Die Johannisfeier in Leipzig
Es ist eine schöne Sitte, das Andenken der Todten zu feiern und die Gräber zu schmücken, wie es in Leipzig geschieht, eine Sitte, die hoffentlich nach und nach in allen deutschen Gauen mehr und mehr Raum finden wird. Giebt es eine sinnigere Vermittlung zwischen Tod und Leben als die Blumen? Nur einmal braucht man in Leipzig am Johannistage über die Friedhöfe zu schreiten, und der starre, kalte Eindruck, den der Tod macht, schwindet. Vergebens forschen wir, wann dieser schöne Brauch, der in Leipzig getreu festgehalten wird, aufgekommen ist, wem er seine Entstehung verdankt. Des Volkes Bräuche lassen sich selten auf einzelne Jahre und Personen zurückführen, aus dem ganzen Volke sind sie meistens hervorgewachsen.
Die Todten in dieser Weise zu feiern, mag ein christlicher Gedanke sein, dennoch müssen wir den ersten Ursprung bis in frühere Jahre, bis in die Zeit des deutschen Heidenthums verfolgen. Oder sollte diese Feier mit den verschiedenen Festlichkeiten und Bräuchen, welche noch jetzt an vielen Orten Deutschlands begangen werden und deutlich auf die heidnische Feier der Mittsommerwende hinweisen, nicht im engsten Zusammenhange stehen? In Thüringen, Böhmen und anderen Gegenden leuchten am Abend vor dem Johannistage Feuer auf allen Höhen, heitere Volksgebräuche knüpfen sich daran, welche unverkennbar auf das Götterfest und die verschiedenen Opfergaben der alten Deutschen hindeuten; auf dem Harze wird der Johannistag heiter begangen, Jung und Alt tanzen um einen mit Bändern und Tüchern geschmückten Tannenbaum – einst galt diese Feier den Göttern der deutschen Eichenhaine, das Christenthum hat dem Volke diese liebgewordenen Gebräuche gelassen, nur ihnen einen anderen Sinn untergeschoben und einen anderen Namen gegeben. Johannes dem Täufer zu Ehren wird das Fest jetzt begangen, in Leipzig hat es sich zur schönen Todtenfeier gestaltet.
Die Glocken haben am Morgen das Fest eingeläutet, von den Thürmen flattern Fahnen; eine eigenthümlich wehmüthig-freudige Stimmung hat sich fast der ganzen Stadt bemächtigt. Wohin wir das Auge wenden, erblicken wir Blumen und Blüthenkränze und unwillkürlich folgen wir dem Zuge der Menschen, die zum Friedhofe gehen.
Blumen und Grün erfüllen den ganzen geräumigen Platz vor dem Gottesacker in der Stadt rings um die Johanniskirche. Tausende der schönsten Blumen werden dort feil geboten, um sie alle einem Zwecke zu weihen, dem Andenken der Geschiedenen und dem Schmucke ihrer Grabhügel, denn heute ist der 24. Juni, der Tag der Johannisfeier.
In der Nähe des Kirchhofes drängen sich die Menschen. Eine mit Guirlanden verzierte Pforte nimmt alle auf. Schon stehen wir an Gellert’s einfachem Grabe, dicht vor dem Gottesacker. Die sechs Cypressen an demselben grünen wie jeden Jahr, wie an jedem Johannistage sind einfache Kränze aus einfachem Grün um dieselben gewunden.
Unwillkürlich bleiben wir hier stehen und lassen die Menschen, welche zum Friedhofe gehen, an uns vorüberziehen. Kein Stand, kein Alter, kein Geschlecht ist ausgeschlossen. Einen tiefen Blick kann man hier in manchen stillen Schmerz und manche Seelentrauer werfen. Der Schmerz, der aus manchem so jugendlich frischen Gesichte spricht, schneidet in’s Herz.
