Die Gartenlaube (1899)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1899
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[228 c]

8. Heft.  Preis 10 cents. 18. April 1899.

[228 d]

Inhalt.
Seite
Das Schweigen im Walde. Roman von Ludwig Ganghofer (7. Fortsetzung) 229
Müthchen. Bilder aus dem Kinderleben. Von Anna Ritter. I. 242
Nixdorf, Preußens jüngste Stadt. Von Gundakkar Klaussen 246
Die Komödie des Todes. Eine Dorfgeschichte aus Steiermark von Peter Rosegger (Schluß) 248
Allerlei moderne Drachen. Von W. Berdrow 251
Bilder aus den „Höhlenlabyrinthen“. Von E. Wrbata.
Mit photographischen Aufnahmen der Höhlen
253
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
Gründungen auf Schlamm und Sand. Von W. Berdrow
255
Blütentage in Florenz. Von Isolde Kurz 255
Blätter und Blüten: Klaus Groth in seinem Arbeitszimmer. (Zu dem Bilde S. 237.) S. 259. – Die letzte Zuflucht. (Zu dem Bilde S. 232 und 233.) S. 259. – Ein Gericht bei den Helvetiern. (Zu dem Bilde S. 241.) S. 259. – Kamelgespann am Pflug in Algerien. (Mit Abbildung.) S. 259. – Sonntagnachmittag im Dekansgarten. (Zu dem Bilde S. 245.) S. 259. – Der Kaiserturm auf dem Karlsberg im Grunewald bei Berlin. (Mit Abbildung.) S. 260. – Hinterbärenbad in Tirol. Von J. C. Platter. (Zu dem Bilde S. 249.) S. 260. – Balzender Auerhahn. (Zu dem Bilde S. 257.) S. 260. – Ueber den Einfluß verschieden gefärbten Lichtes. S. 260.
Illustrationen: Ein frischer Trunk. Von A. Eckardt. S. 229. – Letzte Zuflucht. Von J. v. Jaroszinsky. S. 232 und 233. – Klaus Groth in seinem Arbeitszimmer. Von Ismael Gentz. S. 237. – Ein Gericht bei den Helvetiern. Von E. Ravel. S. 241. – Sonntagnachmittag im Dekansgarten. Von Paul Hey. S. 245. – Hinterbärenbad in Tirol vor dem Brande. S. 249. – Abbildungen zu dem Artikel „Allerlei moderne Drachen“. Der Nikelsche Registrierdrache. Doppelflächenflugmaschine von Herring. Gleitflugdrache von Chanute. S. 252. – „Bilder aus den ‚Höhlenlabyrinthen‘“. Fig. 1 bis 5. S. 253. 254. – Initiale zu dem Artikel „Blütentage in Florenz^. S. 255. – Balzender Auerhahn. Von O. Recknagel. S. 257. – Kamelgespann am Pflug in Algerien. Von R. Mahn. S. 259. – Der Kaiserturm auf dem Karlsberg im Grunewald bei Berlin. S. 260.


Hierzu Kunstbeilage VII: „Studienkopf“. Von F. Zenisek.



Kleine Mitteilungen.


Ludwig Bamberger †. Immer mehr lichten sich die Reihen der Männer, die vor einem halben Jahrhundert für das Ideal der deutschen Einheit stritten und litten und denen es dann vergönnt war, an dem Ausbau des neuen Reiches freudig und kraftvoll mitzuwirken. Nun ist auch Ludwig Bamberger am 14. März d. J. in Berlin vom Tode dahingerafft worden. Jahrzehntelang stand er im Vordergrunde unserer politischen Kämpfe, und so teilte er das naturgemäße Los aller Politiker, daß seinen Anschauungen und Handlungen die allgemeine Anerkennung nicht zu teil wurde. Wohl aber erkannten von jeher auch die Gegner sein lauteres Streben, dem Vaterlande zu dienen, und seine glänzende Begabung für die Laufbahn eines Parlamentariers und politischen Schriftstellers.

Ludwig Bamberger wurde am 22. Juli 1823 in Mainz geboren. Er studierte die Rechte, arbeitete bei den Gerichten in Mainz und wurde Redakteur der „Mainzer Zeitung“. An der Bewegung von 1848 nahm er thätigen Anteil und schloß sich 1849 den Freischärlern in der Bayrischen Pfalz und in Baden an. Er wurde von der siegreichen Reaktion zum Tode verurteilt und floh ins Ausland. Nach vorübergehendem Aufenthalt in der Schweiz, in England, Belgien und Holland wandte er sich nach Paris, wo er bis zum Jahre 1866 ein großes Bankhaus leitete. Als im Jahre 1866 die Amnestie ihm die Rückkehr in die Heimat ermöglichte, siedelte er nach seiner Vaterstadt Mainz über und wurde im Jahre 1868 in das Zollparlament gewählt. Während des deutsch-französischen Krieges berief ihn Fürst Bismarck nach dem Hauptquartier, und von hier aus wirkte Bamberger in erfolgreichster Weise als Publizist für die nationale Idee. Im Jahre 1871 wurde er in den Deutschen Reichstag gewählt und schloß sich der nationalliberalen Partei an. Bedeutend war sein Einfluß namentlich in volkswirtschaftlichen Fragen. Im Laufe der Zeit geriet er jedoch mehr und mehr in Widerspruch zu der inneren Politik des Fürsten Bismarck. 1881 schied er aus der nationalliberalen Partei und bildete die sogenannte „sezessionistische Gruppe“, später wurde er Mitglied der deutsch-freisinnigen Partei und zuletzt der freisinnigen Vereinigung. Seit 1893 hat er kein Mandat mehr angenommen, wirkte aber weiterhin schriftstellerisch im politischen Leben Deutschlands. Seine letzte Arbeit war eine beachtenswerte Schrift über Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“.

Künstliche Kälteabarten von Pflanzen und Tieren. Hoch oben auf den Bergen und hoch oben im Norden sehen viele Tier- und Pflanzenarten anders aus als in der Ebene oder in südlicheren Gegenden. Diese nordischen Abarten und Höhenformen sind, wie die Wissenschaft lehrt, im Laufe langer Zeiträume unter dem Einfluß einer fortschreitenden Veränderung des Klimas entstanden.

In der Neuzeit haben die Naturforscher versucht, diese Einflüsse näher zu ergründen und durch Veränderung der Lebensbedingungen neue Abarten von Pflanzen und Tieren zu erzeugen. Die Lösung dieser Aufgabe ist nicht leicht, denn solche Aenderungen in der Tier- und Pflanzenwelt vollziehen sich äußerst langsam. Immerhin sind neuerdings einige Beobachtungen und Versuche gelungen, die uns einen Einblick in die Art und Weise gewähren, wie durch den Einfluß der Kälte neue Pflanzen- und Tierformen erzeugt werden. Daß schon die Temperatur allein imstande ist, Formenänderungen bei Pflanzen herbeizuführen, haben schon vor mehreren Jahren zwei Forscher, Ettingshausen und Krašan, nachgewiesen. Sie stellten nämlich in der Form der Blätter einzelner Eichen und Buchen Verschiedenheiten fest, die auf die gewöhnliche Art durch Lichtmangel sich nicht erklären ließen. Durch Zufall kamen die Forscher dahinter, daß diese Bäume, gerade als ihre Blattknospen im Aufbrechen begriffen waren, stark unter Frost gelitten hatten. Sie beobachteten weiter und fanden ihre Ansicht, daß diese so veränderten Blätter Frostformen darstellten, bestätigt. Und als sie nun diese Frostformen mit vorweltlichen Eichen- und Buchenblättern aus dem Tertiär verglichen, zeigte es sich, daß sie mit letzteren übereinstimmten. Hier hatte die Kälte also an Eichen und Buchen besondere Abarten von Blättern erzeugt, die selbst das Auge dieser Forscher nicht mehr ohne weiteres als Eichen- oder Buchenblätter erkennen konnte, und die sie atavistische oder Rückschlagsformen nannten.

Ueber den Einfluß der Kälte auf die Gestaltung der Tiere haben jüngst amerikanische Blätter berichtet. Man hatte dort in die großen Höhleneiskeller einzelner Brauereien zur Vertreibung der daselbst in Unmasse hausenden Mäuse Katzen eingesetzt. Diese Katzen hätten nun schon nach kurzer Zeit, infolge der in den Kellern herrschenden Kälte, trotzdem draußen Sommer und die Zeit zur Anlegung des Winterpelzes noch gar nicht gekommen gewesen sei, ihr Winterkleid angezogen und überhaupt nicht wieder abgelegt. Und siehe da, auch die jungen, in den Eiskellern geborenen Kätzchen seien gleich mit Winterpelzen auf die Welt gekommen. Man habe nun, einmal aufmerksam geworden, auch die Mäuse daraufhin untersucht und gefunden, daß auch diese ein viel dichteres und dunkleres Fell hatten als ihre Brüder und Schwestern draußen und daß auch die jungen Mäuse gleich mit einem solchen veränderten Fell geboren wurden. Diese Berichte sind jedoch wissenschaftlich nicht verbürgt und müssen darum mit aller Vorsicht aufgenommen werden.

Ueber jeden Zweifel erhaben sind aber die Untersuchungsresultate einer Anzahl von Entomologen, denen es thatsächlich gelungen ist, künstliche Kälteabarten von Schmetterlingen zu erzeugen. Wir wollen hier nur die Arbeiten Dr. Fickerts erörtern. Seine Untersuchungen knüpften an die Thatsache an, daß die verschiedenen Jahresgenerationen mancher Schmetterlingsarten verschiedene Kleider tragen, je nachdem ihre Puppen überwintert haben oder nicht. Indem er nun Sommerpuppen in einem Eisschrank oder Eiskeller aufbewahrte und zum Auskriechen brachte, gelang es ihm auf diese Weise eine Form zu erzielen, die derjenigen gleich oder doch ähnlich war, welche gewöhnlich aus den überwinterten Puppen auszuschlüpfen pflegt. Später wurden diesen Versuchen auch Schmetterlinge unterworfen, welche keine nach den Jahreszeiten verschiedene Abarten zeigen, so unser gewöhnliches Pfauenauge, und auch bei diesen wurden Veränderungen in der Färbung, namentlich Verdüsterungen und Rückbildung der Augenflecke, erzielt. Noch vorteilhafter aber erwies es sich, die Puppen, anstatt einer Eisschranktemperatur von 1 bis 3° über 0, wirklichen Kältegraden bis zu 20° unter 0 auszusetzen, denn dadurch erhielt Fickert bei dem „Kleinen“ und „Großen Fuchs“, dem „Trauermantel“ und dem „Pfauenauge“ Abarten, welche in der freien Natur nur höchst selten vorkommen.

Als möglichst frische, 1 bis 2 Tage alte Puppen in einem kleinen Zinkkasten der Einwirkung einer täglich erneuerten Kältemischung von Eis und Salz eine Woche lang ausgesetzt wurden, erhielt man vom Kleinen Fuchs neben einer Anzahl normaler Tiere auch verschiedene Abarten, darunter vier Stück einer neuen, bisher völlig unbekannten, bei welcher die Hinterflügel bis auf geringe Spuren gelblicher Randflecke ganz braunschwarz gefärbt sind. Auf die gleiche Art und Weise gelang es, vom „Braunen Bär“ eine neue prachtvolle Abart zu erhalten, mit fast ganz einfarbigen, chokoladebraunen Vorderflügeln und schwarzen, nur am inneren Viertel mennigrot behaarten Hinterflügeln; auch der Hinterleib war, bis auf die beiden ersten Hinterleibsringe, oben braun-schwarz gefärbt.

Während nun aber nach Ettingshausen und Krašan die Kälteabarten der Eichen- und Buchenblätter einen Rückschlag auf frühere Formen vorstellen, ist dies nach der Ansicht Fickerts bei den Kalteabarten von Schmetterlingen nicht der Fall, weil „die Beobachtung der Farbenentwicklung in den Puppen und die Untersuchung der Stammesentwicklung durch Vergleichung fertiger Formen zeigt, daß das Zusammenfließen von Flecken und das Einfarbigwerden, wie die Kälteformen es zeigen, stets einen Fortschritt bedeutet“.

Es bleibt nun noch übrig, zu versuchen, Kälteabarten zur Paarung zu bringen und die aus deren Eiern ausschlüpfenden Raupen zu Schmetterlingen aufzuziehen, um zu sehen, ob die neuerworbenen Kennzeichen auch vererbt werden. Dr. –dt.     

[228 e]

DER HELDENTOD DER SCHILLSCHEN OFFIZIERE VOR WESEL
Nach dem Gemälde von Adolf Hering.

[228 f] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [229]

Halbheft 8.   1899.


Das Schweigen im Walde.
Roman von Ludwig Ganghofer.

(7. Fortsetzung.)


Alle Gipfel der Berge strahlten schon im Wiederschein der Sonne, als Ettingen und Praxmaler gegen fünf Uhr morgens die Jagdhütte im Sebenwald erreichten. Hier fanden sie einen aufgeregten Menschen: den Förster. Der war mit Anbruch des Tages gekommen, um die Treibjagd abzusagen, die erst am folgenden Tag gehalten werden sollte, weil – ja, weil nach der Wetternacht der Wind nicht günstig wäre – in Wahrheit aber, weil sie im Jagdhaus in zwei Tagen mit der Einrichtung des


Ein frischer Trunk.
Nach dem Gemälde von A. Eckardt.

[230] Grafenstübchens soweit nicht fertig wurden, daß es tadellos und bereit wäre, die „freudige Ueberraschung“ aufzunehmen. Als Kluibenschädl in der Schutzhütte die Betten unberührt und den Herd ohne Glut gefunden, war ihm die Sorge mit „gacher Hitz“ vom Herzen in den Kopf geschossen. Schon begann er an die schlimmsten Dinge zu denken und wollte in seiner Angst bereits zur nächsten Almhütte rennen, um mit den Sennleuten die Suche nach seinem Herrn zu beginnen – da kamen die beiden, gesund und mit heiterem Geplauder. Es hätte nicht viel gefehlt, und Kluibenschädl wäre in der ersten angsterlösten Freude dem Fürsten um den Hals gefallen. Während Pepperl das ganze Abenteuer lustig erzählte, hielt der Förster die Hand seines Herren fest, und dann sah er ihm lachend ins Gesicht und sagte:

„Sakrawolt! Duhrlaucht! Die heutig’ Nacht auf ’m hülzernen Sessel, die muß Ihnen gut ang’schlagen haben! Ausschaun thun S’ … wie ’s Leben!“

Sie traten in die Hütte, und Pepperl schürte gleich Feuer zum Frühstück an.

„No, Gott sei Lob und Dank, Duhrlaucht, weil S’ nur wieder da sind! Und bei der Fräul’n Petri … das weiß ich schon, da is man nobel aufg’hoben … da hat Ihnen freilich nix g’schehen können!“

In fröhlicher Laune nahmen die drei das Frühstück ein. Dann machte sich der Förster auf den Heimweg zum Jagdhaus. Als er schon ein paar hundert Schritte davongewandert war, kam ihm Pepperl atemlos nachgerannt, mit irgend einem jagdlichen Zweifel, dessen Lösung so klar auf der Hand lag, daß der Förster seiner Antwort kopfschüttelnd die Worte beifügte: „Na, hörst, das hätt’st doch selber wissen können, da hätt’st doch net so rennen müssen!“

„Ja ja, is schon wahr … und … jetzt gehen S’ heim … gelten S’?“

„Natürlich! Wohin soll ich denn sonst?“

„Ja, freilich! Und … wie geht’s denn allweil daheim?“

„Wie soll’s denn geh’n? Gut halt!“

„Und … was macht denn … sag’ ich zum Beispiel … der Herr Kammerdiener?“

„Der? D’ Nasen streckt er in d’ Höh und faulenzen thut er, derweil die anderen schaffen! Und den halben Tag hockt er bei der Sennerin drunt’! Könnt’ auch ’was G’scheiders thun, als dem dalketen Madl den Kopf verdrahn! Aber no, was geht’s denn mich an! B’hüt dich Gott, Pepperl!“

Mit großen traurigen Augen starrte Pepperl dem Förster nach, und dabei zog er das blaue Sacktuch aus der Joppe und wischte die Lederhose ab, als hätte er das Gefühl, daß er mit Wasser begossen wurde. Freilich, feucht war das Leder noch vom Abend her.

Als er in die Hütte zurückkehrte, fand er den Fürsten auf seinem Lager schon eingeschlummert. Schwer atmend betrachtete der Jäger seinen Herrn. „Ah, der schlaft aber gut!“ Er seufzte. „Könnt’ ich nur auch so schlafen heut’!“

Und nicht nur gut schlief Ettingen, auch lange.

Um drei Uhr nachmittags, als Toni Mazegger draußen an der Hütte vorüberging, um den Ehrwalder Jäger für die Treibjagd zu bestellen, waren Thür und Läden des kleinen Balkenhauses noch geschlossen.

Mazegger verhielt den Schritt nicht, er streifte nur im Vorübergehen mit finsterem Blick die Thüre. Und Eile schien er zu haben. Sein Gang war von treibender Hast. In brütender Unruhe starrte er vor sich nieder, während er durch den Sebenwald hinaufeilte gegen das Seethal.

Das Almfeld öffnete sich vor ihm, und wieder begann der Wald. Mitten auf einer Lichtung wurde der Pfad gekreuzt vom Sebener Almzaun, der das Jungvieh, das für den ganzen Sommer ins höhere Seethal aufgetrieben war, verhindern sollte, durch den Wald herunterzusteigen und die reichere Weide der vom Milchvieh bezogenen Niederalmen aufzusuchen.

Dieser Zaun war ein mannshoch aufgetürmter Wall von dürren Bäumen, von denen die untersten wohl schon hundert Jahre oder noch länger lagen. Wo das dürre Zeug vermoderte und während des Winters unter dem Druck des Schnees zusammenbrach, da wurden im Frühjahr neue Reisighaufen und dürre Bäume auf den Wall geworfen, der die ganze Breite des Seethals quer durchzog und zur Linken und Rechten hinaufreichte bis zu den kahlen Wänden.

Bei diesem Almzaun war für drei Uhr morgens das Stelldichein der Treiber und Jäger angesagt, welche das Hochwild des Sebenwaldes hinunterdrücken sollten gegen den bei der Gaisthaler Ache liegenden Fürstenstand.

Wo der Pfad ging, hatte der Wall eine Lücke, die durch ein hohes Stangengatter geschlossen war.

Mazegger öffnete das Thor und schloß es wieder. Immer langsamer wurde sein Gang. Als er neben dem Pfad einen Baumstock sah, legte er Büchse und Bergstock nieder, trocknete die Stirn und rastete. Mit zitternden Fingern glättete er den feucht und mürbe gewordenen Hemdkragen, band die Krawatte frisch, säuberte mit einem Büschel Moos die Schuhe und wusch sich in einem Regentümpel die Hände. Sein schmuckes und tadellos sauberes Jägergewand mit ängstlichen Augen musternd, nahm er den Marsch wieder auf.

Nur wenige Minuten hatte er durch den Wald noch aufwärts zu steigen, bis er zwischen den lichter stehenden Bäumen den Seespiegel flimmern sah. Bevor er den Waldsaum erreichte, spähte er nach allen Seiten. Am Ufer sah er den Knaben mit der Angelrute stehen – und Gustl schien allein zu sein, denn all seine Achtsamkeit galt nur der Angelspule, die auf dem Wasser schwamm.

Mazegger wich lautlos in den Wald zurück, und auf einem Weg, auf dem ihn der Knabe nicht sehen konnte, stieg er über das Latschenfeld zu dem kleinen Haus hinauf.

Unter dem Harfenbaum, an dem sich in der goldenen Sonnenstille des Nachmittages keine Nadel rührte, saß Lo’ am Tisch. Sie hatte den Basthut abgelegt, und umzittert von den Sonnenlichtern, welche durch den Schatten des Baumes niederfielen, saß sie über ein Schulheft des Bruders gebeugt, der unter dem Eindruck des vergangenen Abends einen deutschen Aufsatz niedergeschrieben hatte: „Gewitter im Hochgebirg“. Der mit großen Worten spielende Schwung dieser kindlichen Schilderung wirkte erheiternd auf sie, doch ihr eigenes Erinnern plauderte so viel hinein zwischen diese harmlosen Zeilen, daß ihr die Wangen wie Feuer glühten.

Da trat Mazegger in den Garten. „Guten Abend, Fräulein …“ Die Erregung brach ihm die Stimme. Er stellte Gewehr und Bergstock an die Hüttenwand, nahm den Hut ab und ging langsam auf den Tisch zu. Mit scheuem Blick, zwischen Hoffnung und Zweifel, hingen seine heißen Augen an dem Gesicht des Mädchens.

Betroffen hatte Lo’ das Heft geschlossen und erhob sich.

„Mazegger? … Was suchen Sie bei mir?“

„Ein gutes Wort und … Hilf’!“

Sie sah ihn mit ihren großen Augen verwundert an und schwieg.

Den Hut zwischen den Fäusten zerknüllend, stieß er mühsam jedes Wort hervor: „Sie sind ja die Heilige fürs ganze Dorf und Thal. Jeder, der eine Hilf’ braucht, kommt zu Ihnen, und da kommt er nie umsonst. Allweil und überall muß ich’s hören, daß Ihr’ Herzensgüt’ wie ein Brünndl wär’… für jeden armen und durstigen Menschen. Und ich … ich bin doch auch ein Mensch, dazu noch einer von den ganz elenden! Was schauen Sie mich so an? Ob Sie’s glauben oder nicht … meiner Seel’! Das ist wahr … mir ist bei meinem Leben zu Mut’ wie einem, der sich in einer schiechen Wand verstiegen hat. Jeder Weg hat ein End’ für ihn, und tief geht’s hinunter! Da steht er halt und schreit … und wenn er gleich weiß, daß keiner kommen und helfen will, er schreit halt und schreit … und wenn er schon merkt: jetzt muß ich fallen … da hofft er noch allweil und denkt an die gute Hand, die ihm helfen könnt’!“

Er hob die Augen zu ihr und sprach nicht weiter.

„Kommen Sie, Mazegger,“ sagte Lo’, während tiefer Ernst aus all ihren Zügen redete. Sie rückte in die Bank und bot ihm den Platz an ihrer Seite an. „Und sagen Sie, was Sie mir sagen müssen. Hier sind wir allein … mein Bruder ist drunten am See, sonst ist niemand in der Nähe, niemand kann uns hören.“

Wie eine Flamme schlug es über das Gesicht des Jägers. Eine Hoffnung war erwacht in ihm, und er stammelte: „Fräulein! … Sie sind mir also nicht mehr bös?“

„Böse? Weshalb?“

[231] „Wegen neulich?“

„Nein.“

„Ich hab’s auch bereut …“ Mazegger hielt ihren Blick nicht aus und senkte die Augen, „denn daß man von Ihnen ein gutes Wörtl nur in der Güt’ erwartet, das hätt’ ich wissen müssen, und … und wie ein jähzorniger Bub hab’ ich mich benommen. Verzeihen Sie mir’s, Fräulein?“

„Ja, Mazegger!“ sagte sie freundlich, als hätte dieses Wort sie selbst von einem Alp erlöst.

Zögernd schob er den Hut auf den Tisch und setzte sich auf die Ecke der Bank. Die Fäuste ließ er auf den Knieen liegen, und während er mit neuem Zweifel in das Gesicht des Mädchens blickte, rührte er stumm die Lippen und suchte nach Worten.

„Sprechen Sie, Mazegger! Sagen Sie mir offen … was macht Ihr Leben elend?“

„Daß Sie das verstehen … dazu müßt’ ich Ihnen viel erzählen! … Darf ich?“

„Ja!“

Jedes Wort mußte er sich abringen, als er von seiner Heimat sprach, von allem Leid und aller Bitterkeit seiner Jugend. Dann aber, als er sah, mit welcher Teilnahme das Mädchen auf ihn hörte, schien es plötzlich, als wäre eine Fessel in seiner Brust gesprungen, und in heißer Erregung floß ihm die Sprache von den Lippen.

Es war eine trübe Kinderzeit, von welcher Mazegger zu erzählen hatte. Und als er in das Alter kam, in der die Knaben zu denken und schon mit einer Zukunft zu rechnen beginnen, da war vor seinen Füßen die Brücke niedergebrochen, die ihn hätte hinübertragen können zu einem freundlichen Leben. Erst kam das Unglück mit dem Vater. Und dann verließ ihn auch die Mutter. Carmè Luzzotti hatte sie geheißen – die Tochter eines italienischen Bahnarbeiters in einem Dorfe bei Trient. Als junges Mädchen verlor sie die Eltern und wurde von einer Schwelle zur anderen so herumgestoßen, bis sie ein Winkelchen im Haus des deutschen Lehrers fand. Der erbarmte sich der Verwaisten – weil sie jung und hübsch war. Zuerst diente sie bei ihm als Magd, und dann nahm er sie zur Frau. Aber es war kein Glück in dieser Ehe; diese beiden Menschen waren so verschieden voneinander wie ihre Sprache – und die Sprache, das war es auch, was immer zwischen ihnen lag wie eine Kluft und eine Mauer. Damals begann, wie überall, auch dort unten in dem südtiroler Dorfe der nationale Hader. Von der Straße und aus der Gemeindestube schlich er sich in die Familien ein, auch in das Haus des Lehrers. Auch als Frau eines Deutschen blieb Carmè Mazegger die Italienerin – und da hieß sie bei ihrem Mann die „Fremde“, die „Zigeunerin“, mit ihrem „Wällisch“, das ihr eigener Sohn nicht reden sollte. Der sollte sprechen wie sein Vater, der ihn verzog, ihm alles erlaubte, nur um ihn vom Herzen der Mutter wegzureißen. Dieser Zank und Hader ging immer über den Kopf des Knaben hin und her, und als er in die Jahre kam, um all diese häßlichen Worte zu verstehen, war es ihm selber lieb, daß man ihn fortschickte von daheim, nach Innsbruck auf die Gewerbeschule, mit vierzehn Jahren. In Innsbruck da gefiel es ihm, da konnte er was sehen vom Leben und lernte Menschen kennen, die es gut haben in der Welt und die etwas sind. Das weckte den Ehrgeiz in ihm. „Auch aus mir soll etwas werden, etwas Rechtes und Tüchtiges!“ Das war der Gedanke seiner Tage und Nächte.

Aber vor lauter Denken und Wünschen kam er nicht recht zum Lernen. Am liebsten wär’ er schon mit sechzehn Jahren gewesen, was andere, wenn sie Glück haben, mit dreißig werden. Und dann kam dieses Unglück zu Hause. Die italienische Schule wurde eröffnet und bald darauf die deutsche geschlossen. Das überlebte sein Vater nicht – er ging ins Wasser. Und die Mutter? Die wartete knapp ein halbes Jahr, und dann nahm sie einen anderen, einen, der ihre Sprache redete, und mit dem sie sich verstand.

„Mit dem ist sie fortgezogen. Ob sie noch lebt, oder ob sie schon gestorben ist … das weiß ich nicht! Und mich … mich hat eine Schwester meines Vaters ins Haus genommen, deren Mann in Leutasch draußen ein kleines Gütl hat. Die Schul’ hab’ ich aufgeben müssen … und alles dazu, von dem ich allweil gehofft hab’: es muß und muß mir kommen im Leben! … Mein Glück!“

Mazegger schwieg und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirne.

„Das Brot der Verwandten essen zu müssen … Schlechteres kann über einen nicht kommen in der Welt. Jeden Bissen haben sie mir in den Mund gezählt, und jeden hätt’ ich mir erst verdienen sollen … als billiger Knecht! Da hab’ ich zuletzt noch froh sein müssen, daß ich den Posten als Jäger gefunden hab’. Jetzt hab’ ich mein Auskommen … aber keine Ruh’ in mir! Allweil muß ich mir denken, wie ich dastehen könnt’ im Leben und was aus mir hätt’ werden können, wenn ich eine andere Kinderzeit gehabt hätt’, eine richtige Heimat, einen rechten Vater zu meiner Hilf’ und eine gute Mutter zu meinem Trost! Aber ich mein’ schier, es wär’ noch allweil nicht zu spät für mich! Ich glaub’, ich könnt’ noch in die Höh’ kommen im Leben … so hoch hinauf, daß eins, das mich lieb hätt’, auf mich noch einmal stolz sein könnt’. Das hab’ ich nie so fest geglaubt wie jetzt … wie jetzt …“

Seine Augen brannten und seine Stimme wurde heiser.

