Die Noth der Weber in der Grafschaft Glatz

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Noth der Weber in der Grafschaft Glatz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 152, 154
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[152]
Die Noth der Weber in der Grafschaft Glatz.


An Schlesiens Südrand liegt, eingesprengt in das böhmisch-mährische Land, die Grafschaft Glatz, eine von Südosten nach Nordwesten sich erstreckende, von der Neisse durchflossene Hochebene, die fast ringsum von Gebirgen umschlossen ist; da liegen rechts der Neisse gegen Südost das Glatzer Schneegebirge und das Reichensteiner Gebirge und links der Neisse das Habelschwerdter und das Heuscheuer Gebirge, am nördlichsten Ende das Eulengebirge, sie alle ausgezeichnet durch landschaftliche Reize und deshalb auch viel besucht von dem Strom der Sommerfrischler.

Aber was immer wieder aus jenem Gebirgslande hinausdringt in die Welt, was seinen Namen vor jedem Ohre erklingen läßt und die Theilnahme des ganzen deutschen Vaterlandes für dasselbe wachruft, das sind nicht die entzückten Berichte empfänglicher Wanderer, nicht die stattlichen Fremdenlisten von Gasthöfen und Kurorten – es sind Nothschreie über Nothschreie, Hilferufe einer schwer leidenden, fast buchstäblich am Hungertuche nagenden Bevölkerung. Die Thäler jener nördlichen Randgebirge sind bewohnt von überaus armen Leuten, die sich zu einem großen Theil von der Handweberei nähren. Aber Ursachen, von denen unten noch die Rede sein soll, beschränkten und verkümmerten den ohnehin schon kärglichen Verdienst, immer wieder mußte das öffentliche Mitleid und werkthätige Menschenliebe den mit dem Gespenst des Hungers ringenden Webern beispringen – und auch heute ist es wieder so! Der dauernde Nothstand hat wieder einen Höhepunkt erreicht, der schnelle, ausgiebige Unterstützung erheischt, der aber auch von neuem die Gedanken ernstlich auf die Frage lenkt: wie ist das Uebel, das hydragleich immer von neuem wächst, an der Wurzel zu fassen, wo liegen seine tiefsten Quellen? Denn mit dem Sammeln und Spenden von Liebesgaben allein ist’s hier offenbar nicht gethan, hier müssen andere Mittel zur Heilung gesucht und gefunden werden!

Es ist auf eine Eingabe hin, welche die Weber des Eulengebirgs an den Kaiser richteten und in welcher sie ihre bedrängte Lage schilderten, die Untersuchung der Zustande in jenen Gebirgsthälern von berufener Seite in Angriff genommen worden. Inzwischen aber hat die „Gartenlaube“ es für ihre Pflicht gehalten, die Blicke ihrer Leser auf jenen traurigen Fleck menschlichen Elends zu lenken und ihrerseits das Mögliche zur Linderung der augenblicklichen Noth zu thun. Sie hat sich deshalb an einen Mann gewandt, der mitten unter der nothleidenden Bevölkerung lebt, ihre Verhältnisse durch und durch kennt, weiß, wo sie der Schuh drückt, und mit an der Spitze der praktischen Hilfsbewegung im Glatzer Lande steht, Herrn Pastor Ernst Klein in Reinerz. Sie hat sich an ihn gewandt mit der Bitte, eine wahrheitsgetreue Schilderung des Loses seiner Landsleute für die Leser der „Gartenlaube“ zu entwerfen, und in erfreulichster Weise hat Herr Pastor Klein dieser Bitte entsprochen. Wir geben ihm selbst das Wort, indem wir seinen Bericht hier folgen lassen. Er schreibt:

Einer Aufforderung der „Gartenlaube“ folgend, bitte ich dich heute, lieber Leser, mit mir in eine der schönsten und doch elendesten Gegenden unseres deutschen Vaterlandes, in der zur Zeit viele Thränen vergossen werden, viele Menschenseelen in Hunger und Kummer und Verzweiflung von einem Tage zum andern dahinleben, zu wandern.