Dort kommt ein altes Mütterchen, mit einem ärmlichen Tuche umhüllt, langsam daher. In dem Arme trägt sie einen einfachen Blumenstock und preßt ihn fest an die Brust, als wäre er ein Kleinod. Er ist es für sie, denn für ihn hat sie vielleicht ihre letzten wenigen Groschen hingegeben oder hat ihn in ihrer ärmlichen Stube seit Wochen und Monden gepflegt, ihr Auge hat oft mit Trauer darauf geruht und doch hat sie sich wieder auf die Stunde gefreut, in der sie ihn hinaustragen könne auf den Friedhof, um ihn dort auf einem schmucklosen Grabhügel niederzusetzen. Jetzt ist die Stunde gekommen. Es liegt in ihren alten Zügen ungeduldiges Eilen und traurige wehmüthige Erinnerung zugleich. Wir brauchen nicht zu fragen, für wen sie den Topf bestimmt hat. Wir sehen ihr an, daß sie allein und verlassen im Leben dasteht. Es ist ihr Lebensgefährte, dem sie das Andenken bestimmt hat. Hätte sie Kinder – sie würde nicht allein gehen, sie würde dieselben mitnehmen zum Grabe ihres Vaters; sie hätte dann noch eine Zuflucht, und irgend eine frohe Lebenshoffnung würde sich in ihrem Gesichte aussprechen. Sie steht allein.
Dicht hinter der Alten gehen zwei noch junge, ganz in Schwarz gekleidete junge Mädchen. Das eine hat zwei frisch gewundene Kränze über dem Arm hängen, das andre trägt zwei Blumenstöcke. Beide Kränze und Stöcke sind einander gleich. Die Augen der Mädchen sind geröthet – sie müssen viel geweint haben an diesem Tage, der den Verlust ihrer Eltern ihnen in ganzer Frische in die Erinnerung zurückgerufen. In ihren Zügen spricht sich nur eine tiefe, schmerzvolle Trauer aus, die unbekümmert ist um das Treiben ringsum und keinen freudigen Gedanken aufkommen läßt. Der Tod hat eine unausfüllbare Kluft in ihr Leben gerissen, und vielleicht zählte einst ihr Leben in dem Elternhause zu den glücklichsten.
Menschen auf Menschen ziehen an uns vorüber. Der Tod ruft doch manche Thräne hervor. Dort kommt ein noch junger Mann. An seiner Rechten hält er ein Mädchen von ungefähr acht Jahren, an der Linken einen sechsjährigen Knaben. Die Kinder blicken heiter um sich. Die Menschen und Blumen ringsum zerstreuen sie, und sie freuen sich, daß auch sie ihrer Mutter Blumen auf das Grab tragen dürfen. Sie wissen nicht, was „todt“ heißt. Unbefangen bestürmen sie ihren Vater mit Fragen, und der Knabe wirft ungeduldig ein, ob das Grab der Mutter denn noch nicht bald erreicht sei. Der Mann vermag nicht zu antworten. In seinen Augen schimmert eine Thräne. Gewaltsam preßt er die Lippen auf einander, um den in ihm stürmenden Schmerz zurückzudrängen. Die Fragen der Kinder schneiden ihm tief in’s Herz, und doch vermag er ihnen nicht zu zürnen, denn – es sind ihre und seine Kinder.
Eine reiche Equipage rollt in diesem Augenblicke schnell daher, und wir haben kaum Zeit, zur Seite zu springen, um von den Rädern nicht erfaßt zu werden. Dicht vor dem Eingange zum Friedhofe hält sie an. Ein Bedienter springt herab und öffnet die Thür. Eine schwarzgekleidete bleiche Frau und ein Mann steigen aus. Sie stützt sich hinfällig auf seinen Arm. Beide sind in den mittleren Jahren. Der Diener nimmt eine Fülle der kostbarsten Blumen und Kränze und folgt ihnen, während sie ziemlich schnell und theilnahmlos durch die Menge auf den Friedhof schreiten. Umsonst fragen wir uns, wen dieses Paar dort bestattet haben mag. Aus den Zügen der Frau vermögen wir es nicht zu erkennen; es lag Gram, zerknickte Hoffnungen und ein ungebeugter Stolz darin. Nicht für eine halbe Welt schienen ihre Augen vor all den Menschen weinen zu mögen, und doch hatte der Tod tief in ihr Glück und ihre Brust eingeschnitten. „Sie hat ihr einziges Kind verloren,“ hören wir neben uns flüstern.