„Aber ich müßt’ wen haben, für den ich’s thu’ … wen haben, wo ich mir sagen müßt’: alles, was du in der Welt verdienen und erreichen kannst, das alles ist noch zu wenig für so viel Lieb’ und Glück! Das thät’ mich hetzen und treiben, allweil höher hinauf, von einer Staffel zur anderen … bis ich droben steh’, wo ich sagen könnt’: Jetzt verdien’ ich mein Glück und kann’s vergelten! … Daß ich das fertig brächt’ … ich glaub’s von mir! Ich glaub’s! … Und Sie? … Sagen Sie mir: Sie glauben’s auch … sagen Sie mir das einzig’ Wörtl … und alles bring’ ich fertig!“

Sie vermochte nicht gleich zu sprechen. Es schien ihr weh zu thun, daß sie ihm als Antwort auf seine Frage ein Ja nicht sagen konnte, nicht sagen durfte. Sie sah in ihm nicht den Menschen mit seinem ziellosen und ungeduldigen Lebenswunsch, mit seiner thörichten Hoffnung auf Gewinn und Besitz, mit dem leeren Wort von der eigenen Kraft, die nur einer Stütze und eines winkenden Lohnes bedarf, um ein Wunder zu vollbringen. Was sie sah in ihm, das war nur sein in die Irre geratenes Leben, nur das Kind, das niemals in der rechten Liebe eines Vaters ruhig geatmet und niemals warm an der Brust einer Mutter sein Haupt geborgen hatte. Und wie hätte sie, der die Erinnerung an die Kinderzeit und an die Liebe des Vaters ein so schöner, leuchtender Besitz ihres Lebens war, nicht Mitleid fühlen müssen mit solch einem armen, freudlosen Kinderschicksal! Dieses Erbarmen redete aus ihrem Blick und aus dem Klang ihrer Stimme, als sie endlich Worte fand. Doch während sie sprach, zuerst beklommen, dann immer freier und wärmer – während sie Trost für ihn suchte, ihm Mut einredete, ihn mahnte, sein Leben ruhiger zu betrachten, nur das Erreichbare zu wollen und dankbar auch den bescheidenen Gewinn zu genießen, statt sich die Freude an ihm durch den Vergleich mit dem glücklicheren Los der anderen zu vergällen – während all dieser Worte schien Mazegger nur zu sehen, nicht zu hören. Sein Atem ging schwer, rote Flecken brannten auf seinen Wangen, und seine Augen erweiterten sich mit fieberhaftem Glanz, aus dem der Durst seiner Leidenschaft und zugleich ein Staunen sprach, als hätte er das Mädchen, nach dem seine Sinne zitterten und schrieen, noch nie so schön gesehen wie in dieser Stunde.

Solch einem Blick begegneten ihre Augen – und da erhob sie sich erschrocken, so bleich, als hätte sie einen Schimpf erlitten, gegen den sie wehrlos war – als Weib.

Mit verstörtem Lächeln sah Mazegger zu ihr auf und erhob sich. „Viel haben Sie geredet, Fräulein … viel! Schier weiß ich selber nimmer, was es war! Aber ich hab’ doch genug verstanden!“ Er nickte, und seine Lippen verzerrten sich. „Was einer nicht hat, das kann er nicht geben … den guten Glauben nicht … und die Lieb’ noch weniger.“ Mit heiserem Lachen ging er halb um den Tisch herum. „Und wenn das Brünndl Ihrer Güt’ auch laufen thät’ wie ein Wetterbach … aber Lieb’ hergeben, wo man Lieb’ nicht hat …“ Langsam trat er auf sie zu. „Kann man das? … Oder kann’s so kommen, daß man muß?“

Sie wich nicht zurück vor ihm. Aber als sie seine Augen sah, diesen Blick, der wie mit Fäusten nach ihr griff, da rann es ihr doch mit kalter Angst durch die Glieder, daß sie zitterte. Und

[232]

Letzte Zuflucht.
Nach einer Originalzeichnung von J. v. Jaroszinsky.

[233] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [234] in dieser lähmenden Furcht, als wüßte sie keine andere Hilfe mehr, schrie sie den Namen ihres Bruders. Es war ein erstickter Laut, der kaum hinausklang über den Zaun des Gartens.

Mazegger lachte; ihre Furcht war eine Freude für ihn, die er genoß wie der Dürstende einen Trunk.

„Warum schreien Sie denn auf einmal dem Buben?“

„Weil ich Ihnen nichts mehr zu sagen habe,“ erwiderte sie, als hätte sie mit jenem Laut, den die Furcht ihr ausgepreßt, die verlorene Ruhe wiedergefunden. Sie wollte gehen. „Aber nein … ich habe noch eine Bitte an Sie … eine letzte. Wollen Sie noch ein paar Minuten bleiben?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie zur Hütte, brachte einen Sessel und ein graues Buch.

Er stand noch immer auf dem gleichen Fleck und sah ihr mit verblüfften Augen zu, wie sie sich auf dem Sessel niederließ, das Buch öffnete – ein Skizzenbuch – und den Bleistift nahm.

„Was heißt denn das? Was wollen Sie denn?“

„Ich will Sie zeichnen,“ sagte sie ernst. „Dabei lernt man sehen … und das hilft. Ich habe das schon als Kind erfahren.“ Sie legte das Buch auf dem Tisch zurecht, und die Brauen furchend, blickte sie mit forschenden Augen zu dem Jäger auf.

Er schien nicht zu wissen, wie er das verstehen und was er thun sollte. Ratlos an seinem Barte zausend, ließ er sich auf die Bank nieder – und dann hielt er sich ruhig. Aber seine Augen brannten.

„So, ja, sehen Sie mich nur immer an!“

Das brauchte sie ihm nicht zu sagen, denn er ließ keinen Blick von ihr – aber wenn sie ihn ansah, so lange, so ruhig prüfend, dann ging aus ihren Augen etwas über auf ihn, das ihm das Blut in die Stirne trieb, und daß er aufatmete, wenn sie das Gesicht wieder senkte, um ein paar rasche, kräftige Striche in das Buch zu zeichnen. Ein paarmal zuckte es durch seine Glieder, als wollte er aufspringen – doch er blieb. Und ein andermal bewegte er wieder die Lippen, wie um zu sprechen – doch er schwieg. Die Sonne war lange schon hinuntergegangen, das ganze Seethal lag bereits von tiefem Abendschatten überwoben, und die Dämmerung begann.

Mit der langen schwankenden Angelgerte über der Schulter kam Gustl vom See herauf.

„Hast du was gefangen, Bubi?“

„Nein, Lo’, heut’ bin ich Schneider geworden. Aber weißt du, morgen giebt’s wieder das wunderbarste Wetter, denn heut’ beißen sie schon gar nicht!“

Freundlich nickte Gustl dem Jäger, den er nicht kannte, einen „Guten Abend“ zu, stellte die Gerte an die Hüttenwand, kam zum Tisch und wollte neugierig über die Schulter der Schwester in das Buch blicken.

Aber sie schob ihn fort, als wäre das ein Bild, das er nicht sehen sollte, und sagte: „Geh, Bubi, räum’ deine Bücher zusammen und trag’ sie in die Hütte. Wir bekommen Tau. Dann kannst du auch drin in der Stube gleich die Lampe anzünden und Feuer machen zum Thee.“

Sie sah dem Knaben nach, bis er in der Hütte verschwunden war. Dann verglich sie noch mit einem letzten prüfenden Blick ihre Zeichnung und das Modell, nickte ruhig vor sich hin und erhob sich. „So, ich danke Ihnen!“ Sie löste das Blatt aus dem Buch.

Mazegger stand auf und fragte unsicher: „Darf ich das Bildl sehen?“

„Gewiß!“ Sie legte das Blatt auf den Tisch. „Und ich schenk es Ihnen … für den Fall, daß Sie keinen Spiegel haben, Welcher richtig zeigt.“

Zögernd, als wäre ihm die Sache nicht ganz geheuer, griff Mazegger nach dem Blatt. Kaum hatte er einen Blick auf das Bild geworfen, da schoß ihm das Blut mit dunkler Röte ins Gesicht, als hätte er einen Schlag empfangen. Und erschrocken stotterte er:

Das bin ich? Und solche Augen hab’ ich?“

„Ja, Mazegger! Jetzt kenn’ ich Sie … ganz! Und fürchte mich nicht mehr!“

Sie wandte dem Jäger den Rücken und ging zur Hütte.

Er starrte ihr nach, und als sie verschwunden war, sah er mit glasigen Augen auf das zerknüllte Blatt in seiner Faust und schleuderte den Knäuel mit einem Fluch unter die Büsche des Gartenzaunes.

Was da geschehen war, und wie sie nach dieser hilflosen Angst vor ihm diese stolze sichere Ruhe gefunden hatte – das verstand er nicht. Aber er fühlte, daß alles für ihn verloren war – fühlte, daß sie ihn fortschickte wie einen geprügelten Hund.

Verstört, mit dem unsicheren Schritt eines Betrunkenen, ging er zur Hütte und nahm seine Büchse. Als er den Garten verlassen hatte und über das Latschenfeld hinunterstieg, erkannte er auf der feuchten Erde des Pfades die Trittspuren zweier Männer. Diese plumpe breite Sohle mit dem schweren Eisenbeschläg und dem Nagelkreuz in der Mitte – das war die Fährte Praxmalers! Und die andere Spur, dieser schlanke, schmale Fuß –

„Ah, so?“ Mit galligem Lachen nickte Mazegger vor sich hin, als verstünde er nun alles. Und während sein Gesicht sich entfärbte und der Zorn in seinen Augen funkelte, zerstörte er mit einem Fußtritt die Fährte. Dann sah er zur Hütte hinauf und nickte wieder – es war ein Blick, aus dem ein Schwur und eine Drohung sprach.

Hastigen Ganges schritt er über das Latschenfeld hinweg und trat in den Wald. Im dunklen Schatten der Bäume blieb er stehen, nahm die Büchse ab, lehnte sich an einen Stamm und starrte zur Hütte hinauf, um deren Dach sich langsam schon die dünnen Nebel woben, die in der Kühle des Abends aufdampften aus dem See.

Als Mazegger das Mädchen aus der Hütte treten sah, lachte er, hob die Büchse, spannte den Hahn und legte zielend das Gewehr an die Wange.

Man konnte hören, wie Lo’ mit dem Bruder plauderte, während sie um die Ecke der Hütte ging und an einem Fenster die Läden schloß.

Zielend und den Finger am Drücker, folgte Mazegger mit dem Lauf der Büchse jedem Schritt des Mädchens, in seiner Eifersucht mit grausamer Freude den Gedanken genießend: Ein leiser Druck nur an dieses Zünglein … und auch der andere wird sie nicht haben! Keiner!

Gustl war in der Thür erschienen, hemdärmelig, mit den Händen in den Taschen des Lederhöschens. „Und wann, Lo’ … wann gehen wir morgen?“

„Um sechs Uhr früh.“

„Ach, Gott!“

„Ja, Bubi, wir müssen bis Mittag zu Hause sein!“

„Freilich, ja, und ich freu’ mich doch selber heim! Aber weißt du, in der Früh’, da beißen sie so gern … vielleicht hätt’ ich noch eine bekommen, recht eine schöne, oder zwei … und die hätten wir der Mama bringen können!“

„Gut, ja, dann steh’ nur um vier Uhr auf. Da hast du zwei Stunden Zeit, bis ich gepackt und die Hütte geräumt habe.“ Lo’ war zur Thüre zurückgekommen, und den Arm um die Schulter, des Bruders legend, wollte sie in die Hütte treten.

In dem bleichen Gesicht des Jägers spannte sich jeder Zug, und die Frage, die in ihm wühlte, redete aus seinem brennenden Blick: „Thu ich es? … Nein? … Oder ja?“ Fester, als wäre der Entschluß zur That in ihm aufgestiegen, preßte er das Gewehr an die Wange.

Da hörte er hinter sich das Brechen eines dürren Reises und ein Geräusch wie von einem leichten Schritt. Erschrocken ließ er die Büchse sinken und blickte scheu um sich her. Der Wald war öde – aber da fiel ein Tannenzapfen aus einem Wipfel herunter, und schnalzend, mit weitem Sprung, schwang sich ein Eichhörnchen von dem Baum hinüber zum nächsten.

Einen Fluch murmelnd, hob Mazegger die Büchse wieder.

Aber an der Hütte droben hatte sich schon die Thür geschlossen, der Garten war leer, und im erwachenden Abendwinde tönten leis die Glocken des Harfenbaumes.

Heiser lachte Mazegger vor sich hin und stand noch eine Weile. Dann warf er die Büchse hinter die Schulter und schritt durch den Wald hinunter.

[235] Es wurde finstere Nacht, bis er zu den ersten Häusern von Ehrwald kam. Lange mußte er am Haus des Jägers an die Thüre trommeln, bis ihm geöffnet wurde.

„Was is denn?“ fragte Beinößl aus dem schwarzen Hausflur. „Wer is denn da?“

„Ich bin’s!“

„Der Toni! Ja was willst denn du?“

„Treibjagd ist morgen. Um Drei müssen wir droben sein beim Sebener Almzaun.“

„So? No ja, is recht. Da können wir allweil noch schlafen ein paar Stündln. Aber Bett hab’ ich keins für dich … mußt dich halt aufs Ofenbankl legen.“

Sie traten in die finstere, von schwülem Dunst erfüllte Stube. Beinößl schob seinen Gast im Dunkel zur Ofenbank und nahm ihm die Büchse ab, um sie an den Rechen zu hängen.

„Na hörst’, Toni … du hast ja den Hahn g’spannt! So was! Du mit dei’m Leichtsinn, du richtest heilig noch einmal ein Unglück an!“

Mazegger schwieg.

Drei Stunden vergingen.

Als um ein Uhr der Wecker rasselte, hatte Mazegger noch kein Auge geschlossen.

Eine Viertelstunde später traten die beiden Jäger in die Nacht hinaus.

„Gut wird’s heut’,“ sagte Beinößl, „droben liegt der Seenebel!“

Sie stiegen bergwärts in der Nacht, und Beinößl kürzte den mühsamen und nicht ungefährlichen Weg mit drolligem Geschwätz – er war einer von jenen „G’scheiden“, die den Zwirnsfaden des Lebens lustig um die Finger wickeln, so kurz und dünn er auch geraten ist.

Als sie die Ehrwalder Alm überstiegen hatten und die Höhe des Sebenwaldes erreichten, sahen sie im dünnen Morgennebel den Schein des Feuers, das die beim Almzaun wartenden Treiber auf der Lichtung angezündet hatten, um sich die Langweil’ zu vertreiben und um „Glut für die Pfeifen“ zu haben.

In dem Augenblick, als die beiden Jäger zum Feuer kamen, gab’s einen Schreck. Einer der Treiber hatte an einem brennenden Reis seinen Stummel angepafft, das Flämmchen ausgeblasen und das glühende Holz über die Schulter geworfen. In der Luft flammte das Reis wieder auf und fiel in einen Haufen dürren Zeuges. Das brannte wie Zunder, nach allen Seiten lief und züngelte die Flamme und erreichte den Almzaun, aus dem eine knisternde Lohe aufschlug, die den ziehenden Morgennebel fahl durchleuchtete.

Zu Tod erschrocken sprangen die Leute auf und arbeiteten aus Leibeskräften, um das Feuer zu ersticken. Ein Glück war es, daß trotz des sonnigen Tages die unteren Reisigschichten des Walles noch feucht waren – sonst hätte wohl keine Arbeit mehr geholfen, auch nicht die flinkste, und der ganze Almzaun wäre in Flammen aufgegangen.

Als das Feuer glücklich erstickt war, halfen sie alle zusammen, um den Zaun wiederherzustellen und das ausgebrannte Loch mit zusammengeschlepptem Reisig zu füllen. Aber jetzt war die Arbeit lustiger, und sie schwatzten und lachten schon wieder, während sie noch schafften, daß ihnen der Schweiß über die Gesichter rann. Auch Mazegger arbeitete wie die anderen.

Halb im Ernst und halb im Scherz, in jener wohligen Erregung, die jedem schadlos überstandenen Schreck zu folgen pflegt, wurde des langen und breiten erörtert, welch ein „schönes“ Unglück da hätte entstehen können. Denn brennt der Zaun einmal, von einer Felswand über das schmale Thal hinüber bis zur anderen, dann brennt auch der ganze Sebenwald bis über den See hinauf, und alles Jungvieh, das droben im Seethal auf der Weide steht, ist verloren. Wenn auch der Brand nicht höher gehen kann als bis zu den letzten Latschenfeldern, und wenn auch das Vieh hinaufflüchtet in die Felsenkare – droben erstickt es im Rauch.

„Kreuzsakra!“ meinte Beinößl. „Da möcht’ ich net droben sein im Seethal! Oder ich möcht’ ein’ letzten Juchezer machen und ’s Leben so billig verkaufen wie ein’ alten Strumpf!“

Draußen im Karwendelgebirg, erzählte ein anderer, wäre ein großer Waldbrand auch durch einen Almzaun entstanden, in den der Blitz geschlagen hätte. Aehnliche Fälle erzählten zwei andere – und moralisierend kam man zu dem Schluß, daß es auch im Gaisthal an der Zeit wäre, diese „Zunderhecken“ durch Legmauern aus Steinen zu ersetzen, wie es längst schon überall geschehen wäre, wo die Leute Verstand und kein Sägmehl im „Hirnkastl“ hätten. „Daß man an die alten Bräuch’ hängt, das is ja gut und schön, aber ein bißl ein Furtschritt, das is auch net ohne!“

Plötzlich verstummte diese Weisheit – der Förster kam mit den zwei Leutascher Jägern. Wohl begann es schon Tag zu werden, aber der Nebel verschleierte den Aschenhaufen, und so merkte der Förster nicht, was geschehen war. Er ließ die Jäger und Treiber im Halbkreis Aufstellung nehmen: „Also, Leut’! Daß wir unserer lieben Duhrlaucht heut’ ein saubers Jagderl machen! Am Almzaun ’nauf wird die Treiberketten ang’stellt. Den Losschuß, den mach’ ich! Punkt halb Sechse! Da is die Duhrlaucht auf ’m Stand, und da wird sich auch der Nebel schon verzogen haben! Und wie der Losschuß fallt, fangen wir ’s Drucken an! Und langsam, Leut’, langsam, nur langsam … daß die Hirsch’ net nausfahren zum Loch wie die närrischen Mäus! Und machts mir kein’ Spektakel, sag’ ich! Ein bißl Pfeifen, ein bißl klopfen, ein bißl anrufen, daß d’ Lini schön bei’nander bleibt … sonst nix! Verstanden? Also, in Gottes Namen, packen wir’s an!“

Neben dem Almzaun stiegen sie empor, während das Frühlicht zu wachsen und der Nebel sich schon zu verziehen begann.

Hinter dem halblaut schwatzenden Trupp blieb ein Einzelner langsamen Schrittes zurück – Mazegger.

Sein Gesicht war übernächtig, und seine Augen lagen tief, von dunklen Ringen umzogen. Wie befallen von schwerer Müdigkeit, blieb er stehen und legte das Kinn auf den vorgestützten Bergstock. Seine unstet flackernden Augen hingen an dem kalt gewordenen Aschenhaufen dort unten, glitten hinüber zum Almzaun und folgten dem braunen Reisigwall bergauf und wieder bergab, über das ganze schmale Thal, von einer Felswand bis zur anderen.

Dann nickte er vor sich hin, und langsam stieg er hinter den anderen her.


13.

Zögernd schwammen die Schleier des Morgennebels durch das Gaisthal hinaus, immer höher stiegen sie, enthüllten hier eine sonnbeglänzte Bergzinne, dort ein Almfeld in blauem Schatten, und selbst schon angestrahlt und durchwärmt von der steigenden Sonne, verwandelte sich ihr trübes Grau in zarten Schimmerduft, welcher spurlos in den Lüften zerfloß.

Fast war das ganze Thal schon nebelfrei, und mit leuchtender Klarheit spannte sich der schöne Morgenhimmel über Thal und Berge, als Ettingen und Praxmaler gegen sechs Uhr morgens in der Thalsohle das breite Kiesbett der Ache überschritten, um durch einen steilen Waldstreif emporzusteigen zum Fürstenstand. Der lag am Waldsaum auf einem Latschenrücken und gewährte freien Ausblick über eine von Erlengestrüpp erfüllte Mulde und eine spärlich bewachsene Lawinengasse, die sich vom Fuß der steilen Felswand hinunterzog bis ins Thal. Drunten sah man das weiße Kiesfeld und eine lange Strecke des Pfades, der zum Sebensee führte. Ueber dunkle Fichtenhügel konnte man hinausblicken bis zum Sebenwald und zu der vom Seeufer aufsteigenden Sonnenspitze, die ihren goldumstrahlten Felskegel schlank in den blauen Himmel hob. Den Stand, auf welchem zwischen den Wurzeln einer Fichte ein bequemer Erdsitz ausgeschaufelt war, umzog eine kleine Legmauer, als Deckung für die Jäger.

Während Pepperl den Wettermantel über den Sitz breitete und den Feldstecher aus dem Futteral nahm, stand Ettingen an der Mauer und blickte mit Lächeln und Sinnen nur immer dort hinaus, wo jener schlanke sonnige Fels in die Lüfte stieg.

„So, Duhrlaucht, jetzt haben S’ ein nobels Platzl!“

Ettingen ließ sich nieder, und Pepperl, der sich seinem Herrn zu Füßen setzte, zeigte ihm die beiden Wildwechsel, von denen der eine unter der Felswand hinlief, während der andere schräg über die Lawinengasse hinunterging ins Thal und gegen das Kiesbett des Baches.

„Auf dem, mein’ ich, auf dem sollt’ was anlaufen!“

[236] Ettingen nickte, als hätte er nur halb gehört. Und wieder blickte er in jene Ferne hinaus.

Pepperl schwieg. Doch während aus den Augen seines Herrn ein frohes, glückliches Träumen redete, sprachen unruhvolle Sorge und grämliche Verdrossenheit aus dem Gesicht des Jägers. Für ihn lag der Fürstenstand auf einem recht unbequemen Platz. Denn wenn er mit langgestrecktem Hals sich vorneigte, konnte er draußen im Gaisthal den Tillfußer Almwald sehen, und ein Stücklein vom Dach der Sennhütte.

Immer und immer wieder beugte sich Pepperl vor, von der unbequemen Stellung begann ihn das Genick zu schmerzen, und immer schwerer seufzte er. Dann plötzlich sagte er, mit einem Ton, als ob es um Wohl und Weh eines Menschen ginge:

„Ja, Duhrlaucht, passen S’ auf, heut schießen S’ ein’ guten Hirsch!“

Ettingen hörte nicht.

Ein schweigsames Viertelstündlein verging. Da drückte Pepperl die Hand in den Nacken und stotterte:

„Ja, ja! Heut kommt schon was! … Ja, unser Jagdl is gut!“ Er seufzte, als wäre das eine sehr, sehr traurige Sache. „Aber kosten thut’s halt auch was! Das is ein sauberer Haufen Geld, der da … wie sag’ ich nur gleich … verwalt’t werden muß! Verwalt’t!“ Das Wort war dreimal unterstrichen – und immer weiter öffneten sich Pepperls Augen, während er mit heißer Spannung zu seinem Herrn hinauflugte. „Und Arbeit macht’s … Arbeit! So eine Jagd verwalten! Teufi, Teufi, Teufi … das macht g’hörig Arbeit! Und verstehn muß man’s! Das is d’Hauptsach! Aber der Förstner! Gelten S’… der versteht’s! Der macht alles allein! Der braucht kein’ andern! Ja, der versteht’s halt… gelten S’?“

„Ja, das ist ein tüchtiger Jäger,“ sagte Ettingen, als wäre er nur mit halben Gedanken bei dieser wichtigen Angelegenheit, „und ein Mann, auf den man sich verlassen kann… in allen Dingen!“

Aus Pepperls Augen blitzte die Freude, und in allen Tonarten begann er das Lob des Försters zu singen, um mit der diplomatischen Wendung zu schließen:

„Aber no, freilich … vom Land einer is er halt doch … und da kennt er sich halt diemal net so aus … mit die fürnehmen Sacherln, wissen S’… ja, und da hab’ ich mir schon diemal ’denkt: es kunnt’ schon sein, daß der Herr Fürst noch einmal ein’ anstellt, so ein’ Herrischen … ein’ Jagdverwalter, oder wie man’s heißt … so ein’, wie ’leicht der Herr Martin einer is?“

„Martin? Und Jagdverwalter?“ Das war eine Vorstellung, die den Fürsten lachen machte. „Nein! Wenn ein Jagdverwalter nötig wäre, wüßt’ ich mir einen anderen zu finden. Aber der Förster macht ja seine Sache so gut, daß ich mir das besser gar nicht wünschen kann!“

Pepperl grinste im Triumph seiner Schadenfreude wie ein Indianer, der den Skalp des Todfeindes eroberte. „Wart’, Frau Verwalterin, heut auf’m Abend kriegst was z’ hören!“ dachte er sich und streckte den Hals vor, daß ihm die Schultern fast aus der Joppe sprangen. Dann plötzlich, als hätte sich sein Herr durch höchst unweidmännische Schwatzhaftigkeit ausgezeichnet, flüsterte er mahnend: „Aber jetzt, Duhrlaucht, jetzt müssen S’ Ihnen fein stad halten! Die Zeit wird kritisch … allbot kann was daherspringen.“

Lautlos, ohne sich zu rühren, saßen sie eine halbe Stunde.

Da ließ sich aus dem Waldstreif hinter der Lawinengasse das leise Rollen von Steinen hören. Pepperl, der jetzt ganz bei der Sache war, spitzte die Ohren. Im gleichen Augenblick faßte Ettingen mit hastigem Griff den Feldstecher. Doch während der Jäger hinüberspähte zum Wald, hielt Ettingen das Glas nach dem Thal gerichtet.

Dort unten auf dem Pfad war Lolo Petri erschienen, den Basthut mit einem Kranz von Blumen geschmückt. Ihr folgte der Bruder, dessen Hütlein unter Almrosen ganz verschwand, und führte an losem Zügel den Esel, der mit dem Gepäck und einem riesigen Busch von Rosen und anderen Blumen beladen war.

„Obacht!“ flüsterte Pepperl, welcher drüben aus dem Waldsaum ein Alttier sichernd auf die Lichtung treten sah. Als aber Ettingen das Glas nicht sinken ließ und die Büchse nicht faßte, blickte der Jäger verwundert auf. Da sah er das Gesicht seines Herrn von heißer Röte übergossen, und sah, wie ihm das Glas in den Händen zitterte. „Mar’ und Josef,“ dachte sich Pepperl, „der kriegt mir ’s Hirschfieber!“ Den Atem verhaltend, zischelte er: „Net aufregen, Duhrlaucht! Nur net aufregen! Heut haben S’ Glück, passen S’ auf! Lassen S’ das Frauenzimmer nur schön vorbei …“ er meinte das Alttier, „und Obacht geben, da kommt schon was nach!“

Es wurde lebendig drüben im Wald, und dem Alttier folgte ein Rudel, bei dem ein paar schwache Hirsche waren.

„Es is nix G’scheids dabei! Nur warten!“ flüsterte Pepperl.

Doch Ettingen sah und hörte nicht, was um ihn vorging, sondern folgte mit dem Glas jedem Schritt des Mädchens dort unten.

Ruhig und sorglos trat das Rudel auf die Lichtung; nur das Alttier windete vorsichtig nach allen Seiten. Plötzlich wandten alle Tiere die Köpfe gegen den Wald zurück, und flüchtig in der Mulde und zwischen den hohen Erlenbüschen verschwindend, nahmen sie den Wechsel gegen das Thal.

„Der Hirsch kommt! Der Hirsch! Richten S’ Ihnen!“ zischelte Pepperl. „Der Hirsch! Mar’ und Josef, und was für einer!“

Deutlich konnte Ettingen durch das Glas das Gesicht des Mädchens sehen, ihr Lächeln, die Bewegung ihrer Lippen, wenn sie mit dem Bruder plauderte. Nun hatten die Geschwister den steilen Rain erreicht, über den sie niedersteigen mußten, um das Kiesbett zu überschreiten, und mit dem Bergstock zeigte Lo’ dem Bruder eine Stelle, über die er den Grauen leichter hinunter brächte.

Da plötzlich sah Ettingen im Glas ein flüchtendes Rudel Hochwild auftauchen. Links und rechts von den beiden Geschwistern jagten die Tiere vorüber, erschrocken wollte Lo’ nach dem Zügel des Esels greifen, aber da scheute der Graue schon und rannte mit bockenden Sprüngen über den Rain in das Kiesbett hinunter, den Knaben am Riemen mit sich schleifend.

Erblassend sprang Ettingen auf, und den Feldstecher wegschleudernd, stammelte er: „Ums Himmelswillen! Das giebt ein Unglück! Praxmaler! Kommen Sie! Schnell! Ich fürchte ...“

Er hatte den Bergstock gefaßt, schwang sich über die Mauer – und während er hinuntereilte über den steilen Hang, stand drüben auf der Lichtung ein Hirsch mit herrlichem Geweih, äugte dem springenden Menschen dort unten nach, trollte ein paar Schritte, äugte wieder und verschwand in den Latschen.

Jetzt ermunterte sich Pepperl aus seiner sprachlosen Verblüffung, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: „Mar’ und Josef! Rennt mir der Fürst davon und fürcht’t sich vor ei’m Hirschen!“

Da klang aus dem Wald herauf die schreiende Stimme seines Herrn: „Praxmaler! Kommen Sie! Schnell!“ Es war in dieser Stimme ein Ton, der den Jäger ahnen ließ, daß hier doch wohl etwas anderes geschehen wäre als nur ein drolliges Jägerstücklein.

In Sorge begann er zu rennen und erreichte das Kiesbett in dem Augenblick, als Ettingen und Lolo Petri den Knaben fanden. Lo’ war bleich vor Schreck und Sorge, als sie den Kopf des Knaben aufhob an ihre Brust. Aber die Sache schien übler auszusehen, als sie war. Gustl zitterte wohl, doch er lächelte, um die Schwester zu trösten, und sagte: „Aber schau, Lo’, sorg’ dich doch wirklich nicht! Mir ist nichts geschehen! Gewiß nicht! Und Schmerzen hab’ ich gar keine!“ Im Gesicht und an den Händen hatte er ein paar leichte Schürfwunden, sonst schien er unverletzt. Doch als sie ihn aufrichteten, konnte er nicht stehen und wäre wieder zu Boden gesunken, hätte ihn Ettingen nicht in seinen Armen aufgefangen.

„Kind! Kind!“ stammelte Lo’, während ihr die Thränen aus den Augen brachen.

