und seines Sohnes Leifs sich durch die erste Entdeckung Amerikas schon einen unsterblichen Namen gemacht hat. Wie Leifs ums Jahr 1000 n. Chr., unbekümmert um die bekannten Wege, die ihn mit seinem Vater von Island nach Grönland geführt hatten, sich – natürlich ohne Karten und Kompaß – von Westgrönland eine neue völlig dunkle Fahrbahn nach dem nordischen Stammlande suchte und zum erstenmal die ganze Breite des nordatlantischen Oceans durchsegelte, so suchte auch Nansen sich auf ganz neuem Wege dem Nordpol der Erde zu nähern. Und wenn er ihn auch nicht erreicht hat, so überragt doch seine Leistung alle bisherigen Heldenthaten arktischer Forschung und er kehrt, kaum 35 Jahre alt, als der bedeutendste Polarforscher unseres Jahrhunderts zurück.

Aber er ist trotz seiner Jugend kein Neuling mehr in der Polarwelt!

Schon in seinem 21. Jahre machte er seine erste Nordfahrt ins Eismeer und in lebhafter Erinnerung steht noch seine 1888 in einem Monate ausgeführte Durchquerung des Grönländischen Eishochlandes, bereits eine geographische Leistung ersten Ranges, die vor ihm noch keinem Forscher gelungen war.[1]

Und auch hier schon der Wagemut, beim Kampf mit dem Eise furchtlos alle Brücken hinter sich abzubrechen! Das Schiff „Jason“ hatte ihn mit seinen Begleitern bis auf 21/2 deutsche Meilen an die Ostküste von Grönland gebracht, von der er nur noch durch einen lockeren Gürtel von Treibeis getrennt war. Für den „Jason“ wäre es leicht gewesen, „durch das bißchen Eis hindurchzugehen“, allein Nansen glaubte, ohne das Schiff irgendwie einer Gefahr aussetzen zu wollen, allein in seinen Booten sich einen Weg bahnen zu können, und so „verließen wir,“ schreibt er in seinem offiziellen Bericht an den Etatsrat Gamel, „unter Kanonensalut und einem kräftigen Hurra der 60 Leute des ‚Jason‘ den letzten Anschluß an die zivilisierte Welt und lenkten unsere Boote ins Treibeis hinein, das uns nicht so billigen Kaufes, wie wir erwartet hatten, wieder loslassen sollte.“ Zwölf Tage währte der Kampf mit den Eisströmungen, ehe die kleine Expedition, die aus 6 Mann bestand – darunter Kapitän Sverdrup, der spätere Leiter der „Fram“ – ans Land kam. Es war diese schwierige Landung an der Ostküste Grönlands eine lehrreiche Vorschule für die spätere größere Unternehmung.

[654] Der Entwurf zu dieser neuen Polfahrt ist dann, wie allgemein bekannt, nach jahrelanger sorgfältiger Vorbereitung 1893 zur Ausführung gekommen. Da hierbei ganz neue Wege mit dem glänzendsten Erfolge eingeschlagen wurden, so mag hier in rascher Uebersicht eine Skizze der bisherigen wichtigen und erfolgreichen Fahrten gegen den Pol gegeben werden. Man wird daraus ersehen, welche Fortschritte seit 300 Jahren gemacht sind und wie, namentlich in unserem Jahrhundert, wo der Nordpol selbst als Ziel aufgefaßt wurde, die aufeinander folgenden Expeditionen, wenn auch die Leiter manchmal geäußert haben, es könne niemand noch weiter als sie selbst gegen den Pol vordringen, dem einmal ins Auge gefaßten Ziele immer näher rückten. Nur ward noch niemals ein solcher Riesenschritt gegen Norden gethan wie durch Nansen.

Das 16. Jahrhundert kannte noch keine wissenschaftlichen Aufgaben für Seeleute, hier handelte es sich bei allen Unternehmungen um Handelszwecke; und die nordischen Meere wurden, ehe man den gewaltigen Fischreichtum dieser Gewässer kannte, nur als die notwendigen Wege nach produktenreichen Ländern betreten. Da man weder die nördlichen Küsten von Asien noch Amerika kannte, so hoffte man um Asien oder Amerika herum einen „praktikabeln“ Weg nach Jndien zu finden. So schlugen die Holländer den Nordostweg um Asien ein, während die Engländer die Nordwestpassage um Amerika wählten. Dabei drangen die Engländer Pet und Jackman zuerst 1580 ins Karische Meer ein und wagten sich ernstlich ins Treibeis hinein, aber ohne Erfolg. 1589 erreichte John Davis in der nach ihm benannten Straße westlich von Grönland die Polhöhe von 72° 42’ nördlicher Breite. Im Jahre 1594 rückte Willem Barendsz an der Westküste von Nowaja Semlja bis 78° n. Br. vor; aber auf Grabkreuzen an der Küste sah er, daß die russischen Fischer auf ihren zerbrechlichen Fahrzeugen beinahe schon ebensoweit ins Eismeer eingedrungen waren. Zwei Jahre später sah sich W. Barendsz genötigt, an jener Küste im sogenannten Eishafen zu überwintern. Es war die erste polare Ueberwinterung. Nur ein Teil der Mannschaft erreichte, nach Zurücklassung des Schiffes, die Heimat wieder.

Im selben Jahre fand Rijp die Bäreninsel (74° 30’) und Spitzbergen, und in diesen Gewässern drang Hudson 1607 am 13. Juli von Spitzbergen aus zum erstenmal über den 80. Parallelkreis vor, er kam mit seinem Schiffe bis 80° 23’ n. Br., während Baffin, den Spuren von John Davis folgend, 1616 am 4. Juli in der Baffinsbai nur bis 77° 30’ n. Br. kommen konnte. Weil man aber überall im hohen Norden das Meer versperrt, also keinen „praktikabeln“ Weg fand, so hörten für anderthalbhundert Jahre die weiteren Polarfahrten auf, doch blieben namentlich die Gewässer um Spitzbergen noch lange wegen des ergiebigen Fischfangs besucht.

Die erste Reise nach Norden, die wissenschaftliche Zwecke verfolgte, unternahm auf Befehl des Königs der englische Kapitän Phips, aber er kam nördlich von Spitzbergen am 28. Juni 1773 nicht viel weiter als Hudson, nämlich nur bis 80° 37’ n. Br.

Da man indessen hier doch noch am weitesten vorgedrungen war, aber, wie es schien, wegen einer unüberwindlichen Eismauer zu Schiffe höhere Breiten nicht gewinnen konnte, so tauchte nun in unserm Jahrhundert zum erstenmal der Gedanke auf, mit Schlitten weiter nordwärts vorzugehen. Diesen Plan führte der berühmte britische Polarfahrer Kapitän Parry 1827 aus; aber er that darin einen Mißgriff, daß er Rentiere als Zugtiere wählte, die sich auf dem rauhen Eise bald als völlig untauglich erwiesen, so daß die Menschen selbst die Schlitten ziehen mußten. Es trat aber dann noch ein bisher unbeachteter Faktor auf, der die Expedition zur Umkehr nötigte: die Wahrnehmung, daß die Eismassen, auf denen man nordwärts strebte, mit der Meeresströmung langsam nach Süden trieben. Es wurde dies aus sorgfältigen Breitenbestimmungen klar, denn man befand sich am 22. Juli unter 82° 43’, am 23. Juli unter 82° 45’ aber am 26. Juli wieder, trotz mehrtägiger Wanderung nach Norden, unter 82° 40’ n. Br., man war also gegen den Stand vom 23. Juli etwa 9 km zurückgetrieben. Man sah die Unmöglichkeit ein, den Pol zu erreichen, und kehrte um. Parry war aber doch 2 Breitengrade weiter als seine Vorgänger gekommen. Die nächsten Unternehmungen, die ursprünglich mit dem Aufsuchen der untergegangenen Franklin-Expedition zusammenhingen, schlugen wiederum den Weg durch die Baffinsbai ein. Auf der zweiten Nordfahrt Kanes gelangte dessen Begleiter Morton mit Hundeschlitten (erste Verwendung dieser Zugtiere) am 24. Juni 1854 bis zum Kap Constitution (801/2° n. Br.), ihm folgte 1861 Hayes und erreichte das Kap Lieber, unter 81° 25’ n. Br. Aber er fand so wild übereinander getürmtes Eis, daß er sich dahin äußerte, man könnte ebenso bequem über die Dächer Newyorks fahren. Trotzdem kam Hall mit seinem Schiffe „Polaris“ 1871 bis 81° 40’ n. Br. in denselben Gewässern und drang mit Schlitten bis 82° 16’ n. Br. vor. Es war also hier noch nicht die Polhöhe Parrys erreicht, aber man sah doch auch, daß die Eisverhältnisse sich nicht in allen Jahren gleichbleiben und daß ein noch weiteres Vordringen keineswegs ausgeschlossen sei. Schwierig mußte allerdings, da der Smithsund sich nach Norden immer mehr verengt, gerade hier die Fahrt erscheinen. Daher schlug die österreichische Expedition unter Payer und Weyprecht 1872 den Weg zwischen Spitzbergen und Nowaja Semlja ein, wo man auf eine günstige gegen NO gerichtete Meeresströmung vielleicht rechnen konnte. Aber am 21. August 1872 wurde das Schiff unter 76° 22’ n. Br. vom Eise besetzt und trieb nun in der Eismasse weiter. Es war die erste, aber unfreiwillige „Eistrift“. Nansen suchte sie später freiwillig. „Wir waren nun,“ schreibt Payer, „nicht mehr Entdecker, sondern unfreiwillige Passagiere des Eises.“ So trieb das Schiff langsam bis an die Südküste des neu entdeckten Franz Joseflandes und blieb unter 79° 38’ n. Br. festgebannt. Von hier aus unternahm Payer dann seit März 1874 Schlittenreisen nach Norden, wobei er die Ueberschreitung des 82. Grades nur der ausdauernden Kraft der treuen Hunde verdankte.

Da also diese Richtung der Nordfahrt sich als ungünstig erwies – man hatte das Schiff im Eise zurücklassen müssen – so schlug die nächste Expedition, die von England unter Kapitän Nares ausgesendet wurde, wieder die Route durch die Baffinsbai ein. Nares selbst überwinterte mit dem einen seiner beiden Schiffe hafenlos am Polarmeere unter 82° 25’ n. Br., und von hier aus unternahm Lieutenant Markham eine Schlittenreise, auf der er am 12. Mai 1876 die Polhöhe von 83° 20’ n. Br. erreichte. So war also nach 50jähriger Arbeit (seit Parry) auch der 83. Grad überschritten. Wenn auch dieser nördlichste Punkt, den Markham erreichte, nur 73 engl. Meilen in der Luftlinie von dem Schiffe entfernt war, so hatte er doch zwischen den Eisbergen und Hügeln des gefrorenen Meeres nordwärts 276 Meilen hinziehen und noch 245 Meilen zurücklegen müssen. Es ist das die beste Illustration für die Schwierigkeiten der Schlittenreisen. Und nun bedenke man, daß Nansen auf seiner letzten Reise, ohne Stützpunkt, 5 Monate lang, vom 14. März 1895 bis zum 6. August, wo er Franz Josefland erreichte, mit Schlitten sich seinen Weg gebahnt hat. Erst dann, als infolge der Eisverhältnisse jedes weitere Vorwärtskommen unmöglich war, wandte er sich zur Umkehr. –

Auf Kapitän Nares, der seine beiden Schiffe glücklich wieder heimführte, folgte dann in denselben Gewässern die unglückliche Greelysche Expedition, wobei Lockwood am 13. Mai 1882 in Nordgrönland auf einer Schlittenreise an der Küste hin die Polhöhe von 83° 24’ n. B. gewann.

Inzwischen waren aber auch schon wichtige Schritte in der Erforschung des sibirischen Eismeeres gethan.

Nordenskiöld und Palander umsegelten 1878 zum erstenmal die Nordseite Asiens und erreichten am 19. August die Nordspitze des Landes unter 77° 37’. Da aber das Schiff gezwungen war, nahe der Beringsstraße am Eismeer zu überwintern, so ging ihm, vom „Newyorker Herald“ ausgesendet, Kapitän de Long von der Beringsstraße her 1879 entgegen; jedoch östlich vom Wrangellslande wurde es im Eise besetzt und trieb nun nach Nordwesten bis zu der nördlichsten Insel von Neusibirien, wo es am 13. Juli 1881 unter 77° 15’ n. Br., vom Eise zerdrückt, unterging. Die Mannschaft suchte sich wohl über Neusibirien nach dem Delta der Lena zu retten, ging aber größtenteils zu Grunde, darunter auch de Long.

Schon im Sommer 1878 hatte auch der norwegische Kapitän Johansen das Meer östlich von Nowaja Semlja durchstreift und mitten zwischen der Nordspitze dieser Doppelinsel und der Nordspitze Asiens eine Insel entdeckt, der er den bezeichnenden Namen „Einsamkeit“ gab.

Jenes Meer, dem früher der Petersburger Akademiker Karl Ernst von Baer den ominösen Namen eines Eiskellers beigelegt hatte, war doch in manchen Jahren besser als sein Ruf und konnte von Fischern fern von der Küste besegelt werden.

So standen die polaren Angelegenheiten, als Nansen mit seinem Plane hervortrat, sich als Gefangener des Eises mit einem [655] Schiffe über den Nordpol treiben zu lassen. Zu dem Zwecke mußte zunächst der Nachweis einer günstigen Strömung geliefert werden. Proben von Erde auf den Eisschollen an der Ostseite Grönlands, die er von seiner Durchquerung Grönlands mit heimgebracht hatte, erwiesen sich als wahrscheinlich von Nordasien stammend. Das Schiff de Longs, das vom Wrangellslande zunächst nach Neusibirien getrieben und dann gesunken war, hatte Trümmer bis nach Grönland verstreut. Daraus wurde aus eine Strömung von Nordasien über den Pol nach Grönland oder Spitzbergen zu geschlossen. An der Ostseite Grönlands und bei Spitzbergen ging die Eisbewegung meist südwärts, entsprechend der vermuteten Strömung. Hatte man also ein Schiff, das den Eispressungen widerstehen konnte, dann war das wesentlichste Erfordernis gegeben. Das Schiff „Fram“ (Vorwärts) wurde nach Nansens Angabe gebaut und zum Kapitän konnte er seinen bewährten Begleiter durch Grönland, Otto Sverdrup, gewinnen.