Wir betreten eines der Weberdörfer, deren es in den nördlichen Randgebirgen der Grafschaft Glatz, im Eulen-, Heuscheuer- und Mensegebirge (dem nördlichsten Theil des Habelschwerdter Gebirgs) viele Hunderte giebt. Blasse, frierende Kinder kommen uns mit dem erwachenden Morgen entgegen, mit halbnackten Füßen waten sie durch den fußtiefen Schnee. Sie gehen zur Schule; noch haben sie nichts gegessen, wohl aber schon stundenlang gespult. In der Stube drin sitzt der Vater, fleißig über seine Arbeit gebeugt, der Webstuhl rasselt und klappert, das Schiffchen fliegt. Nun reißt der Faden – er wird geknotet mit einem tiefen Seufzer: „Ach, wenn der Garnausgeber den Fehler nur nicht bemerkt! Er hat solch scharfen Blick, er ist so streng jetzt; jüngst hat er uns zwei Mark vom Wochenverdienst abgezogen und dem alten Nachbar hat er für seine vierzehntägige Arbeit gar nichts gezahlt und ihm auch keine Arbeit mehr gegeben; das Geschäft, so sagte er, gehe jetzt zu schlecht, da könne er nur die besten Weber brauchen.“

Der Webstuhl rasselt weiter, die Mutter und Großmutter sitzen am Spulrad, die kleineren Kinder schreien, sie frieren, sie hungern. Der Mittag naht, die älteren Kinder kommen nach Hause, sie müssen die alte Großmutter ablösen, emsig geht die Arbeit weiter, endlich – 10 Tage lang dauerte sie – ist sie fertig. Der Vater geht bei sinkender Sonne zum Garnausgeber. Wie gut, daß er wenigstens nahe wohnt! Manche verlaufen sich auf dem Wege zu ihm und irren Stunden lang umher, kostbare Zeit! Doch, ach, der Herr Ausgeber ist jetzt nicht zu sprechen.

„Seien Sie schön gebeten, lieber Herr, wir haben nichts zu essen,“ fleht der Arbeiter.

„Kommen Sie morgen wieder, ich hab’ jetzt keine Zeit!“

Traurig geht der Vater heim, traurig hören die Seinen die Schreckenskunde. Am nächsten Morgen steht der Vater wieder vor dem gestrengen Herrn. „Zeigt die Arbeit her! Da ist ein Fehler, da wieder einer! Das Stück kann ich nicht brauchen! Seht, daß Ihr es wo anders verkauft und mir das Garn, das ich Euch dafür gab, bezahlt!“

Ja, wer wird das Stück kaufen? Lange läuft der Aermste umher, endlich bekommt er bei einem Kaufmann einige Groschen dafür, die kaum hinreichen, den Ausgeber zu befriedigen. Die angestrengte Arbeit einer Woche ist verloren! Und Frau und Kinder, was soll aus ihnen werden? Geh zum Krämer, sagt man dem Mann, borg bei ihm Brot, du kannst es ihm ja später abzahlen! Ja, wird er ihm aber auch borgen? Ach ja, er borgt –!

Klopfenden Herzens geht der Vater heim. Noch einmal ist der Hunger gestillt. Wie aber weiter? Der Weber läuft von Haus zu Haus; endlich, endlich findet er nach vielem Bitten bei einem neuen Herrn neue Arbeit. Doch die Bedingungen sind strenger, der versprochene Lohn niedriger als gewöhnlich!

Aber vielleicht läßt sich der Ausfall durch doppelten Fleiß einholen. Wieder rasselt der Webstuhl, rollt das Spulrad, von morgens [154] um 4 bis abends um 10, 11 Uhr sitzt die Familie bei eifriger Arbeit. Indessen wächst die Schuld beim Kaufmann, denn Brot, Kartoffeln, Kohlen, Petroleum und Stärke „zur Schlichte“ müssen doch da sein. Nach 8 Tagen ist die neue Arbeit beendet. Tadellos! Fünf Mark ist der Lohn! O welche Summe! Doch sie langt ja nicht einmal hin, die Schuld beim Kaufmann zu tilgen. Und wie soll es weiter gehen?

Weißt du, lieber Leser, wie? Unter Hunger und rastloser Arbeit, unter Thränen und stets wachsender Schuld dahin, daß das letzte kleine Eigenthum des Armen verpfändet, versteigert wird. Und dann –? O, die Noth in der wunderschönen Grafschaft Glatz schreit, besonders in diesem Winter, zum Himmel.