„Beruhigen Sie sich, Fräulein,“ sagte Ettingen, obwohl ihm selbst vor Erregung die Stimme kaum gehorchte, „es kann ja doch nicht so schlimm sein! Der Fuß ist nicht gebrochen … sehen Sie nur … und hier eine Untersuchung vorzunehmen und den armen Jungen zu quälen, das ist ja nutzlos. Kommen Sie … wir tragen ihn bis zum Jagdhaus ... da kann alles leichter und besser für ihn geschehen! Kommen Sie!“ Bei diesen Worten hatte er Gustl schon auf seine Arme gehoben und eilte mit ihm über das Kiesbett hinüber gegen den Weg.

Pepperl erbot sich, den Knaben zu tragen – denn auch bei raschem Gang war’s immerhin eine halbe Stunde bis zum Jagdhaus. Auch Lo’ mahnte mit scheuer Bitte, daß Ettingen den

[237]

Klaus Groth in seinem Arbeitszimmer.
Nach dem Leben gezeichnet von Ismael Gentz.

[238] Dienst des Jägers annehmen und seine Kräfte schonen möchte. Doch er sah ihr in die Augen, schüttelte den Kopf und flüsterte dem Knaben zu: „Leg nur die Arme um meinen Hals, Bubi … so … nicht wahr, so ist’s bequemer?“

„Ja!“

Während sie auf ebenem Pfad durch den Wald hinauseilten, klang hinter ihnen auf dem Latschengehäng das Klopfen und halblaute Rufen der anmarschierenden Treiber: „Hup hup hup! Brrrrr! Hup hup!“ Pepperl guckte sich einmal um, und da wollte es ein böser Zufall gerade, daß er zwei gute Hirsche gemütlich über die Lawinengasse spazieren sah. „Teufi, Teufi, Teufi, drei Hirschen hätten wir haben können!“ träumte seine Jägerseele mit Jammer und Kummer.

Ettingen plauderte während des ganzen Weges mit dem Knaben. Gustl hielt sich wie ein kleiner Held, verbiß den Schmerz und schwatzte unverdrossen, um der Schwester alle Sorge auszureden. Viel mehr als sein verletzter Fuß beschäftigte ihn die Frage, was wohl aus „Hansi“, dem Grauen, geworden wäre.

„Der kommt schon wieder!“ tröstete Lo’.

„Ja, schon, aber die Forellen, Lo’! Die Forellen! Wenn er mit dem Netz einen halben Tag in der Sonne herumläuft – dann hab’ ich sie umsonst für Mama gefangen!“ In Schmerz verzog sich der Mund des Knaben, und das Wasser schoß ihm in die Augen; doch er seufzte nur: „Ach Gott, ach Gott, die schönen Forellen!“

Sie hatten schon fast das Jagdhaus erreicht, als „Hansi“ nachgetrottet kam, in höchst nervöser Stimmung. An den locker gewordenen Gurten war ihm die Packtasche mit dem Almrosenbusch unter den Bauch gerutscht, und da ihn die Zweige kitzelten, schlug er fortwährend mit den Hinterfüßen aus, schüttelte die Ohren und machte drollige Sprünge.

Als Pepperl den Esel in den Stall führte, rief ihm Ettingen nach: „Tragen Sie das Fischnetz nur gleich in die Küche hinauf. Man soll die Forellen auf Eis legen, damit sie nicht verderben!“

Seine Stimme klang schwer und gepreßt, so daß Lo’ ihm besorgt in das erhitzte Gesicht blickte. Er hatte doch wohl seiner Kraft zu viel zugemutet. Als er den Knaben über den letzten Hang zum Jagdhaus hinauftrug, ging sein Atem müd und seine Arme zitterten.

Martin kam aus der Sennhütte gelaufen, mit dunkelrotem Gesicht, als hätt’ es dort unten soeben eine Scene gegeben, die nicht ganz nach seinen Wünschen ausgefallen war. Verdutzten Blickes musterte er seinen Herrn und das schöne Mädchen.

„Schnell, Martin! Hinauf! Und richte das Bett im Grafenzimmer!“

Erschrocken verfärbte sich der Lakai; doch wortlos eilte er ins Haus.

Als Ettingen in den Flur trat, kam Martin seinem Herrn über die halbe Treppe entgegen und stotterte: „Ich bitte um Vergebung, Durchlaucht … aber das Zimmer ist abgesperrt, und …“ er schluckte, „und im Augenblick weiß ich nicht, wo die Leute den Schlüssel haben.“

„Aber Mensch! So mache doch mein Zimmer auf!“

Martin rannte, und als sein Herr mit dem Knaben in das sonnige, weiße Zimmer trat, war das Bett schon abgedeckt. Während Lo’ dem Bruder half, sich zu entkleiden, brachte Ettingen das ganze Haus in Aufruhr – der Lakai, die Köchin und die Küchenmagd, alles mußte laufen und bringen: Wasser, Eis, Verbandzeug, Cognac, den ganzen Inhalt der Hausapotheke.

Als Lo’ den verletzten Fuß des Knaben untersucht hatte, atmete sie auf. Der Knöchel war hoch geschwollen und glühte – aber die Sache war unbedenklich: eine Bänderzerrung, die, obwohl sie schmerzhaft war, in wenigen Tagen wieder gut sein konnte. Ein paar Stunden Ruhe, meinte Lo’, und „Hansi“ könnte den Knaben nach Hause bringen, ohne daß sich das Uebel verschlimmern würde.

„Jetzt muß ich dir aber ein wenig weh thun, Bubi … doch du wirst sehen, das hilft!“

„Ja, Lo’, mach nur, was du meinst!“

Sie begann die Geschwulst zu massieren – und so schmerzhaft das auch war, der Junge überwand es ohne einen Laut und ärgerte sich, weil ihm wider Willen die Thränen in die Augen kamen. Dann wurde der Knöchel bandagiert, und drüber kam der Eisumschlag. Die Schürfwunden im Gesicht und an den Händen wurden mit Karbollösung gereinigt und mit Pflästerchen verklebt.

Lächelnd sah Ettingen dem Mädchen zu. „Sie machen ja das alles wie ein gelernter Arzt!“

„Hier in den Bergen, wo man eine Tagreise bis zum Doktor hat, da lernt sich das halb von selbst. Und ich hatte doch auch einen guten Lehrer, der sich auf alle Hilfe verstand.“

„Ihren Vater?“

„Ja!“ Sie küßte den Knaben auf die Stirne. „Brav hast du dich gehalten, Bubi!“ Die seidene Steppdecke glättend, richtete sie sich auf. Tief atmend, als wäre jetzt erst alle Sorge von ihr gewichen, streifte sie mit ihren schlanken schönen Händen die Zaushärchen von den Schläfen zurück. Sie blickte im Zimmer umher, und eine leise Verwirrung schien sie zu überkommen. In jäher Bewegung streckte sie Ettingen die Hände hin, blickte mit glänzenden Augen zu ihm auf und sagte leis: „Wie gut Sie mit ihm waren! Ich danke Ihnen!“

Er nahm ihre Hände. „Dank? Nein! Der Schuldige bin doch ich … mit dieser dummen Jagd. Aber weil nur alles noch so leidlich gut vorüber ging! Wirklich, jetzt atme ich auf … wie Sie! Und freue mich, daß ich Sie hier habe … unter meinem Dach! So hübsch und traulich ist es freilich nicht bei mir, wie ich es bei Ihnen fand … da draußen, in der schönen Sturmnacht!“ Noch immer hielt er ihre Hände fest, und lächelnd sahen sie sich in die Augen.

Gustl, der mit der Wange auf den Händen lag, lind in die Kissen geschmiegt, schaute mit staunendem Blick an den beiden hinauf, und das verpflasterte Gesichtchen des Knaben färbte sich dunkelrot.

Lautlos trat Martin in das Zimmer, um Ordnung zu machen. Er schien keine Augen zu haben, nur Hände, die geräuschlos hantierten. Doch als er mit dem Wasserbecken und mit den Tüchern über dem Arm das Zimmer verlassen hatte, sah er mit dünnem Lächeln die geschlossene Thüre an und wiegte den Kopf. Studierend stieg er über die Treppe hinunter. In der Küche legte die Jungfer Köchin gerade die drei Forellen, welche Pepperl gebracht hatte, in den Eiskasten, als Martin eintrat. Beim Anblick des Kammerdieners gab es dem Jäger einen „Riß“, halb vor Wut und halb vor Schadenfreude; aber er mußte der Köchin Antwort geben, als sie fragte:

„Ja hat denn unser’ Durchlaucht das Fräul’n schon gekannt?“

„Aber g’wiß! Und gut auch noch! Z’erst hat er’s droben am Sebensee ’troffen, neulich is er draußen g’wesen bei ihr in der Luitasch, und gestern nacht, wie das Wetter g’wesen is, da haben wir unterstehn müssen bei ihr, vom Abend bis auf d’ Fruh. Ja, Sie, unser Duhrlaucht und d’ Fräul’n Petri, die zwei, die verstehn einander! Was die für g’studierte und aus’tipfelte Sachen reden … da reißt unsereiner die Luser aus, sperrangelweit, und es geht doch nix ’nein!“

Martin schien diesem Gespräch keine Achtsamkeit zu schenken. Kaum aber hatte er die Küche verlassen, als er in seine Stube eilte und hinter sich die Thüre verschloß.

Nachdem er an den Fenstern die Vorhänge zugezogen hatte, schrieb er eine Depesche in englischer Sprache, nur die Adresse deutsch:

„Baronin Pranckha, Hietzing, Wien. – Soeben flog der edle Falke mit weißer Taube in den Waldhorst. Erkenne Gefahr und warne.“

„The faithful“, unterschrieb er – „der Getreue!“ – und schob die Depesche in die Tasche, um sie bei der Hand zu haben, wenn der Postbote käme. –

Draußen vor dem Fenster ging Pepperl vorüber. Er machte langsame Schritte, und immer wieder schielte er zur Sennhütte hinunter, aus deren Schindeldach in dicken Wolken der Herdrauch quoll. Am liebsten wäre Pepperl in seiner Schadenfreude schnurstracks hinuntergelaufen, um dem „verloffenen Lampl“ mit allem Hochgenusse menschlicher Bosheit ins Gesicht zu schreien: „Jagdverwalterin? Ja! Ein’ Schmarren!“ Aber da lagen ihm zwei verwünschte Worte wie eiserne Riegel im Weg: „Wir zwei sind fertig miteinander!“ und „Mich siehst nimmer!“ Daß er nach solchen Worten noch einmal die Schwelle dort unten überschreiten sollte – das war denn doch eine etwas heikle Sache für einen, der in sich die Ueberzeugung trägt: „Ein bißl was muß der [239] Mensch schon halten auf das, was er sagt!“ Und was ging ihn denn eigentlich die ganze Geschichte weiter noch an? „Nix! Aber rein gar nix!“ Für ihn hatte die Sache eigentlich nur noch ein theoretisches Interesse, zu dem sich das angenehm prickelnde Bewußtsein gesellte: „Ich hab’ recht g’habt!“

Mit dem Gefühl der Befriedigung, das den Praxmaler-Pepperl bei diesem Gedanken überkommen hatte, und mit dem heiligen Schwur: „Mich geht’s nix an, und ich scher’ mich da drum kein’ Teufi nimmer!“ wollte er schon ins Försterhäuschen treten. Da hörte er über das Almfeld herauf das Klirren eines Bergstockes.

Am Waldsaum drunten erschien ein alter, weißbärtiger Bauer, gebeugt und etwas unsicheren Ganges.

„Jesses! da kommt er!“ stotterte Pepperl, als er Burgis Vater erkannte, und wie ein Verrückter, mit drei Meter langen Sprüngen, rannte er über das Almfeld hinunter und schrie: „Brentlinger! He! Brentlinger! Da komm’ her! Da bin ich! Da!“

Der Alte blieb stehen und guckte mit seinen stumpfen, rotgeränderten Augen nach der Stimme aus, die er hörte. Der gebrochene, von einem sechzigjärigen Leben in Armut mürbgeklopfte Körper steckte in einer verwitterten und übel zugerichteten Hülle – es schien, als hätte der „gute alte Brentlinger“ eine der letzten Nächte im Straßengraben zugebracht und die Zeit noch nicht gefunden, die grauen Federn dieses harten Bettes von sich abzuklopfen.

Im Heuschuppen auf der Alm geboren, hatte er die Carriere seines Lebens als Hüterbub begonnen, war Galtviehsenn geworden, und mit vierzig Jahren, als Milchviehsenn und mit einem Jahreslohn von 137 Gulden 45 Kreuzern, hatte er geheiratet. Fünfzehn Jährlein später, als Burgi aus der Feiertagsschule kam, starb die Brentlingerin an einem Leiden, das kein Doktor kurieren konnte – weil man keinen holte. Und während sich nun das junge Mädel langsam hineinwuchs in die Almenarbeit, wurden dem Brentlinger von Jahr zu Jahr die Knochen immer müder, so daß man den Alten im Dorfe nur noch zu leichtem Tagwerk brauchen konnte, und bald zu gar keiner Arbeit mehr. Nun hatte er seinen Strohsack im Gemeindehaus liegen, und seinem Leben blühte nur noch jene einzige Blume, die nicht nach Honig, sondern nach Trebern duftet. Am liebsten hätte Burgi den Vater jeden Sommer zu sich in die Sennhütte genommen – aber dagegen wehrten sich die Almbauern, die den unnützen Kostgänger nicht auf ihrer Milchschüssel haben wollten. Also gab sie ihn, für 9 Gulden im Monat, beim Flurjäger in die Kost – denn in die Hand durfte sie dem Alten kein Geld geben, keinen Kreuzer – sonst hätte er nie an seinen Hunger, nur immer an seinen Durst gedacht. Aber die Sommerfrischler und Touristen, das sind mitleidige Seelen – die gingen nicht leicht mit geschlossener Hand vorüber, wenn der arme, durstige Brentlinger seinen Kummerblick zu ihnen aufhob. Freilich, da tröpfelten nur die roten Kreuzer – kein Wunder also. daß der durstige Brentlinger mit einem Juchezer das große Los begrüßte, das er neulich beim Haus des Maler-Emmerle gezogen hatte.

Zehn Gulden! Das hatte einen achttägigen Rausch gegeben! Keinen zehntägigen, nein – da hatte sich Pepperl gründlich verrechnet. Denn der gute alte Brentlinger liebte nicht nur seinen Namensvetter, den Gebrannten, er liebte als braver Vater auch sein Kind – und bevor er vom Haus des Maler-Emmerle den Weg zum Buschenwirt genommen hatte, war er beim Kramer eingetreten und hatte um zwei Gulden für sein Mädel ein seidenes „Tüchl“ gekauft. Das brachte er nun mit, an seiner Vaterbrust verwahrt und sorgfältig in eine alte Zeitung gewickelt. Aber auch noch etwas anderes brachte er mit auf die Alm: einen halb ausgeschlafenen Katzenjammer, einen „dürmeligen“ Kopf und einen so unsicheren Schritt, daß man Zweifel hegen konnte, ob sich der „gute alte Vatter“ für das Wohl und Weh seines Kindes so energisch auf die Füße stellen würde, wie es der Praxmaler-Pepperl von ihm erwartete.

„Brentlinger! He! Brentlinger! Da komm’ her! Da bin ich! Da!“

Diese aufgeregte Stimme drang nicht nur in die halbtauben Ohren des Alten, sie drang auch durch die Mauern der Sennhütte. Und mit einem Sprung war Burgi bei der Thür.

„Vater! Jesus Maria! Vaterl! Ja, grüß’ dich Gott! Ja, wo kommst denn du her?“

Da sah sie den Jäger wie einen Narren über das Almfeld herunterspringen – und erschrak. Nicht, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, nein! Denn wenn ihr der Herr Jagdverwalter in spe beim Herd und am Kammerfenster auch schon ein Dutzend Küsse und drüber abgeschwatzt und gestohlen hatte – ein Kuß in Ehren, das ist doch keine Sünd’, am allerwenigsten ein Kuß von einem, der Jagdverwalter wird und „positivi“ heiraten will. Und doch erschrak sie, und als sie den Pepperl so rennen sah, hatte sie im Augenblick nur den einen Gedanken: die erste beim Vater zu sein! Sie machte einen Sprung wie ein Heuschreck, der die Sense blitzen sieht, und rannte was sie nur konnte. Da machte aber auch Pepperl noch längere Beine – und so liefen die beiden miteinander um die Wette. Gleichzeitig erreichten sie den Alten, und keuchend packte ihn Burgi am linken, Pepperl am rechten Arm.

„Vater! Zu mir kommst!“

„Na! Zu mir! Denn ich hab’ ihn b’stellt!“

„Zu mir kommst, Vater! Zu mir in d’ Hütten!“

„Z’erst kommst zu mir! Ich muß dir was sagen!“

Der Alte wußte nicht, wie ihm geschah, und stotterte immer: „Thuts mich nur net derreißen, Kinder! Net derreißen! Thuts mich nur net derreißen! Ja seids denn närrisch! Alle zwei!“

Mit Zerren und Streiten hatten sie den Alten bis zur Sennhütte gebracht – und Burgi blieb Siegerin. Sie schob den Vater über die Schwelle, schlug die Thüre zu und stieß den hölzernen Riegel vor. Aber für diesen Riegel – für den hatte Pepperl nur einen „Lacher“. Wie da zu helfen war, das wußte er. Erst verschnaufte er ein wenig, dann zog er das Messer aus der Tasche, schob die Klinge in den Thürspalt und begann zu schieben. Aber merkwürdig – der Riegel wollte nicht weichen, wie sonst.

Verwundert guckte Pepperl etwas näher zu, und da sah er statt des alten, morschen Holzstückes, das die Thür seit einem halben Jahrhundert gehalten hatte, eine blinkneue Latte durch die Spalte schimmern. Wann war dieser neue Riegel an die Thür gekommen? Und warum? Diese beiden Fragen gaben dem Praxmaler-Pepperl heiß zu denken. – –

Drin in der Stube hatte Burgi den Vater zum Herd geführt – und da sah sie den Zustand seiner Kleider.

„Ja, Vaterl! Um Gott’swillen!“ stotterte sie erschrocken. „Ja wie schaust denn aus! O du heilige Mutter!“

„Ausschauen? Ich? Warum? Wie schau ich denn aus?“

„Vater!“ Wie ernst das klang! Und tiefe Kümmernis sprach aus dem Blick des Mädchens. „Hast mir’s im Fruhjahr so versprochen, daß dich halten willst! Und heut’ kommst mir daher, daß ich mich dein’twegen schämen muß!“ Sie fuhr sich mit der Faust über die Augen. „Wann ich nur schon wieder draußten wär’ bei dir! Es taugt mir eh’ schon nimmer da heroben!“ Müden Ganges holte sie die Holzbürste, die zum Scheuern der Milchgeschirre diente. „Geh, laß dich wenigstens ein bißl abputzen!“ Seufzend zog sie den Vater in die Fensterhelle, kniete vor ihm nieder und begann von unten herauf die Arbeit.

Das ließ er sich eine Weile geduldig gefallen, aber als es gar zu lange dauerte, meinte er vorwurfsvoll: „Ein bißl g’nau machst es, g’nau … ein bißl g’nau, ja … so viel g’nau …“

„Heut’ braucht’s es aber auch! Und gelt, Vaterl …“ mit ihren nassen Augen schaute sie zu ihm auf, „so, wie heut’, so kommst mir nimmer?“

„Na na na na …“

„Thust mir’s versprechen? Auf der Mutter ihr Andenken.“

„Ja, Burgele … ja ja ja … ja, das thu’ ich dir, ja! Und und … und weil dein’ Vatern so viel gern hast, ja …“ er wühlte an der Brust herum und brachte das Päcklein zum Vorschein, „ja, jetzt hab’ ich dir was mit’bracht, schau!“ Langsam löste er mit seinen zitterigen Händen den Papierumschlag und entfaltete das seidene Tüchl.

„Jesses! Vater!“ Das Mädchen wurde rot vor Freude. Aber erschrocken fragte sie gleich: „Um Gott’swillen, Vaterl, was hat denn das Tüchl ’kost’t?“

„Zwei, ja … zwei Gugulden, ja!“

„Zwei Gulden! Vater! Mar’ und Josef! Wo hast denn so viel Geld herg’habt? Du wirst mir doch um Gott’swillen net ’bettelt haben, oder …“

[240] „Na na na na! G’arbeit’, weißt … ja, g’arbeit’, g’arbeit hab’ ich!“

„G’arbeit’t? Du? Für wen denn?“

„Bei’m bei’m … weißt, für den, ja, für’n Müllertoni … ja, für’n Toni bin ich auf Seefeld … weißt, ein Botengang … auf Seefeld ummi!“

„Und da hat dir der Toni zwei Gulden ’geben?“ forschte sie mißtrauisch. „Zwei Gulden?“

„Ein’, ein’, der Toni, weißt … und und der Posthalter ein’ … den andern, ja, der Posthalter!“

Sie war nur halb beschwichtigt. Aber möglich schien ihr die Sache doch, und sie wollte glauben, um an dem schönen Tüchl ihre Freude haben zu können. „Geh? G’wiß? Is wahr! Und da hast die zwei sauer verdienten Gulden für mich verspart!“

„Ja ja ja … und ’s Tüchl, gelt, das g’fallt dir?“ kicherte der Alte, froh, dem Verhör so glücklich entronnen zu sein.

„Ja, du, das is fein nobel!“ Sie prüfte die Seide, hielt das Tuch ans Licht und versuchte, wie es sich falten ließe. „Aber geh, jetzt setz’ dich her, jetzt koch’ ich dir aber gleich was auf! Magst saure Nocken? Thut dich hungern? Gelt?“

„Ja, hungern, ja … und saure Nocken, ja, die kunnt’ ich brauchen … und weißt, ein bißl dürsten, ja … ein bißl dürsten thut mich!“

„Da hol’ ich dir gleich ein Schüsserl Milli!“

„Milli?“ der Alte bewegte den Mund, als hätte er eine bittere Zunge. „So so … Milli krieg’ ich … Milli?“

Burgi war in die Kammer getreten, doch ehe sie die Schüssel holte, legte sie vor dem Spiegelscherben, der neben dem Fenster an die Wand gepickt war, das seidene Tuch zur Probe um den Hals.

„Milli krieg’ ich … Milli?“ Als hätte dieser Gedanke einen Zusammenhang mit dem Praxmaler-Pepperl, so guckte sich der Alte plötzlich um, wo denn der Jäger geblieben wäre. Und als er sah, daß an der Thüre gedrückt und gewackelt wurde, ging er hin und schob den Riegel zurück. Ehe die Thüre noch richtig offen war, drängte sich Pepperl schon mit beiden Ellbogen herein.

„Du, Jager, du … zu dir bin ich ’kommen, weißt … du hast mir was versprechen lassen, ja …“

„Was ich dir versprochen hab’, das kriegst! Z’erst aber muß ich reden mit dir! Da setz’ dich her an’ Tisch!“

Als sich die beiden auf die Holzbank niederließen, trat Burgi mit der Milchschüssel in die Stube. Wohl brannte ihr das Gesicht wie Feuer, doch mit spöttischer Ruhe sagte sie: „Jesses na! Der Pepperl! Ah, da schau her!“ Sie stellte dem Vater die Schüssel hin und legte den Brodlaib mit Messer und Löffel daneben. Dann stemmte sie die Fäuste in die Hüften und lachte dem Jäger höhnisch ins Gesicht. „Jetzt weiß ich net, wer mir’s g’sagt hat … aber einer hat mir g’sagt: du gingst mir nimmer ’rein in d’ Hütten!“

Pepperl verfärbte sich und schrie: „Zu dir? Bis ich zu dir komm’ … da kannst lang warten! Du! Bild’ dir nur ja nix ein! Bloß zu dei’m Vatern bin ich ’kommen! Weil ich z’reden hab’ mit ihm … verstehst mich … und ein ernsthaft’s Wörtl!“

„No also! Zu! So red’ halt! Und leg’ dir kein’ Maulkorb an! Kannst alles sagen! Alles! Ob’s wahr is oder verlogen … das is mir ein Ding! Net einmal auflusen thu ich! Na! Net einmal auflusen!“ Mit spöttischem Lachen ging sie zum Herd und nahm eine Holzschüssel von der Wand, um den Nockenteig anzurühren.

Die Neugier schien keine von den schlechten Eigenschaften des Brentlinger zu sein. Denn während die zwei jungen Leute so heiß miteinander „hachelten“, gähnte er ein um das andere Mal und schnitt das Schwarzbrot mit großen Brocken in die Milch. Eben wollte er den ersten Schub verladen, als ihn Pepperl so energisch am Arm packte, daß der Brocken vom Löffel wieder in die Schüssel fiel.

„Jetzt, Brentlinger, jetzt paß auf! Jetzt muß ich dir was sagen! Dir!“

„Ja ja! Red’ nur zu!“ Der Alte holte mit dem Löffel aus. „Aber, ja, aber essen mußt mich lassen! Essen, weißt!“

„Meintwegen, iß halt zu! Aber der Appetit, mein’ ich, der wird dir schon vergehn! Dir! Wenn d’ solchene Sachen hörst! Denn du … du bist der Vater! Dich geht’s am ärgsten an! Und dir z’lieb hab’ ich mich dreing’mischt! Daß ich dir ein’ Kummer verspar’! Denn dir … verstehst mich … dir geht’s an d’ Ehr’! Ja, du … da schau dir’s an, dein Töchterl! Die führt sich nobel auf!“

Vom Herd herüber ließ sich ein verbissenes Lachen hören.

„Lachen kann s’ auch noch! Lachen! Die! Und der arme Vater, der kann sich d’ Augen ausweinen! Drum laß dich verwarnigen, du guter Mann, du braver … und red’ ein Wörtl, so lang’s noch Zeit is … denn daß ich dir’s ehrlich sag: in deiner Burgl ihrer Hütte, da geht’s ja zu, als ob die Gomorringer ausg’ruckt wären!“

„Wer is …“ der gute, brave „Vatter“ schluckte einen Brocken, „wer is ausg’ruckt?“

„Die Gomorringer! Die von der selbigen Stadt, wo’s Pech und Schwefel hat regnen müssen. Und warum? Das weiß man schon!“

Der Kochlöffel in der Hand der Sennerin machte einen verdächtigen Zuck – aber das war nur ein Augenblick – dann tauchte er wieder in den Nockenteig.

Studierend schüttelte der Alte den weißen Kopf. „Na, du … das mußt mir, ja, mußt schon besser verexplizieren, ja!“

Pepperl schnaufte in schwüler Hitze. „Teufi Teufi Teufi, hat man mit dir ein G’frett! Paß auf, sag’ ich dir!“ Mit beiden Händen fuchtelte er dem Alten vor der Nase herum. „Das weißt ja doch, daß unser Herr Fürst jetzt da is?“

„Ja freilich, ja, der Herr Fürst! So so? Was für, ja, was für ein Fürst is denn der?“

„Der unser Jagd in Pacht hat!“

„Ein Jager? So so? Ein Jagerfürst! Und, ja …“ Der Alte legte den Löffel nieder, und seine Augen erweiterten sich. „Du, Pepperl, sag … is enker Fürst net mit’n, ja, mit’n Förstner in der Luitasch g’wesen … vor ein acht Täg’?“

„Freilich is er draußen g’wesen! Aber das geht dich nix an!“

„Geht mich, ja, gegeht mich schon wawas an,“ versicherte Brentlinger mit solchem Eifer, daß er zu stottern begann. „Wenn das der Füfürst g’wesen is … zu dem geh’ ich ’nauf. Mit dem muß ich was reden … dem muß ich, ja, muß ich was verexpipilixieren …“

Pepperl verlor die Geduld. „Kreuz Teufi, laß den Herrn Fürsten in Ruh! Der geht dich nix an! Wenn d’ auffi gehst, wirst aussi g’schmissen … vom Herrn Kammerdiener … verstehst mich!“

„Kammerdiener? So so? Ein Kammerdiener hat er? Geh? Und is der auch so, ja, so nobel, der?“

„Der wird wohl nobel sein!“ Pepperl lachte mit zornrotem Gesicht. „Hat seidene Hösln an! Und Schnallenschuh … wie der Mesner bei der Leich’.“

„Schnallenschuh? Und seidene Hösln?“ staunte der Alte. „Ach, der muß aber nobel sein!“

„Und g’striegelte Haar hat er! Und deiner Burgl steigt er nach! Verstehst mich! Deiner Burgl steigt er nach!“

Langsam drehte sich Brentlinger auf der Bank herum und fragte mit aufgeregtem Stottern:

„Bu … Buburgi? Js das wahr?“

„Ja, das ist wahr!“ erklärte Burgi und warf eine Handvoll Salz in den Nockenteig.

„Hörst es? Hörst es jetzt?“ schrie Pepperl wie ein Verrückter. „Wahr is, was ich g’sagt hab’! Und anschmalgen thut er’s! Anschmalgen, daß er’s heiraten thät!“

Die Aufregung des Alten wuchs. „Bu … Buburgi? Das sag mir, ja, gleich sag mir’s … is das wahr?“

„Wahr is ’s! Ja!“ fuhr die Sennerin mit gereizter Stimme auf. „Den ganzen Tag allweil hockt er da in der Hütten und pumpert die halben Nächt’ lang am Kammerfenster … so verliebt is er! So verliebt! Ja! Wahr is’, wahr is’, wahr is’!“

Ueber den Tisch hinüber packte Pepperl die Hand des Alten und schüttelte sie. „Hast es g’hört jetzt, Brentlinger? Jetzt denk, daß du der Vater bist, und daß dich rühren mußt … in deiner Verantwortigung … verstehst mich! So! Und jetzt red’ du!“

Stolpernd schob sich Brentlinger hinter dem Tisch hervor, und warnend hob er den Finger. „Bu … Buburgi! Das muß ich dir sagen, hörst! Da sei fein g’scheid! Den laß nur nimmer aus! [241]

Ein Gericht bei den Helvetiern.
Nach dem Gemälde von E. Ravel.