Die Fahrt selbst, über die von allen Tageszeitungen berichtet wurde, soll hier nur in kurzen Umrissen skizziert werden. Zunächst war es für eine Expedition, deren Dauer sich garnicht ermessen ließ, notwendig, für möglichst lange Zeit Proviant mitzunehmen. In dieser Beziehung war vollauf Genüge geschehen, denn das heimgekehrte Schiff hatte noch für drei Jahre Lebensmittel und auch noch Kohlen an Bord. Und wenn ängstlichen Gemütern die Zeit von drei Jahren, die das Schiff ausgeblieben ist, schon bedenklich erscheinen mochte wegen der sehr wichtigen Magenfrage – es hätte, ohne die Rationen verkürzen zu müssen, noch drei Jahre im Eis stecken können. Bei der Ausfahrt 1893 traf das Schiff im sibirischen Meere die günstigsten Eisverhältnisse. Norwegische Fischer fanden damals noch Mitte August auch im nördlichsten Teile des Karischen Meeres kein Eis, sogar ums Nordkap von Nowaja Semlja war noch im September das Fahrwasser frei. Daher hat sich das Schiff auf seiner Fahrt bis nahe der Lenamündung wahrscheinlich nicht so eng an die sibirische Küste zu halten gebraucht wie Nordenskiöld und eine Anzahl neuer Inseln entdecken können.

Von der Olenekmündung steuerte Nansen nun nordöstlich, bis er nahe dem 79. Grade n. Br. dichteres Eis fand, an dem er sich fest machte. Das geschah am 22. September 1893. Von nun rückte das Schiff in der Eistrift nur sehr langsam vor und brauchte etwa anderthalb Jahre, bis es sich nördlich von der Nordspitze Asiens befand, eine Entfernung, die es in einem eisfreien Meere hätte in wenigen Tagen durchsegeln können; allein das Schiff war doch schon bis nahe an den 84. Grad n. Br., also weiter als irgend eine Expedition vorher, gekommen.

————— die Route Nansens.
– – – – – der Kurs der „Fram“ nach der Trennung von Nansen.

An Bord der „Fram“ herrschte während dieser Fahrt die musterhafteste programmmäßige Ordnung. Alle Mitglieder der Expedition erfreuten sich der besten Gesundheit und es konnten wichtige wissenschaftliche Beobachtungen angestellt werden. Man unternahm Tiefseelotungen, untersuchte die Temperatur des Wassers, seinen Salzgehalt, die Bildung und Bewegung des Eises; man führte astronomische und meteorologische Beobachtungen aus, widmete den Erscheinungen des Nordlichts die gebührende Aufmerksamkeit und jeder that freudig seine Pflicht. Durch eine Windmühle, die an Bord der „Fram“ in Betrieb gesetzt wurde, gewann man die nötige Kraft zur Erzeugung des elektrischen Lichtes, das allen Erwartungen entsprach. Gefahrlos war aber die Fahrt keineswegs; denn das Eis, in dem das Schiff eingefroren war, wurde von Zeit zu Zeit unruhig, es warf sich und türmte sich in Riesenblöcken auf und preßte und drängte gegen das Fahrzeug. Am 4. und 5. Januar 1895 war die „Fram“ den stärksten Eisschraubungen ausgesetzt. Bereits schien dem Fahrzeug der Untergang zu drohen; Proviant, Segeltuchboote und die nötige Ausrüstung wurden aufs Eis geschafft, und man war bereit, auf dasselbe zu flüchten, falls das Schiff sinken sollte. Als aber das Eis sich hoch über die Schiffswände türmte, wurde das Fahrzeug von dem Eise, in dem es eingefroren war, losgerissen und langsam in die Höhe gehoben. Nicht ein bißchen war es beschädigt. „Nach dieser Erfahrung,“ schreibt Nansen, „betrachte ich die ‚Fram‘ so gut wie unbesiegbar vom Eise.“ Aus dem bisherigen Lauf des Schiffes glaubte indessen Nansen annehmen zu müssen, daß die Eistrift ihn nunmehr nicht nach Norden gegen den Pol, sondern westwärts am Pol vorbeiführen würde, und so entschloß er sich, in Begleitung von Johansen, das Schiff zu verlassen, also noch einmal, wie an der Küste Ostgrönlands, alle Brücken hinter sich abzubrechen und zu Schlitten nach dem Nordpol zu steuern.

Am 14. März 1895 teilte sich also die Gesellschaft. Die Ausrüstung Nansens und Johansens bestand aus 28 Hunden, drei Schlitten und zwei Segeltuchbooten. Die letztern waren ähnlich wie die Kajaks oder „Grönländer“ der Eskimos gestaltet. Ihr Gestell bestand aus Bambusstäben; ihr Ueberzug aus ölgetränktem Segeltuch. Etwa 20 Fuß lang, wogen die Boote nur 8 bis 10 Kilogramm. Der Hundeproviant war für 30 Tage berechnet, der Proviant für die beiden Forscher genügte für 100 Tage. Dieser Vorstoß Nansens gegen Norden ist zweifellos die kühnste That eines Polarfahrers, die wir kennen. Vorwärts ging es über bewegtes Eis, das sich in allen Richtungen aufschraubte; da galt es, sich ununterbrochen einen Weg zu bahnen und die beladenen Schlitten über die hochgetürmten Eisrücken hinwegzubringen. Am 7. April wurde die höchste Breite von 86° 14’ erreicht, und zwar bei einer Temperatur, die sich während drei Wochen auf etwa – 40° C. hielt. Von ihrem nördlichsten Lagerplatze machten die Forscher noch eine Schneeschuhtour nordwärts und überzeugten sich dabei, daß ein Vorwärtskommen unmöglich war. „Ueberall bis zum Horizont lag das Eis aufgetürmt wie eine zu Eis erstarrte Brandung.“ Nirgends wurde Land entdeckt; den Nordpol scheint ein Meer zu umspülen.

Am 8. April traten die Polarforscher ihren Rückmarsch an; sie wollten über Franz Josefland nach Spitzbergen gelangen! Südwärts nahmen die Eisspalten zu und erschwerten den Marsch. Der Proviant nahm ab und von den Hunden mußte einer nach dem andern geschlachtet werden, um als Nahrung für die Ueberlebenden zu dienen. Endlich wurde Franz Josefland erreicht und der Entschluß gefaßt, dort zu überwintern. „Wir schossen Bären zur Nahrung,“ lautet Nansens Bericht, „Walrosse für Brennmaterial, bauten eine Hütte aus Steinen, Erde und Moos und deckten als Dach Walroßfelle darüber. Den Speck benutzten wir zum Kochen, zur Beleuchtung und zum Heizen. Bärenfleisch war unsere einzige Nahrung, Bärenfell unser Bett.“ Der Winter verlief gut und bei ausgezeichneter Gesundheit traten die Mutigen die Reise nach dem noch weiten Spitzbergen an. So kamen sie ans Kap Flora, wo sie ein Lager bezogen. Am 17. Jnni dieses Jahres war Nansen mit dem Kochen der Suppe beschäftigt, als er Hundegebell vernahm. Es mußten also Leute auf dem Lande sein. Nansen machte sich auf [656] den Weg, um näheres zu erkunden, während Johansen zurückblieb, um das Lager zu bewachen. Da vernahm auch er Hundegebell. Eine unendliche Freude erfüllte ihn. Er richtete ein Bambusrohr mit einem Hemd an der Spitze auf, damit Nansen oder die Fremdlinge sehen konnten, wo er war. Drei Stunden hatte er geharrt, da sah er einen Mann mit einem langen Gewehr in der Ferne vorübergehen. Um die Aufmerksamkeit mehr auf sich zu lenken, richtete nun Johansen eine weitere Stange mit einer kleinen norwegischen Flagge auf (vergl. unsere untenstehende Abbildung). Bald kam der Fremde auf ihn zu. … Es war ein Mitglied der Jackson-Expedition, die sich gerade auf Franz Josefland aufhielt. Johansen wurde in das Lager der Expedition geführt, wo sich Nansen bereits befand. Auf Jacksons Schiff „Windward“ dampften nun die Polarforscher heimwärts und bereits am 13. August gelangten sie nach Vardö. –

Die „Fram“ im Eise.

Mit 10 Gefährten war Kapitän Sverdrup auf der „Fram“ geblieben. Die Eistrift trug sie hin und her, bis am 16. Oktober 1895 das Schiff seine höchste Breite mit 85° 57’ erreichte. Eisschraubungen bedrohten wiederholt das Fahrzeug, hatten es aber nirgends beschädigt. Im Frühjahr 1896 trat nun auch die „Fram“ ihre Heimfahrt an. Unter Dampf strebte sie vorwärts, wo freieres Wasser war, und wo Eisbänke den Weg versperrten, da wurde die Bahn mit Pulver und Schießbaumwolle freigesprengt. Am 4. August kam man aus dem Eise heraus und begegnete einem Schiff, dessen Kapitän zwar über Nansens Geschick keine Auskunft geben, aber von dem Aufenthalt der Andreeschen Luftballonexpedition auf der dänischen Insel berichten konnte. Dorthin wandte sich die „Fram“. Aber auch hier hatte man keine Kunde von dem Schicksal Nansens. Betrübt faßte nun die Mannschaft der „Fram“ den Entschluß, nach Norwegen zu fahren und dort Erkundigungen einzuziehen. Waren Nansen und Johansen noch nicht zurückgekehrt, dann wollte Sverdrup nur etwas Kohlen einnehmen und ohne Verzug nach Franz Josefland dampfen, um die Kameraden zu suchen. Das Schiff kehrte von einer Polarexpedition zurück, aber es war unbeschädigt, es hatte noch Proviant für drei Jahre an Bord, es war zu einer neuen Polarfahrt bereit! Am 20. August kam die „Fram“ nachts in Vardö an. Sverdrup ging sofort ans Land und klopfte den Telegraphenbeamten heraus. Von ihm erfuhr er die hocherfreuliche Nachricht, daß Nansen und Johansen schon seit acht Tagen in der Heimat sich aufhielten. Nun eilte Nansen seinem Schiff entgegen und bald war er mit seinen Kameraden an Bord der „Fram“ vereinigt. Unser Bild auf Seite 653 stellt die tapfere Schar nach einer Photographie dar; Nansen, sitzend, in der Mitte, neben ihm, an der hellen Mütze kenntlich, steht Sverdrup.

Johansens Begegnung mit der „Jackson-Expedition“ auf Cap Flora

So endete die glorreiche Forscherfahrt, deren Einzelheiten noch lange die öffentliche Meinung beschäftigen werden. Groß sind die wissenschaftlichen Ergebnisse der Expedition. Die Betrachtung über dieselben schließen wir jedoch von unserer heutigen Darstellung aus. Da sie bis jetzt noch in zu knappen Umrissen vorliegen, haben wir uns nur mit den Heldenthaten unseres Polarfahrers beschäftigt. Wenn aber erst ausführliche Berichte vorliegen, werden wir Gelegenheit nehmen, darauf zurückzukommen. Nur eine Frage möchten wir zum Schlusse schon jetzt aufwerfen: ist es möglich, Nansens Leistung noch zu überbieten, ist es wahrscheinlich, daß ein anderer Forscher dem Pole noch näher kommt? Der eingeschlagene Weg, durch Eistrift auf den Pol geführt zu werden, hat sich, wenigstens in der versuchten Weise, als irrig erwiesen. Darum wird Nansen ihn nicht weiter verfolgen. – Aber wenn wir, und sei es auch nur für unser Jahrhundert, die Entwicklung der arktischen, besonders der Polforschung überblicken, erkennen wir einen stetigen Fortschritt. Man rückt dem Pole immer näher. Nansen hat einen gewaltigen Schritt gethan, der ihm die Bewunderung der ganzen Welt erwirbt. Wird er der letzte bleiben?


[657]

Stein am Rhein

Das Klostermuseum zu Stein am Rhein.
Von Heinrich Kühnlein. Mit Abbildungen nach Originalaufnahmen.

Dort wo mit jugendlichem Ungestüm der Rhein den Bodensee verläßt, um thatenfroh der ihn bei Schaffhausen erwartenden Kraftprobe entgegenzustürmen, liegt malerisch zu Füßen des Hohenklingen ans Rebgelände geschmiegt die schweizerische Landstadt Stein. Die alte Abtei, deren ehrwürdiger Bau in ihr noch unversehrt aufragt – unser obenstehendes Bild zeigt sie rechts von der Brücke, der Kirche vorgelagert, links von den größeren Pappeln – hat dem Ort schon frühe Ansehen und Bedeutung gegeben. Die Geschichte dieses Klosters führt uns in eine Zeit zurück, die, wie die ganze Bodenseelandschaft, zu der es gehört, uns durch Scheffels „Ekkehard“ innig vertraut ist. Ueber die Spitzen anderer Berge des Hegaus grüßen zum Schloß Hohenklingen die Trümmer des Hohentwiel. Die Flut des Rheins, die hier die Ufer bespült, hat kurz vorher die Klosterinsel Reichenau umrauscht, an deren fromme Insassen einst, nach der Darstellung Scheffels, der Herzogin Hadwig Heergebot erging, ihr im Kampf gegen die Hunnen zu helfen. Und das St. Georgenkloster zu Stein verdankt sein Entstehen einer Stiftung eben jener mannhaft fühlenden Fürstin des Schwabenlands, die in ihre Witweneinsamkeit auf dem Twiel den jungen Klosterbruder Ekkehard aus St. Gallen berief, damit er sie Latein und Griechisch lehre. Das von ihr gegründete Kloster stand auf dem Twiel selbst neben der Burg, aber bald nach ihrem Tod regte sich in den Brüdern des heiligen Benedikt auf der weltentlegenen Stätte der altbewährte Sinn ihres Stifters für günstige Klosteranlage, und sie zogen hinunter in das weingesegnete Rheinthal, wanderten hinab in die Nähe des fischreichen Untersees und führten allda ein geräumigeres und behaglicher eingerichtetes Bruderhaus auf, als ihnen der strenge Sinn Frau Hadwigs angewiesen hatte. Aber auch der kulturfreundliche Geist, der dem heiligen Benedikt zu eigen war, kam dieser neuen Stiftung zu gute. Und bis in die Wendezeit, welche von den Kämpfen der Reformation wiederhallte, blieb das Kloster St. Georgen zu Stein ein Hort ernster Studien und andachtsvoller Kunstübung.

