Die Influenza-Epidemie

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Max Taube
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Influenza-Epedemie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 63–64
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[063]
Die Influenza-Epidemie.
Von Dr. med. Taube.

Nach einer Sage soll das „Gesundheitwünschen“ bei dem Niesen in einer Epidemie entstanden sein, welche mit Schnupfen begann und viele Opfer an Menschenleben forderte. Man möchte die Wahrheit dieser Erzählung glauben, wenn man die Geschichte der früheren Influenzazeiten überblickt. Besonders das Jahr 1580 zeichnete sich durch eine große Sterblichkeit infolge dieser Erkrankung, welche sich damals über Asien, Afrika und Europa verbreitet hatte, aus. In Rom allein sollen gegen 9000 Menschen durch sie zu Grunde gegangen sein und Madrid wurde durch die Zahl der Todesfälle fast menschenleer. Ein so schwerer Verlauf war bei dieser Epidemie aber eine große Ausnahme. Die Mehrzahl der Erkrankungen glich vollständig den jetzt herrschenden, eine große Anzahl von Menschen wurde plötzlich befallen, aber nur einige starben. Ob die Influenza schon im Alterthume aufgetreten ist, läßt sich nicht mit Sicherheit behaupten, einige Beschreibungen sprechen dafür, doch besitzen wir die ersten sicheren Angaben erst aus dem Jahre 1323, von welcher Zeit ab sich dann eine reiche Zahl von Epidemien nachweisen läßt. Ein großer Theil ging von Osten nach Westen über die Länder, doch kam auch die umgekehrte Richtung, wenn auch seltener, vor. Es ist merkwürdig, daß die Erinnerung an die Influenza so schnell aus dem allgemeinen Gedächtniß geschwunden ist, denn noch im Jahre 1836 und 1837 nahm eine Epidemie den ganz ähnlichen Weg wie die jetzige und zeigte die gleichen Massenerkrankungen mit größerer Sterblichkeit als jetzt. Sie begann im Dezember in Rußland. In London erkrankten später fast die sämmtlichen Bewohner. Kleinere, auf Städte oder Länder beschränkte Epidemien fanden seitdem oft statt, z. B. im Jahre 1874 in Berlin und 1883 in Würzburg; die Bevölkerung wurde fast stets im gleichen Verhältniß ergriffen, nur sollen manchmal mehr Frauen als Männer, in anderen Zeiten umgekehrt, oder auch die Soldaten frei geblieben sein. In leichteren Epidemien starben fast nur Greise, Schwache und Kinder. Ueber das Herkommen der Influenza bildete beinahe jede Epidemie eine andere Ansicht. Vom Nordpol aus sollte sich zusammengeballter Sauerstoff über die Erde hinziehen, oder elektrische Veränderungen sollten stattfinden. Auch ein Insekt, welches Grippe genannt wurde, sollte die Weiterverbreitung der Krankheit vermitteln. Ueberall aber herrschte die Meinung vor, daß in der Luft durch ein Miasma die Epidemie sich entwickele, die Jahreszeit und das Klima wären dabei gleichgültig. Eine Bestätigung dieser Ansicht wurde besonders in den Erkrankungen von Schiffsleuten auf dem Meere bei Influenzaepidemien gefunden und in dem plötzlichen Auftreten der Grippe an ganz verschiedenen Orten. Auch geistig durchlebten unsere Vorfahren vollkommen die jetzigen Zustände; nach einer Verspöttelung der „Modekrankheit“, welchen Namen die Influenza in mehreren Epidemien vor ihrem jetzigen führte, stellten sich schwerere Erkrankungen und eine größere Anzahl von Todesfällen ein und erregten dann allgemeine Sorge.