Wir treten auf den Friedhof. Wie lieblich der Tod unter dieser Blumen- und Blüthenfülle, welche die grünen Hügel schmückt, aussieht! Der erschütternde Eindruck, den fast jeder Gottesacker macht, ist verschwunden, ruhig, friedlich blickt uns Alles entgegen. Es ist uns, als ob wir die Todten unter den Hügeln lächeln sähen. Heute ist ihr Feiertag, und sie werden gefeiert. Einen Garten der Todten möchten wir an diesem Tage den Friedhof nennen. Blume reiht sich an Blume. Rosen sind wie in Kränzen rings um die grünen Hügel gesteckt, manche sind ganz davon bedeckt. Vergebens lassen wir unsern Blick umherschweifen, um ein Grab zu finden, welches kein Zeichen der Johannisfeier trägt. Selbst der Aermste trägt einen einfachen Blumenstock hierher oder streut wenige Blüthen auf die Stätte, wo er einen Todten ruhen hat.
Dort hinten in der Ecke erblicken wir eine Grabstätte, an die heute Niemand denkt. Sie macht inmitten der Blumen einen erschütternden Eindruck. Das eiserne Gitter, welches sie umschließt, ist noch erhalten – sonst nichts. Selbst der Name der Familie, der diese Stätte gehört, ist auf der Platte, in der er eingegraben war, verwachsen, verwittert, vergessen. Keine Hand hat diese Stätte gepflegt, aber einst war sie in Ordnung gehalten, das zeigen die vertrockneten Cypressen, welche neben den eingefallenen Hügeln stehen, und die Traueresche, welche einst diesen kleinen Raum beschattet hat, jetzt aber auch verdorrt ist. Jetzt treibt das Unkraut sein Spiel auf dieser Stätte und es wuchert so üppig, hoch und dreist, wie es eben nur Unkraut zu thun vermag.
Und eine Menge bekannter Namen blickt uns von den Grabsteinen entgegen. Dort liegt der Dichter Herloßsohn. Wer hat ihn in Leipzig nicht gekannt, wer nicht schon manche seiner Gedichte
[461][462] gelesen? Er hat gesungen, geliebt und gelebt. Und er ist nicht vergessen, das zeigen die Blumen und Kränze auf seinem Hügel. Dort lesen wir Tzschirner’s Namen, und die Erinnerung an seinen freien Geist thut uns wohl in einer Zeit, wo die beschränkte Orthodoxie und heuchelnde Frömmelei in vielen Kreisen die Oberhand zu gewinnen droht, bis ein frischer, gesunder Hauch diese Unnatur des Geistes wieder verweht. Auf demselben Friedhofe ruht auch der bekannte, erst kürzlich verstorbene Rector der Thomasschule, Stallbaum. Und könnten wir in diesem Augenblicke hintreten auf den neuen Friedhof vor dem Thore, der in gleichem Johannisfeierschmucke prangt, so würde uns ein Grab vor allen in die Augen fallen – es ist das Carl Zöllner’s. Reich ist es mit Blumen geschmückt, und der Tod scheint dem Sänger so vieler herrlicher Lieder freundlicher gesinnt zu sein als sein einfaches Leben. Wir wissen nicht, wessen Hand seinen Hügel geschmückt – aber Wenige, die hier ruhen, haben so viele Freunde hinterlassen, wie Zöllner.
Von den Todten wird unsere Aufmerksamkeit zu den Lebenden zurückgerufen. So viele rührende Bilder drängen sich uns auf. Hier der Schmerz in still zurückgedrängter Verschlossenheit, dort die unaufhaltsam und rücksichtslos rinnenden Thränen, und zwischen beiden der gleichgültige Blick eines Zuschauers, den nur die Neugierde an diesem Tage hierhergerufen.