Seitdem ist das alte umfangreiche Gebäude freilich seinen kirchlichen Zweck längst entfremdet. Aber seine interessante Geschichte hat den jetzigen kunstverständigen Besitzer desselben auf die Idee gebracht, die ehrwürdigen Räume im Sinne ihres einstigen Berufs neu herzurichten und auszustatten, so daß das Ganze ein getreues Abbild der Zustände in der Abtei zur Zeit ihrer Blüte liefert. Professor Ferdinand Vetter in Bern, dessen Studien sich schon immer der Erforschung der mittelalterlichen Kultur seiner Heimat zugewandt hatten, war für die Ausführung dieser Idee aufs beste gerüstet. Er hat in der That zwischen den alten Mauern das untergegangene Leben, das einst sie umschlossen, in völliger Echtheit neu erstehen lassen und die Säle und Zellen zu einem Museum verwandelt, das uns die Kultur und Kunst, die einst hier und in anderen Benediktinerabteien gepflegt ward, ganz unmittelbar zur Anschauung bringt. Er konnte dies um so leichter, als die eigentliche Blütezeit des St. Georgenklosters doch nicht in jene frühen Jahrhunderte fällt, in denen z.B. die St. Galler Abtei für das deutsche Kulturleben so bedeutsam war und deren Dokumente jetzt so selten sind. Unser Kloster, das als solches bis in die Zeiten der Reformation bestanden hat, erlebte vielmehr gerade kurz vor seinem Ende die glanzvollste Zeit seiner Entwicklung, also in einer Epoche, da die Pflege der Kunst in Deutschland sich eines allgemeinen Aufschwungs erfreute.

Sein letzter Abt von Bedeutung, David von Winkelsheim († 1525), der im Alter dem Siege von Zwinglis Ideen sich beugen mußte, war ein kunstbegeisterter Mann von tiefer künstlerischer Veranlagung. Er verstand es, „die Gegensätze der alternden Gotik und der jugendfrisch aufblühenden Renaissance in seinem Geist harmonisch zu versöhnen“, und dieser Ausgleich ist dem Aeußeren und Inneren des Klosters herrlich zu gute gekommen; befindet sich doch in diesem kaum ein Raum, den Abt Winkelsheim nicht umgebaut und mit künstlerischem Ausschmuck verschönert hätte.

Als das Gebäude dann seine kirchliche Bestimmung einbüßte, ging es zwar allmählich dieser Schätze verlustig, aber sie fanden in der Nachbarschaft die neuen Besitzer. So konnte sich Professor Vetter bei der Ausführung seiner Idee, die im vorigen Jahr zunächst als „Jubiläums-Ausstellung“ ins Leben trat, der Unterstützung Vieler erfreuen, die aus staatlichen und privaten Sammlungen Geräte, Dokumente und Kunstwerke für den schönen Zweck beisteuerten.

Und welche Wandlung fand dann der Kunstfreund durch diese Wiederbelebung bewirkt! Da ist nichts zu verspüren vom Moderduft des Mittelalters; der alte Ausschmuck von Decken und Wänden steht in Uebereinstimmung mit dem stilvollen Hausrat; lichter, heller Sonnenschein dringt durch die epheuumrankten, mit leuchtenden Glasgemälden geschmückten Fenster, und fällt unser Blick hin und wieder hinaus, so vereint sich mit der Freude an dem künstlerischen Schaffen im Innern ein nicht minder hoher Genuß an schönen Bildern der Natur.

Gleich im Eingangsraume, einem etwas engen, aber mit freundlicher Fensternische ausgestatteten Gemache, werden wir durch drei Stiftungs- resp. Versetzungsurkunden aus den Jahren 994, 1005 und 1007 in die Gründungszeit des Klosters geführt, während uns eine moderne Federzeichnung von Professor Gagg in Konstanz das tägliche Leben der Mönche im Bilde darzustellen sucht. Die Urkunde aus dem Jahre 1005 ist freilich nicht echt und [658] erst nachträglich entstanden, aber es ist interessant, wie die Phantasie der guten Ordensleute ihre eigene Sehnsucht nach einem milderen Klima hinter den Willen des kaiserlichen Schutzherrn zu verstecken weiß. „Kaiser Heinrich II.,“ heißt es dort, „versetzte das Kloster hierher an das Gestade des Rheins, an den Ort Staine genannt, damit hinfüro die Diener Gottes der gewünschten Bequemlichkeit eines besser gelegenen Ortes teilhaftig würden.“

Aber die frommen Brüder waren, wie uns die erwähnte Federzeichnung lehrt, keineswegs müßig hinter ihren Klostermauern. Hier wird eifrig mit Hacke und Spaten hantiert, auf daß

„Kräftig sproß im jungen Garten
 Akelei und Ros’ und Quendel...“,

dort finden wir David von Winkelsheim in einsamer Klause in seine künstlerischen Studien vertieft, während andere Mönche der Musik, des Studiums der Klassiker oder edler Geselligkeit sich freuen. Denn auch die Freuden dieser Welt waren, wie aus der Zeit des letzten Abtes historisch nachgewiesen ist, durchaus nicht aus dem Kloster verbannt. Vom Ernst des Lebens wieder spricht der Trauerzug der Mönche, die den entschlafenen Bruder zur letzten Ruhe in den Kreuzgang geleiten.

Im Kreuzgang.

Durch derartige Bilder in eine echte Klosterstimmung versetzt, suchen wir uns nun in den einzelnen Räumen mit ihrer interessanten Ausstattung heimisch zu machen. Treten wir zunächst in die „Kapelle des Abtes David“. Der Raum ist eng und fast düster, und ich weiß nicht, ob sich hier das Herz so leicht zu seinem Gott erheben ließ; aber es mag ja gerade dieses dämmerige Zwielicht frommer Mönchsbetrachtung gedeihlich gewesen sein. Unkünstlerisch ist es keineswegs, wird es doch in erster Linie hervorgerufen durch jenen Zweig künstlerischen Betriebes, der dem Mittelalter seine höchste Abbildung und Blüte verdankt: durch die edle Kunst der Glasmalerei.

Es haben sich nämlich in unserm Stein am Rhein, wo die Glasmalerei nachweisbar zuerst im Kloster aufgetreten ist, zahlreiche und oft ganz einzigartige Denkmäler dieser Kunst aus dem Anfange des 16. Jahrhunderts erhalten; sie bilden für gewöhnlich die Hauptzierde der auf dem dortigen Rathause geborgenen Kunstschätze und wurden Herrn Professor Vetter zum Zwecke der Ausstellung zeitweilig überlassen. Hierbei soll die schöne schweizerische Sitte der Fenster- und Wappenschenkung nicht unerwähnt bleiben. Hatte nämlich so ein baulustiger Schweizermann des Mittelalters sich ein neues Heim gegründet, so verstand es sich ganz von selbst, daß ihm seine Freunde zu dessen Ausschmückung eine Reihe oft höchst wertvoller Glasgemälde zukommen ließen.

Das war eine Ehrengabe, die niemals ihren Reiz verlor. So ließ sich auch David von Winkelsheim, nachdem er in den Jahren 1515 und 1516 die Ausschmückung seines später zu besprechenden sog. „Gemälde- oder Festsaales“ vollendet hatte, nach jener schönen Sitte eine bedeutende Anzahl von gemalten Scheiben in sein Kloster stiften. Und erst als im Jahre 1542 in Steins schönster Blütezeit das Rathaus errichtet war, da gingen ihm von allen Seiten die herrlichsten Glasbilder als Geschenke zu! Basel, Bern, Zürich, Schaffhausen, ja fast jeder bedeutendere

Wohnstube des Abtes David.

Ort des Schweizerlandes hat seinen Ehrenbeitrag geleistet. Diese Gemälde, zum größten Teile heute noch vorhanden, gingen fast ausnahmslos aus der Hand Karl von Aegeris, des größten schweizerischen Glasmalers des 16. Jahrhunderts, hervor; ihr Kunstwert ist ein sehr bedeutender und die Leuchtkraft ihrer Farben von mächtigem Zauber. Uebrigens wurde in aller wie in neuer Zeit auch in Stein selbst die Kunst der Glasmalerei von Einheimischen betrieben. In Abt Davids Kapelle nun, die mit allerlei mittelalterlichen und modernen Kirchengeräten, Chorstühlen, Lesepulten, Traglaternen etc. (meistens aus dem 15. Jahrhundert stammend) ausgestattet ist, finden sich vier solcher Glasgemälde. - Mit Gemälden und reichen Schnitzereien sind das Speisezimmer und das Hadwigzimmer reich geschmückt. Das letztere, offenbar für den jetzigen Besitzer eine erinnerungsreiche Stätte, trägt eine stolz klingende Friesinschrift des schwäbischen Dichters Fr. Th. Bischer:

 „Fuß über Grüften, fest auf dem Festen,
 Haupt in den Lüften: so ist’s am besten!“

Im oberen Stockwerke aber treten wir in das eigentliche rheinische Schatzkästlein Herrn Davids von Winkelsheim ein, den „Gemälde- oder Festsaal.“ [659] Vorzüglich erhaltene Wandgemälde aus dem Jahre 1516 stellen mit künstlerischer Naivetät antike Vorgänge im Kostüm der damaligen Zeit dar. „Völlig im Geiste des Humanismus,“ führt Prof. Vetter in seiner Schrift „Das St. Georgenkloster zu Stein am Rhein“ aus, „sind hier je drei Bilder aus der karthagischen und römischen Geschichte zu einem historischen Parallelcyklus verbunden, wie das Mittelalter dergleichen aus dem Alten und Neuen Testamente zusammenzustellen liebte. Die Gründung Karthagos und Roms, der Schwur Hannibals und Scipios, die Eroberung von Sagunt und Karthago sind als malerische Vorwürfe behandelt. Ein weiterer Cyklus, aus Einzelfiguren bestehend, führt eine Reihe von Helden und Heldinnen Roms, Griechenlands und des Orients vor; als Gegenstück zu den Geschichtsbildern ist eine große Volksscene aus der Gegenwart, die dem Abte wohl als Jugenderinnerung vertraute Zurzacher Messe, aufzufassen, welcher als Uebergang zwei Bilder des Todes und des üppigen Lebens voranstehen; ein kapellenartiger Erker, der gleichfalls die Aussicht nach dem Rheine eröffnet, ist den Gründern und Heiligen des Klosters gewidmet. Das ist offenbar die Welt, in welcher Abt David lebte! Seinen Geist erfüllten neben den alten religiösen vor allem die neuen wissenschaftlichen und künstlerischen Ideale.“ Unsere obige Abbildung zeigt nebeneinander die Gründung Roms (Streit zwischen Romulus und Remus), den Schwur Scipios, die Eroberung von Sagunt.

Der Festsaal.

So befinden wir uns in dem Festsaale in einem echten Künstlerheime, welches nun zum Zwecke der Ausstellung mit gotischen und Renaissancemöbeln, mit Tischen, Truhen, Schränken, Büchern und allerlei Kleingeräten eine ebenso sorgfältig ausgesuchte wie kostbare Ausstattung erfuhr. Dazu zieren wahre Prachtexemplare von alten Glasgemälden die Fenster. Eine von Putten gehaltene Tafel über dem Haupteingang dürfte mit ihrem Zeichen T. S. 1516 auf den Maler der alten Bilder hinweisen.

Und aus dem prunkenden Saale geleitet uns der Pförtner in ein schlichtes Kämmerlein. Blumen ranken am Fenster empor, die Herbstsonne lacht so freundlich herein, und aus den Augen des guten Alten mit seinen Silberhaaren leuchtet auf einmal ein ganz feierlicher Zug von Glück und innerlichem Stolze. „Nun seh’n Sie, Herr,“ beginnt er mit seiner milden Stimme, „hier darf ich wohnen: der Hausrat will zwar nichts bedeuten, aber, Herr, der Ulrich Zwingli hat einst hier gewohnt!“ Ja – „die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht“. Der schweizerische Reformator, der einst mitten unter seinem freien, wehrhaften Volke im Getümmel der Schlacht für seine innere Ueberzeugung eintrat, war übrigens mehrmals in Stein am Rhein. Im Jahre 1521 besuchte er das Kloster, vorn Abte David noch freundlich willkommen geheißen, während er 1529 zu Stein predigend der neuen Lehre nachhaltigen Eingang zu verschaffen bestrebt war. Das laut dem Katalog von ihm bewohnte Zimmer ist indes nicht mit altem, sondern mit modernem Pförtnerhausrat ausgestattet, „der nichts bedeuten will“.