Da kannst dein Glück machen, ja, dein Glück! Den laß nur nimmer aus! Das is ein Nobliger! Wenn g’scheid bist, machst dein Glück!“

In sprachloser Verblüffung starrte Pepperl den Alten an und fuhr sich mit beiden Händen in die Kreuzerschneckerln. Dann sprang er auf und rüttelte den Brentlinger, als müßte er mit Gewalt in ihm das schlummernde Gefühl der väterlichen Verantwortung auferwecken. „Ja Mensch! Was red’st denn da! Er lügt ja dein Madl an! Jagdverwalterin thät’s werden! Ja! Heut erst hat er mir’s g’sagt, der Herr Fürst: der Kammerdiener, und Jagdverwalter? Ja! Ein Schmarren mit Lakrizensoß! Alles is verlogen! Und das dumme Gansl, das glaubt ihm ... hörst! Verstehst mich jetzt bald? Und du bist der Vater! Du!“ Pepperl rüttelte, daß dem Alten die Zähne klapperten. „Rühr’ dich, Vater! Rühr’ dich, sag’ ich dir!“

„Da rühr’ ich mich, ja! Wann er mein Madl anlügt, rühr’ ich mich! Da nimm ich, ja, nimm ich ein’ Avakat’n! Da muß er zahlen, der! Das is ein Nobliger! Der hat Geld!

[242] Und wann er net zahlt, so muß der Herr Fürst, ja, der Herr Fürst muß zahlen … der hat Geld!“

Pepperl ließ die Arme fallen, und in der Hütte war lautlose Stille, nur das Feuer knisterte. Der Jäger sah aus, als hätte man ihm Asche ins Gesicht geworfen. Mit zitternden Händen knöpfte er die Joppe zu und sagte: „Mir scheint, jetzt kenn’ ich mich aus! Jetzt … jetzt …“ Seine Stimme riß, und das helle Wasser schoß ihm vor Zorn in die Augen. „Des seids mir zwei saubere Leut’! Pfui Teufi miteinander!“ Er spuckte aus. „Da wär’ ich in eine schöne Verwandtschaft eini’kommen!“

Er wußte wohl nicht, was er redete. Denn der Zusammenhang dieses empörten Wortes mit der selbstlosen „Verantwortigung“, die der Praxmaler-Pepperl auf seine moralischen Schultern genommen hatte, war dunkel und völlig unbegreiflich.

Wütend packte er seinen Hut und verließ die Sennstube.

Mit verdutzten Augen sah ihm Brentlinger nach. „Wawas … was hat er denn? Sag’? Was hat er denn?“

Burgi vermochte nicht gleich zu sprechen. Ihr Gesicht war kreidebleich, als sie auf den Alten zu ging und ihn am Arm faßte.

„Vater! … Jetzt geh ins Kammerl ’nein! Und thu dich schlafen legen! Aber gleich! Denn daß d’ mir nüchtern solchene Sachen sagen könntst, das trau ich mir doch net z’glauben! Und wann dich ausg’schlafen hast … nachher reden wir weiter! Vorher kein Wörtl nimmer! Jetzt thu dich schlafen legen!“

„Schlafen? Ja warum denn schlafen? Wawas hast denn? Ich versteh schon, ja, versteh schon gar nix nimmer! Schlafen? Wo ich so viel munter bin, und … und thu mich so viel freuen mit, ja, mit dein Glück, ja …!“

„Vater! … Thu mir den G’fallen, Vater, und leg dich schlafen! Oder ich müßt’ dir harb sein! Leg dich schlafen, Vater!“

Er blickte zu ihr auf, und als er ihr Gesicht und ihre Augen sah, stotterte er erschrocken und begütigend: „Ja ja ja ja … sei sei nur z’frieden, Burgerl! Muß ich halt schlafen, ja! Ein Stünderl schlafen!“ Seufzend stolperte er über die Kammerschwelle.

Burgi wartete, bis sie hören konnte, wie er ins Heu fiel. Dann ging sie zum Herd, und auf die Steine niedersinkend, brach sie in bitterliches Schluchzen aus. –

Droben, im Försterhäuschen, saß der Praxmaler-Pepperl hinter dem Ofen, bürstete mit den Fäusten die Augen und würgte nach Luft. Die Selbsterkenntnis war erschreckend in ihm aufgegangen. „So ein Esel, wie ich einer bin! So ein’ giebt’s doch auf der ganzen Welt nimmer! Auf so ein Weibsleut ’reinfallen! Auf so ein Weibsleut! Mar’ und Josef! Mar’ un Josef!“

Lärm, Schritte und Stimmen weckten ihn aus diesem Jammer seiner Liebe – aus einem Katzenjammer, der das Merkwürdige hatte, daß ihm kein Rausch vorangegangen war.

Mit den Jägern und Treibern war der Förster gekommen, aufgeregt, fassungslos über den sonderbaren Ausfall der Jagd, die doch „wie am Schnürl“ gegangen war. Drei Hirsche waren sicher angesprungen, kein Schuß war gefallen, und auf dem Fürstenstand hatte man keinen Jäger gefunden, nur einen Wettermantel, den Feldstecher und die Büchse.

„Ja um Gotteswillen, was is denn da passiert?“

Als Pepperl mit zerknirschter Miene berichtete, was sich „da draußen“ ereignet hatte, und daß „die Fräul’n Lo’ mit ihrem Brüderl“ droben im Jagdhaus beim Herrn Fürsten wäre, klang in die Stille, mit der alle lauschten, ein schallendes Gelächter.

„Toni?“ fuhr der Förster auf. „Ja bist denn überg’schnappt?“

Mazegger gab keine Antwort – er lüftete nur den Hut. Und während er hinunterschritt zu seiner Hütte, sahen ihm all die anderen verwundert nach.

(Fortsetzung folgt.)




Müthchen.
Bilder aus dem Kinderleben. Von Anna Ritter.
I.

Die bösen alten Nerven hatten mich wieder einmal um den größten Teil meiner Nachtruhe gebracht, und es dämmerte schon, als jener traumselige Zustand über mich kam, der dem Einschlafen voranzugehen pflegt.

Behaglich drückte ich mich in den Kissen zurecht mit dem Entschluß, den versäumten Schlummer in den Morgenstunden nachzuholen.

An Müthchen hatte ich dabei freilich nicht gedacht.

Kaum eine Stunde mochte ich geschlafen haben, da fuhr ich mit dem unklaren Empfinden, daß jemand meinen Namen gerufen habe, in die Höhe.

„Mutter … Mutter!“

Kein Zweifel – Müthchen ist schon wach! Durch die blinzelnden Augenlider sehe ich deutlich seine kleine Gestalt, wie er im roten Nachtkittelchen hoch im Bette steht und mich mit gespanntem Ausdruck beobachtet.

Ich stelle mich schlafend.

„Mutter!“ ruft er, schon erheblich lauter.

Elschen, die im anderen Bette schläft, versucht, ihn zu beschwichtigen:

„Sei doch nur still, du siehst doch, daß die Mutter noch schläft!“

„Vorhin war sie aber wach,“ behauptet Müthchen, „ich hab’s deutlich gesehen, wie sie die Augen aufgemacht hat.“

„Zum Aufstehen ist’s noch viel zu früh,“ redet Elschen von neuem zu.

Müthchen hat aber an allerlei Geräuschen auf dem Hofe bemerkt, daß es sechs Uhr vorüber sein muß, er läßt sich nicht irre machen.

Seufzend ergebe ich mich darein, für heute endgültig auf den Schlaf zu verzichten.

„Leg’ dich noch ein Weilchen unter, Müthchen,“ sage ich in energischem Ton, „du erkältest dich sonst.“

„Ich habe aber Hunger,“ erklärt Müthchen weinerlich.

„Die Brötchenfrau ist noch gar nicht da!“

„Dann habe ich eben Durst.“

„Das Milchmädchen kommt auch erst um Sieben.“

Einen Augenblick giebt er Ruhe – da klinkt draußen die Hausthür.

„Die Brötchenfrau!“ schreit Müthchen jubelnd. „Mutter, kann ich’s Ida’n sagen, daß sie mir eine Wuchtel[1] bringt?“

„Meinetwegen,“ gebe ich nach, in der Hoffnung, ihn zum Schweigen zu bringen.

Mit einem Satz ist er aus dem Bett und reißt die Thür auf:

„Ida, bring’ mir ’ne Wuchtel!“

Ida ist etwas schwerhörig und kommt immer erst auf den fünften, sechsten Ruf.

In der Angst, daß Müthchen sich unterdes an der offenen Thür wirklich eine Erkältung holen könne, stehe ich selbst auf und rufe das Mädchen.

Die Brötchenfrau hat heute keine Wuchteln gehabt, Ida bringt also statt dessen zwei „Maulschellen“, bei deren Anblick Müthchen in Wut gerät.

„Ich wollte doch aber Wuchteln!“

„Wenn du jetzt noch einen Ton sagst, giebt’s ein paar Wuchteln hinten drauf,“ sage ich böse.

Da entschließt er sich, die Maulschellen zu essen.

Das arme Elschen muß aufstehen, weil die Schule um sieben Uhr beginnt. Mit verschlafenem Gesichtchen hantiert sie im Zimmer herum, indessen Müthchen befriedigt kaut.

Ich dusele langsam wieder ein.

„Mutter! … Kann Ida mich anziehen?“

Müthchen scheint mit essen fertig zu sein.

„Nein!“ sage ich streng. „Das Kinderzimmer ist noch gar nicht fertig aufgeräumt.“

„Kann ich mir dann so lange ein ‚Buch der Erfindungen‘ angucken?“

Ich erlaube es in der Hoffnung, daß Müthchens unruhiger Geist durch das Buch vielleicht wohlthätig gefesselt wird.

[243] Elschen, die fertig angezogen ist, holt ihm das Buch und verschwindet dann, um Kaffee zu trinken. Es thut mir leid, ihr nicht dabei Gesellschaft zu leisten, aber ich kann mich heute noch nicht zum Aufstehen entschließen.

Müthchen blättert eine Weile, jedes Bild mit lauten Ausrufen begleitend.

„Mutter, guck doch nur, was das für ein komisches Ding ist!“ Dabei hält er das Buch hoch in die Höhe, mir ermunternd zuwinkend.

„Ich kann’s von hier nicht sehen,“ sage ich schlaftrunken, ohne mich aufzurichten.

„Soll ich lieber bei dich ins Bett?“

Sein Stimmchen klingt so süß und einschmeichelnd, daß ich’s nicht übers Herz bringe, „Nein“ zu sagen.

„Willst du aber auch ganz mäuschenstill liegen?“

Müthchen beteuert’s hoch und heilig und kommt eilfertig mit seinem dicken Buche angelaufen.

Beim Hinaufklettern in mein großes Bett stützt er sich mit dem Fäustchen auf meinen Magen, der seit lange mein wunder Punkt ist.

Ich stöhne auf, da schlingt er die Aermchen um meinen Hals und küßt mich ab: „Ich konnte wirklich nichts dafür, Mutterchen.“

Und dann macht er sich’s bequem und zieht mir zwei Drittel der Bettdecke fort, so daß ich anfange zu frösteln.

Wir sehen uns nun gemeinsam das Buch an, und ich muß die schwierigsten Erklärungen abgeben zu Maschinen, die ich nie in meinem Leben gesehen habe. Dabei hat er ein bewunderungswürdiges Gedächtnis und weiß ganz genau, was ich das vorige Mal zu den Bildern gesagt – es würde mir nichts helfen, ihn mit allgemeinen Redensarten abspeisen zu wollen.

Endlich kommt Ida und erlöst mich von dem kleinen Quälgeist. Im ganzen läßt er sich heute gutwillig anziehen, ich sehe also über kleine Unarten hinweg. Daß er sich mit meiner Zahnbürste die Nägel reinigt, kann ich natürlich nicht dulden, und als er sich die nassen Hände dann noch an meinem schön gestickten Ueberhandtuch abtrocknet, gerate ich in Zorn und versetze ihm einen Klaps, dessen geringe Schmerzwirkung in keinem Verhältnis steht zu dem fürchterlichen Geheul, mit dem Müthchen die Schlafstube verläßt.

Ich glaube, Elschen segnet die Schule, die ihr für ein paar Stunden ein ruhiges Plätzchen sichert! Der Kuß, mit dem sie von mir Abschied nimmt, ist beinahe mütterlich – ich thue ihr leid. –

Nach dem Kaffee, der ohne weitere Störung verläuft, geht Müthchen zur Rekognoscierung in den Hof, und ich besorge allerlei Notwendiges im Haushalt, um mich nachher beruhigt an meinen Schreibtisch setzen zu können.

Draußen ist alles still. Ich warte förmlich auf irgend einen Schlachtruf von Müthchen – aber es regt sich nichts. Das ist kein gutes Zeichen! Wenn Müthchen sich ruhig verhält, ist er entweder krank, oder er bereitet sich auf irgend einen besonders großartigen Streich vor.

Diesmal habe ich ihm jedoch unrecht gethan, denn wie ich aus dem Fenster nach ihm ausschaue, kommt er eben mit strahlendem Gesichtchen die Straße heraufgelaufen und schwenkt schon von weitem in freudiger Aufregung die Arme.

„Mutter, darf ich mit aufs Feld? Dietrichs machen Kartoffeln aus.“

Aus alter Gewohnheit fliegt mein Blick zuerst über seinen Anzug.

„Wo ist deine Schürze?“

Müthchen, der inzwischen herangekommen ist, deutet mit schuldbewußter Miene aufs Treppengeländer.

Da hängt das schön gestärkte Schürzchen, schon Nr. 2 seit heute morgen, wie Ida empört berichtet, ganz zusammengeknüllt über dem Pfosten.

Ich halte meinem Sohne eine angemessene kleine Rede, merke aber, daß seine Gedanken nicht bei der Sache sind.

„Darf ich, Mutter?“

„Wer geht denn mit?“ frage ich mißtrauisch.

„Dietrich Großvater und Paul, und Paulen sein Vater und ich – alle!“

Müthchen ist Feuer und Flamme. Da das Wetter schön ist und Dietrich Vater und Großvater mir eine Garantie für die Solidität des Unternehmens gewähren, liegt kein Grund vor, dem Kind die Bitte abzuschlagen.

„Aber erst laß dich gründlich abbürsten!“

„Ja, das hat Dietrich Großvater auch gesagt. Und hier den Haken,“ er deutet auf seine offne Bluse, deren Unordnung ich jetzt bemerke, „solltest du mir auch noch annähen, dann sähe ich viel hübscher aus.“

Der Aerger würgt mir förmlich in der Kehle – was müssen Dietrichs nur von mir denken!

„Sage nur Dietrichs,“ antworte ich, rot vor Zorn, „der Anzug wäre heute morgen rein und ganz gewesen, aber bei solch kleinem Schmutzfinken hielte das gerade eine Stunde.“

Dann bringe ich die verschiedenen Schäden in Ordnung, stecke ihm eine Bemme ein und gebe ihm noch ein paar Ermahnungen mit auf den Weg, trotzdem ich von ihrer Ueberflüssigkeit im voraus überzeugt bin.

Glückselig trollt er ab, und ich sehe ihm nach in stiller Lust: welch süßer, kleiner Kerl ist er doch trotz alledem!


Mittags kommt er wirklich pünktlich heim, aber in einem Aufzug, der jeder Beschreibung spottet.

Elschen, die ihn auf der Straße getroffen hat, ist ihm ausgewichen und dann mit verdoppelter Eile nach Hause gelaufen, um nicht mit ihm gesehen zu werden.

Ich sage nur schwach: „Aber Müthchen …!“ Mit Schelten mag ich ihn nicht gleich empfangen, er ist gar so befriedigt von seinem Erntefest.

„Schön war’s,“ berichtet er mit glänzenden Augen, „wir haben Kartoffelfeuer gemacht – hui, sind die Funken geflogen! Und Kartoffeln haben wir gebraten … ich sage dir, Mütterchen, die schmecken aber! Ich hab’ euch auch welche mitgebracht!“

Damit zieht er aus dem Hosentäschchen drei ganz verkohlte Kartoffeln und überreicht sie Elschen, Ida und mir.

Meine Freude über das Mitgebrachte ist nicht ganz ungetrübt, denn ich muß daran denken, wie die Höschen nun wohl von innen aussehen. Doch behalte ich meine Bedenken für mich.

Bei Tisch hat Müthchen keinen Appetit, sogar sein Leibgericht, den Kartoffelbrei, läßt er stehn.

„Hast du etwa schon gegessen?“ frage ich ahnungsvoll.

Müthchen nickt. „Auf dem Bahnhof, mit Dietrichs und den Pollacken.“

„Und getrunken hast du wohl auch?“

„Bier,“ sagt er stolz. „Paul und ich ein Seidel zusammen, aber ich hab’ das meiste gekriegt.“

Nach dem Essen soll Müthchen schlafen, eine Einrichtung, an der ich mehr meinet- als seinetwegen festhalte. Vielleicht gelingt es Ida während dieser Zeit, die Spuren des Kartoffelfeldes von Müthchens Kleidern zu entfernen.

Ich lege mich todmüde auf die Chaiselongue, was ich mir sonst nie gestatte, und Elschen nimmt eine verfrühte Weihnachtsarbeit vor, die sie seit Wochen in allen möglichen und unmöglichen Winkeln vor mir versteckt – weil ich damit beglückt werden soll – und die ich beim Aufräumen immer wieder entdecke.

Ueber dem Hause liegt eine wohlthätige Ruhe, nur Ida summt in der Küche beim Geschirrabtrocknen ein Lied, dessen Melodie ich erheblich anders im Gedächtnis habe.

Da … wer erscheint nach kaum zehn Minuten, bescheiden lächelnd, auf meiner Schwelle? ….

Müthchen!

Er hat sich ganz allein wieder angezogen.

Der Frage, die er in meinen Augen liest, kommt er mit den Worten zuvor: „Wenn ich doch nicht schlafen kann, kann ich eben nicht!“ Eine Logik, die nicht zu widerlegen ist.

Sein Anzug ist natürlich noch nicht gereinigt und sieht so polizeiwidrig aus, daß aushilfsweise die Sonntagsgarnitur geholt werden muß. Ich schärfe Müthchen ein, aus diesem Grunde heute nicht im Keller und in den Ställen herumzuspielen, was er auch verspricht.

Dann begiebt er sich vor die Hausthüre, um seinen Freund Paul zu rufen.

Ich überzeuge mich durch Augenschein, daß die Jungen draußen artig spielen. Daß Paul eine sogenannte „Striezebüchse“ [244] hat und an der Gosse fortwährend Wasser ein- und auszieht, um es an die nächstgelegenen Häuser zu spritzen, gefällt mir zwar nicht, aber ich kann nichts dagegen sagen; denn Herr Dietrich hat Paul das Spielzeug vom Wiesenmarkt mitgebracht. Müthchen steht ja auch ganz unbeteiligt daneben.

Allzulange scheint seine Interesselosigkeit freilich nicht gedauert zu haben, denn ich höre auf einmal im Hofe seinen durchdringenden Zeterton.

Und da kommt er auch schon an, die schöne, blaue Jacke von oben bis unten bespritzt! Der eine Fuß hat auch im Wasser gestanden, wie ich durch Befühlen des feuchten Stiefels feststelle.

„Warte, jetzt sollst du aber mal ordentlich was bekommen,“ verkündige ich ihm, sehr böse.

„Kann ich dafür, wenn Onkel Eduard Paulen zuruft, er solle mich vollspritzen?“

„Onkel Eduard?“

„Ja, er hat’s Paulen durch das Fenster zugerufen!“

Innerlich bin ich erbost auf Onkel Eduard, verteidige ihn aber Müthchen gegenüber damit, daß er nur einen Scherz habe machen wollen.

„Mutter,“ sagt Müthchen, nachdem er Schuhe und Strümpfe gewechselt hat, „willst du mir wohl einen ,Zehner’ schenken?“

„Wofür?“

„Ich will mir von Probstens auch eine Striezebüchse holen, Paul sagt, da gäb’s welche für zehn Pfennige.“

Obgleich ich Müthchens Rachegedanken ahne, gebe ich ihm das Geld, denn ich bin immer dafür, daß die Jungen ihre Streitigkeiten untereinander selbst schlichten.

Seinen „Zehner“ in der Hand, Paul, der mit zur Schau getragener Artigkeit an der Gosse steht, einen triumphierenden Blick zuwerfend, zieht Müthchen mit einem Schritt ab, den er seinem Ideal, dem Pferdeknecht Ziegenhorn, bewunderungswürdig abgelauscht hat.

Er kommt aber nach einer Weile ohne Striezebüchse, dagegen mit vollen Backen kauend wieder.

„Na?“ rufe ich bloß.

„Probstens hatten ja gar keine, Paul hat gelogen,“ schreit Müthchen entrüstet.

„Und wo ist der Zehner?“

Müthchen lächelt verschämt. Er hat sich, da es keine Striezebüchsen gab, Bonbons für das Geld gekauft – ich hatte leider nicht daran gedacht, auch für diesen Fall Instruktionen zu geben.

Nachmittags erwarte ich Besuch und gebe Ida, wie jedesmal, vorher strenge Verhaltungsmaßregeln, denn ich kenne Müthchens Art, einfach in den Salon hereinzuplatzen, sobald er Besuch und Kuchen wittert.

„Du läßt ihn nicht einen Augenblick allein, Ida! Und, Elschen, du achtest auch ein bißchen auf ihn! Ich hebe euch auch schönen Kuchen auf.“

Nachdem Müthchen sich einen Mohrenkopf und eine Brezel als Lohn ausbedungen hat, verspricht er, sich für den Rest des Tages musterhaft zu benehmen.

Der Besuch kommt, und wir sitzen plaudernd im Salon. Ich selber freilich komme nie zum unbefangenen Genuß lieber Gäste, da ich immer mit einem Ohre auf den Gang hinaus horche.

Ein paarmal glaube ich drüben erregte Stimmen zu hören, mag mich aber wohl geirrt haben, denn es erfolgt weiter nichts.

Wir reden über Kindererziehung. Meine Freundin hat viel pädagogische Bücher gelesen und besitzt eine beneidenswerte Kenntnis von dem, was man Kindern erlauben darf und was nicht, worüber ich sehr oft im Zweifel bin.

Allerdings ist sie kinderlos und betreibt das Erziehen nur theoretisch, was ich mir bedeutend leichter vorstelle.

Plötzlich fahre ich entsetzt in die Höhe. Draußen spielt sich so etwas wie ein Indianertanz ab. Ich überschaue im Geiste vollkommen klar die Situation. Ida und Elschen suchen Müthchen, der ihnen entwischt ist, mit List und Güte ins Kinderzimmer zurückzuziehen, Müthchen will aber nicht! Die Thatsache, daß die beiden, des Besuches wegen, keine Gewaltmittel anwenden dürfen, macht er sich zu nutze und schlägt mit Händen und Füßen um sich.

Zuerst habe ich versucht, krampfhaft weiter zu reden, ohne den Lärm draußen zu beachten, nun, da es zu toll wird, will ich hinaus.

Da fliegt auch schon die Thüre auf und Müthchen kommt mit ein paar Hechtsätzen herein.

Ohne die Tante, die ihm lächelnd die Hand entgegenstreckt, eines Blickes zu würdigen, lehnt er sich vertrauensvoll an mich an und schielt nach dem Kuchenkörbchen, auf dem noch einige Prachtstücke liegen.

Ich bin ganz außer mir.

„Müthchen, wie sagt man denn?“

Er entschließt sich widerstrebend, der Tante „Guten Tag“ zu sagen, wirft auch, auf wiederholten Befehl, die Thüre krachend zu, immer in der Hoffnung, noch ein Stück Kuchen zu erwischen.

Als er zurückkommt, entdecke ich, daß irgend etwas mit seinem Haar nicht in Ordnung ist – er sieht ganz verändert aus.

„Was hast du denn gemacht?“ Ich fasse seinen Kopf zwischen beide Hände, „du hast dir ja das Haar abgeschnitten!“

Ein brenzliger Geruch zeigt mir an, daß er auch an der Brennschere gewesen ist. Auf der einen Seite der Stirn kräuselt sich der mißlungene Versuch eines Löckchens, auf der anderen haben ungeschickte Fingerchen ein tiefes Dreieck in den blonden Haarwuchs geschnitten.

Ein paar Wochen lang mindestens ist der Junge entstellt.

„Entschuldigen Sie einen Augenblick,“ sage ich, zur Freundin gewandt, dann packe ich meinen Schlingel, der, Unheil ahnend, zu brüllen beginnt, und zerre ihn mit festem Griff hinter mir her in die Schlafstube. Meine Geduld ist zu Ende.

Ich wichse ihn durch, so gut ich kann, die meisten Hiebe gehen aber in die Luft, weil er mir immer wie ein Aal zwischen den Händen durchschlüpft.

Schließlich kann ich nicht mehr und stelle ihn, um der Sache größeren Nachdruck zu verleihen, in die Ecke.

„Hier bleibst du, bis ich dich rufe!“

Aufs äußerste erschöpft, kehre ich in den Salon zurück und gestehe kleinmütig ein, daß ich zur Kindererziehung nicht das geringste Talent habe.

Die Freundin ist zu ehrlich, mir ganz zu widersprechen, nur meint sie, es würde sich alles schon noch machen, und in Müthchen stecke bei aller Unart ein tüchtiger Kern.

Dann geht sie, und ich bin fast froh darüber. – Die Stimmung ist mir gründlich verdorben. – Müthchen ist wirklich im Schlafzimmer geblieben, nur, daß er nicht mehr in der ihm angewiesenen Ecke steht, sondern sich mit seinen schmutzigen Stiefelchen auf meine reine, weiße Bettdecke gelegt hat. Ich kann sie getrost gleich wieder ins Waschfaß stecken.

Da die Freundin mir auseinandergesetzt hat, daß zu vieles Strafen eine schlechte Wirkung auf ein Kindergemüt habe, übergehe ich diesen neuesten Fall mit Stillschweigen und nehme Müthchen wieder in die bürgerliche Gesellschaft auf.

Das Abendbrot verläuft infolge der vielen Aufregungen ziemlich schweigsam. Müthchens Gelüst, noch die laterna magica in Gang zu bringen, wird mit ruhigem Ernst abgelehnt; er kommt gleich nach dem Abendbrot ins Bett.

Der kleine Schelm ist selbst müde, und wie er nun rein gewaschen in seinem weißen Bettchen liegt, ist alle Wildheit von ihm abgestreift, er sieht mit dem goldblonden Haar und den großen, blauen Augen aus wie ein Engel der Unschuld.

Ich bete mit ihm, und da schlingt er die Aermchen um mich und fängt plötzlich bitterlich zu schluchzen an.

„Thut’s dir denn leid, Müthchen, daß du heute so unartig warst und die liebe Mutter so oft betrübt hast?“

Er nickt ein paarmal eifrig und drückt sich in leidenschaftlicher Zärtlichkeit an mich: „Ich hab’ dich doch so schrecklich gern.“

Ich kniee an seinem Bettchen, bis er eingeschlafen ist, und durch alles Zagen und Zweifeln, das in mir aufsteigen will, wenn ich an die Zukunft dieses wilden, kleinen Lebens denke, leuchtet wie ein Sonnenstrahl dies „Ich hab’ dich gern!“

Was an notwendiger Strenge an diesem stürmisch schlagenden Herzchen vielleicht versäumt wird, muß die Liebe ersetzen, die große, heilige Liebe, die wie ein Strom von mir zu ihm hinübergeht.

[245]

Sonntagnachmittag im Dekansgarten.
Nach einer Originalzeichnung von Paul Hey.

[246]

Rixdorf, Preußens jüngste Stadt.

Von Gundakkar Klaussen.
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die gewaltige Entwicklung ins Große, welche Berlin durchgemacht hat, seitdem es aus der Residenz der preußischen Könige zur Reichshauptstadt geworden ist, hat naturgemäß auch auf die umliegenden Dörfer einen tiefgehenden Einfluß ausgeübt. Wo früher Ackerbauer und Gärtner vor den Thoren wohnten, da stehen jetzt Wohnpaläste und Fabriken in unmittelbarer Verbindung mit der eigentlichen Stadt. Der Riesenpolyp, der seine Arme von Jahr zu Jahr weiter ausstreckte, hat alles, was in seiner Nähe lag, sich angegliedert. Lange hat man geschwankt, ob man die Vororte, welche immer noch Dörfer hießen, obwohl sie es längst schon nicht mehr waren, in Berlin eingemeinden sollte.

Die heiß umstrittene Frage scheint jetzt endgültig verneint zu sein. Die naturgemäße Folge war, daß man jenen merkwürdigen Zwitterwesen die Stellung gab, die ihnen ihrem Werdegang nach gebührte. Konnten sie nicht Stadtteile sein, so mußten sie selbständige Städte werden. So erhielt Charlottenburg Stadtrecht, ihm folgte später Schöneberg. Diese beiden haben durch die Gunst ihrer Lage das beste Teil erhalten. Sie bilden, wenn auch nicht rechtlich, so doch thatsächlich, mit dem Westen Berlins eine zusammenhängende Einheit, und der Westen ist beinahe ausschließlich der Sitz der kapitalkräftigen Bevölkerung geworden. Die Arbeit Berlins, und es wird viel und hart gearbeitet an der Spree, obwohl der flüchtig durchreisende Besucher der Friedrichsstadt nicht viel davon sieht, wird hauptsächlich im Norden, Osten und Süden geleistet. So ist auch Rixdorf, „malerisch an den südlichen Ausläufern des Kreuzberges gelegen“, wie die Rixdorfer selbst mit echt märkischer, gemütlicher Selbstverspottung sagen, aus einem Bauerndorf zu einer Industrie- und Arbeiterstadt geworden. Der 1. April 1899 war der Geburtstag von Preußens jüngster Stadt.