Eine größere Versammlung erfahrener Manner hiesiger Gegend übergab mir vor kurzer Zeit folgendes Gutachten: „Der Weber verdient bei 16- bis 17 stündiger täglicher Arbeit wöchentlich höchstens 6 Mark, durchschnittlich 4 Mark, dabei müssen ihm 1–2 Personen spulen helfen. Davon geht ab – den Zeitverlust bei Abholung und Ablieferung der Ware nicht gerechnet – eine wöchentliche Auslage (Stärke zur Schlichte) im Betrage von 50 Pfennigen. Zur Handweberei werden gewöhnlich nur solche Garne geliefert, die zur Verarbeitung auf der Maschine nicht mehr verwendbar sind. Daher müssen die leicht reißenden Fäden häufig geknüpft werden. Der Weber verliert dadurch Zeit und hat dabei noch für oft unvermeidliche Fehler, die infolge des Knüpfens eintreten, bei Ablieferung der Waren Abzüge zu erleiden. Dieselben machen für das Stück, welches etwa eine Woche Arbeit erfordert, 50 Pfennige, auch 3 Mark, ja sogar oft den ganzen Betrag des Wochenlohnes aus! In letzter Zeit finden manche Weber überhaupt keine Arbeit mehr.“

Woher aber diese Noth, diese fürchterlichen Zustände? Woher? Wir suchen die Gründe kurz zusammenzufassen:

1) Gegen die Konkurrenz der Maschine kann die Handarbeit der hiesigen Weber natürlich nicht aufkommen.

2) Das jetzt hier lebende Webergeschlecht ist großentheils zu entnervt, geistig verkümmert, verkrüppelt, kränklich und energielos, um aus eignem Entschlusse sich ein neues Arbeitsfeld zu suchen. Für eine verfeinerte Handweberei, die von der Maschine nicht geliefert werden kann, müßte es erst mit „energischem Hochdruck“ wie z. B. durch Verleihung von Prämien erzogen werden. Solcher Hochdruck hat aber in hiesiger Gegend seit Jahrzehnten gefehlt. Für gröbere Arbeiten, Waldwegebau, Steinindustrie, selbst für Knechts-, und Dienstmädchenarbeit, ist die hiesige Bevölkerung zum großen Theil zu schwach. Daher helfen die sonst wohlgemeinten Vorschläge, die Weber sollten in arbeiterarme Gegenden nach Pommern, in die Lausitz u. s. w. übersiedeln, nur herzlich wenig, ganz abgesehen davon, daß der Glatzer ungemein zäh an seiner Scholle hängt. Es ist auch unglaublich, wie viel halb unb ganz Blödsinnige, Epileptische, Zwerge, Cretins, Verkrüppelte u. s. w. in den elenden Hütten der hiesigen Gegend wohnen. Eine Statistik würde darüber erschreckende Aufschlüsse geben.

3) Die Mac-Kinley-Bill in Amerika und sonstige Umstände haben auf dem europäischen Markte einen Ueberfluß von gewebten Stoffen angehäuft. Die wenigen Fabrikanten, die in unsrer Gegend noch arbeiten lassen, thun es jetzt vielfach nur aus Barmherzigkeit.

4) Einige der zwischenhandelnden Garnausgeber haben nicht immer das Herz auf dem rechten Flecke. Es ist eine bekannte Thatsache, daß manche in kurzer Zeit reich geworden sind. Wovon?

5) Eine Erhöhung aller Lebensmittelpreise, eine spottschlechte Kartoffelernte – schon jetzt haben die Leute zum großen Theil ihre Saatkartoffeln fürs Frühjahr, ebenso auch ihr Saatgetreide, verbraucht – ein überaus strenger Winter haben die schon beständig schleichende Noth zum Ausbruch gebracht.

Giebt es denn aber gar keine Hilfe? Giebt es wirklich keinen anderen Ausweg, der Noth ein Ende zu machen, als den, der neulich allen Ernstes vorgeschlagen wurde: „Gebt das jetzt lebende Webergeschlecht auf, laßt es verhungern, sterben, je schneller, desto besser!“ O nicht doch! Noch ist zu helfen! Aber es muß schnell und durchgreifend geschehen. Nicht halb, nicht widerwillig, nicht zögernd! Ich mache folgende Vorschläge zur Linderung der augenblicklichen und der dauernden Nothlage:

1) Die Privatwohlthätigkeit errichte, wo nur angängig, Volksküchen, in denen Speisen zu niedern Preisen oder ganz umsonst abgegeben werden. Mitte Dezember habe ich in Reinerz eine solche Küche gegründet und die besten Erfahrungen gemacht. Schon habe ich 300–400 tägliche Mittagsgäste.