Viel bedeuten dagegen will die Einrichtung des nächsten Gelasses, der „Wohnstube des Abtes David“, nach den alten Freiheitsbriefen, oder auch vom Asylrecht des Klosters, von den Steinern nur „Freiheitsstube“ genannt. Mit reichem Schnitzwerk geziert sind Wand und Decke, zwei Nischen laden zu behaglicher Ruhe und rufen den Eindruck einer anheimelnden Häuslichkeit hervor. Hier ließ sich ohne Zweifel gemütlich Hausen, und schenken wir den reichgeschnitzten Buffets mit ihren Schüsseln, Kannen, Platten, Zinntellern, Schalen, Dosen, Brotkörbchen, kurz dem mannigfachen Tisch- und Küchengeräte unsere Aufmerksamkeit, so glauben wir eher in einem einladenden „Speisesalon“ als in einem äbtlichen Wohngemache zu verweilen. Es braucht nur Bruder Küchenmeister mit den Erzeugnissen seiner Kunst zu erscheinen, und spendet dazu noch der Klosterkeller vom echten „roten Steiner“,

[660]
Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0660.jpg

Die Kaiserbegegnung in Breslau: Kaiser Nicolaus II. an der Spitze der Alexandergrenadiere.
Nach einer Originalzeichnung von W. Pape.

[661] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [662] der ja an den Abhängen des „Hohenklingen“ mit so ganz eigenartiger Würze gedeiht, so sind die Freuden der Mahlzeit köstlich vorbereitet. An Wildbret hat es in den Forsten dort auch keinen Mangel, kommt noch die stumme Brüt der Fische hinzu, die Blaufelchen und schönen Seeforellen, die Rhein und Bodensee in zahllosen Scharen beleben, so giebt das ein Bild, wie Meister Grützner sich kein verlockenderes zum Malen denken kann.

Indes zurück zur ernsten Betrachtung! Da führt uns der Rundgang in die stattliche alte Waffensammlung von Stein, die sonst einen Saal des Rathauses ziert und zum Klosterfrieden nicht recht stimmen will. Aber Abt David war auch bei aller Kunstbegeisterung ein gewandter und energischer Herr, der, körperlichen Uebungen keineswegs abhold, gern an der Spitze seiner jungen Mönche auszog, um einen Sumpf in urbares Land zu verwandeln und ähnliche praktische Kulturarbeit zu verrichten, der auch einen frevelnden Fischer aus dem Rheine überfiel, beim Kopfe nahm, als Gefangenen ins Schiff warf und entführte. Zudem bestieg er, wie Vetter berichtet, den Abtsstuhl in der alten Rheinstadt zu einer Zeit, da nicht nur draußen im Hegau zu Füßen der einstigen Herzogsburg Hohentwiel, sondern auch rings um die grauen Klostermauern selbst der wildeste Waffenlärm tobte. Dabei handelte es sich keineswegs um „Späne“, die unser Kloster nicht berührten; oft genug hatten seine Leute mit den Waffen in der Hand für die Sicherheit ihrer Besitzungen einzutreten.

Keine der Künste ist im Kloster leer ausgegangen; Architektur, Skulptur und Malerei, Musik wie Poesie haben in den engen Zellen einst ihre Pflege gefunden und im Bunde mit der Wissenschaft jenen Boden vorbereitet, der unserer heutigen Kulturentwicklung unerläßlich war. Da vertiefte sich in der ersten, der Architektenzelle, Bruder Fridunant in die Gesetze der Baukunst; allerlei Baupläne und Reliefs, ein Grundriß des Klosters sind Spuren seiner Thätigkeit. Des Klosters Bildhauer war Bruder Georgius.

In seiner Zelle treten uns Werke der Holzskulptur aus dem 16. bis 18. Jahrhundert entgegen; Gotik wie Renaissance und Rokokozeit haben ihre Tribute geliefert. Beim Bruder Hartmut hat die Malerei, die Zeichenkunst und Stickerei ihr Heim aufgeschlagen. Die Malerei tritt hier freilich weder in leuchtendem Kolorit noch selbständig auf. Welch untergeordnete Stellung ihr als Tafelmalerei (von der Wand und Glasmalerei haben wir schon ausführlich gesprochen) in den Klöstern angewiesen war, läßt sich sehr wohl in dieser Mönchszelle erkennen. Die Ausgabe der Malerei besteht hier fast lediglich darin, den mittelalterlichen Schnitzwerken in Holz durch die Polychromie die Strenge ihrer Form zu nehmen und sie durch den Schmelz der Farbe zu mildern. Daß ein energisches Himmelblau im Bunde mit kräftigem Rot die herrschende Rolle dabei spielt, ist allgemein bekannt. Aufrichtig bedauert haben wir, daß uns für die schönen Frauenklosterarbeiten, Seidenstickereien auf Pergament, gewebte Kleider, Häckelarbeiten, kurz die mannigfachsten Erzeugnisse weiblicher Kunstfertigkeit, die sich hier und in der nächsten Zelle beim Bruder Kleinkünstler finden, das richtige Verständnis abging. Frauenaugen hätten hierauf sicherlich mit Entzücken verweilt.

Hofansicht der Abtswohnung.

Auch die Musik hat in den Klosterhallen ihre Pflege gefunden: davon zeugt Bruder Martins Zelle. Angeheimelt fühlten wir uns in dem traulichen, mit den Symbolen der Musik durch Malerei charakteristisch ausgeschmückten idyllischen Raume, der ausgestattet ist mit Musikinstrumenten aus alter Zeit, zu denen sich die sonstige moderne, allerdings alten Originalen abgelauschte Zimmereinrichtung nicht ganz „stilgemäß“ reimen will.

In den ganzen Hokuspokus der Alchimistenzunft läßt uns die Zelle Bruder Faustus’, des Alchimisten, blicken. Es war eine originelle Idee, ein solch „verfluchtes, dumpfes Mauerloch“ ausstellungshalber mit dem ganzen Apparat der alten Goldmacherleute auszurüsten.

Wohnlicher sieht es in der daran stoßenden „Bürgerstube“ aus, wo der Sage nach einst Herr Isaak, der Schulmeister, gehaust haben soll. Hier fallen uns auch hübsche Trachtenbilder ins Auge. Silberne und wollene Hauben, gestickte Herrenröcke, gesteppte Seidenkleider, altertümlicher Goldschmuck mit Smaragden und blauem Email zeigen uns nebst mannigfachen anderen Schmuck- und Kleidungsgegenständen, woran man in Jürg Jenatsch’ Landen einst seine Freude hatte.

So haben wir in genußreichen Stunden unsern Rundgang durch diese Stätten beschaulich stiller Geistesthätigkeit beendet und werfen nur noch einen kurzen Blick in die geräumige, gegenwärtig reich ausgestattete Halle, wo auch die Erholung und Erquickung zu ihrem Rechte kam, ins Refektorium. Zahlreiche Weinkannen aus Zinn, Pokale, Bierkrüge, Teller und Platten stehen auf den schön gedeckten Tischen umher. Im Weggehen durchschreiten wir noch den gotischen Kreuzgang, der den Klostergarten im Viereck umgiebt. Hier erging sich einst, über schöne Pläne sinnend, ein David von Winkelsheim, hier tummelte sich der Klosterschüler frohe Schar im Spiele, hier auch schläft so mancher Tote vom St. Georgenkloster den ewigen Schlaf.

Der Erfolg der Klosterausstellung im vorigen Jahre, wie wir sie im Vorstehenden geschildert haben, hat den Besitzer zu dem Entschluß geführt, ihr einen dauernden Charakter zu geben. Eine Anzahl der geliehenen Kunstgegenstände ist mit dem Einverständnisse ihrer Eigentümer weiterhin im Kloster verblieben und die mit dem 9. August dieses Jahres eröffnete zweite Ausstellung, die bis Mitte Oktober währen soll, enthält namentlich an alten schönen Möbeln und Stickereien manches, in dessen Schmuck die alten Räum erst recht ihren stimmungsvollen Zauber ausüben. Die moderne Malerei ist durch verschiedene Genrebilder aus dem Mönchsleben vertreten, deren hauptsächlichste von Leuenberger und Linderum stammen. Im Vorhof zur Prälatur hat C. W. Allers die Mauerwand mit einem Gemälde geschmückt, das in beziehungsreicher Symbolik den Gästen Willkommen bietet.


Der laufende Berg.

Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer.

 (15. Fortsetzung.)

Am folgenden Mittag kam Purtscheller von der Jagd zurück, in sehr guter Laune. Er hatte bei der Abendpirsch eine Dublette auf Gamsböcke gemacht; und es stand ihm ja für heute noch eine Freude bevor: sein neuer Traber sollte den Einzug im Purtschellerhof feiern! Persönlich überwachte Toni die Säuberung des Raumes, der an Stelle des verewigten „Herzbinkerl“ jetzt den edlen „Lüftikus“ beherbergen durfte. Als Purtscheller bei dieser Fürsorge zufällig auch den großen Stall der Milchkühe betrat, bemerkte er die praktische Aenderung. „Brav, Mathes!“ sagte er. „Schau, das hab’ ich selber schon lang allweil machen wollen! Aber natürlich, dazu’kommen bin ich halt net.“

Bei Einbruch der Dämmerung wurde „Lüftikus“ von einem Stallknecht des Händlers aus der Stadt gebracht. Der Bursche hatte eine blutige Hand, der ganze Aermel war ihm aufgerissen, und vor Ermüdung vermochte er sich kaum mehr aufrecht zu halten – so übel hatte das Pferd ihm während der Wanderung mitgespielt. Dazu lachte Purtscheller, und stolz, mit strahlendem Gesicht musterte er das Tier. Es war ein Rappe von edlem Blut und ausgesuchter Schönheit. Aber ein scheues Feuer glomm in den schillernden Augen des Pferdes; wenn ihm jemand nahe kam, begann es zu tänzeln oder zitterte an allen Gliedern. Seinen Einstand in „Herzbinkerls“ Stall feierte „Lüftikus“ mit einem wilden Aushieb, der die ganze Holzrampe zertrümmerte. Der Knecht, welcher das Pferd an den Barren hatte legen wollen,

[663] rettete sich erschrocken mit einem Sprung ins Freie – und Mathes mußte kommen, um das scheue Tier zu bändigen. Als er ihm den Halfter angelegt und die Decke umgeschnallt hatte, sagte er: „Herr Purtscheller! Ich möcht’ Ihnen raten, daß S’ den Gaul wieder weggeben! Und wenn ’s mit Schaden is!“

Purtscheller lachte. „Ah na! Daß ich so ein’ Wildling zwing’, das prickelt mich grad’!“

Und wirklich, die erste Bändigungsprobe, welche Purtscheller am nächsten Morgen unternahm, fiel glücklich aus; wenigstens kam er von seiner Schlittenfahrt ohne nennenswerten Unfall nach Hause.

So hatte er nun doppelte Freude an seinem „Lüftikus“ und widmete dem „Training“ des Pferdes jeden Tag, den ihm nicht die Jagd oder ein Zimmerstutzenschießen wegnahm. Da er bei diesem Treiben, das ihn Woche um Woche vom Hause ferne hielt, nur selten einen Blick in die Wirtschaft warf, mußte er, wenn er sich wirklich einmal zu einem Besuch der Ställe und Scheunen herabließ, mit Staunen all das Neue und Gute gewahren, das Mathes in der Zwischenzeit mit rastlosem Fleiß geschaffen hatte. Fast von Woche zu Woche wuchsen die Beträge, welche Purtscheller von den Händlern für Milch und Butter verrechnet erhielt – und dank der strengen Sparsamkeit, mit welcher Mathes bei der Fütterung hauste, ließ sich hoffen, daß man trotz des Brandes, welcher eine der vollen Scheunen aufgefressen hatte, ohne Futterankauf über den langen Winter wegkommen würde. Und da Mathes auch nur selten Geld verlangte – nur dann, wenn es eine dringende, nicht mehr zu vermeidende Anschaffung galt – so war Purtscheller mit dem Lauf der Dinge zufrieden und kam mit seinem neuen Maier ganz leidlich aus. Trotz der vorsichtigen Art, in welcher Mathes seinen Herrn behandelte, ging es aber bei Purtschellers reizbarem Naturell und bei seiner Gewohnheit, zur Unzeit den Herrn herauszukehren, so ganz ohne kleine Reibereien doch nicht ab. Und es wäre wohl manchmal zu einer bösen Scene gekommen, hätte Mathes nicht die Ueberwindung gefunden, Purtschellers aufbrausende Grobheiten schweigend hinzunehmen. Zu Anfang hatte er wohl diese verletzenden Heftigkeiten mit ernsten Worten von sich abgewehrt – doch seit er bemerkt hatte, daß Purtscheller, der dieser besonnenen Ruhe gegenüber den Aerger nicht völlig zu entladen wagte, seinen verhaltenen Jähzorn ins Haus trug, um ihn an seiner Frau zu kühlen – seit dieser Zeit ließ sich Mathes auch die kränkendste Ungerechtigkeit geduldig gefallen. Höchstens, daß er sagte: „Sie wissen net, was S’ reden, Herr Purtscheller!“

In all diesen Wochen fand Karlin’ nur selten Gelegenheit, mit Mathes ein paar Worte zu wechseln. Er war vor dem Morgen auf und hatte bis spät in die Nacht zu schaffen. Häufig auch fehlte er beim Mittagstisch und ließ sich, wenn er gerade eine Minute Zeit hatte, in der Küche einen Bissen reichen. Und da glaubte Karlin’ zu bemerken, daß er geflissentlich jede Begegnung mit ihr zu vermeiden suchte. Weshalb denn nur? Das verstand sie nicht! Und eines Tages sprach sie ihn deshalb an.

„Mathes? Was hast denn? Warum thust denn so fremd? Schau, ich kenn’ Dich ja gar nimmer! Und meiner Seel’, ich hab’ Dir doch g’wiß nie ein Wört’l g’sagt, das Dich verdrießen hätt’ können?“

„Na! G’wiß net!“

„No also, schau! Und wie stellst Dich denn zu mir?“

„Wie der Knecht zur Bäuerin!“ sagte er ruhig.