Fährt man zum Halleschen Thore hinaus die lange Blücherstraße hinunter, so kommt man schließlich auf den Kaiser Friedrich-Platz, den die schöne neue evangelische Garnisonskirche schmückt. Hier war bis vor kurzem Berlin zu Ende und „die Heide“ begann, jene „Hasenheide“, die zu unserer Väter Zeiten das Ziel vergnügungslustiger Landpartien war. Heute ist von dem nicht eben großen Stück Wald eigentlich nur noch ein Stück Naturgarten übrig geblieben, über dem die Berliner Turnerschaft ihre schützende Hand hält. Steht doch hier das Denkmal des Turnvaters Jahn, der unter diesen Bäumen seine Schüler in der edlen Kunst der Leibesübungen zu unterweisen pflegte. Sonst hat „die Heide“ großen Mietskasernen Platz gemacht. Besser aber als sie haben sich aus vergangenen Tagen die Vergnügungslokale hier gehalten. Sie sind geblieben mit ihren Karussells, Würfelbuden, russischen Schaukeln und andern Volksbelustigungen, die Sonntags ihr zahlreiches Publikum von Soldaten und „Mädchen dienenden Standes“ finden. Dies sind die Freuden, von denen es in dem herrlichen neueren Volksliede, dem unverwüstlichen „Rixdorfer“, so ungemein sinnig auf gut Berlinisch heißt:

„Uff den Festdag frei ick mir,
Mutter, det is mein Pläsir;
Mutter, kiek dir fleißig um,
Seh mal bloß det Publikum!“

So singt der Sänger von dieser Gegend – nicht gerade sehr salonfähig, aber der Geist des Ortes ist ihm wohl vertraut.

Wo sich die Berliner Straße mit dem Cottbuserdamm trifft, liegt, von der großstädtischen Umgebung fast erdrückt, in kleiner Bescheidenheit noch ganz so wie ehemals der alte Rollkrug. Hier gabelte sich in früheren Zeiten die Dresdner Heerstraße. Links ging es über Rixdorf nach Köpenick, rechts über Britz nach Mittenwalde und weiter nach Sachsen. Hier läuft auch die Grenze zwischen Rixdorfer und Berliner Gebiet. Aber wer es nicht weiß, würde nicht auf den Gedanken kommen: hüben und drüben ist alles gleich. Die Berliner Straße setzt sich jenseits fort und bewahrt durchaus ihr Aussehen. Häuser und Menschen sind von derselben Art, dieselben durch Elektrizität oder Pferdekraft betriebenen Straßenbahnen begleiten uns. Nur hin und wieder, wenn zwischen den Gebäuden eine Lücke klafft, sieht man, daß die Straße eine Strecke weit über freies Feld führt. Links blickt man auf die weiten Flächen der Cöllnischen Wiesen, auf denen hier und da eine „Laubenstadt“ steht. Diese Laubenstädte sind eine Eigentümlichkeit der Berliner Umgegend. Kleine Leute pachten sich ein Stückchen Ackerland, auf dem sie Kartoffeln, Gartenfrüchte und bescheidene Blumen ziehen. Jeder hat auf seiner Scholle eine Bretterbude, mit schmeichelnder Phantasie als Laube bezeichnet, einer haust dicht neben dem andern, es ist eine ganze Kolonie. Sommers nach Feierabend oder an arbeitsfreien Sonntagen zieht die ganze Familie hinaus mit Kind und Kegel, da wird im Garten geschafft, auch wohl ein Tänzchen im Freien arrangiert zu den melodischen Klängen der Ziehharmonika. Jeder hat auf seiner Burg eine Fahne, die besonders wichtig ist, wenn die Kolonie ihr Erntefest feiert. Dann giebt’s ein Jubeln und Singen, die Freude, dem großen Häusermeer auf ein paar Stunden entronnen zu sein, läßt das bescheidene Vergnügen im märkischen Sande doppelt schön erscheinen. Rechts von der Straße ziehen sich die Rollberge hin, „mindestens“ 15 bis 20 Meter hoch. Allmählich fangen dichtbebaute Querstraßen an, sich diese Berge hinaufzuziehen. Das ist Neu-Rixdorf. Wir kommen an dem stattlichen Backsteinbau des neuen Amtshauses vorüber, dann an dem Kriegerdenkmal, einer adlergeschmückten Säule, die man den Helden von 1864, 1866 und 1870/71 in Dankbarkeit gesetzt hat. Bald grüßt uns auch die neue evangelische Kirche, die katholische Kirche wird sichtbar, auf der Höhe ragt der Wasserturm auf, Fabrikschornsteine hier und dort zeugen von emsiger Thätigkeit, der Bahnhof der Ringbahn taucht auf – wir sehen, wir sind in einer betriebsamen Stadt und in keiner kleinen dazu.

Von dem alten Rixdorf sind nur noch wenige Reste übrig geblieben. Wenn man sie aufmerksam sucht, findet man sie am heutigen Richardsplatz. Hierhin ist die Weltstadtkultur noch nicht so recht vorgedrungen. Hier braucht es nicht einmal eine allzu lebendige Einbildungskraft, und man kann sich ganz wohl ein Bild der Vergangenheit zurückrufen. Noch ist der ehemalige Dorfanger mit seinen stattlichen Linden gar wohl zu erkennen. Die Schmiede, die heute noch mitten darauf steht, hat gewiß schon den Dörflern gedient. Die kleine Kirche im Winkel dürfte, wenn auch nicht in dem barocken Schieferturm, so doch wenigstens in ihren massiven Grundmauern sehr alt sein. Hinter dem einstöckigen niedrigen Pfarrhaus ist noch eine große Oekonomie zu bemerken, wie sich denn überhaupt in diesem Teil noch viel Landwirtschaftliches erhalten hat. Wahrhaft alte Gebäude sind aber außer der Kirche nicht mehr zu finden, denn das Dorf wurde in unserm Jahrhundert durch drei verzehrende Feuersbrünste heimgesucht. Das ist um so mehr zu bedauern, als Rixdorfs Anfänge tief, tief in der Vergangenheit wurzeln.

Nach Urnenfunden, die man auf der Feldmark gemacht hat, nimmt man an, daß hier schon in vorgeschichtlicher Zeit eine germanische Ansiedlung gewesen ist. Als dann im Strome der Völkerwanderung die Semnonen westwärts zogen und von Osten her die Slaven nachdrängten, dürften Wenden sich in der verlassenen Stätte eingerichtet haben. Aus den fünf Jahrhunderten, welche die deutsche Kolonisation gebrauchte, um die Ostmarken den Slaven wieder zu entreißen, ist das Jahr 1232 bemerkenswert. Damals kam durch Vertrag zwischen Herzog Borwin I von Pommern und den Markgrafen Joachim I und Otto III Teltow und Barnim und damit auch wohl Rixdorf an Brandenburg. Geschichtlich durchaus sicher und aus Quellen zu belegen ist es zwar nicht, daß der Ort damals schon bestand, aber es ist anzunehmen. Urkundlich kommt er uns zum erstenmal vor am 26. Juni 1360. Dies Datum ist zugleich der Geburtstag des Dorfes, wie der 1. April 1899 der der Stadt ist; denn durch diese älteste Urkunde spricht der Johanniterorden die Umwandlung seines Hofes „Richarsdorp“ in ein Dorf mit 25 Hufen aus. Es bestand also um diese Zeit schon ein größerer Hof, vielleicht auch eine Verbindung von mehreren Höfen, denen damals Dorfgerechtsame verliehen wurden. Die nächste geschichtliche Erwähnung des Dorfes geschieht in dem Landbuche der Mark [247] Brandenburg vom Jahre 1377, das Karl IV anfertigen ließ. Die Zahl der Höfe ist damals zwölf gewesen. Das Dorf gehörte nach wie vor dem Johanniterorden. Andauernde Grenzstreitigkeiten aber veranlaßten diesen, Rixdorf ebenso wie Marienfelde, Mariendorf und Tempelhof an die benachbarten Städte Berlin und Cölln zu verkaufen. Diese erwarben die vier Orte zu gemeinsamem Eigentum laut Kaufkontrakt vom 23. September 1435 und zahlten als Kaufgeld 2439 Schock und 40 Groschen Böhmischen Geldes. Da das Schock ungefähr gleich 90 Mark heutiger Währung ist, so war das für damalige Verhältnisse eine anständige Summe. Der Orden war dafür auch in der Lage, Schloß und Stadt Schwiebus zu erwerben. Bemerkenswert ist der Kaufvertrag von 1435 besonders dadurch, daß hier zum erstenmal eine Rixdorfer Kirche erwähnt wird. 1366 heißt es noch ausdrücklich, daß die Bauern zur Tempelhofer Kirche gehörten. Es ist kein Grund vorhanden, in der noch heute benutzten Kirche im Winkel des Richardsplatzes diese älteste Kirche nicht zu erblicken. Ihrer ganzen Grundform nach entspricht sie durchaus der Bauart der andern alten märkischen Kirchen. 1639 in der Schwedenzeit sind Turm und Dachstuhl abgebrannt und später erneuert worden.

Da Cölln und Berlin sich auf die Dauer über das gemeinsame Gut nicht zu einigen vermochten, ging Rixdorf am 24. August 1543 durch Vergleich in den alleinigen Besitz Cöllns über. Die Geschichte der Mark ist nun weiterhin auch die des Dorfes. Es wurde evangelisch wie das übrige norddeutsche Land, es litt unter den entsetzlichen Beschwerden des Dreißigjährigen Krieges, Kaiserliche wie Schweden suchten es gleicherweise heim. Aber auch Zeiten der Lebenslust kamen wieder. Wenigstens scheint es den Bauern nicht schlecht gegangen zu sein, wenn man den Berichten des Pfarrers von Einem Glauben schenkt, der am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts berichtet: „Das Saufen, Schlagen, Spielen hat fast alle Tage im Schulzengericht gewohnet“ und weiter: „Dieses Jahr habe ich sechs Bauersleute, die sich in Richsdorf beim Spielen und Saufen geschlagen, versöhnt und haben Besserung zugesagt, aber nicht gehalten. Ein Bauer hat selbst in der Kirche Tobackspfeife und Toback hervorgeholt. Er ist aber nichts gestraft worden. – Weil die Bauern in Richsdorf so große Kohlgärten als halbe Hufen Landes haben, so müssen sie’s dem Prediger, ein jeder Bauer und Cossäthe jährlich eine Dracht Kohl geben. Von den ganzen Damstücken geben sie dem Prediger auch Nichts.“ Danach scheinen die damaligen Rixdorfer gerade keine Tugendspiegel gewesen zu sein.

Die Schreibung des Dorfnamens ist in den Urkunden sehr verschieden: Reichsdorf, Richsdorf, Rechsdorf und andere kommen vor. Die etymologische Erklärung ist strittig. Da 1360 Richarsdorp geschrieben wurde, so nehmen die meisten an, es handle sich um ein „Dorf des Richard“, wobei nun freilich zwischen dem deutschen König Richard, Grafen von Cornwallis und Poitou, Richard Löwenherz und Richard dem Heiligen hin und her geraten wird. Auch ein Ordensmeister oder Komtur Richard könnte Pate gewesen sein. Nicolai in seiner Beschreibung Berlins behauptet, der Name ginge auf das alte Berliner Geschlecht der Ryken (Reichen) zurück. Eine Erklärung des Wortes aus dem Slavischen lehnt die neuere Forschung ab.

Höchst bemerkenswert für die Entwicklung des Ortes war das Jahr 1737. Damals siedelte König Friedrich Wilhelm I 18 böhmische Familien, die ihrer Religion wegen aus ihrem Vaterlande vertrieben worden waren und in Berlin kein Unterkommen mehr gefunden hatten, in Rixdorf an. So entstand neben dem alten Richarsdorp, das von nun an Deutsch-Rixdorf hieß, ein Böhmisch-Rixdorf. Dies wurde eine Sammelstelle der Böhmisch-mährischen Brüdergemeinde. Schon 1748 hat es an 300 Einwohner gehabt.

Die Franzosenzeit kam und die Befreiungskriege. Bei Großbeeren fochten Rixdorfer Jungen mit. Die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft hatte auch für Rixdorf ihre Bedeutung. Der Ort wuchs empor. Größer und größer wurde die Zahl der aus Berlin zugezogenen Büdner, denen man schließlich nach langen Kämpfen eine Vertretung in der Gemeinde geben mußte. Auch äußerlich veränderte sich der Ort gründlich. Große Schadenfeuer in den Jahren 1803, 1827 und 1849 waren ein zwingender Grund, fast alles neu zu bauen. Schöne massive Häuser entstanden und mehr und mehr zogen Berliner heraus, die hier billiger wohnten als in der großen Stadt. Schon längst war die Teilung des Ortes in einen deutschen und einen böhmischen Teil nicht mehr zeitgemäß. Die Böhmen widersetzten sich aber einer Vereinigung, weil sie sich von einer solchen keinen Vorteil versprachen. Selbst das 1860 großartig gefeierte fünfhundertjährige Jubiläum schaffte keinen Wandel. Erst als im Jahre 1871 Gemeindevertretungen eingerichtet worden waren, kam man zum gewünschten Ziel. Durch königlichen Erlaß vom 11. Juli 1873 wurde die Vereinigung der beiden Dörfer ausgesprochen.

Nun war der Weg zu neuer, gesegneter Entwicklung eröffnet. Im rechten Augenblick, denn die Zeit des großen Aufschwungs begann. Und glücklich traf es sich, daß die große Zeit den richtigen Mann fand. Der erste Gemeindevorsteher von Rixdorf ist auch sein Reformator und zuguterletzt sein erster Bürgermeister geworden: Hermann Boddin, ein geborener Märker, leitet heute die Stadt, wie er seit 1874 das Dorf geleitet hat. Man hört nur dankbare Anerkennung für das Große, das seine reiche Arbeitskraft für die Stadt geleistet hat. Es war nicht leicht, mit der Entwicklung, die plötzlich ein fieberisch hastiges Tempo annahm, gleichen Schritt zu halten. Schon die erstaunliche Zunahme der Bevölkerung zeigt, welche Schwierigkeiten zu überwinden waren. 1875 zählte der Ort 15 328 Einwohner, 1885 schon 22 785, 1895 jedoch 59 937 und 1899 gar über 80 000. Man fing allmählich an, die Straßen ordnungsgemäß zu pflastern, eine bessere Beleuchtung wurde angelegt. Neue Schulen mußten gebaut werden, ferner eine Gasanstalt und ein Spritzenhaus. 1878 konnte man sich sogar schon eine eigene Gewerbe- und Industrieausstellung gestatten. Die Kanalisieruug des Ortes mittels Rieselwiesen wurde durch Erwerb des Gutes Waßmannsdorf ermöglicht. Eine Pumpstation wurde angelegt, ein Kranken- und ein Armenhaus gebaut.

Heute besitzt Rixdorf 80 ordentliche Straßen, darin 16 Schulhäuser, in denen 175 Lehrkräfte wirken. Im Dienste der Stadt sind bis auf weiteres 180 Verwaltungsbeamte angestellt. Die Stadt besitzt eine eigene Sparkasse und drei Kirchengebäude. Die Post unterhält drei Postämter. Fünf Aerzte sind im Armenpflegewesen angestellt. Es besteht eine Ortskrankenkasse und ein öffentlicher Arbeitsnachweis, ferner eine Fortbildungsschule, eine höhere Knabenschule und zwei höhere Töchterschulen. Auch giebt es eine Volksbibliothek, ein naturhistorisches Schulmuseum und eine freiwillige Sanitätskolonne. Die Presse ist vertreten durch das „Rixdorfer Tageblatt“ und die „Rixdorfer Zeitung“. Das Innungs- und Vereinsleben ist äußerst rege. Es giebt eine Bäcker-, Barbier-, Friseur- und Perückenmacher-, eine Müller-, Schlächter-, Schmiede- und Schlosser-, Tischler- und Weber- und Wirkerinnung. Man zählt 130 Vereine, nämlich 10 religiöse, 5 gemeinnützige, 4 kommunale, 3 politische, 6 gewerbliche Ortsvereine, 3 Turnvereine, 2 Handwerker-, 9 Krieger-, 19 Musik- und Gesang-, sowie 4 Theatervereine. Ferner 17 Sport-, 4 Züchter-, 4 Lotterie-, 8 Vergnügungsvereine, 5 Skat-, 5 Rauch- und Kegel- und 22 verschiedene andere Vereine. Man sieht, die Lebenslust der Rixdorfer Bauern ist im Lande noch nicht ausgestorben. Aber dafür wird auch gearbeitet: 4000 Gewerbebetriebe sind in der Stadt, darunter 1700 zur Gewerbesteuer veranlagte. Jüngst zählte man 72 größere industrielle Etablissements. An Verkehrsverbindungen mit Berlin sind vorhanden die verschiedenen Linien der Straßenbahn, eine Omnibuslinie und der Südring der Stadtbahn, der in Rixdorf zwei Bahnhöfe hat.

Wer mehr von Preußens jüngster Stadt wissen will, findet noch manche interessante Einzelheit in dem empfehlenswerten Buche von Eugen Brode, „Geschichte Rixdorfs“, 1899. Wir sind am Ende unserer Wanderung. Am Rollkrug haben wir das Gebiet des alten Richarsdorp betreten, am Bahnhof verlassen wir es wieder. Wir haben gesehen, wie aus Kindern Leute werden. Aus dem kleinen Johanniterhof ist die stolze Stadt erwachsen. Vielleicht geht der fromme Wunsch der Rixdorfer doch noch in Erfüllung, daß es einmal heißt: „Berlin bei Rixdorf“. Wie singt doch der Sänger des Orts? –

„Uff den Festdag frei ick mir!“




[248]

Die Komödie des Todes.

Eine Dorfgeschichte aus Steiermark von Peter Rosegger.
(Schluß.)
2.

Am nächsten Tage war die ganze Gegend in Aufruhr. Hundert Beine liefen, um die Neuigkeit zu verbreiten, und weil die Leute nicht glauben konnten, so eilten sie herbei, um zu sehen. Der Ferge Meinhardt war erschossen worden. Der Kahn schaukelte, am Strange hängend, mitten im Flusse. Soviel man von den Ufern aus sah, war er leer. Man konnte lange nicht zu ihm, es wurde ein Notfloß gezimmert, doch bei dem hohen Wassergang wagte sich niemand dran. Endlich war der Wehrhauptmann von Ottenstein da, der konnte schwimmen und brachte den Kahn ans Land. Ein blaues Sacktuch lag unter dem Sitzbrett und mehrere angebrannte Streichhölzer. Der Ferge mußte spät abends noch eine nötige Ueberfahrt gehabt haben. Dann war er getroffen ins Wasser gestürzt und davongetragen worden. Mehrere Leute wollten abends zuvor vom Flusse her einen Schuß gehört haben.

Meinhardts Weib, Frau Josefa, eilte ganz verstört am Ufer auf und ab, durch Stauden und Gestrüpp dahin. Manchmal blieb sie stehen und rief den Namen ihres Mannes. Dumpf und fremd klang ihre Stimme – unheimlich. Man wollte sie anhalten und zu beruhigen suchen, sie riß sich los, lief dahin und schrie nach ihrem Manne. Die ganze vorhergehende Nacht hatte sie kein Auge geschlossen. In der ersten Hälfte, wie sie angab, aus Zorn, daß er so lange ausbleibe, in der zweiten aus Angst, daß ihm etwas geschehen sein könnte. Als der Morgenstern kam, sei sie zum Fluß hinabgegangen, und wie sie mitten auf dem Wasser den Kahn gesehen, habe sie’s gleich geahnt. – Die den Schuß gehört, mußten immer wieder davon erzählen, man wollte wissen, es seien zwei oder drei Schüsse gewesen, knapp nacheinander, sie hätten auch den Feuerschein gesehen. Es wäre wahrscheinlich so gewesen: der Meinhardt hätte verspätete Holzleute hinüberzuführen gehabt. Auf der Rückfahrt habe er aus irgend einem Grund Licht gemacht, und bei diesem Scheine sei vom Ufer aus auf ihn angelegt worden. Die wilde, heiße Frage aller war: Wer hat’s gethan? – Frau Josefa wurde endlich von ihren einsamen Streifungen durch die Au zurückgeholt und befragt, ob sie irgend eine Ahnung, einen Verdacht habe. – „Mein Gott, nein! Er hat ja keinen Feind gehabt!“ Aber als sie das letzte Wort sprach, war’s, als zuckte sie leicht zusammen. – Sollte es ein Raubmord gewesen sein? Da trat der Straßenwirt vor. Mit den Ellbogen grub er sich eine Gasse durch den Menschenknäuel, bis mitten hinein. Und als er drinnen war, schwenkte er den Hut und rief: „Aufgepaßt! Ich weiß was! Der Vagabund hat’s gethan, der Klacherl! Der ist gestern spät abends in meinem Haus gewesen. Ganz aufgeregt, eilig hat er’s gehabt. Nichts getrunken, ein Stück Brot, ein Trumm Fleisch und fort damit. Auch Geld hat er gehabt, viel Geld. Der Klacherl hat ihn umgebracht.“

Zur selben Zeit, als in Marienthal dieses Wort fiel, war es auch drüben im Eisenwerk lebendig geworden, und bald durchflog es kreuz und krumm die Gegend, vom Flußufer an bis hinauf zu den Bergspitzen. Landwächter strichen umher und spähten nach den Spuren des Mörders, während im unteren Gelände an den Flußufern nach der Leiche gefahndet wurde.

Hinten im Gebirgsgraben, an der Moosbachwand, war schon am frühen Morgen ein Mann laufend geworden, den es im Rehhüttel nicht länger bleiben ließ. Der Klacherl jedoch lag auf seinem Moosheu bis lange in den Tag hinein. Dann stand er etwas schwerfällig auf, rieb sich mit taufeuchten Kräutern, die unter der schattigen Wand wucherten, Gesicht und Hände, weil Wasser nicht vorhanden war. Er fand, daß dieses Waschen mit wohlriechenden Gewächsen ganz köstlich sei und daß er überhaupt ein beneidenswertes Leben führe. In dieser Wohlstimmung verzehrte er den Rest des gestrigen Abendmahles, dann ging er in die Schlucht hinauf und aß Sauerklee. Der ist gegen den Durst. Und hernach begann er auf den Höhen so herumzustreichen und darüber nachzudenken, ob sein guter Revolver sich nicht auch für Jagdzwecke eignen sollte. Als er nachher über den Schlag ging, wo Holzknechte arbeiteten, hörte er plötzlich rufen: „Da ist er! Festhalten, den Galgenstrick!“

Da auch das Wort Mörder fiel, ahnte der Klacherl, was das bedeutete, und hub an zu laufen. Ueber Stock und Strupp hin, über gefällte Bäume, dort und da mit seinem zerfetzten Rock hängend, sich losreißend, weiter, weiter. Wo er fiel, da nahm er sich nicht Zeit zum Aufstehen, kugelte auf dem Boden weiter, bis er doch wieder an Blöcke stieß, über die gehüpft werden mußte. Hinter ihm drein die Holzknechte, auch nicht ungeschickt im Laufen; immer näher kamen ihm ihre krachenden Sprünge. – Wenn sie dich erwischen, Klacherl, eh’ der andere von den Toten aufersteht, so erschlagen sie dich. Das konnte er sich noch vorhalten, dann – mitten im abgeschlagenen Astwerk – stürzt er wieder zu Boden, tief ins Reisig. Dort blieb er liegen, ganz unbeweglich, und die Verfolger, die ihn aus den Augen verloren hatten, über ihn hin und davon. Erst nach längerer Zeit wagte es der Klacherl, vorsichtig zuerst sein Haupt, allmählich den ganzen Kerl zu erheben. Und als er merkte, die Luft sei rein, huschte er nach der andern Seite in den finsterbewaldeten Graben hinab. – Es ist ein rechtes Hochgefühl, einen Menschen gerettet zu haben, besonders, wenn man dieser Mensch selber ist.

Nach Verabredung galt es, erst am zweitnächsten Tag ins Thal hinaus zu gehen. So mußte er sich jetzt in der Wildnis die Zeit vertreiben. Da gab es jählings eine ganz unerwartete Unterhaltung. Als der Klacherl über den Fußsteig eilen wollte, dessen knorriges Baumwurzelgeflecht treppenartig den Berg anstieg und der in die hinteren Waldeinsamkeiten leitete, nur von Wurzelgräbern, Ameisbeutern und Jägern begangen, sah er zuerst im Heidekraut die „schwarze Butten“ liegen, den Seidenhut. Gleich daneben kauerte über einer Wurzel, wie hingestolpert, der Kohlenschreiber aus dem Eisenwerk. Der Klacherl erkannte ihn sofort und dachte: Wenn es so ist, wie der Ferge meint, so brauch’ ich mich vor diesem Herrn nicht zu fürchten. Der Kohlenschreiber jedoch schien in Nöten zu sein. Er war fast betäubt, wollte sich aufrichten, aber sein Oberkörper fand das Gleichgewicht nicht und sein Haupt baumelte auf die Brust nieder. Sein Gesicht war bleich wie Lehm, an der Stirn hingen Tropfen. In diesen Dingen hatte der Klacherl einen guten Scharfblick: das waren die Nachwehen des Wirtshauses. – Der hat sein Gewissen ersäufen wollen, dachte er, will just einmal versuchen, ob’s schon hin ist.

Der Vagabund setzte sich auf die braunen Baumwurzeln, ganz nahe zum Kohlenschreiber, hing seinen Arm in dessen Ellbogen und sagte sehr teilnehmend: „Ist Ihnen übel, Herr Grassing?“

Zuerst zuckte er ein, der Schreiber, und wollte aufspringen, als er sich in der engsten Nachbarschaft dieses Gesellen sah. Dagegen aber wirkten zwei Gründe, erstens der Schwindel in seinem Kopf, zweitens der Arm im Ellbogen.

„Hol’ dich der –“. Das war alles, was der Schreiber sagte.

„Ich kann Ihnen den Weg ersparen, Herr Grassing,“ sagte der Klacherl freundlich, denn freundlich war der immer. „Sie wollten gewiß zu mir hinauf in die Rehhütte. Das ist ein verdammter Berg; ohne Umstände, Sie können mich gleich jetzt entlohnen. Es ist alles nach Wunsch geschehen.“

Da fuhr der andere wild auf: „Wer sagt das? Wer weiß mir was Schlechtes?“

Aha, dachte der Vagabund, wir sind schon beim Richtigen. Er wollte gleich schärfer anpacken, da bekam der Kohlenschreiber einen Krampfanfall. Er stand ihm bei, trocknete ihm mit zerfasertem Aermling die Stirn, und als es vorüber war, sagte er: „Ich kenn’s, ich kenn’s, das ist ein Giftmischer, dieser Fasselwirt. Den sollt’ man aufhenken. Richtig, weil wir schon davon reden, was ich sagen wollt’: das Doppelte bekomme ich. Sie wissen schon.“

„Weiß von nichts!“ stöhnte der andere, „nichts, hab’ Ihnen nichts geschickt, nichts, nichts!“

„Na, weil Sie sich nur daran erinnern,“ versetzte der Klacherl gemütlich, „ich hab’s ja gewußt, daß man sich verlassen kann auf den Herrn Grassing.“

„Los laß mich, Teufel!“ knirschte der Schreiber und wollte sich entwinden. Der Vagabund hielt ihn krampfig fest, und mit einer ganz andern Stimme, als vorhin, flüsterte er: „Es nützt dir nichts, mein Lieber! Ich weiß, wo du den Revolver her

[249]

Hinterbärenbad in Tirol vor dem Brande.
Nach einer photographischen Aufnahme von Anton Karg in Kufstein.

[250] hast, wo du die Patronen gekauft hast, und deine Schrift kennt man an jedem Strich. Mach’ was du willst, mir kommst nimmer aus. Das Gescheiteste ist, du lohnst mich ab und nachher soll von mir aus kein Mensch was erfahren, mein Ehrenwort drauf!“

„Sein Ehrenwort!“ stöhnte der Schreiber unter einem grellen Auflachen. Dann fuhr er mit unsicherer Hand in seinen Rocksack, zog eine Brieftasche hervor: „Es ist alles, was ich hab’! Es ist gebüßt genug, und jetzt laß mich in Frieden!“

Der Vagabund erfaßte die Brieftasche, riß sich los und lief eiligst davon. Er lief in das Dunkel des Waldes hinein, und dort, wo es am dunkelsten war, im Dickicht, das mit seinem Gezweige ihm die Fetzen noch lockerer riß und das Gesicht zerkratzte, blieb er stehen, öffnete das Ledertäschchen und fand fünfunddreißig Gulden Geld drin.

Es ist alles, was er hat! –

Für den einen der Buße zu wenig, für den andern des Lohnes zu viel – wie? War das dem Klacherl eingefallen?