Der Beginn der jetzigen Epidemie, die als eine leichte bezeichnet werden muß, ist noch in aller Erinnerung. Rußland, Berlin und Paris waren die zuerst betroffenen Stellen und hieran schloß sich die Ausbreitung nach allen Gegenden. Meine Erfahrungen gründen sich zumeist auf die Verhältnisse in Leipzig, welches sicher mit am schwersten betroffen worden ist. Eine Zahl der Erkrankten bestimmen zu wollen, ist eine vollständige Unmöglichkeit. Hierzu fehlt eine jede Unterlage, da der Arzt meist nur zu den schwereren Erkrankungen hinzugezogen wurde. Nichtsdestoweniger kann man behaupten, daß weit über die Hälfte der Bewohner Leipzigs von der Seuche ergriffen worden ist. Vielfach kam es vor, daß ganze Familien danieder lagen und einige Tage die Nahrung auf die einfachste Weise zubereitet wurde. In den Fabriken erkrankte allmählich der größere Theil der Arbeiter, in einer z. B. 70 Arbeiter von 73, doch war zumeist nur ein tageweises Aussetzen der Arbeit erforderlich, sodaß im allgemeinen eine Benachtheiligung der Fabrikation nicht stattfand. –

Ich glaube, aus Zufall die erste Hausepidemie in Leipzig beobachtet zu haben. Der erste Krankheitsfall trat daselbst, wie es scheint von Berlin verschleppt, am 5. Dezember auf, in den nächsten 14 Tagen schlossen sich in demselben Grundstücke rasch 14 weitere Erkrankungen an. Erst von Mitte Dezember begannen in Leipzig selbst sich häufiger Kranke zu zeigen, und nun traten plötzlich die Massenerkrankungen auf, welche Weihnachten ihren Höhepunkt erreichten und so vielen das Weihnachtsfest verbitterten. Vom Beginn des Januars datirt ein langsamer Rückschritt der frischen Erkrankungen, es traten dann mehr die Nachfolgekrankheiten der schweren Fälle hervor. Den Beginn bildeten merkwürdigerweise in der größeren Anzahl kräftige, junge Männer, später machte sich dann kein großer Unterschied mehr bemerkbar. Nur zeigten bis zuletzt die mittleren Männerjahre die schwereren und längeren Krankheitsprozesse, die Frauen und jungen Mädchen waren leichter krank und am leichtesten das kindliche Lebensalter. Jeder Fall der Influenza bot einige Verschiedenheiten, doch ließen sich drei Hauptbilder feststellen. Bei dem normalen Verlaufe trat die Erkrankung plötzlich zumeist mit Schüttelfrost oder Kältegefühl auf, starker Kopf- und Kreuzschmerz war beinahe immer vorhanden. Die Schwäche ist oft so plötzlich, daß Ohnmachten oder größte Mattigkeit entstehen. Appetit ist gar nicht vorhanden, dagegen Widerwillen gegen alle Speisen, und es tritt selbst Erbrechen ein; Schnupfen in verschiedener Stärke, Husten kurz anstoßend, Schmerz der Augenbewegungen, reißende Schmerzen im ganzen Körper, besonders längs der Rippen und entlang der Beine, vervollständigen das Bild. Das Fieber ist wechselnd, selten sehr hoch, manchesmal gar nicht, oft Neigung zu Schweiß vorhanden, das Gesicht oft stark geröthet, der Puls im Beginn häufig zusammengezogen, kaum fühlbar, später auch nach dem Nachlassen des Fiebers beschleunigt. Die Stuhlentleerung bleibt aus. Dieser Zustand dauert 3–4 Tage, dann beginnen die Schmerzen nachzulassen, der Kranke fühlt sich besser, doch braucht er oft noch Wochen, um seine alte Kraft und Rüstigkeit wieder zu erlangen.