„Aber geh’!“ Dieses Wort machte sie fast böse. „Meinst denn, der Toni und ich, wir wissen net, was Dir verdienst bei uns? Schau, Du bist ja doch wirklich mehr wie der Knecht im Haus!“

Er schüttelte den Kopf, ohne Karlin’ anzusehen. „Mehr will ich net sein! … Und jetzt muß ich zur Arbeit!“ Seine Stimme schwankte: „B’hüt Gott, Frau Purtschellerin!“

Karlin’ strich die losen Härchen hinters Ohr und sah ihm nach. „Möcht’ nur wissen, was er hat?“

Seit diesem Tag war Mathes noch seltener im Hause sichtbar. Und die paar freien Stunden, die er sich an Sonn- und Feiertagen vergönnte, brachte er droben bei seinen Eltern zu. Auch am heiligen Abend stieg er durch den Schnee in die Simmerau hinauf – und Karlin’, die ihn vergebens im ganzen Hause suchte, mußte ihm sein „Weihnächten“ in die Kammer legen. Purtscheller schimpfte über die „Flegelei“, am heiligen Abend „so mir nix Dir nix davon z’laufen“ – und da Karlin’ den Wunsch eines Sohnes, das Weihnachtsfest bei den Eltern zu verbringen, berechtigt fand und verteidigte, machte Purtscheller aus diesem Widerspruch eine Scene, welche damit endete, daß er wütend vom brennenden Baum davonging und sich im Wirtshaus schwer bekneipte, während Karlin’ die ganze Nacht mit verweinten Augen am Bett ihres Knaben saß.

Der Januar brachte linde Winterszeit, und häufig war es in den Mittagsstunden so warm, daß Mathes, wenn es eine Besorgung im Dorfe gab, diese Gänge ohne Hut und in Hemdärmeln machte. Früher hatte er immer einen der Knechte zum Wagner oder zu den anderen Handwerksleuten geschickt. Jetzt aber machte er selbst jeden Weg, der außer Haus zu erledigen war – als wäre ihm jeder Schritt willkommen, der ihn aus der Luft des Purtschellerhofes brachte. Und mit sichtlicher Vorliebe griff er nach jedem Geschäft, das ihn zur Daxen-Schmiede führte. Daß Schorschl all die viele Arbeit auf dem großen Hof bekam, das hatte Mathes bei Purtscheller nach langen Kämpfen mit den zwei schlagenden Gründen durchgesetzt: der Weg zur Schmiede des Nachbardorfes kostet zu viel Zeit – und der Daxen-Schorschl arbeitet besser und billiger als jeder andere Schmied!

Hauptsächlich die viele Arbeit, welche Schorschl für den Purtschellerhof zu liefern hatte, war die Ursache, daß er zu dem Gesellen, den er schon anfangs Dezember angeworben hatte, nach Neujahr noch einen zweiten nehmen mußte. Da gab es nun ein lebendiges Treiben in der Werkstätte und im Haus, und wenn die drei Schmiede bei der Arbeit standen, hörte man den gleichmäßigen Taktschlag ihrer Hämmer durch das ganze Dorf: klingeling kling – klingeling kling! Den festen Nachschlag in diesem Takt gab immer der Hammer des jungen Meisters. Und diese lustige Musik lockte ein schönes Geld in die Schmiede. Schorschl brauchte keinen Pfennig mehr schuldig zu bleiben, trotzdem er jetzt fünf mit gesundem Appetit gesegnete Kostgänger zu nähren hatte – und pünktlich am ersten eines jeden Monats konnte er die fällige Rate an Rufel bezahlen.

Die Leute im Dorf begannen allmählich den jungen Meister so ernst zu nehmen, als hätte es niemals einen „lüftigen Schorschl“ gegeben. Nur Schorschl selbst schien mit dem Gang der Dinge nicht recht zufrieden; niemals äußerte er ein Wort der Freude über das Aufblühen seines Geschäftes, und wenn er auch als Meister seelengut mit seinen Gesellen war, so hatten sie doch manchmal unter seiner merkwürdigen Verdrossenheit zu leiden. Bei der rastlosen Arbeit ging ihm der Brustkorb auseinander wie eine Tonne, an seinen Armen wuchsen die Muskeln zu dicken Hügeln an – aber sein Gesicht verlor immer mehr jene farbige, heitere Frische, welche dem „lüftigen Schorschl“ einst von den Wangen geleuchtet und aus den Augen gelacht hatte.

Als Mathes wieder einmal Purtschellers Pferde zum Hufbeschlag in die Schmiede brachte, fragte er: „Schorschl! Was is denn mit Dir?“

„Warum?“

„Gar net g’fallen thust mir die ganze Zeit her! … Bist krank?“

„Ja ja, es kann schon so was sein!“ brummte Schorschl – und als wollte er nach dem Wetter sehen, spähte er durch das Fenster gegen den laufenden Berg hinauf.

Mathes lächelte. „Was fehlt Dir denn?“

„So ein Fieber, so ein g’spassigs! Net krank bin ich und net g’sund!“ Seufzend betrachtete er den Rücken seiner rechten Hand.

Das war ihm in den letzten Wochen so zur Gewohnheit geworden: mit bitterem Lächeln die Narben jener Kratzwunden zu studieren. Alle die Schrunden, welche in der Brandnacht die Mauerbrocken in sein Gesicht gerissen hatten, waren spurlos verheilt – nur diese drei feinen weißen Linien auf seiner Hand wollten nicht verschwinden. „Ja! Und gleich gar nimmer auslassen thut’s mich!“

Mathes schien sprechen zu wollen. Doch er schwieg. Auch sonst hatte er zu Schorschl niemals mit einem Wort von Vroni gesprochen und niemals hatte Schorschl eine Frage gestellt.

Als die Pferde beschlagen waren und Mathes die Koppel aus der Werkstätte führte, sagte er: „Du, Schorschl!“

„Was?“

„An die Sonntag’ nachmittag bin ich allweil droben bei meine Leut’ … magst net einmal ’naufkommen auf ein’ Plausch?“

„Na! Ich dank’ schön!“

„Warum denn net?“

„Da droben geht mir der Wind z’kalt!“

„Geh! Bist denn so wehleidig?“

[664] „Ja!“ Schorschl winkte mit dem Kopf gegen die Esse. „Ich bin ’s warme Feuer g’wöhnt. Die kalten Lüfterln vertrag’ ich net!“

„So wart’ halt bis auf’s Frühjahr! Die Mailüfterln lassen sich vielleicht ein bißl linder an!“

„So? Meinst?“

„Ja! … Und b’hüt Dich Gott!“ Draußen im Hof blieb Mathes wieder stehen und fragte mit halblauter Stimme: „Du? Schorschl? Is denn wahr, was d’ Leut’ reden?“

„Was denn?“

„Daß Dir der Zillerlenz sein Töchterl hat antragen lassen?“

„Da weiß ich nix davon! B’hüt Dich Gott!“

Sichtlich geärgert von dieser Frage kehrte Schorschl in die Werkstätte zurück und nahm die Arbeit wieder auf. Daß er gelogen hatte, schien sein Gewissen nicht sonderlich zu drücken. Denn es verhielt sich wirklich so, wie die Leute redeten: der Zillerlenz, der die Versöhnung mit dem Daxen-Schorschl suchte, da ihm das aufblühende Geschäft in die Augen stach, hatte den alten Rufel als „Hochzeitsschmuser“ in die Schmiede geschickt.

Schorschls Antwort war kurz und bündig gewesen: „Dank’ der Ehr’! Aber ams Heiraten denk’ ich net … und von die Frauenzimmer will ich nix wissen! Da hab’ ich so meine Erfahrungen g’macht!“ Er hatte seine Hand betrachtet und mit der Zunge über die weißen Narben gestrichen. „Die einzig, mit der ich auskomm’, is die Bäckenmahm’! Die hab’ ich! Und mit der bin ich z’frieden!“

Und wirklich, er hatte alle Ursache, mit seiner Mahm’ zufrieden zu sein! Kurz vor den Weihnachtstagen hatte sich die Bäckin vom Krankenbett erhoben. Sie hatte ihre volle Gesundheit wieder gewonnen – und fast einen Centner an Fett verloren. Als Schorschl, um dieses Wunder zu konstatieren, die Mahm’ in der Werkstätte auf die große Eisenwage setzte, wog sie genau zweihundertsechzig Pfund. In der Freude über diese körperliche Erleichterung verschmerzte sie gern den schweren Verlust, den die Brandnacht ihr gebracht hatte. „Wie ein Federl komm’ ich mir vor,“ sagte sie mit Lachen ein dutzendmal des Tages, „wie ein Federl so leicht!“ Und es wurde für sie eine Art von Sport, die engsten Thüren im Hause aufzusuchen und sich schief durchzuschmiegen, ohne auch nur mit der Jacke an den Pfosten anzustreifen. Bei dieser „Federleichtigkeit“ konnte sie nun ihrem Neffen danken, was er für sie gethan hatte. Mit emsiger Fürsorge wackelte sie den ganzen Tag zwischen Stube, Werkstätte und Küche hin und her, überwachte die Zubereitung aller Mahlzeiten und begann ihr „Schorscherl“ auf eine Weise zu verhätscheln, daß die Gesellen darüber ihre Späße machten, die sich der junge Meister mit geduldigem Lächeln gefallen ließ.

Aber nicht nur für das „Schnaberl“ ihres „Schorscherl“ sorgte die Bäckenmahm’! Sie kassierte für ihn die Gelder ein, führte Buch über alle Einnahmen und Ausgaben, brachte allmählich alle Räume des Hauses in freundlichen Stand, hielt Schorschls Kleider in sorgsamer Ordnung und füllte durch fleißige Näharbeit alle Lücken des bedenklich gähnenden Wäschekastens. Am Morgen des Lichtmeßtages konnte sie Schorschl vor den Schrank führen, in welchem all die weißen Linnenstöße mit blauen Litzen gebunden und so eng aneinander gerückt waren, daß kein Stücklein mehr Platz gefunden hätte.

„Komm her, Schorscherl! Schau Dir’s an, Dein Kasterl! Fix und fertig liegt alles da … gleich morgen kannst heiraten!“

„Geh, laß mich doch aus!“ brummte Schorschl in der ersten Verblüffung. „Was brauch’ denn ich solchene Sachen! Ich bin doch kein Madl net! Zwei Hemeder, eins zum Anziehen und eins zum Waschen … und ein paar Schneuztücheln … das wär’ lang g’nug für mich g’wesen! Was mußt Dir jetzt da so viel Müh’ machen! Geh! Und vom Heiraten … Da bitt’ ich schön, red’ mir nur gleich gar net davon!“ Aergerlich ging er zur Thüre, kehrte aber doch wieder um und drückte seinem dicken Hausmutterl die Hand. „No ja, ich dank’ Dir halt schön! … Aber gelt, mit’m Heiraten laßt mich in Ruh!“

Das versprach sie. Aber schon nach wenigen Tagen begann sie, ihm die Mitgift zu rühmen, welche die Tochter des Berghofbauern zu erwarten hätte.

„Hörst mir net auf?“ fuhr ihr Schorschl in die Rede. „Die Putzgredl, die schieche! Die könnt’ mir grad’ noch g’fallen! Und Zahnlücken hat s’ wie Ofenlöcher!“

In der Woche darauf konnte die Mahm’ ihrem Schorscherl nicht genug erzählen, wie gut ihr das Bürgermeisterdirndl gefiele!

„Was? Das Krisperl, das dürre!“ murrte Schorschl. „Na na! An der ihre Knöcherln soll sich ein anderer die Zähn’ ausbeißen! Ich hab’ jetzt allweil Dich ang’schaut – jetzt bin ich an runde Leut’ g’wöhnt!“

Trotz dieser Mißerfolge schmiedete die Bäckenmahm’ immer neue Pläne. Der Gedanke, daß sie den Platz räumen müßte, wenn eine junge Frau ins Haus käme, machte sie wohl seufzen. Aber sie war so ehrlich für das Wohl ihres „Schorscherl“ bedacht, daß sie ihr eigenes Schicksal in zweite Reihe setzte. Und sie hatte ja auch schon für diesen Fall ihr Plänchen fertig. Wohl war sie durch den Brand um ihr Erspartes gekommen und hatte mit dem Haus all ihre bewegliche Habe verloren. Aber es war ihr doch der Bauplatz geblieben, der große Garten und die Licenz für das Bäckergeschäft, die als verbrieftes Recht auf dem Grundstück lag. Dafür hatte man ihr schon dreitausendfünfhundert Mark geboten – aber sie wollte viertausend haben und hatte Zeit, zu warten, bis der richtige Käufer kam. Dann konnte sie sich im Garten der Daxen-Schmiede – um ihrem „Schorscherl“ nur ja recht nah’ zu sein ein Häuschen mit zwei Stuben und einer Küche bauen. Und mit dem Rest des Geldes und der Erbschaft des Häuschens – in welches Schorschl und seine Frau einmal, wenn sie alte Leutchen geworden waren und ihrem ältesten Buben die Schmiede übergaben, in den „Austrag“ ziehen konnten – wollte sie sich in Schorschls Hausstand für die freie Verpflegung einkaufen bis an ihr seliges Lebensende – „Gott verhüt’s noch lang!“ –

Als im März der Thalschnee zu schmelzen begann und linde Tage kamen, ließ sich die Bäckenmahm’ in warmen Mittagsstunden den Lehnsessel unter das offene Thor der Werkstätte stellen, und wenn sie nicht für ihr „Schorscherl“ zu sticheln und zu flicken hatte, nähte sie an den Leinwandvorhängen für die Fenster ihres Häuschens, zu dessen Bau die Ziegel noch gar nicht gebrannt waren.

Und da sah sie eines Tages die Simmerauer-Vroni mit dem Henkelkorb vom Krämer kommen und draußen vor dem Staketenzaun vorüberwandern – ganz auf der anderen Seite der Straße, so weit als möglich vom Zaun der Schmiede entfernt.