Nun war’s aber Zeit fürs Mittagsmahl. Die Sonne war schon auf ihr nachmittägiges Feld gerückt, wo sie sich jetzt in eine bleigraue Dunstschicht vergrub. Hohe Herren mahlzeiten spät, und der Klacherl ist jetzt einer. Morgen, wenn der Ferge herfürgegangen ist, kann er im Wirtshaus sitzen, im Extrastübel. Der Meinhardt könnte wohl heut’ schon auferstehen, denn der Zweck ist erreicht. Der Mordanstifter ist entdeckt und über das Ehrenwort wird auch noch hinwegzukommen sein. Nun, jetzt einmal zur Tafel! Dort drüben am baumlosen Bergabhang gab es Heidelbeeren und zum Nachtisch Erdbeeren. Als der Klacherl sich also geatzt hatte, ging er hinab zum Pfränger, wo ein Heuschober stand. Er hob ein Brett aus, kroch hinein und legte sich aufs Heu. „Aah!“ sagte er und streckte sich behaglich aus, „’s ist doch eine prächtige Welt, wenn der Mensch ein gutes Gewissen und einen Sack voll Geld hat!“

Die süße Ruhe wurde unliebsam gestört. Zwei Landwächter mit Büchsen und Säbel waren da, packten den Vagabunden bei den Beinen und zerrten ihn durchs Bretterloch hinaus ins Freie. Der Klacherl versicherte seine Unschuld, da fanden sie bei ihm die Geldtasche und den Revolver. Er beteuerte, den Fergen nicht erschossen zu haben, und wollte zum Beweise dessen ihn lebendig und gesund zum Vorschein bringen, sie sollten ihm nur ein bissel Zeit lassen. Aber die Landwächter waren hart wie Kieselsteine, sie banden ihm die Hände kreuzweis, sie führten ihn zu Thal und dem Wasser entlang bis zur Brücke, die ein paar Kilometer unterhalb der Kahnfurt hinüberleitete nach dem Dorfe Marienthal. Auf der Brücke begegneten ihnen Leute, die lustig ausriefen: „Habt ihr ihn? Gut. Wir haben ihn auch, den Meinhardt. Wir können nur noch nicht dazu, unten bei der Rieselwehr ist er angeschwemmt, mitten im Wasser eingeklemmt zwischen Weidenwurzeln.“

Jetzt wurde dem Klacherl aber wirklich übel! – Wenn der mir das angethan hätt’, der Lump, daß er ins Wasser ’gangen wär’! Weiß der Narr nicht, daß ich dann gehenkt werde? … Mehr konnte der Klacherl nicht denken, er purzelte schon zusammen. Als die Ohnmacht vorüber war, fand er sich auf dem Stroh im Kotter.


3.

Es ist schon gesagt worden, daß in der Morgenfrühe desselben Tages der Ferge Meinhardt die Rehhütte unter der Felswand verlassen hatte. Dann irrte er im Gebirge umher und wußte nicht, was er thun sollte. Die gestrige Absicht, sein Weib glauben zu machen, daß er verunglückt oder ermordet worden wäre, kam ihm jetzt unbegreiflich dumm vor. Wo soll’s denn jetzt hinaus? Wie sollte er sich denn rechtfertigen, über die Nacht ausgeblieben zu sein? Da hatte er auf jeden Fall gerade das Unsinnigste erreicht. Wenn sie ihn liebte, dann litt sie über sein Ausbleiben, wenn sie ihm untreu war, dann freute sie sich desselben.

Als er durch die Schlucht thalwärts ging auf dem ausgetrockneten steinigen Bachbett, das um diese Zeit als Fußweg benutzt wurde, begegnete ihm ein Knabe, der in einem Rückenkorb Mehl und Salz zu den Almhütten hinauftrug. Der rief ihm statt des Grußes zu: „Wißt Ihr’s schon? Den Fergen Meinhardt haben sie erschossen.“

Also doch! Es hatte doch gezündet. Aber die Nachricht hatte ihn selbst so erschreckt, daß seine Knie zu zittern begannen. Sein Weib! Wie wird ihr sein! Kann einer seinem Weib mit Bedacht diesen Schrecken, diesen Schmerz anthun? Kann ein Mensch so schlecht sein? Und der Hund verlangt, daß sie ihn lieben soll? – Eilends nach Hause und vor ihr auf die Knie! –

Als er hinaus ins Thal kam und schon den Fluß sah, mußte er sich hinter einer Fichte verbergen. Der Kahn war freilich jetzt auf dieser Seite herüben, aber Leute standen dabei, beschauten die Stelle, besprachen den Mord und ergingen sich in allerhand Mutmaßungen. Wie konnte der Meinhardt da vortreten? Was konnte er sagen? Seine Erfindungsgabe hatte ihn ganz und gar verlassen, nicht die geringste Ausrede oder Beschönigung fiel ihm ein – er hätte rundweg gestehen müssen: Ihr Leute, es war eine erbärmliche Komödie!

Er zog sich zurück in den Wald und stieg auf eine kleine Felswand, die wie eine Schloßruine über den Bäumen aufragte. Hier ward er nicht gesehen und konnte in die Gegend hinausblicken, die mit dem schönen Flusse, mit ihren Hügeln und Höfen so freundlich dalag. Dort drüben am langen Rain, der sich auf halber Höhe eines Hügels mit Obstbäumen und einzelnen Höfen bestanden hinzog – in Luftlinie kaum zwei Kilometer vom Beschauer entfernt – stand sein kleines Haus. So heimlich und friedsam stand es unter dem Lindenbaum, daß man meinte, es könne nichts drin wohnen als Liebe und Glück. Er strengte sein Auge an, ob er niemand sehe.

Linkerhand in der Niederung lag das Dorf mit dem schlanken Kirchturm. Und auf einmal begann es von diesem Kirchturm her zu klingen. Zarte, getragene Töne, wie ein Saitenspiel in der Luft. Es läuteten alle Glocken, und nun hat es der Ferge erfahren, wie das ist, wenn man sein eigenes Totengeläute hört. – Mein Weib, mein Weib! fortwährend schrie es so in ihm und er hatte mit ihr ein so großes Mitleid, als ob ihr einziger lieber Mensch auf der Welt wirklich gestorben wäre.

Allmählich wurde es Abend. Der Himmel hatte sich matt umzogen, die Luft war schwül zum Ersticken. Als die Dunkelheit eingetreten war, stieg er hinab zum Flusse, band den Kahn los und fuhr hinüber. Zwischen den Erlen stand er eine Weile und lauerte, ob oben auf der Straße niemand ging. Er konnte keinem Menschen begegnen. Was sollte er jetzt bei seinem Hause? Es war doch ganz undenkbar, daß er so in der Nacht plötzlich eintreten konnte. Er wollte nur in ihrer Nähe sein, vielleicht im Kuhstall, oder auf dem Strohboden die Nacht zubringen. Morgen dann –. Nein, er wußte noch nicht, was morgen sein werde.

Am Wiesenrande schlich er hinan. Es war so finster, daß er an die Zaunpfähle stieß. Manchmal glomm ein mattes Wetterleuchten. Und bei einem solchen war’s, als huschte dort am Rain der Kohlenschreiber. Augenblicklich weckte dieses Gesicht – so verschwommen es auch gewesen – in dem Fergen die böse Seele. Er hastete seinem Hause zu, dort wollte er lauern. In der Stube ist Lichtschein. Sie schläft nicht. Auf wen wartet sie, wenn der Gatte tot ist? Außen an der hinteren Wand stand eine Obstpresse. Auf diese sprang er behendig, lautlos wie eine Katze. Jetzt kauerte er beim offenen Fenster, dessen roter Vorhang nur zum Teile zugezogen war, und lugte hinein. – Auf dem Schubschranke stand das kleine messingene Kruzifix, welches sonst nur zu den heiligen Tagen aus dem Kasten genommen wurde. Daneben brannte ein roter Wachsstock, der schon früher einmal beim Tode ihrer Mutter angezündet worden war. Und davor saß die Frau Josefa, stützte das Haupt auf die Hand und war unbeweglich. Vor ihr auf dem Schranke lag ein Bildchen. An ihrem Hochzeitstage hatten sie sich photographieren lassen. Sie klammerte die Finger der beiden Hände aneinander, legte ihre Stirn daran und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen: Es ist nicht möglich, es ist nicht möglich! – In dieser Stellung blieb sie lange und er sah ihr zu. Endlich hub sie an leise zu weinen. Im Vorhause knarrte die Thür, Josefa sprang auf und sagte zweimal laut aber ruhig: „Er ist es!“ Bald darauf trat die alte Magd in die Stube, in ihrer mit der Schürze bedeckten Hand ein Papier haltend. Sie berichtete, daß noch so spät der Gemeindediener da gewesen sei und den Steuerbogen gebracht habe. Dann hätte der Bote auch gesagt, daß er aufgefunden worden wäre.

„Wer ist aufgefunden worden?“ fragte Frau Josefa.

„Nun halt – hat er gesagt, der Diener, unten bei der Rieselwehr – unserer – der Herr –“

[251] So stotterte die Magd, aber Frau Josefa unterbrach sie: „Das ist nicht wahr!“

„Und läßt der Gemeindevorstand fragen – wann das Begräbnis sein soll?“

„Laßt mich in Frieden, es ist ja nicht wahr, es kann doch nicht wahr sein, mein Gott!“ Damit brach sie wieder in Weinen aus. Die Magd zog sich zurück in die Küche, das Weib ging mit gerungenen Händen in der Stube auf und ab und schluchzte und schluchzte.

Der Meinhardt auf dem Preßschragen konnte es kaum mehr aushalten. Er sann nur nach, wie es anzufangen sei, daß der plötzliche Schreck ob seiner Erscheinung ihr nicht schade. Da wurde im Vorhause wieder etwas gehört. Ganz sachte ging die Thür auf und – der Kohlenschreiber war da. Er blieb an der Thür stehen und sah aus wie ein Gespenst, so totenblaß, so unheimlich verstört. „Ihr seid,“ flüsterte er, „an diesem Tag allein!“

„Und will es bleiben,“ gab sie derb zurück.

„Ich komme nur,“ stotterte er, „weil ich mir nimmer zu helfen weiß, nimmer anders. Hab’s ja schon gesagt, Frau Josefa, wie ergeben ich Euch bin ….“

„Und ich hab’ Ihm gesagt, daß Er mich in Ruh’ lassen soll!“

„Gewiß, ich hab’s respektiert. Solang’ er lebt, habt Ihr gesagt, keinen andern. Und das ist die Ursache gewesen ….“

„Sali!“ diesen grellen Schrei stieß das Weib nach der Magd aus.

Die herbeieilende Magd hielt gerade den Besen, mit dem sie zum Abend die Küche zu scheuern pflegte. Diesen riß ihr Frau Josefa aus der Hand und hieb ihn dem Schreiber um den Kopf. Der Geschlagene lief nicht davon, sondern fiel zu Boden. Mit beiden Händen umklammerte er ihren Fuß, wimmerte und stöhnte: „Ihr versteht mich nicht, Frau! Habt doch nur einen Augenblick lang Barmherzigkeit mit dem Elenden! Ich will ja nichts, als daß Ihr ein langes Messer nehmt und mir’s in den Hals steckt! Wißt Ihr’s denn nicht, daß ich schuld bin? Wahnsinnig um Eure Lieb’! Im Rausch einen Brief geschrieben – einen Mörder gedungen! Ich! Ja, ich! Diese Bestie da! Diese da!“ Gleich einem getretenen Hund winselte er es schrill heraus, und wie er vorher ihren Fuß umklammert hatte, so umklammerte er jetzt seinen Hals, um sich zu erwürgen.

In diesem Augenblick schon waren einige Leute da vom Nachbarhaus, die in Verwirrung umherrannten und nicht begriffen, was vorging. Vor der Hausthür stand die Magd und zeterte immer noch mehr Leute zusammen; mehrere kamen von den Häusern im Nachtgewand daher und alle drängten zur niedrigen Stubenthür hinein, wo Frau Josefa ratlos dastand und der Kohlenschreiber sich in wilden Krämpfen auf dem Platz wälzte.

Der rief jetzt flehend aus: „Betet für mich, ihr guten Leut’! Der Teufel ist schon da um mich!“

Sie schauten sich gegenseitig an und sagten untereinander: „Verrückt war er immer, endlich ist der volle Wahnsinn ausgebrochen!“ Der Schreiber aber rief in einem fort, er habe den Fergen umbringen lassen, und plötzlich hub er ein dumpfes Lachen an, stöhnte mit einer Stimme, die der Schreck gebrochen hatte: „Hab’ mir’s ja gedacht! Hab’ mir’s gedacht, daß er sich anmelden wird. Er will mich ja fragen, warum? Alle guten Geister, Meinhardt, frag’ mich doch! Ist’s dann gut, wenn man gehenkt ist? Sag’ mir’s, Meinhardt, ist’s dann gebüßt?“

Als er so schrie und wimmerte, wies er gegen die offene Thür, und als die Leute mit den Augen unwillkürlich dieser Richtung folgten, stöhnten sie auf vor Schreck. Denn was der Wahnsinnige sah, das sahen auch sie. In der halbdunklen Thür stand der Ferge Meinhardt. – Ein klingender Schrei und die Frau Josefa sprang an die Gestalt, die nicht wankte und nicht verschwand.




Am nächsten Morgen war unten bei der Rieselwehr ein großes Halloh! Einen alten Hut hatten sie aus dem Wasser gezogen und ein verknorpeltes Baumgewurzel, das wohl aus den oberen Waldgegenden herabgeschwemmt worden sein mochte. Und das war der tote Ferge gewesen. Der Totengräber beklagte sich sehr, daß er in der vergangenen Nacht ein hartes Tagewerk gethan habe und wer ihn dafür bezahlen würde?

Der Klacherl vergütete es. Der war nach dem Bekanntwerden der Rückkehr Meinhardts sofort freigelassen worden. Er nahm den Totengräber unter den Arm und wollte das Ereignis im Wirtshause feiern. Da kam ein Landwächter und nahm ihn neuerdings mit sich. Das Gericht, sagte der, hätte mit ihm, dem Klacherl, noch eine kleine Angelegenheit zu ordnen. Während der Vagabund unter sicherer Begleitung seinen Weg in die Kreisstadt zu Fuß machte, eine recht verdrießliche Wanderung! fuhr die Straße entlang auch ein Wagen. Darin saßen zwei handfeste Männer, die zwischen sich den Kohlenschreiber hatten. Was Liebestollheit und Wein an dem angerichtet, das sollte nun das Irrenhaus schlichten …

Der Ferge Meinhardt hatte schon in der Nacht seiner Frau Josefa ein umfassendes Bekenntnis abgelegt, worauf sie ihm in heftigem Zorn seine Dummheit und Erbärmlichkeit vorhielt. – Wie wohl that ihm jetzt die Herbheit seiner Frau, sie entzückte ihn. Ihre Untugenden trägt er fürder mit Geduld, denn er weiß, was jeder Ehemann wissen muß, um im Gleichgewichte zu bleiben.




Allerlei moderne Drachen.

Nachdruck verboten. 
Alle Rechte vorbehalten.     

[ Da der Verfasser W. Berdrow erst 1954 verstorben ist, kann der Text hier erst ab 2025 transkribiert werden.]


[252] [ Da der Verfasser erst 1954 verstorben ist, kann der zugehörige Text hier erst ab 2025 transkribiert werden.]

Der Nikelsche Registrierdrache.

Gleitflugdrache von Chanute. 

Doppelflächenflugmaschine von Herring.

W. Berdrow.     

[253]

Bilder aus den „Höhlenlabyrinthen“.

Von E. Wrbata. Mit photographischen Aufnahmen der Höhlen.

Künstliche, von Menschenhand gegrabene Höhlen finden sich in Nieder- und Oberösterreich, Salzburg und auch in Bayern. Es sind dies labyrinthartig angelegte, im „Löß“ sehr schön ausgearbeitete Kammern und Gänge von solch kleinen Dimensionen, daß sich der Leser selbst bei der Ziffernangabe nicht den richtigen Begriff von der Kleinheit dieser Höhlen machen würde. Ueber dieselben veröffentlichte vor einiger Zeit (Jahrg.1898, S. 685) die „Gartenlaube“ den Aufsatz „Dunkle Gebiete der Menschheitsgeschichte. Die Höhlenlabyrinthe in Bayern und Oesterreich“; im Anschluß daran werden den Lesern nachfolgende Mitteilungen willkommen sein.

Fig. 1. Künstliche Höhle in Erdberg in Mähren: Rundellförmige Kammer.

Herr Lambert Karner, Pfarrer in Brunnkirchen in Niederösterreich, beschäftigt sich schon lange Jahre mit der Erforschung solcher Höhlen, bedauerte aber oft, daß er keine völlig naturgetreuen Abbildungen der sehr merkwürdigen und interessanten Kammern und Gänge erhalten konnte.

Fig. 2. Künstliche Höhle in Hohenwarth: Eingang zum Höhlensystem, rechts und links Sitzsockel.

Seine Bemühungen, einen Photographen zu bewegen, mit in die Höhlen zu kriechen, scheiterten, da keiner in die anscheinend gefährlichen „Löcher“ hineinzukriechen wagte. Schließlich wandte sich Karner an die k. k. graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien, um jemand mitzubekommen, der photographische Aufnahmen in den Höhlen anfertigen würde. Von der Direktion dieser Anstalt wurde ich bestimmt, die Arbeit auszuführen. In Begleitung Pfarrer Karners machte ich in 50 verschiedenen Höhlen photographische Aufnahmen, von denen ich einige als Typen nebst den entsprechenden Erläuterungen folgen lasse.

Fig. 3. Künstliche Höhle in Aschbach: Vorkammer mit Einstieg zum Höhlensystem.

Auf beschwerliche und etwas unheimliche Art gelangt man zur Höhle in Aschbach, Niederösterreich. Der Besitzer, welcher seine Höhle selbst nie besucht hat, war schwer zu bewegen, den Brunnen, durch den man hinabsteigen mußte, zu öffnen, da er unser Verlangen, in seine „Lucken“, wie in dieser Gegend die Höhlen genannt werden, hinabzusteigen, für unsinnig hielt. Eine lange Leiter wurde in den Brunnen hinabgelassen, und ich stieg 5 m in die Tiefe, woselbst sich ein Loch als Eingang zur Höhle befindet. Auf allen Vieren kroch ich mit meinem photographischen Apparate durch diesen Engpaß und war nicht wenig erstaunt, als ich mich in einer halbkreisförmigen Kammer (Fig. 3) befand, welche erst den Einstieg zum Höhlensystem bildete. In der Mitte dieser Kammer, die 1,20 m hoch ist, sieht man auf dem Bilde einen kreisrunden senkrechten Schacht von 45 cm im Durchmesser, durch welchen man sich hinablassen muß, um zu den übrigen Kammern zu gelangen. Vom Boden des Schachtes führt ein horizontaler Gang, nach Durchkriechung einer Vorkammer, zu einem senkrechten Schacht, welcher in eine „Beratungskammer“ mündet; dieselbe weist an der Stirnseite als Zierde eine gotisch ausgeschnittene Nische auf. Diese Kammer, 1,60 m hoch, faßt 6 Personen und muß seiner Zeit bis zur halben Höhe der Nische mit Wasser gefüllt gewesen sein, wie aus der dunklen Färbung des Lehmes in dem unteren Teil der Kammerwand hervorgeht.

Eine andere Ansicht (Fig. 4) stammt aus der künstlichen Höhle in Matzendorf, Niederösterreich, ein auf den ersten Anblick originelles und belustigendes Bild, da gleich „Maulwürfen“ die drei Höhlenforscher aus den Gängen herauskriechen. Wir haben eine ganz merkwürdige Anlage vor uns. Der in der Mitte des Bildes (a) sichtbare P. Willibald aus Göttweig will in die 3 Stufen tieferliegende Kammer, 2,25 m hoch, kriechen. Der im unteren Teile des Bildes ersichtliche horizontale Schlurfgang (c), in welchem meine Wenigkeit zu liegen sich erlaubt, führt nach rechts zu in zwei weitere Kammern. Ungefähr in der Mitte dieses Ganges (c) führt nun ein senkrechter Schacht in den horizontalen Schlurfgang (b), aus welchem Pfarrer Karner heraussieht. Zu welchem Zwecke mag diese so komplizierte Anlage gedient haben? Unwillkürlich denkt sich der Besucher dieser Kammer, daß ein etwa durch einen von außen kommenden Feind Verfolgter, der mit der Anlage der Höhle vertraut ist, sich sehr leicht mit Hilfe des senkrechten Schachtes aus dem unteren Gange (c) in den oberen Gang (b) flüchten konnte, während der Verfolger in dem Gange (c), die Oeffnung in der Decke desselben nicht bemerkend, weiterkroch, um alsbald die Wahrnehmung zu machen, daß er in eine Sackgasse geraten sei. Der Verfolgte konnte mittlerweile ganz leicht aus Gang (b) in die Kammer herabspringen und dem aus Gang (c) zurückkehrenden Feind den Garaus machen.

Auch auf die Sicherheit waren die Erbauer dieser Zufluchtslöcher bedacht, was unsere Aufnahme Figur 2 veranschaulicht. Sie zeigt dem Beschauer eine 1,80 m hohe Kammer und am Boden derselben den Eingang zu dem eigentlichen System, rechts und links sieht man je einen sauber ausgeschnittenen Sitzsockel, welcher nur einem Wächter gedient haben konnte.

Daß alle derartigen Höhlen nicht zu Wohnstätten benutzt wurden, erkennt man daraus, daß in keiner Kammer Platz genug vorhanden ist, um einer oder mehreren Personen ein Nachtquartier zu bieten. Beinahe in allen Höhlen finden sich jedoch Kammern mit rechts- und linksseitigen Sitznischen, welche für vier oder höchstens acht Personen ausreichen und augenscheinlich nur zu Versammlungen behufs einer Besprechung gedient haben

[254]

Fig. 4. Künstliche Höhle in Matzendorf.


können. Pfarrer Lampert Karner benannte auch derartige Kammern „Beratungskammern“. Interessant ist der Umstand, daß sich jede dieser Kammern immer am Ende des ganzen Höhlensystemes befindet, und daß der Zugang zu denselben möglichst schwierig und für den unberufenen Besucher verwirrend gestaltet wurde.

Unsere Abbildung Fig. 5 zeigt eine Beratungskammer der künstlichen Höhle in Reichering, Oberösterreich; man sieht sowohl rechts als links einen horizontalen Schlurfgang (1 m lang), deren jeder, wie ich weiter bemerken will, im rechten Winkel umbiegend als senkrechter Schacht (1,50 m lang) aufwärts geht, um wiederum als horizontaler Gang weiterzuführen. In der Mitte der Kammer (erkenntlich durch die davorstehende Kerze) befindet sich nun ein dritter Eingang, welcher, aus einem kreisrunden senkrechten Kamin (1,50 m Durchmesser, 4 m Höhe) kommend, den unbequemsten Eingang zur Beratungskammer bildet, da die Besucher auf Leitern hinabsteigen oder sich mit Seilen hinablassen mußten.

Die meisten der Höhlen sind jetzt mehr oder weniger zerfallen, oftmals mit großen Sprüngen in der Decke, ja in manchen Fällen sperrt ein großer Herabgefallener Erdklotz den Weg ab.

Unstreitig schön zu nennen sind die Höhlen in Erdberg in Mähren. Ich habe nirgends so regelmäßig gearbeitete Gänge und Kammern vorgefunden wie hier. Vom Keller eines Bauern gelangt man zu dem spitzbogenförmigen Eingang, welcher, sich immer mehr verengend, zu dem Höhlensystem in die Tiefe hinunterführt.


Fig. 5. Künstliche Höhle in Reichering: Beratungskammer.


Hat man den etwa 20 m langen Gang durchkochen, so gelangt man zu zwei sich gegenüberliegenden Kammern, deren Anblick für den an schmucklose Kammern und Gänge gewöhnten „Höhlenforscher“ eine Ueberraschung bilden. Die eine der Kammern entpuppte sich als eine kleine rundellförmig angelegte Beratungskammer (Figur 1).

Leider konnte ich, infolge der kurzen Aufstelldistanz, nur die Hälfte dieser Kammer photographieren. Doch glaube ich, daß der Beschauer dieses Bildes ersieht, daß es sich um ein nach oben spitz zusammenlaufendes Rundell handelt, welches im Kreise mit acht ovalförmigen Sitznischen versehen ist, von denen man in der vorliegenden Darstellung nur vier sehen kann.

Der Durchmesser der Kammer beträgt 1,50 m und die Höhe 2,20 m. In den Sitznischen findet ein Mann gerade Platz. Der auffällige, schräg über die Sitznischen laufende Streifen wird durch eine dunklere Färbung des Erdreiches hervorgerufen.

Gegenüber diesem Rundell befindet sich eine besonders schöne und merkwürdige Kammer. Ist man durch den schmalen Eingang in diese Höhle gekrochen, so sieht man eine große Kammer, an der linken Seite durch vier schöne Säulen geziert, welche vollkommen freistehend aus dem hellgelben Lehm herausgearbeitet sind. Diese ganz eigenartige Kammer hatte ursprünglich eine Höhe von 2,70 m, der Boden derselben ist jedoch durch angeschlämmtes Erdreich um etwa einen Meter erhöht.

Pfarrer Lambert Karner meint, daß diese Kammer einem ganz besonderen religiösen Zwecke gedient haben müßte und daß sie deshalb eine so auffallende, von der sonstigen Einfachheit der Höhlen abstechende Ausschmückung erfahren hat. Wenn man bedenkt, daß infolge der engen Beschaffenheit der Eingänge das Erdmaterial in Säcken oder Körben hinausgeschafft werden mußte, so kann man diese „wühlenden“ Menschen geradezu bewundern, welche diese Räume unter solchen Schwierigkeiten geschaffen haben.

Zum Schlüsse will ich noch einiges über die Herstellung der photographischen Aufnahmen bemerken. Ein Stativ konnte in den wenigsten Fällen verwendet werden, da der Raum, wie schon gesagt, immer zu klein und zu eng war, so daß ich oft kaum wußte, wo ich die nötige Entfernung zwischen dem Apparat und dem zu photographierenden Teil der Höhle gewinnen sollte. In den meisten Fällen stellte ich den Apparat auf ein bis zwei mitgebrachte Ziegelsteine oder direkt auf den Erdboden. Doch war dies verhältnismäßig noch einfach, während die Anbringung des lichterzeugenden Magnesiumpulvers sich schwieriger gestaltete. Das Magnesiumpulver, welches, mit übermangansaurem Kali gemischt (Verhältnis 4:5), blitzartig abbrennt, wurde zur gleichmäßigen Erhellung des Raumes neben – hinter – oder über dem Apparate angebracht und mittels Salpeterlunten entzündet.

Bei der Explosion erzeugt das Magnesiumpulver in der kurzen Zeit von 1/30 Sekunde ein grelles weißes Licht, genügend hell, um auf der photographischen Platte ein Bild zu erzeugen. Leider entwickelte das Pulver nach erfolgter Entzündung solch einen dichten weißen Rauch, daß bei den Höhlenaufnahmen das Abholen des Apparates nur wenige Sekunden Zeit in Anspruch nehmen durfte und ich nur durch einen mit Essig getränkten, vor den Mund gehaltenen Schwamm vor Erstickungsgefahr mich bewahren konnte.


[255]

Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Gründungen auf Schlamm und Sand.

Die Aufführung schwerer Bauwerke auch auf dem lockersten, an sich ganz tragunfähigen Boden zu ermöglichen, sind neuerdings einige Verfahren angewandt, bezw. entdeckt worden, die wegen ihrer technischen Eigenart und ihrer allgemeinen Bedeutung auch das Interesse weiterer Kreise beanspruchen dürften. Es giebt Fälle, in denen sich die sonst für treulosen Untergrund üblichen Gründungsverfahren, wie Pfahl- oder Balkenroste, aus örtlichen Ursachen oder wegen ihrer großen Kosten nicht anwenden lassen. So entdeckte man im vorigen Jahre bei den Fundamentarbeiten für eine Donaubrücke bei Ehingen (Württemberg), daß die Ufer an der betreffenden Stelle aus lockerem und wasserhaltigem Kies bestanden, in dem die Aufführung der Brückenwiderlager unmöglich war. Kostspielige künstliche Fundamente auf Holzrosten oder versenkten Betonblöcken durfte man hier nicht ausführen, um den Etat des Bauwerks nicht allzusehr zu überschreiten, und so wurde, mit überraschendem Erfolg, eine ganz neue und sehr einfache Methode der Fundierung erprobt. Eine Zahl von ziemlich engen Röhren wurde mehrere Meter tief in den lockeren Grund hineingetrieben und dann dazu benutzt, eine dünne Cementlösung unter starkem hydraulischen Druck in den Kies zu pressen. Sobald eine gewisse Bodenschicbt völlig mit Cement gesättigt war, zog man die Röhren etwas höher und tränkte die darüber liegende Schicht. So gelang es, allmählich den Boden im ganzen Umkreis der zu errichtenden Pfeiler in eine feste Masse zu verwandeln, da die eingepreßte Cementlösung sich mit dem nassen Kies gut verband und rasch erstarrte. Auf diesen künstlich hergestellten Cementblock konnte man nun das Mauerwerk nach Wegräumung der oberen Schichten wie auf Felsboden aufsetzen.