In einer zweiten Reihe von Erkrankungen bildet sich ein mehr chronisches Bild heraus; die gleichen Symptome wie die beschriebenen – aber schwächer – sind gleichfalls im Beginn vorhanden; besonders vor den Festtagen kam dieses häufig zur Beobachtung, die Kranken kämpfen förmlich gegen den Infektionsstoff an, das Fieber zieht sich länger hin, tritt nur abends auf, endlich aber überwindet das Gift den Organismus und es machen sich stärkere Symptome bemerkbar. Hierdurch entsteht häufig die Angabe, der Kranke habe Rückfälle überstanden, er glaubt, getäuscht durch die geringen Anfangssymptome, die Influenza überwunden zu haben, plötzlich erkrankt er nach Tagen wieder an starken Kopfschmerzen oder Erbrechen; es ist dies aber zumeist die eine für den Körper noch nicht abgeschlossene Erkrankung. Sehr häufig ist der dritte Verlauf: nach einem mehr oder weniger stürmischen Anfang setzt sich der Katarrh auf Nase und Luftwegen fest. Der im Beginne zähe, durchsichtige Schleim wird undurchsichtig, katarrhalisch, es entstehen Luftröhrenkatarrhe von verschiedener Ausdehnung, welche wochenlang den Kranken arbeitsunfähig machen können. Von der Nase aus verbreitet sich der Katarrh auf Stirnhöhlen und Ohren, heftiger Gesichtsschmerz, seltener Ohreneiterung bilden dann die Folge. Schwerhörigkeit, welche zumeist bald wieder verschwindet, ebenso Stimmlosigkeit durch den Kehlkopfkatarrh sind gleichfalls häufige Erscheinungen. Bei nervösen Naturen und Kindern überwiegen oft die Erregungen des Nervensystems, selbst Krämpfe können eintreten, bedingen aber fast niemals eine Gefahr. Diese starke Betheiligung des Nervensystems, die öftere Schlaflosigkeit, der spätere große Schwächezustand sind Folgen des Influenzagiftes, nicht des geringen Fiebers, und unterscheiden schon hierdurch die Krankheit von einem noch so erheblichen Schnupfenfieber.

Wie in den meisten andern Städten war es auch in Leipzig der Fall, daß die Epidemie gegen das Ende zu schwerer zu werden schien, indem verschiedene Todesfälle eintraten. Es kann nicht geleugnet werden, daß eine plötzliche Verschlimmerung der Katarrhe eintrat, und zwar besonders infolge Ostwinds, welcher in Leipzig zumeist eine Verschlimmerung der Katarrhe an und für sich bewirkt. Todesfälle entstanden entweder durch hinzugetretene Lungenentzündung oder durch Verbreitung des Katarrhs auf die kleinsten Luftröhrenäste, wodurch zuletzt Herzschwäche hinzukam. In mehreren Fällen trug nur die Vernachlässigung des Anfangsprozesses die Schuld, in anderen waren es Schwache und Greise, welche nicht den nothwendigen Widerstand bieten konnten. – Daß bei solchen [064] Massenerkrankungen derartige Naturen schließlich zum Opfer fallen, kann noch nicht als Schwere der Epidemie gedeutet werden, dann müßte der Prozentsatz der Sterblichkeit ein bei weitem höherer sein, als er glücklicherweise ist.

Was ergiebt sich nun aus der Leipziger Epidemie bezüglich der Ansteckung?

Ganz sicher, daß die Influenza eine reine Infektionskrankheit ist wie Scharlach, Masern und Pocken. Der Glaube an ein Luftmiasma ist besondere durch das plötzliche massenhafte Auftreten der Epidemie entstanden, es werden aber die ersten Fälle, wegen ihrer Aehnlichkeit mit Katarrhen, leicht übersehen, wie ich dieses jetzt so deutlich in Leipzig beobachten konnte. Die Krankheit beginnt zumeist auch nicht so plötzlich, als es scheint. Der Kranke fühlt sich fast immer schon den Tag vorher matt und appetitlos, auch kleine Fiebersteigerungen machen sich oft bemerkbar. Es erkrankt im Durchschnitt in einer Familie ein Mitglied zuerst, nach einigen Tagen folgen dann die übrigen, angesteckt durch das erste; mancher Mensch erkrankt gar nicht, ein anderer ist zuerst gefeit, um schließlich doch noch zu erkranken; die gleichen Verhältnisse bietet auch der Scharlach. Ob Gesunde und Gegenstände die Uebertragung vermitteln, erscheint fraglich, die Hauptansteckung scheint von dem Erkrankten selbst auszugehen und ist wie bei den Masern genügend, eine große Epidemie hervorzurufen.