2) Die Privatwohlthätigkeit, vielleicht unterstützt durch außerordentliche Staatsbeihilfe, durch Gaben von Vereinen u. s. w., errichte Stationen, in denen zu niedern Preisen oder ganz umsonst Hülsenfrüchte, Mehl, Brot, auch Kohlen und im Frühjahr Saatkartoffeln und Getreide vertheilt werden! In Reinerz habe ich solch eine Station ins Leben rufen können. Täglich werden darin 40–80 Arme auch aus der fernen Umgegend bedacht. Natürlich ist hierbei eine genaue Kontrolle aller Gabenempfänger dringend geboten. Vertrauensausschüsse in allen umliegenden Ortschaften, bestehend aus den Schulzen, Lehrern und je einem Mitglied des Ortsarmenverbandes, welche die Armen acht- oder vierzehntägig vorschlagen, haben sich bei mir bis jetzt sehr gut bewährt. Man frage aber nicht, woher die Mittel nehmen! „Bittet, so wird euch gegeben!“ Ich habe die Wahrheit dieses Wortes schon oft erfahren und hoffe, auch fernerhin nicht enttäuscht zu werden.

3) Privatleute, Gemeinden, Kreise setzen Prämien aus für jeden Weber, der
a) sein Kind einer anderen Beschäftigung zuführt – der Kreis Waldenburg ist hierin vorangegangen;
b) nachweist, daß er selbst eine verfeinerte Weberei (Jacquardweberei) gelernt oder gelehrt oder eine Zeitlang betrieben habe;
c) nachweist, daß er einen Jacquardstuhl sich gekauft hat, und dabei sich verpflichtet, ihn innerhalb von etwa fünf Jahren nicht zu verkaufen;
d) zu einer andern Beschäftigung übergeht und darin bleibt.

Wenn solches Unternehmen erst im Gange ist, würden sich bald noch neue Gesichtspunkte und manche Verbesserungen finden.

4) Der Staat bewillige größere Kapitalien, aus denen Hypotheken zu billigem Zins oder ganz umsonst mit der Möglichkeit einer Tilgung an verschuldete Weber, die zugleich Häusler sind, geborgt werden.

5) Der Staat beginne endlich mit einigen in den Nothstandsgegenden schon längst geplanten Eisenbahnen. Vor allem empfiehlt sich hier für meine Gegend die Eisenbahn: Rückers – Reinerz – Nachod. Auch eine Theilung des Kreises Glatz wird vielfach empfohlen und dringend befürwortet. –

Mit manchen andern Vorschlägen, z. B. dem, daß der Staat (oder auch Privatpersonen, durch eigens angestellte und beaufsichtigte Garnausgeber in direkte Verbindung mit dem Weher trete, daß verschiedene Chausseen gebaut, daß den Webern die Wohlthaten der sozialen Gesetzgebung zutheil werden, halte ich vorläufig noch zurück. –

Die außerordentliche Noth erfordert außerordentliche Mittel. Nicht gezagt, nicht gezweifelt! Es muß geholfen werden! So, wie es jetzt steht, kann es nicht bleiben. O, daß alle, die diese Zeilen lesen, sich gedrungen fühlten, nach ihren Kräften rathend, helfend, gebend einzutreten! Zum Empfange von Gaben u. s. w. bin ich stets bereit. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!

Reinerz, im Februar 1891. Ernst Klein, Pastor.     

*      *      *

Soweit unser Gewährsmann. Wir aber schließen uns aus vollem Herzen seiner Bitte an. Die „Gartenlaube“, welche sonst, wenn es sich um die Hilfe in plötzlichen öffentlichen Nothständen handelte, die schöne Aufgabe des Gabensammelns der rascher und darum zweckmäßiger wirkenden Tagespresse überlassen mußte. stellt sich in diesem Falle jedem, der sein Scherflein für die schlesischen Weber spenden möchte, gerne zur Verfügung; sie will mit sammeln und den Ertrag ihrer Sammlung an den Ort ihrer Bestimmung gelangen lassen. Möge ihre Bitte nicht ungehört verklingen, möge sie einen Widerhall wecken in den Herzen der Hunderttausende, welche sich um die „Gartenlaube“ scharen in den Herzen der Hunderttausende, welche ihre Mildthätigkeit schon oft in so glänzender Weise erwiesen haben! Die Redaktion.