„He! Du!“ rief die Bäckenmahm’. „Geh, kehr’ ein bißl ein auf ein Plauscherl!“

Aber Vroni schien wie mit Taubheit geschlagen; krampfhaft zu Boden blickend, machte sie lange Schritte und eilte um die Straßenecke.

Mit prüfenden Augen hatte die Bäckenmahm’ ihr nachgesehen.

„Sapperlot! Sapperlot! Is das Madl aber sauber! Dahermarschiert s’, als hätt’ s’ Federn unter die Schuh’! Ein G’sichtl wie der Apfel an Micheli! Die Zöpferl liegen ihr droben wie ein Krönl! Fein g’wachsen wie ein Röhrl … und doch schön rund, wie er’s g’wöhnt is jetzt!“ Sie beugte sich vor und lugte in die Schmiede, aus welcher der Taktschlag der drei Hämmer tönte: klingeling kling – klingeling kling! „Vielleicht thät’ ihm die g’fallen!“ Und lächelnd rief sie: „Schorscherl!“

Sie mußte ein paarmal rufen, bis er hörte, den Hammer niederlegte und kam.

„Du, Schorscherl!“

„Was denn, Mahmerl?“

„Was thätst denn zur Simmerauer-Vroni sagen?“

„Himmelsakra!“ fuhr Schorschl auf, als hätte ihm die Bäckenmahm’ ihre Nähnadel ins Herz gebohrt. Aber gleich bereute er seine Heftigkeit wieder und stotterte: „Nix für ungut, Mahm’! … Aber geh, laß mir doch ein’ Ruh’!“

Die Mahm’ gewahrte auf seinem Gesicht die brennende Röte zwischen den Rußflecken und schmunzelte. „No? Was thätst denn sagen zu der?“

„Zu der da droben? … Zu der sag’ ich gleich gar nix!“

Bei seinem blinden Aerger über die Schwelle stolpernd, kehrte er in die Werkstätte zurück.

Bedächtig zog die Bäckenmahm’ den Nähfaden über die Lippen und studierte. „So so soooo? … Und aussetzen kann er gar nix an ihr?“ Lächelnd guckte sie in die Schmiede. „Wart’, Schorscherl, wart’! Da kriegst mir aber jeden Tag ein Pülverl jetzt! Schön langsam … aber sicher!“

Hätte die Mahm’ mit achtsamen Ohren auf die Musik der Schmiede gelauscht, so hätte sie merken müssen, daß schon das erste

[665]

Copyright 1894 by Franz Hanfstaengl in München.
Ein hoffnungsloser Minnesänger.
Nach dem Gemälde von V. Todaro.

[666] „Pülverl“ im Herzen des Daxen-Schorschl bedenklich zu rumoren begann. Denn im taktmäßigen „Klingeling kling“ dieses Hammertrios tönte der Nachschlag, den der Hammer des jungen Meisters führte, so laut und ungestüm, daß neben diesem schmetternden Klang die Hammerschläge der Gesellen kaum zur Geltung kamen.


13.

Mit den letzten Tagen des März war der Schnee im Thal so weit geschwunden, daß man die Arbeit auf den Feldern und den Bau des Hafers beginnen konnte.

Die Lenden mit der weißen Samenschürze umgürtet, schritt Mathes einen Tag um den anderen vom Morgen bis zum Abend durch die frischgebrochenen Ackerfurchen und streute den Samen in Purtschellers Erde.

Das Säen ist eine Kunst – und manch ein Bauer wird alt, ohne diese Kunst so recht zu erlernen. Es gehört eine ruhige und achtsame Hand dazu, um für jeden Wurf das richtige Quantum Körner aus der Schürze zu fassen, nicht zu groß und nicht zu klein bemessen. Und gleichmäßig muß der gestreute Same über die lockere Krume fallen, nicht zu spärlich, da sonst die Ernte leidet, und nicht zu dicht, da sonst die Halme sich im Wachstum drücken und magere Aehren treiben.

Mathes verstand sich auf diese Kunst. Häufig hielten die Bauern, welche auf den Nachbarfeldern die Körner warfen, in der Arbeit inne, um dem jungen Sämann nachzuschauen, wie ruhig er einen Schritt vor den anderen setzte, und wie schön zerteilt von seiner streuenden Hand der Same rieselte.

Als er wieder einmal das Ende des langen Feldes erreichte, nickte ihm ein altes Bäuerlein freundlich zu und sagte: „Heuer wird er lachen können, der Herr Purtscheller, wenn er im Sommer seine Felder anschaut!“

Mathes atmete schwer. Aus dem großen Sack, der am Rain des Ackers stand, füllte er die leer gewordene Schürze.

Zog das Gewicht des Samens an seinen Schultern? Denn er ging gebeugt durch die lange Furche hin. Aber sein Körper richtete sich auch nicht auf, als die Schürze wieder leicht und leer wurde.

Wenn er an das Ende einer Furche kam, blieb er eine kleine Weile stehen und blickte über die Felder nach dem Dach des Purtschellerhofes oder über das Gehäng des laufenden Berges hinauf zur Simmerau.

Doppelte Sorge bedrückte ihn.

Wohl lagen die Halden der Simmerau noch halb im Schnee, aber der gefrorene Boden begann schon aufzutauen, das rieselnde Schneewasser verschwand in allen Schrunden des zerklüfteten Berghanges, und deutlich konnte Mathes das Rauschen der aus dem Innern des Berges hervorströmenden Bäche hören, deren Wassermenge mit jedem Tage wuchs.

Vor drei Tagen, am letzten Sonntag, als Mathes für die gewohnte Plauderstunde zu den Seinen in die Simmerau hinaufgestiegen war, hatte der Vater ihn hinters Haus geführt und mit banger, erstickter Stimme zu ihm gesagt: „Bub! Er fangt schon wieder an, der Berg! Heut’ in der Nacht … d’ Mutter hat g’schlafen, Gott sei Dank! … aber heut’ in der Nacht hab’ ich’s g’spürt, wie’s ganze Häusl ’zittert hat … weißt, wie der Tisch zittert, wenn einer dranstößt mit ’m Ellbogen.“

Sie waren durch Hof und Garten gegangen, hatten die Böschung, den Balkenrost und allen Grund genau untersucht, doch nirgends eine Veränderung wahrgenommen.

„Thu Dich net sorgen, Vaterl!“ hatte Mathes in seiner stillen, ruhigen Art gesagt. „Die G’fahr is noch weit! Und in drei Tag’ bin ich drunt’ mit ’m Haberbau fertig. Da laß ich mir freigeben vom Herrn Purtscheller und komm, daß ich Dir helfen kann.“

„Ja, Bub! Und Vergeltsgott! … Und meinst denn, daß wir’s Häusl durchreißen?“

„Ja, Vater, ich mein’ schon!“

Der alte Simmerauer hatte tief geseufzt. „So viel Angst hab’ ich vor’m Frühjahr! So viel Angst! … Schaffen wollen wir fest! Gelt, Bub? … Aber weißt, ’s Wasser sollt’ halt wieder in d’ Höh’ steigen aus die untrischen Gäng’! Eh’ kriegen wir kein’ Fried’ net! Das hat die Kammissoni g’sagt: daß ’s Wasser wieder steigen müßt’! ’s Wasser, weißt! … Und gelt, thu Dich halt bei der Saat ein bißl tummeln.“

„Das geht net, Vater! Richtige Saat braucht ihr Zeit!“

„Ja, ja! Das is wahr! So laß Dir halt Zeit! … Aber meinst net, daß D’ länger brauchst als drei Tag?“

„Na, Vater!“

„Gott sei Lob und Dank!“ –

Nun waren diese drei Tage vergangen, und Mathes streute den Samen über das letzte Feld.

Als die Elfuhrglocke läutete, gingen die Bauern und Knechte, die auf den anderen Aeckern bei der Arbeit waren, zur Mahlzeit nach Hause. Nur Mathes blieb. Wenn er diese Stunde verlor, konnte er bis zum Abend mit der Saat nicht fertig werden.

Mit sinnenden Blicken sah er, während er durch die Furche schritt und den Samen warf, dem lautlosen Fall der Körner zu.

Für wen würden wohl aus dieser Saat die Halme wachsen? Für wen die Ernte reifen?

Daß er auf diese Frage keine Antwort fand, das war die andere Sorge, die ihn drückte.

Er hatte sich krumm gearbeitet in diesem Winter, und was half es! Wohl nahm jetzt die Wirtschaft ihren geregelten Gang und die Einkünfte wuchsen mit jedem Monat; aber was Mathes mühsam mit kleinen Steinen aufbaute – Purtschellers Leichtsinn warf alles wieder über den Haufen und grub noch Löcher in die Erde. Man wußte schon im ganzen Dorfe von dem Geschäft, das Purtscheller im November abgeschlossen hatte: die alte Hypothek war getilgt worden, zehntausend hatte er bar auf die Hand bekommen – und dafür lag jetzt eine Hypothek von achtzigtausend auf dem Purtschellerhof. Und jene zehntausend, von denen Zäzil die ersten zwanzig Mark davongetragen hatte? Fast die Hälfte war für den Ankauf des neuen Trabers draufgegangen, und der Rest war flink und lustig durch Purtschellers offene Hände gerollt. Seit dem Fasching war er schon wieder in der Klemme, ließ sich Vorschüsse von den Händlern geben und suchte auf allen Seiten Geld aufzutreiben. Daß ihm diese Bohrversuche nicht immer gelangen, das steigerte seine jähzornige Reizbarkeit in solchem Grade, daß Karlin’ und die Leute im Haus kaum mehr ein Auskommen mit ihm fanden. Wer die junge Frau betrachtete, dem mußte der Anblick ihres abgehärmten Gesichtes ins Herz schneiden. Ihre schlimmste Zeit war jene Woche gewesen, in welcher Purtscheller mit verbundenem Kopf und verpflasterten Gliedern das Zimmer hatte hüten müssen – bei einer Trainingfahrt hatte „Lüftikus“ den Gig mitsamt dem Trainer über die hohe Straßenböschung in den Bach hinuntergeworfen. Und Purtscheller war, wenn es um seinen kostbaren Leib ging, gar wehleidiger Natur. Das ganze Haus atmete auf, als er den ersten Ausgang machte. Nun hatte auch Karlin’ wieder ruhigere Tage; denn vom Morgen bis zum Abend war Purtscheller unsichtbar; freilich, wenn er in später Nacht bekneipt nach Hause kam, weckten seine jähzornige Stimme und die Scenen, die er droben in der Stube aufführte, alle Schläfer im Haus. Nur bei einem war das Wecken überflüssig – denn der schlief nicht! Und als die junge Frau nach solch einer Nacht am Morgen in den Hof kam, sah Mathes ein bläuliches Mal an ihrer Schläfe.

Er wurde bleich. „Karlin’!“ Zum erstenmal hatte er die förmliche Anrede vergessen, doch nur für einen Augenblick. Dann fragte er: „Is Ihnen was passiert, Frau Purtschellerin?“

Brennende Röte huschte über ihre vergrämten Züge; doch sie schüttelte den Kopf. „Ein bißl ang’stoßen hab’ ich mich … am Kasten … in der Finsternis halt!“ Noch während sie sprach, hatte sie sich abgewandt und war ins Haus getreten, um vor Mathes die Thränen zu verbergen, die ihr in die Augen stiegen.

Nach ein paar Tagen war dieses häßliche Zeichen vergangen. Aber wenn Mathes die junge Frau mit ihrem Knaben droben in der Stube am Fenster gewahrte, oder wenn sie im Hof an ihm vorüberging, mußte er immer nach ihrer Schläfe sehen – und immer wieder sah er diesen bläulichen Schatten, der doch seit Tagen schon verschwunden war. Und wenn er bei der Arbeit an sie dachte, konnte er sich ihr Gesicht gar nicht mehr anders vorstellen als immer mit diesem häßlichen Mal.

So sah er sie auch jetzt, während er durch die Furche schritt und sich bei jedem Samenwurf mit einem sorgenden Gedanken fragte: Was soll aus ihr werden? Aus ihr und ihrem Kind, wenn kommt, was kommen muß – Purtschellers Ruin und die Gant seines Hofes?

Er ging gebeugt und atmete schwer.

Da wehte von Süden ein linder Hauch über die kahlen Samenfelder, warm und befruchtend. Mathes fühlte ihn und blickte auf, [667] als hätte er Sorge, daß ein Föhn im Anzug wäre. Doch der Himmel war ohne Wolken, sonnig und blau. Am Saume des nahen Wäldchens schlug eine Drossel, und in das eintönige Rauschen der Bäche, die aus den Hohlen des laufenden Berges rannen, klang vom Dorf herüber das Hammertrio der Daxenschmiede.

Die Sonne begann zu sinken, und es kam ein Abend, lau und windstill, leuchtend in allen Farben.

Gegen fünf Uhr wurde Mathes fertig mit der Saat. Am Rain des Ackers stehend, nahm er den Hut ab und drückte ihn an die Brust. „Lieber Herrgott, gelt, leg’ halt Dein’ Segen drauf!“

Dann hob er den Sack mit dem Rest des Samens auf die Schulter und trat den Heimweg an. Als er bei einer Hecke vorüberkam, spürte er zarten Wohlgeruch – den Duft der ersten Veilchen. Er pflückte die kleinen, blauen Blüten, welche halb noch Knospen waren, und steckte sie hinter das Hutband.

Auf der Straße vor dem Purtschellerhof begegnete ihm Karlin’, die mit kleinen Schritten ihren Knaben an der Hand führte, damit das Kind den schönen Frühlingsabend und die linde Luft genießen möchte – es war ja um diese Zeit im Freien wärmer als in den Häusern, aus deren Mauern noch die feuchte Kälte des Winters hauchte.

„Guten Abend, Frau Purtschellerin!“ sagte Mathes, ohne den Schritt zu verhalten.