Auch in den früheren Epidemien finden sich Stützen für die persönliche Uebertragung, in einer wird die Schnelligkeit der Verbreitung mit der eines Reiters verglichen, in anderen soll sie nicht so schnell vorwärts gegangen sein. Bei den Schiffserkrankungen wird hervorgehoben, daß sich die Schiffe in der Nähe der Influenzaküste befunden hatten; da der Stoff zur Entwickelung einen Tag wenigstens bedarf, so ist die Erkrankung auf hoher See dann begreiflich. Auch das Fortschreiten bei der jetzigen Epidemie in kleinen Dörfern dient zum Beweis; es giebt immer erst wenige Erkrankungen, woran sich die andern anschließen.

Begünstigt wird die Weiterverbreitung durch die große Neigung, welche der Mensch zu dieser Erkrankung besitzt, wie es in der gleichen Weise bei Masern der Fall ist.

Wiederholte Erkrankungen sind sicher selten und hierdurch ist in großen Städten das schnelle Erlöschen einer Epidemie, gewöhnlich nach sechs bis acht Wochen, erklärlich. Wegen dieses allgemeinen Befallenwerdens ist eine Bekämpfung der Epidemie selbst unmöglich und die Hilfe muß auf den einzelnen Fall beschränkt werden. Mit Sicherheit hat sich durch die Beobachtung ergeben, daß die größte Anzahl der schweren Luftröhrenkatarrhe durch die Nichtbeachtung im Beginne entstanden ist. Es sollte das Zimmer nicht verlassen werden, so lange Fieber besteht und Reizungen der Luftröhre noch vorhanden sind. Auf die Diät ist große Sorgfalt zu verwenden, Reizmittel bei dem bestehenden Appetitmangel nutzen nichts, die Besserung tritt von selbst nach kurzer Zeit ein. Starke Rücken-, Kopf- und Kreuzschmerzen, Fieber und Erbrechen machen ärztliche Hilfe erforderlich; für leichtere Fälle genügt Berücksichtigung der Verdauung, nasse Kompressen mit spirituöser Einreibung, Senfteige. Das Durstgefühl wird am besten mit leichtem Pfefferminzthee gestillt, kohlensaures Wasser ist besser zu vermeiden. Wegen der Betheiligung der Augen ist in den ersten Tagen jedes Lesen zu unterlassen. Man hüte sich noch längere Zeit vor Erkältungen, da eine große Empfindlichkeit der Luftröhre zurückbleibt.

Merkwürdig bleibt auch in dieser Epidemie das Verschwinden von beinahe sämmtlichen anderen akuten Krankheiten; weder Scharlach, noch Masern, noch Diphtherie sind sichtbar, nur Influenza mit ihren Begleiterscheinungen tritt auf. In früheren Epidemien wurde nur bei dem Nachlassen derselben ein Hervorbrechen anderer Krankheiten beobachtet, besonders Masern sollen in größerer Anzahl ausgebrochen sein, ebenso Wechselfieber. Diese Thatsache ist leicht erklärlich, denn gerade für diese Erkrankungen bereitet die Influenza durch Schwächung der bezüglichen Organe einen günstigen Boden. Eine große Besorgniß hört man oft aussprechen, daß die Influenza der Vorbote der Cholera sei. Diese Furcht ist vollkommen unberechtigt; in einigen wenigen Epidemien hat sich allerdings die Cholera angeschlossen, aus Zufall, weil sie vorhanden war und geschwächte Menschen vorfand, aber bei der Mehrzahl der Epidemien war dieses sicher nicht der Fall, wie sich durch eine Vergleichung der Jahre ergiebt.

Woher die Epidemie stammt? Diese Frage müssen wir unentschieden lassen! In manchen Epidemien kamen zahlreiche Erkrankungen von Pferden vor, auch jetzt soll es in England der Fall sein. Vielleicht gleicht ihr Ursprung dem der Cholera, insofern der Ansteckungsstoff an irgend einem Orte immer vorhanden ist und unter günstigen Bedingungen seine Weltreise antritt. Wir können dann nur wünschen, daß der Verlauf im Durchschnitt immer ein so günstiger sein möge wie bei dieser Epidemie.