Ganz anderer Art ist eine neue Fundierungsmethode, die jetzt in Paris gelegentlich der Bauten für die Weltausstellung von 1900 in Anwendung gebracht wird und die, ihren bisherigen Erfolgen nach, für die Gründung auf lockerem Sand oder Schüttboden eine große Zukunft haben dürfte. Sie ist von dem französischen Ingenieur Dulac erfunden und von ihm selbst zuerst beim Bau einer großen Fabrik in Montreux, auf einem äußerst lockeren Schüttboden, in Anwendung gebracht. Sie soll sich für alle jene Fälle eignen, in denen man sonst in trockenem, lockerem Boden zur Gründung auf Pfahlrosten schreitet, und vor der letzteren den Vorzug viel geringerer Kosten haben. Das Prinzip der Dulacschen Gründungsmethode, die der Erfinder als eine „Konsolidirung“ des Erdbodens bezeichnet, ist folgendes: der lockere Boden, nehmen wir an eine Sandschicht oder eine Aufschüttung von Bau- und anderem Schutt, wird zunächst in gewissen Abständen mit tiefen Löchern oder Brunnen von beiläufig 80 cm Durchmesser versehen. Diese Brunnen werden aber nicht gebohrt oder gegraben, sondern lediglich durch die rammende Wirkung eines kegelförmigen Eisenkörpers von 1500 kg Gewicht hervorgerufen, der aus bedeutender Höhe, von einer Rammwinde emporgezogen, stets genau, und zwar mit der Spitze nach unten, auf denselben Punkt niederstürzt. Man kann mit Hilfe dieses Werkzeugs in einer Stunde ein glattwandiges Loch von einigen Metern Tiefe hervorbringen, und da dasselbe nur durch die Verdrängung, nicht durch die Entfernung der Bodenmasse erzeugt ist, so ist schon mit diesem ersten Prozeß eine erhebliche Bodenverdichtung rings um die Löcher verbunden. Jetzt kommt der zweite Arbeitsprozeß. Mit Schutt, Steinbrocken u. dergl. wird das Loch unter Hinzufügung von Cementbrei schichtenweis ausgefüllt und ebenfalls schichtenweis mit Hilfe eines zweiten Rammgewichtes mit breitem Boden festgestampft. Der Druck des 1000 kg schweren, aus bedeutender Höhe herabfallenden Gewichts preßt die Füllung derart zusammen, daß sie noch tief in das zwischen den Brunnen stehen gebliebene Erdreich eindringt und den Boden in ganz außerordentlichem Maße erhärtet und verdichtet. Diese Arbeitsmethode kann sich nun in beliebige Tiefen erstrecken. Für die Zwecke einer gewöhnlichen Gründung genügt es völlig, wenn das Erdreich auf einige Meter befestigt wird, aber man kann es auch bis zu 10, ja 12 m Tiefe in eine so feste, tragfähige Masse verwandeln, daß man selbst die schwerste Gründung, z. B. die von Kirchen, hohen Türmen etc., darauf vornehmen könnte.

Der Urheber dieses neuen Gründungsverfahrens hat dasselbe, wie erwähnt, zuerst bei einem großen Fabrikbau in Montreux erprobt und den so befestigten Boden für eine schwer belastete Fabrik von 3000 qm Flächenerstreckung und mit 12 m hohen Mauern hinreichend tragfähig gefunden. Bei den Pariser Ausstellungsbauten hat man den Boden an einigen Stellen bis auf 3, an anderen bis auf 8 m Tiefe verdichtet und dort eine Tragfähigkeit von 3, hier aber von 20 kg auf den Quadratcentimeter gefunden. Erstere genügt für viele, letztere wohl fast für alle in der Bautechnik vorkommenden Zwecke. B.     




Blütentage in Florenz.

Von Isolde Kurz.


Florenz heißt „die blühende“, und das Stadtwappen ist eine Blume. Nicht umsonst, denn was auch die Kunst für diese einzige Stadt gethan hat, ihr schönster Schmuck bleibt der unvergängliche Blumenkranz, in dem sie das ganze Jahr hindurch prangt. Die florentinischen Gärten hinter ihren hohen von Rosen umrankten Mauern sind kleine Paradiese, in denen es niemals Winter wird. Felder und Wiesen bleiben immer grün, die weißen Margeriten schmücken sie selbst, wenn einmal flüchtig der Schnee fällt, und die Rosenbeete des Viale de’ Colli hören nie zu blühen auf. Darum braucht der Frühling die Natur nicht aus dem Winterschlaf zu wecken, er schmückt sie nur mit neuen, überschwenglichen Gaben. Er hat kein Eis zu brechen, keinen Schnee zu schmelzen, keine Gewitterstürme begleiten ihn – unversehens ist er da, die lauen Lüfte haben ihn gebracht, und niemand weiß genau, wann er gekommen.

In den ersten Februartagen, bei milder Witterung zuweilen noch früher, regt sich schon das junge Leben auf den Feldern. Aus dem gelockerten Erdreich strecken die Anemonen ihre zarten Köpfchen hervor; sie stehen nach ihrer Farbe in Gruppen beisammen, purpurn, violett, blaßrosa, weißlich oder gesprenkelt. Die Veilchen sind auch schon da, und die leuchtenden gelben Narzissen bringen bald einen neuen lebhafteren Farbenton in die Landschaft. Bei den Italienern heißen sie nach ihrer Gestalt „bicchierini“ (Becher), die gefüllten aber „tromboni“ (Trompeten), und in der That könnte man ihr schreiendes Gelb die Blechmusik in diesem Farbenkonzert nennen.

Um diese Zeit bringt jeder Blick ins Grüne eine neue Ueberraschung. Ueber Nacht hat schon ein Mandelbäumchen als erstes unter den Geschwistern sein Hochzeitskleid angelegt, es ist so früh, daß das Auge noch kaum daran zu glauben wagt, aber nur ein paar warme Tage, so sind die anderen seinem Beispiel gefolgt und stehen wie von einem plötzlichen Schneefall überschüttet. Auch die Pfirsichblüte ist aufgegangen und webt zarte rosige Schleier durch die in Licht gebadete Landschaft.

Unmerklich wie ein Dekorationswechsel bei aufgezogenem Vorhang geht jetzt die Verwandlung vor sich: vor die dunkle Cypressenwand schiebt sich eine lichtgrüne Pappelreihe, Lorbeer und Steineiche, Mispel und Magnolie und all die anderen immergrünen Bäume ersetzen ihr düsteres Gewand so ganz allmählich durch neue glänzendere Blätter, zwischen den hellschimmernden Oliven bauen sich immer zahlreicher, immer höher die weißen und rosigen Kuppeln der blühenden Obstbäume auf, die Pinie hängt hellere Fransen um, und das junge Buchen- und Birkenlaub stiehlt sich ganz leise in die Landschaft ein, ohne daß man sagen kann, wann es zuerst ausschlug.

In diesen Tagen geht man wie mit Flügeln; kein Weg scheint weit und kein Hügel steil, denn so warm die Sonne scheint, die Lüfte sind noch frisch und ätherleicht. Draußen in der Campagna findet man Gebüsch und Hecken in Blüte, und die noch aufgerollten Blättchen drängen sich eilig nach. Die Rebe, auf ihr stützendes Ahornbäumchen gelehnt, weint die hellen Freudentropfen, die weithin in der Sonne funkeln. Der Buchfink ist [256] laut, die Amsel, noch ungeschickt, probiert unermüdlich dieselbe Strophe – das Landvolk versichert, sie rufe ganz deutlich: Bella mia, ti vedo, si – si – si! (Schätzel mein, ich seh’ dich, ja – ja – ja!) Auf den Feldern ist alles bunt, der ersten Blumengeneration folgen schon die wilden Tulpen nach, die zwischen dem grünen Weizen wachsen, die großen flammendroten an dicken strotzenden Stielen, die kleinen weiß- und rotgestreiften und die schmiegsamen gelben, die sich an langen schwanken Stengeln wiegen. Ebenso wie die Anemonen und Narzissen lassen sie sich im Glase über eine Woche frisch erhalten. In Massen wachsen die gewöhnlichen Wiesenblumen schon daneben, Erdrauch, Löwenzahn und die liebliche blaue Perlblume. Vor allen anderen aber leuchtet die Schwertlilie im dunkelblauen goldverbrämten Samtgewand, das Wahrzeichen von Florenz, denn sie ist es, deren stilisiertes Abbild die Stadt im Wappen führt.

In früheren Jahren konnte man von dieser Blumenpracht auf den Feldern pflücken, so viel das Herz begehrte. Der Landmann lächelte höchstens über die Sonderlinge, die ihm seine Aecker vom Unkraut säubern halfen. Aber seit der Blumenversand eine so ungeheure Ausdehnung angenommen hat, sind auch die wilden Blumen ein Handelsartikel geworden. Doch mit einem freundlichen Wort und einer kleinen Gabe läßt sich auch jetzt noch das Verbot brechen, wie die Tausende von Spaziergängerinnen beweisen, die jeden Abend mit Sträußen beladen zu den Thoren hereinströmen; die Britin kennt man von weitem an der Größe ihrer Beute und an der Energie, mit der sie Blütenzweige zur Zimmerdekoration heranschleppt, die oft länger sind als die Trägerin selbst – sie muß am Thor dem Fiaker winken, damit sie ihrer Last nicht erliegt.

Dies ist die Zeit, wo sich der große Menschenstrom von Nord nach Süden wälzt, er kommt mit der Gewalt einer Überschwemmung und wächst mit jedem Jahr, seitdem der Frühling in nordischen Landen eine Sage zu werden droht. Zwar ist Florenz nur eine Durchgangsstation; die große Masse schiebt sich nach kurzem Aufenthalt gegen Rom und Neapel weiter. Aber jeder Tag bringt neue Scharen nach, die Straßenadern schwellen, das Wagengerassel kommt Tag und Nacht nicht zur Ruhe, Gasthöfe, Restaurants, Theater, Läden sind überfüllt. Der Eingeborene erwartet von dieser jährlichen Fremdenüberschwemmung denselben Dienst, den der Austritt des Nils den Bewohnern seiner Ufer leistet: sie soll Wohlstand verbreiten, ohne den Fleiß der Hände in Anspruch zu nehmen, und soll in wenig Wochen den Bedarf des ganzen Jahres decken.

Die Natur übernimmt es, die Stadt zum Empfang der Gäste zu schmücken. Thorbogen und Laubgehänge überwölbt sie mit den lichtblauen Blütentrauben der Glycinen wie mit einem zartduftenden Baldachin, zwischen die dunklen Lorbeerwände sät sie eine wildwuchernde Fülle gelber und weißer Schlingröschen aus und bestreut den Boden mit Blütenschnee, der aus den Gärten niederregnet.

Und nicht nur Blumen spendet die Jahreszeit, auch Früchte sind schon da, die Orangenhändler durchziehen mit Karren und Körben die Stadt – ihre goldene Ware ist an allen Straßenecken ausgelegt – auch draußen vor den Thoren und in den umliegenden Ortschaften findet man sie als hochwillkommene Begegnung für den erhitzten durstigen Wanderer.

Noch haben die Blumen allein das Vorrecht, die Stadt zu schmücken, kein leichtes Frühlingskleid, kein heller Hut wagt sich heraus, denn eine unumstößliche Satzung will, daß erst bei den großen Pferderennen im Mai die bunten Stoffe und die Sommerhüte zum Vorschein kommen. Unterdessen mag die Sonne Gluten versenden, die Florentinerin lüftet höchstens den Pelzkragen, und die fremden Touristinnen im diskreten Reiseanzug tragen auch nichts zur Buntheit bei. Die Blumen aber sind überall: auf den Ständen der Blumenhändler und in den Händen der Vorübergehenden, Kinder bieten sie auf Brücken und Plätzen feil, sie leuchten aus den vorüberfahrenden Equipagen, und die breiten Steinbänke, die um die alten historischen Paläste herlaufen, sind durch die Auslagen der Gärtner in wahre Blumenkränze verwandelt, die balsamische Düfte durch die Straßen senden.

Der eigentliche Blumenmarkt ist eine Einrichtung der letzten Jahre und findet nur einmal wöchentlich, am Donnerstag Vormittag, unter den Loggien des Mercato nuovo statt. Was ihn vor den Blumenmärkten anderer Städte auszeichnet, ist die charakteristische Lokalität bei dem wasserspeienden antiken Bronzeeber, dem sogenannten porcellino (Schweinchen), und die überwiegende Menge von Feldblumen, die neben den Blütenreisern und den Gartenblumen verkauft werden. Die Ueberlieferung will, daß viele dieser Blumen, die sonst in Europa nicht wild wachsen, ursprünglich aus Palästina stammen; mit den Schiffsladungen heiliger Erde, welche die reichen Florentiner im Mittelalter für ihre Begräbnisstätten aus Jerusalem bezogen, sollen ihre Keime nach Florenz gekommen sein.

Zur Zeit des Himmelfahrtsfestes tritt noch eine weitere Besonderheit hinzu: die schwarze Grille, die alsdann in winzigen bunten Drahtkäfigen feilgeboten wird. Ein florentinisches Kind läßt sich um diese Zeit schwerlich vom Blumenmarkt heimführen, ohne daß die Mama ihm seinen grillo gekauft hat; man stellt die Tierchen zu Haus oder im Garten auf, wo sie sich hinter dem Gitter bald zu Tode zirpen, wenn nicht eine mitleidige Hand ihnen heimlich die Freiheit giebt. Es ist ein uralter florentinischer Brauch, daß am Himmelfahrtstage, der davon der Grillentag heißt, die jungen Leute zu Grillenfängern werden: frühmorgens zieht das Völkchen in Scharen nach den Cascinen hinaus, um seine Picknicks im Grünen abzuhalten, und der Liebhaber ist verpflichtet, seinem Mädchen eine schwarze, gelbgefleckte Grille von besonders musikalischer Gattung zu verehren – wenn sie zu Hause lustig musiciert, so gilt es für eine gute Vorbedeutung. – Außerhalb der Loggien, unter denen in bunter Pracht die Blumen aufgehäuft sind, drängt sich eine Reihe enger Buden, wo die bekannten Florentiner Strohhüte verkauft werden, auch künstliche Blumen giebt es hier, sowie Spitzen und Bänder und was sonst zum Aufputz eines Hutes gehört.

Blumen ganz anderer Art sind es, die drüben auf dem Trottoir unter der Häuserreihe verhandelt werden. Dort stehen die Tische der öffentlichen Schreiber, von denen Bauern, Dienstmädchen, Soldaten, und wer sonst im Alphabet nicht bewandert ist, sich ihre Korrespondenz besorgen lassen. Wie das Leben der Südländer sich überhaupt im Freien abspielt, so hat das Völkchen auch kein Arg dabei, seine Briefe vor der Oeffentlichkeit zu diktieren. Doch kann man die Abfassung ebensogut der Phantasie des Schreibers überlassen, der über einen blütenreichen, hochgeschwungenen Stil verfügt und, besonders wenn es sich um Liebessachen handelt, die Blumen der Rhetorik nicht sparsam einflicht.

Die letzten Jahre haben neben den großen Blumenausstellungen den Blumenkorso früherer Zeiten wieder eingeführt, bei dem die am schönsten geschmückten Wagen durch Preise ausgezeichnet werden. Es versteht sich, daß man mit Geschmack und Phantasie sehr Schönes leisten kann. Einen wundervollen Anblick gewährte z. B. ein mit tiefroten Rosen wie mit einem Teppich dicht belegter Landauer: die Speichen der Räder, die Pferde, alles war mit Rosen bekränzt und das Lederzeug so mit Blumen umwunden, daß es aussah, als wären die Tiere mit Guirlanden gezäumt und angeschirrt. Ein leichter Korbwagen, dessen Form unter einer abstehenden Umhüllung von Maiblümchen ganz verborgen war, nahm sich gleichfalls reizend und feeenhaft aus; die Insassen schienen in einem Korbe voll Maiblumen hinzugleiten, und wenn ein Flor junger Gesichter und duftiger Toiletten das Innere eines solchen Wagens schmückt, so ist das Bild vollkommen. Nur wird das Schauspiel durch die ungeheure Menschenmenge in den verhältnismäßig engen Straßen wesentlich beeinträchtigt. Dem Blumenkorso der Equipagen schließt sich als allerneuste Neuerung zuweilen auch noch ein solcher für Radfahrer an.

Mehr noch als der frühe Blumenflor und das blendende Licht, das am Tage über der Landschaft liegt, muß den nordischen Reisenden die blaue Tiefe der nächtlichen Himmelskuppel mit ihrem übermächtigen Sternenglanz in Staunen setzen. Der Deutsche hat selten Gelegenheit, sich am Himmel orientieren zu lernen, denn im Winter, wo die Luft klar ist und die hellsten Sternbilder über dem Horizont stehen, ist die Kälte der Beobachtung hinderlich, und die schwächeren Sommergestirne haben im Norden häufig gar nicht die Kraft, die dunstige Atmosphäre zu durchdringen. Und doch sollte heute noch ein jeder von uns

[257]

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Balzender Auerhahn.
Nach dem Gemälde von O. Recknagel.

[258] so gut wie unsere Vorfahren imstande sein, ohne Taschenuhr und Kompaß sich nach dem himmlischen Zifferblatt in Zeit und Raum zurechtzufinden.

Wer von seiner italienischen Reise einen Lebensgewinn nach Hause bringen will, der für manchen wertvoller sein dürfte als das gewissenhafte Abgrasen der Galerien und Kirchen, der versäume nicht, wenigstens eine kleine Sternkarte mit sich zu führen und stelle sich damit des Abends auf eine Terrasse oder Anhöhe, etwa auf den Piazzale Michelangelo. In diesen ersten Frühjahrsmonaten ist eine hocherlauchte Gesellschaft am Himmel beisammen. Hoch im Zenit leuchten die Zwillinge, die den Frühlingsreigen anführen, westlich und schon etwas vornüber geneigt steht die Riesengestalt des Orion mit dem funkelnden Gürtel, vor ihm her wandern die Gruppen der Plejaden und Hyaden, ihm nach der strahlende Sirius, „der herrlichste von allen“, und ganz tief unten am östlichen Horizonte steigt Arkturus mit der Schar der Sommergestirne herauf.

Wer so glücklich ist, sich einigen Kindersinn bewahrt zu haben, dem wird es auch Freude machen, den Bildern, nach denen eine naivere Menschheit die Sterngruppen benannt hat, mit der Phantasie nachzugehen; nur darf er dabei keinen Anspruch auf korrekte Zeichnung erheben.

Hat man einmal diese Beobachtungen eine gewisse Zeit lang jeden Abend zur gleichen Stunde wiederholt, so wird man bald nicht nur die verschiedenen Konstellationen unterscheiden, sondern auch an ihrem jeweiligen Stand die Stunde bestimmen lernen. Die in Italien gefundenen Sternbilder wird man alsdann auch an dem trüberen deutschen Himmel immer wieder erkennen. Allmählich werden sie zu Freunden, man freut sich bei einsamen Feldspaziergängen, wenn die bekannten Gestalten uns begleiten, man weiß die Jahreszeit und die Stunde ihres Erscheinens voraus und wartet auf ihre Wiederkehr wie auf die alter Freunde. Für Menschen, die dauernd auf dem Lande leben, und gar für solche, die von Natur einsam sind, können sie eine unschätzbare Gesellschaft sein.

Doch nicht die glühenden Himmelsaugen allein geben der südlichen Nacht einen so eigentümlichen Zauber, sie hat auch eine Stimme, die sie als beseelt erscheinen läßt. Ein heimliches Singen und Tönen zieht über die Felder und steigt aus den Gärten empor: es ist das Summen und Zirpen von Millionen Insekten mit dem fernen Quaken der Frosche, was sich zu einem langgezogenen, seltsam elementaren Laut vereinigt, der etwas unendlich Friedvolles und Beruhigendes hat. Durch keine wohlthuendere Musik kann man in Schlaf gesungen werden als durch diese. Das Kiuh, eine ganz kleine, nur im Süden heimische Eulenart, läßt seinen melodischen Klageruf ertönen, der sich in kurzen, immer gleichen Pausen wiederholt, feierlich, gesetzmäßig, unabweislich wie die Notwendigkeit. Erst gegen Morgen verstummt er, kurz bevor die Tagesvögel durch ein rasches helles Zwitschersignal den Sonnenaufgang ankündigen.

Der Reisende glaubt die Umgegend von Florenz zu kennen, wenn er in solchen Blütentagen bis Fiesole oder nach der Certosa gefahren ist, aber in Wahrheit geben diese Eindrücke von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Florentiner Landschaft gar keinen Begriff. Schon in nächster Nähe dieser viel begangenen Wege thun sich Gegenden von völlig anderem Charakter auf.

Seitlich von Fiesole verwandelt sich der Zaubergarten in eine steinige Wildnis, wo nur verkrüppelte Cypressen und würzige Myrten sprossen, dort liegen die märchenhaften Steinbrüche des Monte Ceceri. Südlich von der Certosa, an den steilen Ufern der Greve, findet man wiederum eine von ihrer Umgebung völlig verschiedene Welt. Die hochgeschwungene Brücke, die über das Wasser führt, heißt Ponte agli scopeti, von scopa, Heidekraut, denn auf weiten Strecken steht am Ufer die mannshohe Heide, die sich zur Blütezeit mit einer Unzahl winziger weißer Glöckchen bedeckt. Neben ihr blüht der Ginster, der Pfriemenstrauch und andere gelbe Papilionaceen, die berauschende Düfte spenden. Selbst im Winter kommt man von dort nicht mit leeren Händen nach Hause, denn alsdann blüht die zarte lichtgrüne Weihnachtsrose, die unser Mörike besungen hat, dort zu Tausenden an den schattigen Abhängen.

Im April oder Mai sollte man den Monte Morello, den höchsten Berg in der Nähe der Stadt, besteigen, dann sind seine rötlichen sonnbeschienenen Halden – für den Rest des Jahres nur eine Steinwüste – in einen lachenden Rosengarten verwandelt.

Dagegen ist der östlich von der Stadt gelegene Monte Incontro auf seinem Nordabhang bis zur Spitze vollkommen lichtblau gefärbt durch die Kultur der blauen Schwertlilie (Iris florentina), die den schattenlosen dürren Boden viele Meilen weit bedeckt. Sie liefert das weltberühmte Veilchenpulver, das aus der Iriswurzel gewonnen wird und von der Apotheke von Santa Maria Novella aus als edelstes Wäscheparfüm über die ganze Erde wandert.

Die königlichen Schlösser Castello, Petraja, die alte Mediceervilla Poggio a Cajano muß man gleichfalls während der Rosenzeit besuchen. Mauern, Lauben, Dachvorsprünge sind dann von roten, weißen und gelben Rosen förmlich überschüttet. Auch die Gärten in und vor der Stadt, besonders die wunderbaren Anlagen des Boboli und des Bobolino, sind um diese Zeit ein Märchen. Die Citronen- und Orangenbäume brauchen die ganze Kraft ihrer starken Arme, um ihre goldene Last zu tragen, und daneben dauert die Blüte fort. Die gelbe Mispel reift, die labendste unter den Früchten des Frühjahrs. Bei den wilden Rosen stehen die Knospen in dicken Büscheln und sind nicht zu zählen, aber auch die edelsten Sorten wie Marschall Niel- und Dijonrosen kommen in besonders günstigen Rosenjahren so massenhaft, daß sie sich Raum und Licht streitig machen.

Dies ist der Frühling, wie ihn Botticelli in seiner „Primavera“[2] gemalt hat, und man muß solche florentinischen Blüten- und Zaubernächte erlebt haben, um die Märchenstimmung des wunderbaren Bildes ganz zu begreifen.

Der Zauber hat jetzt seinen Gipfel erreicht; neue Blumengeschlechter verdrängen die dahinsinkenden, und mit ihnen entwickelt sich auf dem unveränderlichen Hintergrund eine völlig neue Farbenskala. Zwischen dem reifenden Getreide bei Mohn und Kornblumen steht in Massen die hohe rote Gladiole, Adonisröschen glänzen wie kleine Blutstropfen hindurch, der wundersame schwellende Purpurklee macht den Eindruck, als seien brennend rote Plüschteppiche über die Felder hingebreitet. Der Kapernstrauch entfaltet seine Wunderblüte, an Spalieren rankt die „gaggia“, eine Mimosenart, deren kugelige gelbe Blüte der Florentiner Stutzer im Knopfloch trägt. Die verbreitetste Blume der Jahreszeit, die wilde Calla, steht überall an Mauern und Schutthaufen.

Der Frühling ist in dieser letzten Phase göttlich schön, aber erquickend ist er nicht mehr. Aus den Gärten strömt ein sinnverwirrender Wohlgeruch durch die weichliche Abendluft, gemischt aus Jasmin und Lilien, aus Linden- und Orangenblüten; von den Wiesen duftet das gemähte sonndurchtränkte Heu und die zarte aber berauschende Rebenblüte, die schon die Gewalt des künftigen Weines ahnen läßt. Die Leuchtkäfer führen ihren Fackeltanz in den Lüften auf, die Nachtigallen flöten und schmettern mit einer Inbrunst, als müßten sie ihre Seele in Tönen verhauchen. Nachtschwärmer durchziehen mit Gesang und Mandolinenbegleitung die Straßen; die Luft ist schwül und beklemmend.

Wer jetzt bei Einbruch der Dunkelheit über die Hügel geht, der sieht die Frühlingsgestirne im Untergang, Orion ist schon verschwunden – er wird erst im Spätsommer zu früher Morgenstunde am östlichen Himmel wieder sichtbar – die Zwillinge sinken ihm nach, während sommerliche Sternbilder den Zenit ersteigen.

Immer wilder, immer leidenschaftlicher wird das Blühen, der Rosenbusch kann sich nicht genug thun, der Oleander steht wie in Flammen, der Granatbaum schmückt sich mit korallenroten Rosen, die Magnolienblüte bricht auf und versendet einen Wohlgeruch, der Schwindel erregt. Alles, was an Lebenstrieben übrig ist, will sich schnell noch austoben, denn das Ende der ganzen Herrlichkeit ist nahe.

Eines Morgens ganz früh, wenn kaum die Vögel wach sind, ertönt ein schriller Laut in der Campagna, der in einen andauernden Lärm wie das Rasseln einer blechernen Kinderklapper übergeht – es ist die Cikade mit den durchsichtigen Flügeln, und ihre Stimme giebt das Signal, daß die Herrschaft des Sommers begonnen hat.

[259] Jetzt verlischt mit einem Male die Farbenglut, die Blumen sind ganz rasch verschwunden, das Grün verschmachtet unter dem immer stärkeren Gluthauch. Die Wege werden blendend weiß, eine Staubschicht legt sich über die Bäume; die Frühlingsstimmen verstummen, und die große glühende, farblose Stille des Hochsommers beginnt, wo nur die Cikade fort und fort bis zur Betäubung schrillt. Der große Strom der Touristen ist längst über die Alpen zurückgeflutet, jetzt fliehen erschreckt auch die letzten Nachzügler, und die Einheimischen geben sich der elementaren Gewalt der Hitze hin, wo der Geist die Arbeit einstellt und der Mensch sich bescheidet, als ein Stück Natur mit Busch und Wiese weiterzuvegetieren.


Blätter und Blüten.



Klaus Groth in seinem Arbeitszimmer. (Zu dem Bilde S. 237.) Das hohe Alter von 80 Jahren erreicht am 24. April der holsteinsche Dichter Klaus Groth, der Sänger des „Quickborn“, dieser vortrefflichen plattdeutschen Gedichte, welche aus der Volksseele herausgeschaffen scheinen. Die stille Werkstatt des liebenswürdigen Dichters in Kiel hat schon gar manches Mal der grüne Lorbeer geschmückt, auch der Berliner Schillerpreis ist dort eingekehrt. Das Bild von Ismael Gentz zeigt uns den Dichter, wie er, mit der Feder in der Hand, den Eingebungen seiner Muse folgt. Wie traulich ist die Idylle, die den Hochbetagten umgiebt! Die Thür ist geöffnet, die aus seinem Arbeitszimmer in den Garten führt: der Hauch und Duft des Sommers weht herein an den Arbeitstisch, wo wir den Dichter in seiner schöpferischen Thätigkeit erblicken. Eine Blumenvase steht auf dem Tische, auch die Kaffeekanne und Kaffeetasse – hat doch schon mancher Dichter und darunter einer der größten, Friedrich Schiller, mit dem aromatischen Mokkatrank seine Begeisterung belebt! Doch Schiller that dies, wenn er des Nachts dem Schlaf trotzte, Klaus Groth liebt die Arbeit beim Licht des Tages. Da draußen wandeln ja die Gestalten, denen er gleichsam ins Herz gesehen, die Männer des Volkes, denen er ihre Sprache abgelauscht hat. Dichtes Blättergerank umgiebt die Wand des Gartenhauses. Wer so den Greis bei seiner Arbeit sieht, mit den sinnigen liebenswürdigen Zügen, der wird ihm wünschen, daß noch manche Jahre der Sommer in seine stille Musenwerkstatt hineinblicken möge. †     

Die letzte Zuflucht. (Zu dem Bilde S. 232 und 233.) Ein Hochwasser ist über die Niederung gekommen, wie man es seit Menschengedenken nicht erlebt hat. Von Stunde zu Stunde wächst die Flut, das Wasser frißt das Land, Felder und Wiesen verschwinden und immer breiter, endloser wird der flimmernde Wasserspiegel, aus dem Hügel wie Inseln emportauchen und dessen Rahmen dunkle Wälder bilden. Die reißenden Wogen tragen Hab’ und Gut der Menschen fort, Haustrümmer und entwurzelte Bäume sieht man um die Wette treiben; wimmernd klagen die Sturmglocken von den Kirchtürmen der Dörfer, und die Not steigt aufs höchste, da nun die schützenden Dämme reißen und das feindliche Element mit furchtbarer Gewalt sich über die tiefer gelegenen Wiesen und Felder ergießt. Da winken nur noch wenige Hügel, die über die Flut emporragen, als einzige Rettung den bedrängten Menschen und Tieren. Unser Bild zeigt uns eine Koppel Pferde, die aus den Gründen, in denen sie weidete, auf die Reste eines Dammes sich noch retten konnte. Trefflich hat der Maler die Bestürzung und dumpfe Ergebenheit der von Todesgefahr bedrohten Rosse wiedergegeben. Hoffentlich hat die Katastrophe ihren Höhepunkt erreicht, so daß die hart Bedrängten mit dem Leben aus der Wassersnot davonkommen.