Unsere Illustration selbst stellt eine solche ergreifende Scene dar. Sie bedarf kaum einer Erklärung. Eine Mutter steht mit ihren Kindern an dem Grabe des Mannes und Vaters. Mit banger Innigkeit preßt sie den Kopf des einen heftig weinenden Kindes an ihre Brust, sie selbst vermag die Thränen nicht zurück zu halten. Sie selbst bedarf des Trostes und soll Trost geben!
In diesem kleinen Bilde liegt der ganze Lebenslauf einer Familie ausgedrückt. Tage und Jahre voll Glück und Frieden, bis der Tod erbarmungslos in dieselben hineingreift. Nun Wochen und Monde voll Thränen und Trauer und Jahre voll wehmüthig schmerzvoller Erinnerungen.
Diese Scene ist zu erschütternd, wir dürfen den aufrichtigen Schmerz nicht länger belauschen. Es treibt uns weiter.
Ein glänzendes Familienbegräbniß zieht unsern Blick auf sich. Ein prachtvolles Eisengitter umgiebt es. Wie ein kleiner sauberer Garten lacht es uns entgegen. Die seltensten Blumen blühen in ihm. Mehrere hohe Orangenbäume bilden eine kleine Laube, darin steht eine sauber aus Eisen gearbeitete Bank. Ein Mann und eine Frau sitzen darauf. Wir erkennen sie – es sind dieselben, welche in der reichen Equipage zum Friedhofe gefahren kamen. Dort stehen die frischen Blumen, welche der Diener hieher trug.
„Sie hat ihr einziges Kind verloren,“ tönt es in uns wieder. Wir sehen ihren Blick und jetzt erst verstehen wir den Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie ist reich, sie hat Alles gehabt, was sie sich wünschte; nun hat ihr der Tod ihr theuerstes Gut geraubt. Was hat sie nun noch vor dem Armen voraus, der zum wenigsten in seiner Familie sich glücklich fühlt? In einer Erde ruht ihr Kind mit dem Kinde des Niedrigsten – der Tod macht Alle gleich. Sie könnte alle Blumen, welche die Stadt birgt, auf dieser Stätte zusammenhäufen, es würde kaum ein Opfer für sie sein, ihr Kind vermag sie dadurch nicht zurück zu erkaufen. In ihren Schmerz mischt sich eine stolze Erbitterung, daß der Tod kein Ansehen der Person kennt. Sie kann nicht weinen, aber ihre Wangen werden bleicher und bleicher. Arme Frau!
Nicht weit davon stehen die beiden jungen Mädchen neben zwei gleichen Hügeln. Blumen und Kränze liegen darauf. Wie sorgsam der Rasen gepflegt ist! Sie geben sich ganz ihrem Schmerze hin, kein anderes Gefühl kommt in ihnen auf. Welcher Unterschied zwischen ihrer Trauer und der der reichen Frau!
Stoßen uns all die, welche wir bereits gesehen haben, hier wieder auf? – Dort in einer Ecke neben einem ganz einfachen Hügel sitzt die Alte. Ein zufriedener, genugthuender Zug ruht auf ihrem Gesichte. Der Blumenstock steht zu Häupten des Hügels. Ja, dort unten ruht ihr Lebensgefährte, mit dem sie manches Jahr Arbeit und Sorgen getheilt. Er war alt und schwach geworden – und jetzt hat er es gut! Eine Blume auch auf seinem Grabe, und die Traueresche eines nahen Grabes breitet ihre Aeste auch über dieses mit. Wie ruhig und schattig er hier liegt! Durch das Gitter eines Begräbnisses dicht daneben hat sich ein Epheuzweig gerankt, den hat die Alte sorgsam um den Hügel ihres Mannes gezogen. Der Tod hat es doch gut mit ihm gemeint, und das ist ein Trost für sie. – Genug mit diesen Bildern, wir können sie doch nicht alle erschöpfen. –