Da fiel ihr zum erstenmal seine gebeugte Haltung auf, und sie vergaß, den Gruß zu erwidern. Als er schon vorüber war, fragte sie mit beklommener Stimme: „Mathes? … Trägst denn so schwer?“

Er blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Bloß ein’ halben Metzen! Den hab’ ich sparen können bei der Saat.“

Mit besorgtem Blick betrachtete sie sein hageres Gesicht. „Sag’, Mathes? Thust denn net ein bißl gar z’viel schaffen? So viel müd schaust aus!“

„Ah na! Gott bewahr’!“ sagte er hastig, während matte Röte seine Züge überflog. „Das hab’ ich halt so im Frühjahr! Da druckt mich ’leicht der Winter ein bißl! Ja! Die ganzen Jahr’ her hab’ ich’s allweil so g’habt! Das vergeht schon wieder und thut mir nix! Ah na!“ Er hatte den Sack zu Boden gestellt und die Veilchen vom Hut genommen. Sich niederbeugend, drückte er dem Kind die Blumen ins Händchen. „Da schau, Tonerl! Was ich Dir mit’bracht hab’! Gelt, die sind lieb! Und schmecken so viel gut!“ Er roch an den Blüten und stellte sich, als ob er von der Stärke ihres Duftes niesen müßte: „Hazzi!“

Das gefiel dem Bürschlein; eifrig grub es sein Rüschen in die Blumen und machte „Hazzi!“

Lächelnd erhob sich Mathes und nahm den Sack wieder auf.

Doch er zögerte zu gehen – es drängte ihn, Karlin’ zu sagen, daß er heute von Purtscheller Urlaub für so lange nehmen wollte, als der Vater ihn nötig hätte. Aber er brachte es nicht über die Lippen. Sie hatte ja Kummer genug im eigenen Hause weshalb sollte er auch noch eine fremde Sorge auf ihr Herz legen und ihr sagen, wie schlimm es dort oben in der Simmerau um das kleine Häuschen stand.

„B’hüt Ihnen Gott, Frau Purtschellerin!“ murmelte er und ging davon.

Langsam strich Karlin’ die losen Härchen hinters Ohr, blickte ihm mit sinnenden Augen nach und atmete tief.

Als Mathes den Hof betrat, sah er Purtscheller, der für die Jagd gekleidet war und die Schrotflinte auf dem Rücken trug, vor einer Stallthür stehen und lachend mit Zäzil schwatzen. Die Magd schien ihren Herrn auf die Heimkehr des Knechtes aufmerksam zu machen, denn er blickte über die Schulter; dann sagte er der Dirne ein leises Wort und ging auf das Thor zu.

Mathes vertrat ihm den Weg. „Grüß Gott!“

„Grüß Gott auch! Bist endlich fertig mit der Aussaat?“

„Ja!“

„No also! Aber lang g’nug hast ’braucht!“

„Gute Saat will ihr’ Zeit haben.“

„Natürlich! Solche Sprüch’ haben die Langsamen allweil bei der Hand! … B’hüt’ Dich Gott!“

„Ich hätt’ was z’reden, Herr Purtscheller.“

„Ein andersmal!“

„Es muß heut’ noch sein!“

„Oho! Soll ich mir ’leicht Vorschriften von Dir machen lassen? Jetzt grad’ mag ich net! Und wenn’s gar so pressiert, so wart’ halt, bis ich heimkomm’! Jetzt hab’ ich kein’ Zeit! Heut’ is der erste schöne Abend – da muß ich schauen, ob net der Schnepf schon am Strich is. Wenn ich Glück hab’, schieß’ ich heut’ den ersten!“ Ohne sich darum zu kümmern, was Mathes noch sagte, wanderte er zum Thor hinaus und brummte: „Hoffentlich begegnet mir kein alts Weib net.“ Als er auf der Straße seine Frau gewahrte, machte er ärgerlich einen Umweg.

Er hatte nicht weit zu gehen. Gleich bei den aus dem laufenden Berg hervorströmenden Bächen, in den mit dichtem Buschwerk durchsetzten Moorwiesen war seit Jahren der beste Schnepfenstrich. Als Purtscheller seinen Stand gewählt hatte und die Flinte schußbereit machen wollte, merkte er, daß er die Patronen vergessen hatte. Mit einem Fluch begann er zu schimpfen: „Natürlich! Weil einem das Frauenzimmer aber auch allweil die Patronen aus’m G’wehr und aus der Joppen nehmen muß! Als ob was passieren könnt’, wenn’s G’wehr am Rechen hängt!“ Aber da half ihm nun alles Schelten nichts; er mußte den Heimweg wieder antreten. (Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüten.

Die Kaiserbegegnung in Breslau. (Zu dem Bilde S. 660 und S. 661.) Für die ersten Septembertage hatte die Residenzstadt Breslau einen festlichen Schmuck angelegt. Sollte doch in ihren Mauern das russische Zarenpaar von dem deutschen Kaiserpaar gastlich empfangen werden. In dieser Begegnung kam die friedliche Gesinnung der regierenden Häupter der beiden mächtigen Nachbarreiche zum Ausdruck und diese Zuversicht erfüllte das Volk mit um so größerer Freude. Während das russische Kaiserpaar in dem eigens dazu hergerichteten Ständehause abstieg, nahm Kaiser Wilhelm Wohnung im königlichen Palais – jener denkwürdigen Stätte, von der im Jahre 1813 Friedrich Wilhelm III. den „Aufruf an mein Volk“ erließ. Bevor jedoch das Zarenpaar eintraf, wollte Breslau noch einer patriotischen Pflicht genügen; am 4. September wurde in Gegenwart des Landesherrn das Denkmal für Kaiser Wilhelm I. enthüllt. Breslau stand ja dem Begründer der deutschen Einheit besonders nahe. In Zeiten schwülen Druckes hatten am 15. Mai 1866 die Breslauer städtischen Behörden eine patriotische Adresse an den König erlassen, die sich für die deutsche Politik Bismarcks aussprach, in weiten Kreisen zündete und der treuen Stadt den Dank des Königs sicherte.

Die jüngsten Kaisertage in Breslau waren vom „Kaiserwetter“ begünstigt, was natürlich das festliche Gepräge in dem glänzenden Straßenbilde noch wirksamer hervortreten ließ. Den Höhepunkt der Empfangsfeierlichkeiten bildete zweifellos die Parade des VI. Armeekorps, die am 5. September auf dem Gandauer Felde stattfand. Dasselbe liegt etwa eine Stunde von der Stadt entfernt, aber der ganze Weg war von dichtgedrängten Menschenmassen wie von einer lebenden Mauer umsäumt. Auf dem Paradefelde angelangt, stiegen die beiden Kaiser zu Pferde, während die Kaiserinnen, von einer glänzenden Suite gefolgt, im Wagen blieben. Die Zarin trug ein weißes Seidenkleid mit Silberbrokat und ein weißes Cape, die deutsche Kaiserin ein Kleid von rosa Seide mit meergrüner Garnitur. Kaiserin Anguste Viktoria saß im Wagen zur Linken der Zarin. Zunächst ritten die Majestäten die Fronten der beiden Treffen ab, wobei die Kapellen der einzelnen Regimenter, zu denen die Herrscher gerade gelangten, die russische Nationalhymne anstimmten. Darauf erfolgte ein zweimaliger Vorbeimarsch der Truppen. Der Zar trug dabei die Uniform des Kaiser Alexander-Garde-Grenadier-Regiments Nr. 1, dessen Chef er ist, während der deutsche Kaiser die große Generalsuniform angelegt hatte. Als nun das Grenadier-Regiment Kronprinz Friedrich Wilhelm Nr. 11 anmarschierte, sprengte Kaiser Wilhelm an dessen Spitze und führte es seinem Gaste vor. Bald darauf wurde dieser Akt der Höflichkeit von Kaiser Nikolaus erwidert, indem er sein Alexander-Garde-Grenadier-Regiment zweimal an Kaiser Wilhelm vorbeiführte. Diesen interessantesten Augenblick der Parade hat der Maler W. Pape anf unserer Abbildung in trefflicher, lebenswahrer Weise wiedergegeben. – Am 7. September fand noch vor den vereinigten Herrschern die Parade des zu Manöverzwecken bei Görlitz versammelten V. Armeekorps statt. Bald darauf trennte sich das russische Kaiserpaar von seinen hohen Gastgebern. *      

Das Sammeln von Abfällen für wohlthätige Zwecke. Mit großem Eifer werden überall in Deutschland die verschiedensten Abfälle, wie Cigarrenspitzen, Staniolflaschenkapseln, alte Lederhandschuhe etc., gesammelt, in der wohlmeinenden Absicht, den baren Erlös dieser Sammlungen für wohlthätige Zwecke zu verwenden. Es muß jedoch nicht so leicht fallen, für diese Kleinigkeiten Käufer zu finden, denn von Zeit zu Zeit erhalten [668] wir aus verschiedenen Gegenden Anfragen, ob wir nicht Abnehmer für diese oder jene Sorte von Abfällen nennen können. Infolgedessen haben wir vor kurzem in unserem Briefkasten eine Bitte an unsere Leser gerichtet, uns Adressen solcher Kauflustigen namhaft zu machen. Leider aber haben wir bisher nur wenige der gewünschten Adressen erhalten. Dafür ging uns von sachverständiger Seite ein Brief zu, dessen Inhalt für die weiten Kreise der menschenfreundlichen Sammler gewiß sehr lehrreich sein dürfte. Unser Gewährsmann macht darauf aufmerksam, daß der Wert jener Sammlungen oft so gering sei, daß es sich nur dann lohne, dieselben zu veranstalten, wenn man für die gesammelten Gegenstände an Ort und Stelle Abnehmer finde. Die Porti und Frachtkosten pflegen nämlich im Verhältnis zu dem Erlös für die Abfälle dann so hoch zu sein, daß sie den ganzen Nutzen verschlingen. Unter solchen Umständen ist es bisweilen viel praktischer, auf das Sammeln zu verzichten und die voraussichtlichen Verpackungs- und Frachtkosten den Wohlthätigkeitsvereinen zukommen zu lassen. Wie unklug mitunter in dieser Hinsicht verfahren wird, kann man aus folgenden Beispielen ersehen. Der Leitung eines wohlthätigen Vereins in Berlin wurde von einem eifrigen Sammler aus Königsberg in Pr. ein großer Sack zugeschickt, für den der Absender 1 Mark 70 Pf. Fracht und der Empfänger 20 Pf. Rollgeld bezahlt hat. Der Inhalt des Sackes bestand aber aus lauter zusammengedrückten Einmachebüchsen. Der Verein konnte sie natürlich nicht verwerten und mußte noch einen Kehrichtwagenführer um die Fortschaffung derselben schön bitten. Demselben Verein sandte man aus Südbayern eine alte nicht mehr gebrauchsfähig zu machende Nähmaschine und opferte dabei für die Kiste 2 Mark und für die Fracht 3 Mark 25 Pf.! Eine Dame aus Sachsen steuerte ferner etwa 20 g deutscher Reichspostbriefmarken bei. Davon gilt das Pfund etwa 5 Pfennig. Die Dame aber gab für das Porto dieser wohlthätigen Sendung 20 Pf. aus und erbat noch von der Vereinsleitung eine Empfangsbestätigung, die doch billigstens nur für 5 Pf. Porto erfolgen kann. Glücklicherweise wird von den meisten Sammlern für wohlthätige Zwecke doch mit mehr Einsicht verfahren.

Ein hoffnungsloser Minnesänger. (Zu dem Bilde S. 665.) Die Nachmittagssonne scheint hell in das Venetianer Prunkgemach, wo drei hübsche mutwillige Fräulein schon seit einer Stunde nach neuer Unterhaltung dürsten. Die Ritterbücher sind zu Boden geschleudert, das Becherspiel ebenso, da erscheint, zierlich angethan und zurechtgestutzt, der verliebte junge Marchese mit seiner Mandoline. Er kommt gerade recht, um die lachlustigen Mägdlein in die beste Stimmung zu versetzen, denn einen spaßhaften Verehrer hänseln, ist ja fast ebenso unterhaltend, als mit einem ernsthaften schönthun. Um die Wette sticheln die spitzen Zünglein an seinem gesunden Aussehen und seinem schönen Sammetwams herum, bis es ihm schwül wird und er lieber mit dem Vortrag einer neueinstudierten Kanzone beginnt. So schmachtend als möglich singt er an Lauretta hin:

„O lasse meinen Blick versenken
In deines Auges dunkle Pracht –“

Und sie thut ihm augenblicklich den Gefallen, sie, die Mutwilligste der ganzen losen Gesellschaft. Nahe, als gälte es eine ärztliche Besichtigung, rückt sie ihm entgegen und gönnt ihm nicht nur den Anblick ihrer funkelnden Augen, sondern den der lachenden Zahnreihen obendrein, und die anderen thun sich ebenfalls keinen Zwang an. Sechs „Augen voll dunkler Pracht“ lachen den armen Schäker unbarmherzig aus, und der Brautschleier, an welchem die eine Freundin näht, wird sicher nicht an seiner Seite vor dem Altar niederwallen! – Das fein und reizend gezeichnete Bild giebt neben seinem ergötzlichen Inhalt einen sehr hübschen Eindruck von der vornehmen italienischen Häuslichkeit des siebzehnten Jahrhunderts. Bn.     

Vom Jubiläumsfestzug in Karlsruhe. (Zu dem untenstehenden Bilde.) Am 9. September dieses Jahres feierte der Großherzog Friedrich und feierte das ganze Land Baden mit ihm seinen 70. Geburtstag. (Vergl. S. 604 dieses Jahrgangs.) Die Hauptfeierlichkeit, an der sich alles, die Städte und Landschaften, die Universitäten, Schulen, Handel und Gewerbe, beteiligte, bestand in einem großartigen Festzug, der, über 4 Kilometer lang, in 12 Abteilungen, mit zahllosen Gruppen und über 40 Festwagen, Tausenden von Reitern und Standarten durch die Straßen von Karlsruhe einherzog. Unser Bild ist der Fünften Abteilung entnommen, in der sich Handel und Industrie gruppierten. Dem ganzen Festzug lag nämlich der Gedanke zu Grunde, zeigen zu wollen, welchen Aufschwung die Gewerbe, Industrien, Wissenschaften und Künste während der gesegneten Regierung Großherzog Friedrichs genommen haben.