Ein Gericht bei den Helvetiern. (Zu dem Bilde S. 241.) Daß „Helvetia“ der offizielle lateinische Name der Schweiz ist, weiß man allgemein aus ihren Münzen und Postmarken. Es wäre aber ein Irrtum. die Namen Helvetier und Schweizer für gleichbedeutend zu halten. Jeder, der ein Gymnasium besucht hat, erinnert sich aus den Denkwürdigkeiten des Julius Cäsar über den gallischen Krieg, daß die alten Helvetier ein keltisches oder gallisches Volk waren, das nach der Versicherung des schriftstellernden Feldherrn alle übrigen Gallier an Tapferkeit übertraf, mit den Germanen beständig Krieg führte und den kühnen Plan faßte, die Oberherrschaft über ganz Gallien zu gewinnen. Die Helvetier bewohnten nur einen, freilich den größten Teil der heutigen Schweiz, nämlich denjenigen zwischen den Alpen und dem Jura und zwischen dem Genfer- und Bodensee. Sie teilten sich in vier Gaue oder Stämme, die in republikanischer Verfassung ohne Oberhaupt lebten, aber unter großem Einfluß eines Adels standen, der auf den Volksversammlungen den Ausschlag gab. Die Helvetier waren sehr eifersüchtig auf ihre Freiheit; sie wohnten in 12 Städten und ungefähr 400 Dörfern; ihre Hauptstadt war Aventicum (jetzt Avenches, deutsch Wiflisburg im Kanton Waadt). Ungebildet waren sie nicht, da sie, wie Cäsar bezeugt, sich griechischer Schrift bedienten, die sie wohl auf dem Handelswege des Rhodan (Rhone) aus der hellenischen Kolonie Massilia (Marseille) erhalten hatten, und Münzen, sogar Goldmünzen prägten.

Auch ihre Kunstfertigkeit war nicht gering, wie zahlreiche Waffen und Schmuckgegenstände aus Gräbern und verlassenen Wohnstätten beweisen (wahrscheinlich waren schon die vielen Pfahlbauten der Schweizerseen von Helvetiern bewohnt). Wie alle Kelten hatten auch sie ihre Druiden, eine festgefügte Priesterkaste, deren Glieder auch die Heilkunde übten, Schulen hielten und den Gerichten vorsaßen. Von ihrer Rechtspflege wissen wir nichts Bestimmtes. Unser Künstler dürfte indessen ziemlich richtig geraten haben, indem er einen ehrwürdigen Druiden in langem weißen Bart, neben ihm rechts einen Krieger und links wohl einen Bauer unter freiem Himmel zu Gericht sitzen läßt, vor dem die Parteien ihre Sache verfechten. Es scheint, daß die Leute in großen Eifer gekommen sind und sich sogar anschicken, mit Speer, Schwert und Steinwürfen aufeinander loszugehen. Das stimmt auch mit dem Charakter der Helvetier. Sie waren mehr Krieger als friedliche Ansiedler. Die Helvetier sind erst von den Römern und dann von den im 5. Jahrhundert in ihr Land eindringenden Alemannen und Burgundern aufgesogen worden. Jetzt hat die Schweiz keine keltischen Elemente mehr, sondern ist zu zwei Dritteln deutsch und zu einem Drittel romanisch. O. H. a. R.     

Kamelgespann am Pflug in Algerien.
Nach einer Zeichnung von R. Mahn.

Kamelgespann am Pflug in Algerien. (Mit Abbildung.) Das „Schiff der Wüste“ eignet sich weniger als Zugtier. Auf seinem Rücken trägt es in der Regel die Waren, welche afrikanische Händler quer über die Sahara zwischen den verschiedenen Völkern des Dunklen Weltteils austauschen. Der „Renner“ muß sich aber auch gefallen lassen, daß er vor einen Karren oder den Pflug gespannt wird. Mit Kamelen pflügt man in einigen Gegenden Nordafrikas. Das auf unserm Bilde dargestellte Gespann ist besonders originell durch die eigenartige Bauart des Joches, an welchem die Kamele den altertümlichen Pflug ziehen.

Sonntagnachmittag im Dekansgarten. (Zu dem Bilde S. 245.) Das ist ein Fest für die Frau Dekan: der erste Sonntagnachmittag im Frühjahr, der die ganze Familie wieder draußen im Garten um den Kaffeetisch versammelt sieht! Drinnen im alten stattlichen Pfarrhaus sind ja die Wohnräume groß genug, um der ganzen Familie, wenn am Sonntag Kinder und Enkel am festlichen Tische sich vereinen, recht gemütlichen Aufenthalt zu gewähren. Wie ganz anders aber kann sich das Familienleben in dem herrlichen Garten entfalten! Wie behaglich sitzt es sich im Duft des blühenden Flieders, in der natürlichen Wärme des Sonnenscheins, während die erwachsenen Töchter mit ihren jungen wackeren Männern sich aufs neue in den schattigen Laubgängen ergehen, in denen sie sich verlobten, und die kleinen Enkelkinder jubelnd herumspringen, daß die Augen leuchten und die Wangen in frischer Röte prangen! Und wie um Jahre verjüngt, nimmt der Herr Dekan an dem Treiben der Jugend teil. Er hat immer darauf gehalten, daß von seinen Kindern solche Spiele gepflegt werden, die alt und jung das gleiche Vergnügen bereiten. Seine vielberufene Meisterschaft im Wurfkegelspiel hat er gleich heute wieder in den ersten Partien bewährt. Nun aber ist der Herr Amtsbruder aus der nächsten Kreisstadt mit seiner Gattin zu Besuch gekommen. Der kinderlose alte Herr hat sonst wenig Gelegenheit, sich in solchen Dingen zu üben. Die frische Lust der anderen wirkt aber ansteckend auf ihn. Wohl erinnert er sich, daß er schon bei früheren Besuchen vergeblich versucht hat, sich als Kegler hervorzuthun, er mißtraut auch dem „Baumelschub“, denn die Kugel nimmt aus seiner Hand immer einen ganz anderen Lauf, als es seiner Absicht entspricht – aber warum soll es nicht in diesem wunderwirkenden Lenz einmal über ihn kommen? Die Frühlingsluft macht ihn unternehmungslustig und thatenkühn. Aber nicht ohne Bedenken [260] sieht der erfahrene Herr Dekan, daß auch diesmal der liebe alte Herr Collega auf dem Kegelbrett keinen Ruhm ernten wird. Eifrig unterweist er ihn in den Feinheiten der Kunst: wie man gehörig nach links werfen muß, wenn die Kugel beim Rücklauf die vorderen Eckkegel rechts treffen soll. Der alte Herr wird sicher sein Bestes thun. Sollte er aber dennoch nichts treffen, so wird ihn das wenig verstimmen. Vergnügt wird er später den Heimweg antreten, vergnügt und erfrischt – ist er doch wieder einmal jung mit der Jugend gewesen!

Der Kaiserturm auf dem Karlsberg im Grunewald bei Berlin. (Mit Abbildung.) Um das Andenken Kaiser Wilhelms I zu ehren, hat der Kreis Teltow im Jahre 1896 beschlossen, auf dem Karlsberge im Grunewald ein Ehrenmal in Gestalt eines Aussichtsturmes zu setzen. Für den Bau wurde einer der landschaftlich schönsten Punkte der Umgebung Berlins gewählt. Wo die Hügel des Grunewalds in ihrer höchsten Erhebung an die Havel herantreten, erhebt sich nunmehr der Turm, auf einer künstlich geschaffenen Plattform. Von dieser Stelle schweift der Blick frei über den Fluß und seine Seen bis nach Potsdam und Spandau und weit in die Mark hinein. Der Turm wurde nach dem Entwurf des Baurats Franz Schwechten in Berlin errichtet. Von der Landstraße zwischen Schildhorn und Wannsee führt zu seiner Plattform eine mehrarmige 4 m hohe Freitreppe. Die Plattform ist aus rötlichem Rochlitzer Porphyrsandstein hergestellt und enthält im Innern eine Anzahl Räumlichkeiten; ihre Ecken sind mit Pylonen geschmückt, welche Flammenbecken tragen. Der Aussichtsturm selbst ist in märkischem Backstein ausgeführt. Sein unterer Teil, der durch einen 8 m über der Plattform gelegenen Umgang abgeschlossen wird, birgt in seinem Inneren eine Gedenkhalle, in welcher ein Standbild Kaiser Wilhelms I aufgestellt werden soll. Auf einer im Inneren des sich verjüngenden Turmes befindlichen Eisentreppe gelangt man zu der Hauptaussicht, die sich 36 m über dem Erdboden erhebt. Ueber derselben wölbt sich der massive Helm. Zwei Wappen, von denen das eine den roten brandenburgischen, das andere den schwarzen preußischen Adler zeigt, schmücken die Mauern des Turmes; darunter sind die Inschriften angebracht: „Der Kreis Teltow baute mich 1897“ und „König Wilhelm I zum Gedächtnis“. Die Einweihung des Bauwerks soll nach Vollendung der gärtnerischen Anlagen Anfang Juni dieses Jahres stattfinden. *     

Der Kaiserturm auf dem Karlsberg im Grunewald bei Berlin.
Nach einer Aufnahme von W. Titzenthaler in Berlin.

Hinterbärenbad in Tirol. (Zu dem Bilde S. 249.) Das bei Kufstein an der bayrisch-tirolischen Grenze in einer Ausdehnung von etwa 20 km Länge und 14 km Breite gegen Osten ziehende Kaisergebirge bildet seit Jahrzehnten schon eines der meistbesuchten, der beliebtesten Touristengebiete in den Tiroler Alpen. Der ganze, ringsum von Thalniederungen begrenzte Kalkgebirgsstock ist in zwei Hauptgruppen geteilt, von welchen die nördliche, der „Hinterkaiser“, in der 1999 m hohen Pyramidenspitze ihren Kulminationspunkt findet, während im südlich gelegenen, bedeutend ausgedehnteren Kamme, dem „Vorderen“ oder „Wilden Kaiser“, die 2344 m hohe Elmauer Haltspitze die höchste Erhebung bildet. Mittendurch zwischen den beiden, in mancherlei wild zerrissenen Spitzen und Zacken auslaufenden Hochgebirgskämmen zieht von Westen her als tiefer Einschnitt das Kaiserthal zum 1605 m hochgelegenen Stripsenjoch, das allein die Verbindung zwischen dem nördlichen und dem südlichen Gebirgszuge aufrecht erhält, da von Osten her das Kaiserbachthal die beiden Berggruppen gleichfalls scharf auseinander hält. Im innersten Kaiserthale liegt, nahe dem vielbegangenen Stripsenjoch, 831 m über dem Meere Hinterbärenbad, bekannt als Haupttouristenstation für das ganze nördliche und südliche Kaisergebirge. Dort hat der Deutsche und Oesterreichische Alpenverein (Sektion „Kufstein“) eines seiner schönsten und geräumigsten Unterkunftshäuser erbaut, das in Betten und Matratzenlagern ungefähr hundert Touristen gleichzeitig eine vortreffliche Herberge bieten konnte. Gute Verpflegung, Badegelegenheit, ja sogar Telephonverbindung mit der etwa 3½ Stunden entfernten Stadt Kufstein erhöhten die Annehmlichkeiten des Aufenthaltes in dem stattlichen Holzgebäude. Dazu besitzt Hinterbärenbad eine herrliche Umgebung; ringsum grüßt die Pracht der stolzesten Felszinnen nieder, der gewaltige Absturz der auf unserem Bilde rechts aufragenden „Kleinen Haltspitze“ und das eigenartige Zackengebilde des „Totensessels“ vereinigen sich mit dem mächtig drohenden Riesenturme des links auf dem Bilde ersichtlichen „Totenkirchl“ und der „Hinteren Karlspitze“ zu einem Hochalpengemälde von überwältigender, unvergeßlicher Schönheit. Ein schmuckes Kirchlein am Wege, Waldesgrün und der lustig thalwärts fließende Bach ergänzen das wildschöne Landschaftsbild.

Leider ist am 25. Februar d. J. nachmittags das schöne Unterkunftshaus infolge Schadhaftigkeit eines Rauchfanges[WS 1] vollkommen und mit solcher Schnelligkeit niedergebrannt, daß kaum mehr die Möbel gerettet werden konnten. Auch das Badehaus wurde ein Raub der Flammen, doch blieben das Telephonhäuschen, die Kapelle und die in letzter Zeit zu Wirtschaftszwecken benutzte alte Unterkunftshütte vom Feuer verschont. Die letztere wurde sofort als provisorische Unterkunftsstätte für Touristen eingerichtet, und da die Alpenvereinssektion „Kufstein“ als Eigentümerin von Hinterbärenbad das abgebrannte Haus gegen Brandschaden gut versichert hatte, so kann der Wiederaufbau unverzüglich durchgeführt werden, wofür die Arbeiten auch bereits eingeleitet wurden. Es brauchen sich also die Touristen durch den Brandunfall, der Hinterbärenbad betroffen hat, von dem Besuche des wildromantischen Kaisergebirges auch heuer keineswegs abhalten zu lassen. J. C. Platter.     

Balzender Auerhahn. (Zu dem Bilde S. 257.) Noch ist es still im Walde. Der milde Frühling hat die Herrschaft des Winters noch nicht abgelöst. Auf dem Gebirge liegt der Schnee und an den vorübergehend einbrechenden schönen sonnigen Tagen, den ersten Vorboten des Lenzes, schallt höchstens das frühe Lied der Drossel durch den dunklen Forst. Um diese Zeit lockt es aber den Weidmann hinaus in das tiefste Dickicht, in dunkler Nacht bricht er bereits auf, um mit Morgengrauen auf dem Platze zu sein, wo der Auerhahn balzt und wo die schwarzen, am Ende weiß gesprenkelten Schaufelfedern als Jagdtrophäe sich erbeuten lassen. Frühzeitig im Jahre, im April, oder wenn das Wetter günstig ist, schon im März, regt sich im Auerhahn die Liebe, und er drückt seine Leidenschaft in sonderbaren Tönen, Stellungen und Sprüngen aus. O. Recknagel hat eine dieser charakteristischen Stellungen des balzenden Auerhahnes in dem Bilde, das wir wiedergeben, meisterhaft festgehalten. Da steht der Erregte auf einem vorspringenden Baumaste und stößt seine schnalzenden Töne hervor. Seinen Kopf hat er vorgestreckt, den Schwanz gehoben und fächerförmig ausgebreitet, während die etwas gesenkten Flügel sich vom Leibe abheben. Aber nicht lange wird er so ruhig dastehen; schon hebt er ein wenig den rechten Ständer; er wird auf dem Aste hin und her trippeln, sich hin und her wenden und einen Vers nach dem andern herunterschnalzen und -schleifen, bis er den hohen Standort verläßt und zu den Hennen auf den Boden fliegt, um dicht vor ihnen dasselbe Spiel aufzuführen. *     

Ueber den Einfluß verschieden gefärbten Lichtes auf die Entwickelung der Pflanzen sind neuerdings eingehende Untersuchungen angestellt worden, die wichtige Resultate ergeben haben. In neuester Zeit hat nun der französische Gelehrte Gal diese Untersuchungen auch auf die Tierwelt ausgedehnt, und zwar waren vorerst die Seidenraupen Gegenstand seiner Beobachtungen. Man hat ja schon mehrfach Beweise dafür, wie pflanzliches und tierisches Leben einander ähneln und ineinander übergreifen, und so konnte man wohl von vornherein annehmen, daß auch auf die Tiere sich ein Einfluß bestimmt gefärbten Lichtes nachweisen lassen würde; dies ist nun wirklich geschehen. Während aber feststeht, daß auf die Pflanzen rotes Licht am günstigsten einwirkt, ergaben die Untersuchungen Gals, daß auf die Entwickelung der Seidenraupe violettes Licht den größten Einfluß ausübte, grünes hingegen den ungünstigsten. Der Wirkung nach sind die Farben in folgender Weise anzuordnen: violett, weiß, blau, rot, gelb, grün.

Was das Gewicht anlangt, so erreichte eine bestimmte Anzahl von Tieren bei violettem Licht im selben Zeitraum und unter sonst gleichen Verhältnissen ein solches von 55,5 Gramm, bei weißem Licht 52,5 Gramm, das niedrigste, 49 Gramm, bei grünem Lichte.

Aber nicht allein auf die Höhe des Körpergewichts erstreckte sich die Einwirkung des verschiedenfarbigen Lichtes, sondern auch auf die Menge und die Güte der Seide und der Eier. Denn die Cocons von Tieren, die im violetten Licht erwachsen waren, waren größer und schöner ausgebildet, und die Eier von den bei violettem Lichte gezüchteten Weibchen zahlreicher. Da die roten Lichtstrahlen Träger der Wärme, die violetten und blauen hingegen chemisch wirksame Strahlen sind, so zeigt sich hier, was Lichtwirkung anlangt, ein großer Unterschied zwischen Pflanze und Tier, und man darf daraus schließen, daß der tierische Organismus, und der ganze tierische Stoffwechselprozeß überhaupt, von außen an ihn herantretenden chemischen Lichteinflüssen weit mehr zugänglich ist als der pflanzliche.

Leicht möglich ist es, wenn man diese Untersuchungen weiter fortsetzt, für die Tierzucht überhaupt daraus Kapital zu schlagen. Jedenfalls sind Seidenraupenzüchtern Versuche nach dieser Richtung sehr zu empfehlen. d.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[260 a]
Allerlei Winke für jung und alt.



Badeanzug für Mädchen. Diesen kleinen Badeanzug herzustellen, ist das Einfachste, was man sich denken kann. Nach Art der jetzt allgemein bekannten Hängerschürzen, die ja selbst in der kleinsten Stadt käuflich sind, schneidet man den Stoff ganz gerade, die Länge richtet sich nach der Größe des Kindes. Die Weite dürfte für ein Mädchen von sechs Jahren 2 m sein. Nehmen wir also einen Stoff von 1 m Breite,


Badeanzug für Mädchen.


so brauchen wir zwei Längen, und es würde vorn und hinten in der Mitte eine Naht gemacht; die vier Ecken der beiden Stoffbahnen werden unten etwas schräg weggeschnitten, um die Form des Beinkleides zu bekommen. Oben in der Mitte jeder Stoffbahn wird eine ganz geringe Ausrundung für das Armloch gemacht, das im übrigen durch die Achsel- oder Schulterstreifen entsteht. Diese Streifen sind 4 bis 5 cm breit, dienen zur Einfassung des Halsausschnittes und bilden auf der Schulter den einzigen Schluß des Anzuges. Das Kind kann dann sehr bequem in das Höschen steigen, das Badekleid hochziehen und auf der Schulter zuknöpfen. Der reichlich weite Gürtel, welcher an der hinteren Naht befestigt ist, hält den Stoff im Taillenschluß zusammen; da wird er also nicht eingereiht, sondern nur oben am Halsausschnitt und unter den Knien. Vor allem muß darauf gesehen werden, daß der Halsausschnitt gut am Körper schließt, was durch sorgfältige Anprobe leicht erreicht wird. Als Verzierung kann man nach Belieben Litzen, Stickereien oder irgend etwas Vorhandenes wählen, doch möchten wir als Stoff dem Flanell in jeder Beziehung den Vorzug geben, besonders für die Seebäder. Derselbe ist natürlich vor dem Zuschneiden kurz in lauwarmes Wasser zu legen und wieder zu trocknen, falls er nicht schon dekatiert ist.

Die Farbe muß durchaus echt sein, auch nicht zu dunkel, da jede Farbe im Wasser dunkler erscheint; es giebt jetzt eine große Auswahl farbiger Flanelle. Unser Modell ist fein blau und weiß gestreift.

E. R.





Eine für viele. Das gesellschaftliche Leben hat bekanntlich bittere Schattenseiten für das Portemonnaie der meistens auf sparsames Taschengeld angewiesenen Haustöchterlein. Man braucht so viele Kleinigkeiten zur Toilette, sie summieren sich auf eine unglaubliche Weise. Die schlimmste und ärgerlichste Ausgabe ist aber immer die für Handschuhe! Sie sind ja unerläßlich für Ball, Gesellschaft und Promenade, und wir tragen sie obendrein so gern von hellster Farbe! Bringt man sie nun zum Reinigen ins Geschäft, so bekommt man sie farblos und abgerieben wieder; außerdem kosten sie dann neues Geld, und dieser Punkt ist meistens bei uns Backfischchen schwach bestellt, auch geben wir den „Mammon“ nicht gern für prosaische Zwecke aus.

Da giebt es nun einen bequemen Ausweg, den ich allen meinen Genossinnen anraten möchte.

Jedesmal, ehe man nach dem Tragen die Handschuhe verwahrt, reibt man die schmutzigen Stellen mit einem weichen Radiergummi ab, wie er wohl in jedem Hause vorrätig ist. Für Straßenhandschuhe mag man sich immer zu diesem Zwecke einen Gummi in der Manteltasche halten, der jeden Augenblick dann seine Zauberkünste üben kann. Versucht’s einmal!

D. M.





Knopfbefestigung an Paletots u. s. w. Sehr häufig macht man die unliebsame Erfahrung, daß an Paletots und Mänteln die nur die obere Stofflage der Leiste erfassenden Knöpfe das Gewebe zerreißen und sich auch leicht loslösen, während ein Durchnähen beider Stofflagen durch die sichtbar werdenden Stiche nicht hübsch aussieht. Da haben nun große Konfektionsgeschäfte eine praktische Neuerung eingeführt. Der mehr oder minder große Knopf wird auf der inneren Seite der Knopfleiste durch ein ganz kleines, zweites Knöpfchen ergänzt, das in Material und Form dem oberen Knopf entsprechen muß. Der befestigende Faden ist dann durch beide Knöpfe und die doppelten Stoffe zugleich zu führen, wodurch eine sehr sichere und sauber aussehende Befestigung entsteht.





Kartentasche.


Eine Kartentasche ist für einen Hausherrn, der viele Anfragen, Einladungen und dergleichen erhält, sehr praktisch. Diese Mappe wird aus einem 50 cm langen und 24 cm breiten hellen Tuchstreifen, der an einer Breitseite abgerundet und ringsum ausgeschlagen wird, sowie drei dunkler schattierten 13 cm langen, 20 cm breiten Tuchstreifen, welche die Mappentaschen geben, hergestellt. Die dunklen Tuchstreifen werden mit leichtem Blumenstrauß in Zier- und Füllstich bestickt, der große helle Tuchstreifen wird oben mit einem Zug versehen und mit Hellem Steifsatin gefüttert. Durch den Zug wird ein bronziertes Stäbchen geschoben, an dessen beide Enden man eine passende Seidenschnur knüpft, die in der Mitte zu einer Oese zusammengenäht wird. Die bestickten Tuchstreifen werden so auf den hellen Streifen zu drei Seiten festgenäht, daß die unterste Tasche gerade mit dem Bogen abschließt, wo die Abrundung beginnt, woraus die beiden folgenden Taschen je 1 cm voneinander entfernt aufgesetzt werden.





Büchergestell mit Vorhang.


Büchergestell mit Vorhang. Das eigentliche Gestell ist je nach Bedarf mit verschiedenen Fächern aus gewöhnlichem, dunkelgebeiztem Holz, die Einlage aus Ahorn. Das Ornament – Motive aus den Wandmalereien von Schloß Tratzberg in Tirol – ist kräftig zu brennen und in der Art von eingelegter Holzarbeit leicht zu tönen, mit wenigen Farben auf Hell (wobei man am besten ein Stückchen wirklicher Holzeinlage zum Vorbild für die Töne nimmt) oder mit tiefbraunem Grund. Wenn man die Konturen mit spitzem Pinsel nur aufmalt statt zu brennen, wird die Wirkung noch täuschender.




Hauswirtschaftliches.



Pikante Koteletts. Man schneidet Kalbfleischschnitzchen von der Dicke eines kleinen Fingers, eben solche Schnitzchen von Schweine- oder Hammelfleisch, sowie von beliebigem Rotwild, legt die verschiedenen Fleischschnitten übereinander und hackt sie mit einem scharfen Messer oder kantigen Fleischhammer gut ineinander. Diese Fleischmasse vermengt man noch mit etwas sein geschabtem oder faschiertem Speck, feinen frischen Kräutern, formt daraus länglich runde Kotelettchen, bestreut sie leicht mit Salz, wendet sie sodann in heißer Butter um, weiters in fein geriebenen Semmelbröseln, worunter etwas Citronengelb. und bäckt die Kotelettchen nun in heißer Butter auf beiden Seiten goldbraun. Man ordnet die fertigen Kotelettchen auf eine heiße Platte, ziert sie mit grüner Petersilie und reicht hierzu eine pikante Sauce von Champignons, Wein, Kapern etc.

E. K.






Reisspeise für einen Damenkaffee. Die nachfolgende Reisspeise ist deshalb besonders angenehm für einen Damenkaffee, weil sie einen herzhaften Geschmack hat, der als Abwechslung bei den vielen anderen gebotenen süßen Dingen als außerordentlich wohlthuend für Magen sowohl als Zunge empfunden wird. Man nimmt 375 g besten Reis, setzt ihn mit Wasser kalt auf, rührt ihn hin und wieder um und kocht ihn langsam 30 Minuten. Dann gießt man etwas kaltes Wasser an, wartet, bis der Reis am Boden des Kochtopfes liegt, gießt das obere trübe Wasser ab, giebt wieder kaltes Wasser dazu und schüttet dann immer die obere trübe Wasserschicht ab. Erst wenn das Wasser klar bleibt, wird der Reis auf ein groblöcheriges Sieb gegeben, auf dem er gut abtropfen muß. Man kocht nun 1/2 Flasche Burgunder mit 4 Löffeln Berberitzensaft und 250 g Zucker auf, schüttet den Reis hinein und kocht ihn unter beständigem Rühren auf sehr mäßigem Feuer noch 10 Minuten, bis er als dickflüssiger Brei erscheint. Dieser wird in eine glatte Form geschüttet und gut erkalten gelassen.

Die Speise wird beim Anrichten gestürzt und oben berg-, ringsherum aber kranzförmig mit eingezuckerten Blutapfelsinenstücken belegt.

He.





Kleine Schaumsoufflé. 70 g Aprikosenmarmelade werden in einer Schüssel schaumig abgerührt, dann der steife Schnee von sieben Eiweiß mit 70 g feinst gestoßenem Staubzucker hineingemengt. Aus Backoblaten schneidet man beliebig große, runde Scheiben, giebt auf jede dieser Scheiben ein paar Löffel voll der Fruchtschaumfülle, hebt mit einem breiten, flachen Messer die kleinen Törtchen auf ein mit Wachs bestrichenes Kuchenblech und bäckt sie bei mäßiger Hitze schön semmelgelb. Die sparsame Hausfrau verwendet damit übriges Eiweiß am besten. Es läßt sich jede Fruchtmarmelade für diese Bäckerei verwenden. Will man die Soufflé noch hübscher haben, so streut man etwas feingeschnittene, abgezogene Mandeln vor dem Backen darüber. Diese Masse kann auch in kleinen Papierkästchen gebacken werden.

E. K.





Kokosbastmatten zu reinigen. Immer mehr bürgern sich diese praktischen Matten in den Haushaltungen ein, da sie ungemein haltbar sind und ihr Kauf nicht allzu teuer ist. Nur den einen Uebelstand zeigen sie, daß sie nach längerem Gebrauch recht unansehnlich und grauschmutzig werden – das verhindert selbst das tägliche Ausschütteln oder Klopfen nicht. Eine gründliche Reinigung der Kokosmatten ist vierteljährlich vorzunehmen, dann wird man die Matten stets sauber erhalten und sie auch längere Zeit haben können. Bevor man die Säuberung beginnt, legt man sie einige Stunden in die Sonne oder hängt sie an den heißen Küchenofen, damit sie durch und durch trocken sind. Dann klopft und schüttelt man sie gründlich und bürstet sie gut aus, bevor man sie schräg in eine große Wanne stellt und so lange unter fortwährendem Schwenken der Matte klares Wasser über sie gießt, bin dan letztere keine Trübung mehr zeigt, sondern rein bleibt. Man befestigt die Matten darauf mit kleinen Nageln an den oberen Enden auf einem breiten Brett, das man in schräger Lage, um das Ablaufen des Wassers zu ermöglichen, in die Sonne stellt, bis die Oberfläche der Matten völlig trocken ist. Die Matte wird dann umgekehrt und die Rückseite ebenfalls in der Sonne getrocknet.

He.



[260 b]
Allerlei Kurzweil.

Schachaufgabe.
Von B. Hülsen in Beelitz.

SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.

Bilderrätsel.0 Von Erh. Lipka.


Rätsel.

G – verhindert dich am Gehen;
Was in S – kommt, mußt du sehen.

Scherzrätsel.

Der Raum, wo immer ist das Ende,
Ob diesen Raum der Leser fände?

Auflösung der Charade auf dem Umschlag von Halbheft 7.

April – Kosen, Aprikose.

Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 7.

Ab – sich – t.

Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 7.

Rüge – Rügen.

Auflösung des Kettenrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 7.

Alabama, Maladetta, Tafelfichte, Teneriffa, Fanatiker, Kermesbeere, Reparatur, Turteltaube, Bekassine, Nehemia.


Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 6.

Die Karten sind so verteilt: Skat: rD., sD.

Vorhand: sW., eD., eZ., gD., gZ., g9, g8, g7, rK., sK. = 52.

Mittelhand: eO., e9, e8, e7, gO., r9, r8, r7, s9, s8 = 6.

Das Spiel nimmt folgenden Verlauf:

      1. sK., s8, sZ. (+ 14)   0 6. sO.! g7, s9. (+ 3)
      2. rW., eD., e7. (+ 13) 0 7. s7, g8, r7. ( 0 )
      3. gW., sW., e8. (+ 4) 0 8. rO., g9. r8. (+ 3)
      4. eW., eZ., e9. (+ 12) 0 9. rZ., gZ.. r9. (+ 20)
      5. eK., rK., eO. (+ 11) 010. gK., gD., gO. (- 18).

Die Gegner haben also nur den letzten Stich bekommen und sind Schneider geworden.




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Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.

  1. Wuchtel, ein thüringer Gebäck.
  2. In der Accademia delle belle arti befindlich.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Rauchsanges