Datei:Die Gartenlaube (1896) b 0668.jpg

Der Festwagen der Schwarzwaldindustrie aus dem Karlsruher Festzug zu Ehren
des Großherzogs Friedrich von Baden.

Aus der Festzugspublikation von Professor Hermann Götz in Karlsruhe.

In Furtwangen oben im Schwarzwald, um und in Triberg sind seit langen Jahren Industrieschulen, besonders für die Schwarzwaldindustrie, entstanden. Sie haben diesen Wagen aufgebaut und geschmückt. Er stellt ein mit Schindeln gedecktes, unter dem weit überhängenden Dache traulich ausschauendes Schwarzwaldhaus dar; ein Glockentürmchen ist darüber angebracht. Zu den kleinfenstrigen Scheiben kann man hineinschauen, da sitzen die Leute fleißig an der Arbeit, denn es ist eine Uhrenwerkstatt drinnen eingerichtet. Die Uhr ist ja der bekannteste weitverbreitete Handelsartikel des Schwarzwalds. Darum ist denn auch das Jubiläumsgeschenk der Industrieschulen eine hochaufgebaute, im reichsten gotischen Stil geschnitzte Standuhr. Sie ist vorn auf dem Wagen aufgestellt und von Knaben, Mädchen und Frauen umgeben, die teilweise mit Strohflechten, teilweise mit der zierlichen Goldstickerei beschäftigt sind, wie sie im Schwarzwald zu den Käppchen und Miedern der reizenden Trachten noch viel Verwendung findet. Daß das Ganze mit des Schwarzwalds dunklem Tannenreis verziert ist und Tannenzapfen als Ornamente dienen, ist selbstverständlich. Der Wagen wird von einem wuchtigen Viergespann gezogen – Bauernpferde sind’s mit dem messingbeschlagenen Kummet, das im Gebirge noch gebräuchlich und dort auch unumgänglich notwendig ist. Den Wagen umgeben die jetzt wohl im Treiben der großen Städte verschwundenen, unsern Eltern aber noch erinnerlichen Gestalten des wandernden Uhrenhändlers, der, mit Uhren überhangen, alle fünf Minuten seinen Kuckuck als Lockvogel anschlagen läßt, und des Bürstenhändlers mit dem charakteristischen Ruf: „Kaa–af Siã Bese, Kerewi–i–isch!“ Hinter dem Wagen aber folgen Hausierer mit ihren beladenen Grätzen. Was ist da nicht alles darin: Werke der Holzschnitzerei, Kochlöffel, Salzfässer, Honig und was sonst der eine Hof hervorbringt und der andere braucht.

Der ganze, man möchte fast sagen künstlerisch vollendete Festzug, der seit dem Wiener zu Makarts Zeiten seinesgleichen nicht gehabt haben soll, ist nach den Entwürfen des Direktors der Karlsruher Kunstgewerbeschule, Professor Götz, entstanden und ausgeführt worden. Er wird allen, die ihn gesehen, ein unvergeßliches Bild bleiben. A. v. Freydorf.     



Inhalt: Die Geschwister. Roman von Philipp Wengerhoff (1. Fortsetzung). S. 649. – Großvaters Uhr. Bild. S. 649. – Fridtjof Nansen. Von Professor Dr. Sophus Ruge. S. 652. Mit Abbildungen S. 652, 653, 655 und 656. – Das Klostermuseum zu Stein am Rhein. Von Heinrich Kühnlein. S. 657. Mit Abbildungen S. 657, 658, 659 und 662. – Die Kaiserbegegnung in Breslau: Kaiser Nikolaus II. an der Spitze der Alexandergrenadiere. Bild. S. 660 und 661. – Der laufende Berg. Ein Hochlandsroman von Ludwig Ganghofer (15. Fortsetzung). S. 662. – Ein hoffnungsloser Minnesänger. Bild. S. 665. – Blätter und Blüten: Die Kaiserbegegnung in Breslau. S. 667. (Zu dem Bilde S. 660 und 661.) – Das Sammeln von Abfällen für wohlthätige Zwecke. S. 667. – Ein hoffnungsloser Minnesänger. S. 668. (Zu dem Bilde S. 665.) – Vom Jubiläümsfestzug in Karlsruhe. Von A. v. Freydorf. Mit Abbildung. S. 668.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

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Die Gartenlaube.

Beilage zu No 39. 1896.



Das „Deutschmeister“-Jubiläum in Wien. In den Tagen vom 5. bis 7. September feierte Wien ein Fest, an dem die gesamte Bevölkerung mit vollstem Herzen teilnahm. Galt doch die Feier den „Deutschmeistern“, dem Infanterieregiment Nr. 4, das in Wien seinen Aushebungsbezirk hat und in der Kaiserstadt an der Donau beliebt und volkstümlich ist wie kein anderes. Vor 200 Jahren wurde es gegründet, und in dieser langen Spanne Zeit verteidigte es den Ruhm der österreichischen Waffen in Nord und Süd, Ost und West in mehr als 200 blutigen Schlachten. Es waren trübe Zeiten, in welchen die „Deutschmeister“ zuerst ihre Fahnen entfalteten. An der Neige des 17. Jahrhunderts war die Wehrmacht Oesterreichs durch die Kriege gegen Frankreich und die Türken tief erschüttert, und Prinz Eugen von Savoyen sah sich genötigt, die kaiserliche Armee neu zu organisieren. Unter den deutschen Fürsten erbot sich damals der Kurfürst Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg, dem Kaiser Leopold I. ein „gutes deutsches Fußregiment“ zu 12 Compagnien und 2000 Mann zu stellen. Zum Oberstinhaber desselben wurde im Jahre 1696 der Hochmeister des Deutschen Ordens, der Pfalzgraf Franz Ludwig, ernannt, und nach ihm erhielt das Regiment den Namen „Hoch- und Deutschmeister“. In Franken wurde zunächst für dasselbe geworben, und in Donauwörth ließ es zum erstenmal seine Fahne flattern. In kaiserlichem Dienst wurde es jedoch bald mit österreichischen Elementen versetzt, und vor 114 Jahren wurde es „Wiener Hausregiment“, indem es in Wien seinen Werbebezirk erhielt. Die ersten unverwelklichen Lorbeeren erkämpften sich die Deutschmeister unter Führung des Prinzen Eugen in der Schlacht bei Zenta am 11. September 1697 gegen die Türken; von da ab nahmen sie fast an allen Kriegen, welche die habsburgische Monarchie führte, einen hervorragenden und ruhmreichen Anteil.

Historische Exerzitien der „Deutschmeister“ in der Rotunde zu Wien.
Nach dem Leben gezeichnet von M. Ledeli.

Das Jubelfest des Deutschmeister-Regiments, von dem ein Teil in Iglau steht, wurde am 5. September durch den feierlichen Einmarsch in die festlich geschmückte Kaiserstadt eingeleitet. Es wurde hier von den Reservisten und ehemaligen Regimentsangehörigen empfangen. Sonntag, den 6. September, fand auf der Wasserwiese beim Hochwalde im Prater eine Feldmesse statt; dann zog das Regiment in die „Rotunde“, wo es von der Stadt Wien bewirtet wurde. In den weiten elektrisch beleuchteten Räumen fand abends eine sehr eigenartige und fesselnde Vorführung statt. Das Regiment machte „Exerzitien in historischen Adjustierungen“ aus den Jahren 1696, 1756, 1809, 1848 und 1896. Was sich hier den Blicken der Zuschauer zeigte, war das Ergebnis sorgfältigster Studien; Uniformen, Waffen, Uebungen – alles war geschichtlich treu und wahr. Unsere Abbildung führt den Lesern einige der Typen vor. Zu oberst sehen wir die ersten „Teutschmeister“ in den langen weißen Kriegsröcken mit himmelblauen Aermelaufschlägen, in Strümpfen und derben Lederschuhen. Sie tragen noch die Gabelmuskete und werden von Pikenieren begleitet. Im Jahre 1696 gab es beim Kommando „Schießen“ 56 Tempi, bis ein Schuß fiel. Beim Viergliederfeuern schoß zuerst das erste Glied mit dem Gewehr auf der Schießgabel, legte sich dann vorn hin, und das zweite Glied gab Feuer, und so fort, bis alle vier Glieder geschossen hatten. Das fünfte Glied rückwärts waren Pikeniere, die namentlich zur Abwehr der Reitereiangriffe verwendet wurden. Das zweite Bild aus dem Jahre 1756 führt uns die theresianische Zeit vor. Der weiße Rock ist mit blauen Aermelaufschlägen und einem breiten Revers von gleicher Farbe auf der Brust verziert. Das Gewehr ist leichter und bereits mit dem Bajonett versehen, in dessen Handhabung die Deutschmeister sich eine Berühmtheit erworben haben. In weißem Frack mit blauen Aufschlägen, schwarzen Gamaschen und in den charakteristischen Bärenfellmützen erscheint eine Grenadierabteilung aus dem Jahre 1809, und zuletzt wird noch ein Deutschmeister in der gegenwärtigen Adjustierung vorgeführt. Der weiße Rock ist seit 1867 durch die blaue Uniform, dunkelblaue Bluse und lichtblaue Hose, ersetzt worden. – In dieser Weise zog in der Rotunde ein Stück lebender Kriegsgeschichte an dem Auge des Beschauers vorüber, und ein Jubelsturm folgte dem anderen; die Begeisterung erreichte aber ihren Höhepunkt, als zum Schluß „die Deutschmeister zweier Jahrhunderte“ vor der Büste des Kaisers eine Huldigung darbrachten. – Am 7. September vereinigten sich nochmals alle Deutschmeister, um der Grundsteinlegung zu einem Deutschmeisterdenkmal beizuwohnen. Bankette und Volksfeste bildeten den Schluß der Feier, die allen Wienern unvergeßlich bleiben wird. An dem Feste nahmen auch süddeutsche Abordnungen teil, Offiziere und städtische Beamte aus Mergentheim in dem württembergischen Jagstkreis. Mergentheim war ja einst die Residenz des Hoch- und Deutschmeisters und der erste Werbebezirk des Regiments.

Elektrische Bahnen in Europa. In kurzer Zeit haben die elektrischen Bahnen in Europa einen bedeutenden Aufschwung genommen. Laut einer Statistik waren in unserem Erdteil am 1. Januar 1896 nicht weniger als 111 elektrische Bahnen im Betriebe, die eine Gesamtlänge von 902 km aufwiesen und mit 1747 Motorwagen ausgerüstet waren. Deutschland steht hinsichtlich dieser Errungenschaft im Verkehrswesen obenan. Seine elektrischen Bahnen haben eine Gesamtlänge von 406 km und besitzen 857 Motorwagen. Frankreich weist nur eine Schienenlänge von 132 km mit 225 Motorwagen auf, während Oesterreich-Ungarn über elektrische Bahnen mit 71 km Schienenlänge und 157 Motorwagen verfügt.

Gummibaumtriebe abzulegen. Gummibäume zählen zu den beliebtesten Zimmerpflanzen. Sehr oft wächst am Stamme eines solchen Bäumchens seitwärts ein Triebchen, das man abnimmt und mühelos zu einem zweiten Bäumchen ziehen kann, wenn man das Aestchen in ein mit Wasser gefülltes enghalsiges Glas steckt und die Oeffnung des Glases, rings um die Pflanze herum, etwas mit Wachs verklebt. Schon in acht bis zehn Tagen treibt das Ablegerchen Wurzeln, die man einige Zeit erstarken läßt. Dann setzt man das Bäumchen in einen kleinen Topf mit guter Erde. Die ersten Tage stürzt man ein größeres Glas darüber, bis die Pflanze festgewurzelt ist. S.     


Hauswirtschaftliches.

Das Obst in der Küche. In vielen Gegenden Deutschlands läßt die Verwertung des Obstes in der Küche viel zu wünschen übrig. Das ist sehr zu bedauern, da durch eine zweckmäßige Verwendung der Früchte große Mannigfaltigkeit in den Speisezettel des Haushalts gebracht werden kann. Und wozu läßt sich nicht unser Obst verwenden! Suppen, Kaltschalen, Mehlspeisen, Puddings, Aufläufe, Cremes und Gelees, Torten und Kuchen, Backwerke und Salate erhalten erst durch das Obst die eigentliche Würze. In den Kochbüchern wird im allgemeinen das Obst stiefmütterlich behandelt; nun hat L. v. Pröpper, die bekannte Verfasserin der Bücher „Das Einmachen der Früchte“ und „Häusliche Konditorei“ ein besonderes Kochbuch unter dem Titel „Das Obst in der Küche“ (Trowitzsch & Sohn, Frankfurt a. O.) geschaffen, in dem nicht weniger als 500 erprobte Rezepte zur Verwertung der verschiedensten Obstsorten geboten werden. Die Herausgabe des Büchleins ist eine hauswirtschaftliche That, die gewiß in der Küche Gutes stiften wird. Wir möchten es namentlich jetzt der Beachtung unserer Leserinnen empfehlen, da die Obsternte in vollem Gange ist und allerlei Obstgerichte als angenehme und gesunde Abwechslung der häuslichen Speisekarte bequem und billig zu beschaffen sind.

[668 b] [Diese Seite enthält nur Werbung von dritter Seite, die hier – zumindest vorerst – nicht transkribiert wird.]


  1. Nähere biographische Angaben und das Porträt Nansens brachten wir bereits in Nr. 13 dieses Jahrgangs in dem Artikel „Nansens und Andrées Nordpolunternehmen“.